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Die Götter und Göttersagen der Germanen


von Friedrich von der Leyen

Dritte Auflage München 1924

C. H. Becksche Verlagsbuchhandlung Oskar Beck


10. Rückblicke

Als wir uns den nordischen Göttern näherten, verhießen wir einen großen Reichtum von Sagen und Aussagen. Während unsrer Wanderungen entfuhr uns noch mancher Ausruf der Bewunderung und des Entzückens, über die weiten und einzigen Aussichten in die Gebiete des Mythus und der Dichtung, die sich vor unsren Augen immer wieder auftaten. Die nordische überlieferung bereicherte unser Wissen und unsre Erkenntnis überall. Die Bedeutung der Zauberei für den Glauben unsrer Vorfahren zeigte sich lebendiger und umfassender als in irgendeinem germanischen Bericht: der Zauber des Krieges, der Wahrsagung, der Herrschaft über die Geister, über die Krankheit und über die Elemente, der Zauber der Fruchtbarkeit und der Verwandlungen, bei Odhin, bei Metodhin, bei Ull, bei Thor, bei den Wanen, bei Loki — Die schöpferische Macht Thors, die dunklen Opferbräuche der Urzeit, die derbe Förderung der geschlechtlichen Kraft, das behende und verschlagene Treiben der Elben, die entfesselten Gewalten der Riesen: in wie vielen eindrucksvollen Beispielen zog das alles an uns vorüber! Wie überströmend in ihren Lebensfluten ist diese



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Welt, und welcher Mühe bedurfte es vorher, bis die germanischen Schatten Blut und Leben gewannen! Dann noch die Fülle der Göttersagen: über Ty und den Fenriswolf, über Balder, über Thrym, Hrungni, Aurwandil, Groa, Gjalp, Greip, Geirrödh, Halfdan, den Riesenbaumeister, die Midgardschlange, Hymi, Utgardaloki, Odhreri, Gunnlöd, Mimi, Odhin, Metodhin, Ull, Rind, Gerd, Menglöd, Thiazi, Idhun, Skadi, Freyja, Gullweig, Gefjon, Höni, Widar, Wali, Loki. Und kaum eine dieser Sagen war uns nur einmal bezeugt, meist besitzen wir sie in mehreren Fassungen, oder wir besitzen doch verschiedene Zeugnisse über sie aus verschiedenen Jahrhunderten und besitzen manchmal auch bildliche Darstellungen.

Ty verblaßte in der Edda, Thor wurde von den Edlen und Dichtern und unter dem Einfluß des Christentums immer zügelloser verhöhnt, beide Dichter behielten im Volk ihre alte Macht. Odhin drängte den Ty, den Ull, den Mimi, den Metodhin, vielleicht den Loki und endlich auch Thor zurück und durchlebte das Grauen und die heroische Tragik des Krieges, die Gefaßtheit des germanischen Helden, die harte und erprobte Weisheit der Wikinger und die Verklärung des sterbenden Heidentums. Die Abzweigungen des Himmelsgottes: Balder, Fosete, Ull bleiben eigene Götter und verwandelten sich unter dem Einfluß hier des finnischen Zauberwesens, dort des christlichen Glaubens. Thors Söhne gewannen keine große Bedeutung. Von Odhin hat sich schon in früher Zeit Höni abgelöst, in der Wikingerzeit fing sich das heroische Wesen des Vaters in seinen Söhnen Wali und Widar. Wodans Gefolge gewann neuen Glanz, an Stelle des Heeres der Abgeschiedenen und der Göttinnen traten die Helden, die Einherjer und die nordischen Walküren. Njördhs Herrschaft siedelte sich am Meere an, in Frey und Freyja wurden manische und asische Elemente, Elemente der himmlischen und der zauberhaften und fruchtbringenden Gottheiten, zu neuen, göttlichen Gebilden. Heimdall und Loki wanderten



