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Die Götter und Göttersagen der Germanen


von Friedrich von der Leyen

Dritte Auflage München 1924

C. H. Becksche Verlagsbuchhandlung Oskar Beck


8. Weltanfang und Weltende

Die germanischen Vorstellungen über Weltanfang und Weltende hängen für immer zusammen mit der Wöluspa, dem berühmten nordischen Gedicht vom Ende des 10. Jahrhunderts, dessen erhabene Kunst einige Proben uns anschaulich machten.

Wir vergegenwärtigen uns kurz den Ablauf der Dichtung.

Aus der großen endlosen Leere am Anfang der Zeiten heben die Götter die Erde empor. Die Sonne lockt das Grüne aus dem Boden, den Gestirnen weisen die Schöpfer ihre Bahn und grenzen die Zeiten des Tages und des Jahres ab. Ein heiteres Leben der Arbeit und der Kunst hebt an, bis die Nornen, die Töchter der Riesen, die Berkörperinnen des Schicksals, in die Welt der Götter treten. Odhin, Loki und Höni schaffen die Menschen, leblosen Baumstümpfen geben sie Seele, Geist und bewegte Schönheit. Am Brunnen des Schicksals erhebt sich die Weltesche, immergrün, vom heiligen Nah benetzt, bei ihr hausen die Nornen. Sie bringen den ersten Krieg in die Welt, den Krieg der Wanen und Asen. Die Götter betrügen den Riesenbaumeister um seinen Lohn. Odhin gibt sein Auge dem weisen Mimi, um das Schicksal erfahren. Die Götter verlieren den Balder, den Wali rächt, und sie fesseln und bestrafen Loki, Balders Mörder. In weitem Umkreis umgeben Behausungen des Schreckens die Wohnsitze der Götter, hier warten die Unholde auf das Ende der Tage. Das Krähen der Hähne in den Welten der Asen und Riesen und das Bellen des Höllenhundes verkünden das Unheil. Finstere Wetter ziehen auf, die Bande der Sitte reißen, die Sippen wüten gegeneinander, der Bruder tötet den Bruder, die Unzucht wächst, Heimdall bläst in sein Horn, die Zwerge stöhnen vor ihren Steintüren, Odhin spricht mit Mimis Haupt, die Weltesche



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erbebt, die Midgardschlange peitscht zornig die Wogen, die Feinde der Götter reißen sich los, das Schiff, auf dem sie sitzen, beginnt seine Fahrt. Surt fährt von Süden, mit seinem blitzenden Schwert das Dunkel zerreißend, Odhin und Fenri, Frey und Surt, Thor und die Midgardschlange, Ty und Garm kämpfen gegeneinander. Die Götter unterliegen, Thor fährt neun Schritte vor dem giftigen Anhauch des Wurms zurück und stürzt zu Boden, die Sonne verfinstert sich, die Erde sinkt ins Meer, die hellen Sterne stürzen vom Himmel, Rauch und Feuer lodern zum Firmament empor. Zum anderen Mal taucht eine immergrüne Erde aus den Fluten, unter der Herrschaft Balders beginnt ein neues Reich, die Asen finden die goldenen Tafeln und die Kleinodien ihrer schuldlosen glücklichen Zeit, über den schäumenden Wassern schwebt der Adler und fängt an der Felsenwand den Fisch, die Äcker wachsen ohne Saat, die Drachen des Unheils versinken.

Snorri in seiner Gylfaginning erzählt uns noch einmal in großem Zusammenhang die Schicksale vom Werden und Vergehen der nordischen Götter und ihrer Welten, im Anschluß besonders an die Wöluspa, die Jahrhunderte hindurch in der nordischen Dichtung ein Ansehen genoß wie kein anderes Werk. Seine Mitteilungen, über zwei Jahrhunderte jünger, tragen freilich den Stempel einer anderen Zeit und einer anderen Bestimmung, sie sind eben ein Handbuch für den Dichter und ein echt mittelalterliches Gemisch von Gelehrsamkeit und Phantasie, von System und Dichtung. Das Grübeln und die Visionen der Zeit, die in der Wöluspa Gestalt annahmen, die Sehnsucht, die bangende Erkenntnis, die tragische Einsicht und die aufdämmernde Hoffnung kehren auch in anderen eddischen Dichtungen, z. B. in den Wafthrudnismal, in den Hyndluljodh und in den Grimnismal, wieder.

Nach den alten und volkstümlichen Vorstellungen war die Welt aus dem Leib eines Riesen gebildet, oder die Riesen richteten mit ungefüger Hand die gewaltigen Massen der Berge, Felsen und Länder auf, oder sie rissen mit ihrem Pflug die Seen in die Länder und setzten die herausgepflügten Stücke als Inseln ins Meer. Wohl die Goten erzählten dann von dem starken schöpferischen



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Gott, der Himmel und Sterne und Welten und Tiere und Menschen bildete. Nach der Wöluspa hoben alle Götter die Erde aus dem Nichts empor:

"Die Herrschaft der Gottheit über die tote Masse", sagt Axel Olrik, "verkündet der Dichter der Wöluspa mit einer Bestimmtheit wie kein anderer. Aber nicht bloß religiös ist dies neu, auch ästhetisch. Es ruht eine Schönheit über diesen jungen Göttersöhnen, welche die Länder an ihren Platz stellen, die sich unterscheidet von dem Trollenhaften, das sich über das Meiste der nordischen Mythenwelt ausbreitet. Auch die Natur ist eine andere. Für die gewöhnliche Mythe existiert das nicht, was wir Natur nennen, es wird übersetzt in Personifikation. Hier steht plötzlich die sichtbare Natur vor uns, Sonne und Meer, Strand und Gras; der Erdball als solcher erlebt das ganze Weltdrama mit, das Meer braust und die Erde erbebt, es ist ein Gedröhn an Felsen, die zerschmettert werden."

Bei Snorri wird diese schönste der nordischen Vorstellungen vom Anfang der Welt um eine andere gelehrte vermehrt, die dem Geist späterer Zeiten entsprach: der Urriese entstand danach durch eine Verbindung von Norden und Süden, von Kälte und Hitze, Funken flogen von Muspell, der heißen Hölle, in die Zone von Nebel und Frost, von Reif und Eis. Auch sonst weiß Snorri noch mancherlei, halb Gelehrtes, halb Märchenhaftes über die Namen und die Verwandtschaft von Nacht und Tag und über ihre Pferde und über die Pferde und den Wagen von Sonne und Mond, und über die Fahrten und Aufgaben und das Gefolge der großen himmlischen Gestirne. —

Die ersten Menschen gingen nach den alten volkstümlichen Glauben in traumhafter Zeugung aus dem Urriesen hervor, oder sie verdankten der Umarmung von Himmel und Erde ihr Dasein, oder sie wuchsen aus der zweigeschlechtigen Erde selbst, oder sie entsprangen alle einem göttlichen Ahnherrn, oder eine Kuh leckte den Urmenschen aus dem Eis. Wie schön und klar sind im Vergleich mit diesen dumpfen, tiefen Ahnungen die Verse der



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Wöluspa über die drei liebreichen Götter, die sich der leblosen Bäume erbarmen und aus ihnen die schönen, warmen, beseelten Menschen schaffen! Und wie seltsam differenzieren wieder die späten Rigsmal den Bericht von der Menschenerzeugung, in dem sie nicht die Zeugung der Menschen, sondern die Zeugung der Stände, man möchte fast sagen, den Aufbau der Kasten schildern, vom niedrigen und häßlichen Knecht bis zum unbändigen Helden und zum geborenen Herrscher.

Mit der Welt und ihrem Ende hing im Norden der Weith aum, die Esche Yggdrasil geheimnisvoll zusammen. Wie die Vorstellung von diesem Baum sich entwickelte, haben wir verfolgt: in ihm verdichteten sich die Sagen von den vielen Bäumen, die eine Gemeinde beschützen, und unter denen sich alle versammeln, um Rats zu pflegen.

In der Dichtung der Wikingerzeit erhebt sich der Baum an heiliger Quelle, seine Wurzeln streckt er durch die drei Welten, und die Nornen begießen ihn. Götter und Nornen halten an Seinem Fuß Gericht, er steigt an zum Himmel, ein Adler wiegt sich ii seinen Wipfeln, und in seinem Gezweig weidet ein Hirsch und eine Ziege. Die Ewe ist von schlankem und hohem Wuchs, wächst gern an feuchten Stellen, die Blätterknospen keines Baumes sind von Tieren so begehrt, Vögel sitzen auf ihren Zweigen, und die Erdratte nagt an ihren Wurzeln, der Baum ist auch von mancher Krankheit bedroht. Diese Beobachtungen aus der Wirklichkeit kehren in dem Bild wieder, das norwegische Dichter von der Weltesche zeichnen: denn nur in Norwegen, besonders im südlichen, waren Esche und Hirsch bekannt.