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von den Elben in die Reihen der Asen, Heimdall verklärte sich inden Gott der leuchtenden, meerentstiegenen Morgenfrühe und in den nimmermüden Wächter der Götter, Loki sank herab zum verräterischen Unhold. Frigg blieb die gütige und anmutige Himmelsgöttin. Die Zahl der Riesen wuchs, und sie nahmen die Unholde auf, in denen die Furcht vor dem Untergang aller .Dinge schreckenerregende Gestalt gewann. In dem halben Jahrtausend vom 8. zum 13. Jahrhundert sind die germanischen Götter niemals erstarrt, unaufhörlich strebten sie neuen Formen zu: man möchte manchmal wünschen, sie hätten die stolze Ruhe gefunden, die eine dauernde Herrschaft verbürgt. Aber den, der in der alten Kraft trotziger als die anderen verharrte, den Donar, machten die Aristokraten des nordischen Geistes lächerlich. — In der Sage von und dem Fenriswolf und in der von Lokis Fesselung waren alte Vorstellungen von Sonnenfinsternis und Erdbeben die schöpferischen Elemente, in den Sagen von Balder und Frey vielleicht uralter Glaube und Brauch, der dem König galt und das tragische Schicksal eines heiligen Schwertes. Die Sage von der Weltesche rief die Verehrung heiliger Bäume, ihrer schützenden und tragenden Macht, ins Leben. Von den Kämpfen von Gott und Riese um die Waffe des Blitzes sind die Sagen von Thrym, Geirrödh, Hrungni, Halfdan erfüllt, mit ihnen verschmolz sich bei Thrym alter Hochzeitsbrauch , bei Hrungni alte Visionen von Wind und Wolte und Frühling, bei Geirrödh alte Fabeln vom Gang ins Jenseits und von Beschwörungen reißender Flüsse. Kämpfe von Gott und Unhold waren ursprünglich Thors Ringen mit der Midgardschlange und Hymi und dem Riesenbaumeister und mit den zweideutigen Spukgestalten in Utgardalokis Reich, bisweilen wieder verbunden mit Erlebnissen aus Unterweltsfahrten. Ebenfalls aus einer Fahrt ins Jenseits, und dazu aus der Geschichte vom Raub des Wassers, erwuchs die Geschichte von Odhin und Odhreri, aus der Fabel vom Raub der fruchtbringenden Äpfel und aus Hochzeitsbräuchen gestaltete



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sich die Geschichte von Skadi und Thiazi, die Fabel vom Raub des Feuers ist auch ein altes Element in der Geschichte von Lokis Fesselung.

Die Sagen vom gefesselten Unhold, vom Untergang der Welt und von Riesen, die ihre Fesseln zerreißen, vielleicht auch andere Sagen, die denen von Prometheus glichen, hörten, wie wir glaubten, zuerst die Goten am Gestade des Schwarzen Meeres, und sie sind von dort nach dem Norden gezogen. Bei den Goten entwickelten sich auch nach unsrer Auffassung die dichterischen Gebilde , die indem Jagen der Wolken verfolgende Riesen, in dem herabfahrenden Blitz die Waffe des Donnergottes sehen. Den alten Stamm der Sage und der mythischen Dichtung umrankte und überwucherte das Märchen. Das von der verräterischen Schwester, von der fadendünnen, unzerreißbaren Fessel (Ty und Fenri), von der um den gebundenen Mann besorgten Frau und der gifterfüllten Schale (Loki und Sigyn), vom unbescheidenen Riesen (Thiazi), von den Überlistungen des Riesen oder des Teufels durch den Menschen (Thor und Utgardaloki) traten vor allem im östlichen und südöstlichen Europa auf, in ihren Kreis gehören auch die überall verbreiteten Schwänke vom starken Hans (Halfdan, Hymi, Odhin bei Baugi) und andere Überlistungen der dummen Großen durch die klugen Kleinen (Skrymi, Hymi, Riesenbaumeister). Die Fahrten ins Jenseits und die Raubmärchen haben vor allem keltische, genauer gesagt irische Dichter ausgemalt, ihre Farben geben den nordischen Geschichten einen neuen, phantastischen Glanz und auch eine neue Tiefe. Dazwischen blicken uns noch andere, überall auftauchende Märchen und Märchenstücke an: Märchen von der widerspenstigen Jungfrau (Rind und Gerd), von der Fahrt nach dem entschwundenen Geliebten (Freyja), von Werbungen, von Goldener, von der goldenen Gans und vom Riesen ohne Seele, vom bestraften Vorwitz (Loki, Aurwandil, Idhun), von kostbaren Ringen, Panzern, Schwertern usw. (Balder), von der übersehenen Pflanze



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(Balder), von der Unverletzbarkeit der Helden (Balder), von geschlechtlichen Possen und Verkleidungen (Thrym, Skadi), von boshaften Zwergen, ätiologische Geschichten von Tieren, Felsen, Sternen (Aurwandil, Thiazi, Loki, Skrymi, Hrungni), scherzende Verspottungen (Fenris Fessel) usw. Auch von einer Göttersage zur anderen oder von der Heldensage, namentlich von den Wölsungen und den Nibelungensagen zur Göttersage schossen Einwirkungen herüber.

Die Dichtungen, die aus diesen Elementen sich entwickelten, scheinen zuerst lose und übermütig zusammengefügt, doch ein genaueres Zusehen zeigt oft, wie organisch ihre einzelnen Teile ursprünglich sich aneinander schließen. Meisterhaft ist manchmal der Aufbau, und wie viele Register beherrschen die Erzähler, von geistreichem Humor, funkelnder Ironie, großartigem Ausmalen der Götterkraft bis zu rührender, tragischer Einfalt und heroischer und gefaßter Größe. Wie überraschend und tief variiert die Geschichte von Odhin und Odhreri das Wesen der Dichtung, wie geschickt gleiten die Fabeln von Thor und Odhin und Hrungni und Mökkurkalfi und Aurwandil durch die Bereiche von Wolke, Nebel, Gewitter und Frühling, die Geschichte von Thor und Geirrödh durch den Bereich des Zaubers, die von Njördh und Skadi und Idhun und Loki durch den Bereich der geschlechtlichen Kräfte! Übennütig und spannend erzählt die Fabel von Utgardaloki von Thors und seiner Begleiter vergeblichem Kraftaufwand. Die Geschichte von Geirrödh schwelgt in Schrecken und Spuk der Unterwelt , und welche Kämpfe wurden mächtiger geschildert als die zwischen Thor und Hrungni, Thor und Halfdan, Thor und der Midgardschlange! Bei der Fesselung von Loki und vom Fenriswolf verwandelt sich das Spiel in furchtbaren Ernst, die düstere Ahnung vom Untergang der Welten steht am Horizont; die rührendste aller Götterfabeln bleibt die von Balder. Wenn die nordischen Dichter auch gern mit beiden Händen in die Schätze anderer Völker griffen,



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sie haben aus ihnen neue Kleinodien geschaffen, mit leichter und sicherer Hand, erstaunlicher Phantasie, selten reichem Können und tiefem eigenen Empfinden.

Wir erkannten in den Göttersagen und Göttervorstellungen verschiedene Stufen der Entwicklung. Die alte derbe und frohe, große und starke Kraft der Germanen bewahrten trotz allem die Sagen von Thor, sie lag auch auf dem Grund der Sagen vom Fenriswolf, von Njördh und Skadi, von Odhin und Odhreri. Im 10. Jahrhundert erhob sich diese Kraft ins Heroische und Tragische. Das Wikingertum, jene unerbittliche Steigerung des germanischen Heldentums, erreichte damals seine Höhe, zugleich ließ sich das Christentum auf den nordischen Geist nieder. Die harte Anschauung der Wikingerzeit prägte sich am klarsten in den Strophen der Havamal aus: auf Schritt und Tritt, aus dem Diesseits und Jenseits bedrohen den Helden feindliche Mächte und mahnen ihn zu Mißtrauen und Gegenwehr, alles Irdische ist wesenlos, die einzige Dauer verheißt der Heldenruhm. Nach dem Untergang der alten Welt steigt eine neue, leuchtende und reine Welt aus den gluten: diesen Glauben hat das Christentum geschaffen, dieser Glaube hat auch die Härten der Wikingerwelt gemildert.

Ins unselig Heroische hob die Dichtung im 10. Jahrhundert den Thor, die Kraft, die den Erdball beschützte, zerschlug zugleich Eid und Recht. Frey und Heimdall legten die Rüstung des Wikingerhelden an, Widar und Wali gürteten sich mit seiner gefaßten Stärke. Odhin spiegelte die ganze heroische Welt: für die Götter betrog er die Gunnlöd und die Rind, für den letzten Kampf der Riesen und Götter im Jenseits sammelte er die Helden und raffte sie in den Schlachten des Diesseits dahin, seine Einsicht rückte ihn hoch über die anderen Götter und er trug größer als sie das Wissen um das Ende. Die Götterfeinde, die Mächte des Chaos und des Dunkels, verdüsterten in der Wikingerzeit das Antlitz der Götter, und sie vertieften ihre Kraft. Der alte Kampf von Gott



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und Held gegen Riese und Unhold wurde zu einem Kampf oon Riesen und Göttern auf der ganzen Breite, zu einem Kampf des Chaos gegen einen Kosmos, den die Götter nicht groß und rein zu erhalten vermochten. Auch die Kraft der Zauberei, der Glaube an die Vorzeichen, die Vorstellungen von Walhall und den Walküren, der Glaube an den Weltenbaum erhielten damals den heroischen Zug. Die Dichtung gewann, namentlich in Strophen der Wöluspa und der Hawamal, eine klare und strenge, reine und bildhafte Schönheit und den Schauer der ewigen Geheimnisse, sie streifte alle dumpfen und spielerischen Phantasien ab und verachtete den Märchenspuk.

Das heranziehende Christentum gab dem Odhin seine verklärte Ruhe, verwandelte den Balder in den nordischen Christus, den Loki in den nordischen Teufel, tauchte die Dichtung der Edda in himmlischen Glanz und entwürdigte zugleich den Thor, den stärksten der heidnischen Götter.

Für die abendländische Welt seit dem 10. Jahrhundert sind bezeichnend: ein unersättlicher Drang nach Wundern und Abenteuern, die Sehnsucht, immer tiefer in das Geheimnis der göttlichen Weltordnung einzudringen, und wachsende geistliche Gelehrsamkeit, die im 13. Jahrhundert die großen Bauten ihrer Systeme aufrichtet. Von dieser abendländischen Welt wurde der Norden durch das Christentum ein Teil. Wie stark die Märchen im 11. und 12. Jahrhundert die alten Mythen überfluten, hat uns jede Göttersage und haben uns auch die Wandlungen der göttlichen Gestalten gezeigt, ihrer Abzeichen und ihrer Schätze, ihrer Speere, Schwerter, Ringe, Pferde, Eber, Schiffe usw. Die nordischen Märchen kommen freilich nicht aus so weiten morgenländischen Fernen wie viele der deutschen und romanischen, die Ritter des Nordens sind noch die Wikinger, auch die religiöse Sehnsucht des Nordens behielt ihre besondere Färbung, in keinem anderen Lande mußte sich noch um das Jahr 1000 herum das Christentum mit dem germanischen Heidentum



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auf Tod und Leben messen. Die Gelehrsamkeit bemächtigt sich namentlich der hohen Kreise, ein System des nordischen Jenseits hat Snorri in seinen geschichtlichen und religiösen Schriften errichtet, auch Saxos Geschichte und auch die Lieder der Edda dürfen als Kompendien gelten. Das echt mittelalterliche Beisammen von froher und bunter Fabelei, tiefem Glauben und ehrwürdiger Gelehrsamkeit hat im Norden auch sein eigenes Gesicht, die heidnische Individualität und ihre Willkür und der heroische Ernst sind stärker als im Süden.

Landschaftliche Verschiedenheiten in der Entwicklung der nordischen Götter zeigten uns Ull und Skadi; diese zwei sind nur in finnisch-schwedischer Umgebung denkbar. Der schwedische Frey war natürlicher, der Frey der Edda mehr auf das Ritterliche gestimmt, die Wanen behielten die Anmut und die Fruchtbarkeit der Länder um die Ostsee, Odhin blieb in Dänemark dem dämonischen und unersättlichen wilden Jäger verwandt, blieb in Schweden am stärksten beherrscht vom alten Hang zur Zauberei und verklärte sich am schönsten in Norwegen. Auch soziale Unterschiede der nordischen Götter zeichnen sich deutlich ab. Wem das Volk seine Opfer zutrug und welche Vorstellungen sich das Volk von den großen Göttern machte, darüber sind wir nicht ausreichend unterrichtet. Das aber dürfen wir annehmen, daß es den Verstorbenen ehrfürchtig opferte, ihr Wirken in Feld und Flur, in Haus und Luft, in den Bergen und in den Gräbern spürte, daß es sie beschwören ließ, um von ihnen die Zukunft zu erfragen. Auch die Geister der Wälder und Gewässer behielten ihre Macht, viele schöne nordische Sagen und Märchen künden von ihnen noch heute. Frey als Gott der Fruchtbarkeit und der Herden, Thor als Beschützer des Landbaues, als Gott der Familie, Ty, Forsete, Balder als Götter des Rechts, Ty als Gott des Krieges galten dem Volk mehr als Odhin, der Gott der Könige und der Dichter. Im Gottesdienst blieb im Lauf der Jahrhunderte alles eigentlich beim Alten. Die Umwandlungen der



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nordischen Götter, die wir vorher charakterisierten, waren das Werk der Dichter und geschahen in der Umgebung der Großen, unter dem Zeichen des heranschwebenden Christentums. Aus sich selbst, aus seinen eigenen religiösen Impulsen hat sich der alte germanische Götterglaube nicht verändert. Bragi, der Skalde, der Dichter des neunten Jahrhunderts, wurde in die Gemeinschaft der Götter aufgenommen und mit Idhun, der Göttin der ewigen Jugend, vermählt: diese Sage ist uns der schöne Ausdruck der Tatsache, daß eben die Dichtung die nordischen Götter verjüngte. Darum auch, weil ihre religiöse Macht überaltert war, hat das Christentum die alten Götter eigentlich rasch überwinden können.

Wohl treten die Götter als Gemeinschaft vor uns auf, aber nur die Furcht vor ihrem Ende und die Furcht vor Schaden bringt sie zusammen, sie ziehen vereint in den Tod, nicht in das Leben. Wie rasch läßt die Wöluspa auf das Glück der Urzeit den ersten Kampf von Gott gegen Gott folgen! Und wie ist diese Götterwelt zerklüftet! Riesen, Elben, Zwerge, Götter in unaufhörlichem Kampf, in dem die Stellung der Parteien immer wechselt, Asen und Wanen notdürftig versöhnt, Thor und Odhin in wachsendem Gegensatz, Loki ihrer aller Feind! Mit welch zügelloser Bosheit sind auch die Skalden über die Götter hergefallen und haben sie höhnisch miteinander verglichen oder alle verlästert! Thor ein lächerlicher Gernegroß, Höni ein dummer Tropf, die Göttinnen brechen die Ehe und sind käuflich in ihrer Liebe, Wanen und Riesen und Unholde werden von den Asen betrogen — freilich solche Gesellschaft ist reif zum Untergang. Und doch wie groß sind sie alle gestorben, wie fliegt unser Herz dem scheidenden Thor und dem scheidenden Odhin entgegen!

Religiös betrachtet ist die nordische Götterwelt ärmer als die germanische. Donar und Tiu waren als Götter vielfältiger und großartiger als Thor und Ty, die Bedeutung der Göttinnen hat sich verringert, Odhin, Balder, Loki, Heimdall geraten aus ihrer



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germanischen Bahn. Der Kampf zwischen den eingeborenen und einwandernden Göttern, die Umbildung der indogermanischen Götter ins Germanische, diese merkwürdige, durch lange Jahrhunderte sich hindurchziehende Entwicklung hat im Nordischen kein Seitenstück. An Stelle der religiösen Werte traten allerdings heroische, christliche, mittelalterliche und künstlerische, im Heroischen fanden die germanischen Götter eine grandiose Erfüllung ihres Wesens, und das Christentum entstellte einige ihrer Götter, bei anderen machte es das Edelste ihres Wesens frei.

Wer also, wie manche ehrliche Schwärmer noch heute, die Religion der Gegenwart aus der germanischen verjüngen und läutern will, traut unsren Vorfahren Kräfte zu, die sie niemals besaßen. Die germanische Religion hätte sich im Norden jahrhundertelang festigen und vom Norden aus die südliche germanische Welt erobern können — statt dessen zersetzte sie sich und gewann erst neuen Glanz durch das Christentum und erlag nach kurzem, heroischem Kampf.

Aber in der germanischen und nordischen Religion liegen Schätze unsres Wesens und Mahnungen und Warnungen, viel reicher und uns viel notwendiger, als uns heute noch bewußt ist. Die Blicke, die uns in ihren, Jahrhunderte hindurch nicht versiegenden Reichtum gegönnt waren, können uns mit neuem Vertrauen auf die ewige Sendung der Germanen erfüllen. Auch in der Geschichte des germanischen Götterglaubens erweist sich das Heroische in seiner Tod und Leben überwindenden Zuversicht, seiner unbewußten Freude an sich selbst und seiner gefaßten Geduld als eine Unvergänglichkeit und als eine in den dunkelsten Zeiten aufblitzende Gewähr für kommende Jahrhunderte. Wer von uns, der deutsch fühlt, wird nicht vom Schauer des Heldentums gepackt, der die Geschichten von Odhin und Thor, der die Strophen der Wöluspa und der Hawamal durchweht! Das Vermögen, fremde Welten in ihrem Besten zu erkennen und das eigene Wesen daran



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aufzurichten und zu bereichern, zeigt uns die Geschichte der germanischen Religion in ihren entscheidenden Epochen mehr denn einmal: sie ist für uns einer der tiefsten Beiträge zum ewig deutschen Problem von echter und falscher Aneignung. Die Zwietracht, der verderbliche Kampf Aller gegen Alle, der zügellose, nur sich selbst setzende Geist, die immer neuen Zielen zusagende Ruhelosigkeit das nie sich vollendende Werden haben uns zu mehr als einem Untergang getrieben. Und doch gerade die unersättliche Vielfältigkeit unserer Kraft, das von keinem Ideal befriedigte Streben sind die Segen jener verhängnisvollen Mitgift, und sie reißen uns wieder aus dem Abgrund. Dem ruhelosen, heroischen Odhin verklärte sich dies Dasein, er krönte sein Leben mit dem Tod des Helden, damit eine neue reine Welt aus den vernichteten Gefilden der alten aufsteigen könne!



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Die zweite Bearbeitung der Götter und Göttersagen der Germanen unterscheidet sich, besonders in der Anlage und Anordnung, stark von der ersten, sie erscheint fast als ein neues Buch. Wer als Dozent über das gleiche Gebiet öfter vorträgt und Freude am Dozieren hat, wird, um sich eine immer freiere Herrschaft über sein Reich zu sichern, die Teile des Ganzen gern in wechselnder Ordnung vorführen, damit sie in wechselnden Ansichten und Beleuchtungen sich gegenübertreten und dadurch neue Zusammenhänge und Erkenntnisse aufdecken. Der Gewinn aus solchen Versuchen ist in diese neue Auflage geleitet worden. Auch aus anderen Gründen empfahlen sich Änderungen. Vor einem Jahrzehnt gehörte noch ein gewisses Aufgebot von Kräften dazu, Widerstrebende und Gleichgültige für die Welt unsrer alten Götter zu erwärmen. Diesen vor allen wurde damals die Geschichte der Wissenschaft von der deutschen Mythologie vorgetragen. Ihre Teilnahme sollte durch den Bericht geweckt werden, wie viel Mühe, Intuition, Begeisterung und Scharfsinn eine erlesene Schar deutscher und nordischer Gelehrter dieser Vergangenheit germanischen Geistes gewidmet. Heute ist die Anziehungskraft der alten Götter unbedingt stärker, deshalb wurde das Kapitel "Wege und Ziele der deutschen Mythologie" gestrichen. — Ferner schien es damals ratsam, die Bedeutung der sogenannten primitiven Völker und ihrer geistigen Welt für den Glauben und die Sagen auch unsrer Vorfahren recht eindringlich hervorzuheben. Seitdem ging man in dem Bestreben, die deutsche Götterwelt aus der Religion der Primitiven zu erklären und sie auf gar zu allgemeinen, oft gar nicht beweisbaren Voraussetzungen aufzubauen, manchmal viel zu weit. Es war doch zuerst zu versuchen, was man von den Germanen selbst über die Germanen erfahren konnte, von dort aus war zum dunklen und schöpferischen Urgrund aller Religionen vorzudringen, wenn sich der Weg dorthin überhaupt finden ließ. Darum wurde auch das zweite Kapitel des alten Buches, der Ursprung der deutschen Mythologie, aufgelöst, statt dessen die germanischen Nachrichten eingehender und vollständiger besprochen. Neue Arbeiten der wissenschaftlichen germanischen Mythologie — sie ist auch im letzten Jahrzehnt in Deutschland und im Norden an vielen Stellen eifrig am Werk gewesen — bedingten ebenfalls manche Umstellung im einzelnen und wurden für den Verfasser der Anstoß zu erneutem Nachdenken und Forschen. Dem ersten Ziel seiner Göttersagen


Anmerkungen und Nachweise



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glaubte er dann dadurch näher zu kommen, daß er eine größere Anzahl von Göttersagen als in der ersten Auflage übertrug und aus ihrer Interpretation ihre Bedeutung und ihre Geschichte ableitete. Kurze Berichte über den Gottesdienst unsrer Vorfahren, absichtlich knapper gehalten als die anderen Kapitel, wurden angefügt. Diese Änderungen ergaben sich fast alle aus der Geschichte unsrer Wissenschaft von selbst. Viel stärker verlangte den Umbau des alten Buches eine Überzeugung des Verfassers, die sich ihm bei seinen deutschen Heldensagen gebildet, deren Bedeutung ihn immer tiefer durchdrang, und die er auch bei anderen zu wecken und zu festigen sich verpflichtet fühlt. Bei den Heldensagen ist die heroische Dichtung der germanischen Völkerwanderungszeit, die viele Forscher noch immer vernachlässigen oder nicht sehen wollen, der Keim, aus dem sich die ganze spätere germanische Heldendichtung entwickelt. Bei den Göttersagen ist es ähnlich. Die Jahrhunderte der germanischen Völkerwanderung, in weitem Sinn genommen, von der Zeit der Cimbern und Teutonen bis zu karl dem Großen, und manchmal noch frühere Zeiten, haben die germanischen Götter geschaffen. Man darf diese Leistung nicht verkennen und unsre Nachrichten und Zeugnisse nicht gering schätzen, weil sie so spärlich sind. Nicht etwa errichteten die nordischen Völker und Dichter auf dem germanischen Nichts ihre nordische Götterwelt, sondern sie entfalteten sie aus den germanischen Schöpfungen, gaben ihnen ein neues künstlerisches Leben und führten sie in das Christentum. Nur eine Gegenüberstellung von germanischer und nordischer Zeit auf der ganzen Linie, eine Gegenüberstellung zuerst der germanischen und nordischen großen Götter, dann der Reihen der anderen Götter, der Göttinnen, der gemeinsamen Sagen, des Gottesdienstes, konnte das Verhältnis der germanischen und nordischen Götterwelt, wie der Verfasser es sieht, von Fan zu Fall zeigen. Deshalb also wurden die Göttersagen diesmal in zwei Abschnitte gegliedert: jedes Kapitel des ersten entspricht dem des zweiten Es ist nur zu hoffen, daß der Leser diese Symmetrie als organische Notwendigkeit und nicht als pedantische Langeweile empfindet.

Die Anmerkungen und Nachweise sind diesmal erweitert. Das ganze Hin und Her der wissenschaftlichen Diskussion sollte jedoch nicht noch einmal ausgebreitet werden, das ist in anderen Büchern zur Genüge geschehen. Unsre Hinweise sollen knapp bleiben und an möglichst ergiebige Stellen führen. Der Leser, der ihnen nachgeht, soll die wichtigen Aufschlüsse und Arbeiten finden, er soll auch die Gründe erkennen, die den Verfasser zu seiner Entscheidung drängten. Endlich hat sich der Verfasser



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diesmal zu einem Namen- und Sachenverzeichnis entschlossen, nicht eben gern, da sein Buch zum Lesen und nicht zum Nachschlagen bestimmt ist. Doch macht das Register, ebenso wie die Anmerkungen, vielleicht manchen Forscher auf Einzelheiten aufmerksam, die er sonst leicht übersehen hätte, und beides kommt auch den Gelehrten entgegen, für die eine Wissenschaft ohne Anmerkungen und Register eben keine Wissenschaft ist. So will es der Verfasser denn in den Kauf nehmen, daß durch diese Zutaten der Schein äußerer Gelehrsamkeit erweckt wird, dem er sonst, so weit er kann, aus dem Wege geht. — Die erste Auflage des Buches hat den germanischen Göttern manchen neuen Freund gewonnen, und eine Minderheit von Gelehrten, darunter allerdings einige an führender Stelle, haben sie berücksichtigt und dankbar verwertet. Vielen galt das Buch als verdächtig oder sie glaubten sich der Mühe überhoben hineinzusehen , weil es zugleich an Gelehrte und Ungelehrte sich wendet. Wäre die Zeit doch wieder nah, in der, wie in den Tagen Jakob Grimms und Ludwig Uhlands, der Gelehrte als Künder des besten deutschen Geistes seines Amtes walten darf, für alle, die jenes Geistes reinen Hauch spüren!

Wichtige Werke und Untersuchungen zur germanischen Mythologie: Jakob Grimm, Deutsche Mythologie ('Göttingen 1835, '1844, 11875 —78 mit Nachträgen von E. H. Meyer). —Ludwig Uhland, Der Mythus . von Thor (Stuttgart 1836), ders., Schriften, Bd. s u .7 (Stuttgart 1865). — karl Müllenhoff, Die Germania des Tacitus (Berlin 1900). —Wilhelm Mannhardt, Wald- und Feldkulte ('Berlin 1904). — Sophus Bugge, Studien über die Entstehung der nordischen Götter- und Heldensagen (München 1881 —89). — Edward Tylor, Primitive Culture (4 London 1903). — J. G. Frazer, The golden Bough or Balder the Beautiful (2 London 1900, 'London 1911 ff.). — Axel Olrik, 0m Ragnarök, I, II (Kopenhagen 1903, 1914) (jetzt übersetzt von Wilhelm Ranisch, Berlin 1923). — Ders., Danske Studier (ebda., seit 1904). — Ders., Nordisk Aandsliv i Vikingetid (ebda. 1907). — Wolfgang Golther, Handbuch der germanischen Mythologie (Leipzig 1895). — Eugen Mogk, Mythologie (in Pauls Grundriß der germanischen Philologie, III, 320ff., Straßburg 1898), ders., Mythologische Artikel in Hoops Reallexikon der germanischen Altertumskunde (Straßburg 1911-1919). — Paul Herrmann, Nordische Mythologie (Leipzig 1903). — Ders., Deutsche Mythologie (ebda. 1906). — Richard M. Meyer, Altgermanische Religionsgeschichte (Leipzig 1910). —karl Helm, Altgermanische Religionsgeschichte I (Heidelberg



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1913), vgl. Vf. Deutsche Literaturzeitung 1913, 2180ff. — Gudmund Schütte, Dänisches Heidentum, Heidelberg 1923. —


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