Als das Christentum in den Norden eindrang, griff die Meinung, die Welt sei dem Untergang verfallen, immer weiter um sich. Den Generationen, die dies erlebten, erschien auch der Weltenbaum von unheimlichen Wesen bedroht, die unmerkbar und unablässig ihn zernagten und zerstörten, damit die Welt selbst schneller



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zugrunde ginge. Aber diese Auffassung entartete rasch, wohl auch, weil der Baum den Isländern fremd war. Der Hirsch und die Ziege galten nun als die Feinde des Baums, die ihm seine knospenden Triebe abbissen, aus dem einen Hirsch wurden vier, unten an der Wurzel der Esche nagte ein Drache, Nidhögg (der haßerfüllt Hauende), der sich später ebenfalls vervielfachte, ein Eichhörnchen, Ratatösk (Rattenzahn), lief stammauf, stammab, um Zwietracht zwischen dem Adler in den Wipfeln und dem Drachen an der Wurzel zu säen, und zwischen den Augen des Adlers saß noch ein Habicht. Es wiederholt sich vor unsren Augen hier noch einmal ein Schauspiel, wie wir es oft erlebten: groteske Phantasien überwuchern eine großartige, in sich vollendete und tiefdurchdachte Schöpfung der Wikingerzeit. Sie mögen alten Vorstellungen von der Feindschaft zwischen Schlangen und Vögeln und einem von vielen Völkern gern gehörten Märchen von einem Baum entlehnt sein, der verdorrt, weil ein Tier seine Wurzel schädigt. Maii kann auch den Verdacht nicht abwehren, als bemühten sich diese Ausmalungen, Eindrücke von Monumenten wiederzugeben, die den Wikingern in Irland aufgefallen sein mochten, Monumenten mit Rankenwerk, in denen sich seltsame Tiere und Vögel über- und durcheinander bewegen.

Fast glaubt man, die Isländer hätten sich später selbst verspottet, weil sie gar so viel Gefahren und Tiere an diesem Weltenbaum versammelten. "Mehr Würmer nagen an den Wurzeln der Esche, als ein unkluger Affe meint," sagen die Grimnismal.

Ins Jenseits, in dem die Abgeschiedenen hausen, in dem Unholde und Riesen Schrecken verbreiten, dringt der kühnste germanische Gott, Donar, vor. Das Wirken und Weben der Toten glaubten unsre Vorfahren, wie die meisten Völker, überall zu spüren, in den Häusern, in den Gräbern, im Wind und in den Bergen. In der Edda nehmen die Berichte über die Reiche der Verstorbenen bestimmte Umrisse an und entwickeln sich mit der heroischen Welt.



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Das älteste der Totenreiche ist die Hel. Jur Hel begaben sich noch manche Helden der Wikingerzeit, darunter die erlauchtesten wie Sigurd; auch den Balder nahm ja die Hel auf.

Es geschah wohl unter dem Einflusse christlicher Berichte im 10. Jahrhundert, daß aus der Hel ein Saal des Schreckens und der Strafe wurde. Die Wöluspa beschreibt ihn: an den Wänden winden sich Schlangenleiber, durch das Rauchloch tropft Schlangengift herunter. Die Verbrecher, die Meineidigen und die Mordgesellen mußten wilde Ströme durchwaten, bis sie endlich die finstere Behausung erreichten, ein scheußlicher Drache und ein Wolf mißhandelten die Leichen. Nach altem Glauben gibt es Dämonen, die, vampirähnlich, nach dem Fleisch und Blut der Verstorbenen gierig sind und es verzehren. Diese grausige Vorstellung hat die Wöluspa gesteigert und erhöht.

Noch spätere Dichter erzählten von der Hel wieder anderes: sie verwandelten sie in eine persönliche Göttin, in das Kind Lokis, das Odhin, wie wir wissen, nach Niflheim, der Welt des Dunkels, schleuderte, dem er die Kranken und Schwachen zuwies. Ihre Wohnstätte ist nun wieder groß, sie hat hohe Wände und breite Tore; der Kopf der Hel hängt herab, sie selbst sieht grimmig aus und ist zur Hälfte schwarz, zur Hälfte fleischfarben: wir erkennen den Stil des Märchens. Plage heißt ihr Saal, Hunger ihre Schüssel, Mangel ihr Messer, der Träge ihr Knecht, die Faule ihre Magd, fallendes Unheil ihr Tor, Geduldermüder ihre Schwelle, Krankenbett ihr Bett, bleiches Unglück ihr Bettuch oder ihr Vorhang . Das sind Namen, wie sie die geistreich-allegorisierenden späten isländischen Poeten in der Art des christlich gelehrten Mittelalters gern ersannen, sie stehen alle in schauerlichem Zusammenhang mit der Müdigkeit und Unlust, der erschöpften Geduld, der Trägheit und der Verzweiflung der Krankheit, des Alters, der Armut, die noch immer leiden müssen und so gern erlöst wären.

Eine Art Hölle war auch Utgard, eigentlich die Wohnung der



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Riesen, dann auch der Aufenthalt aller Trolle und unheimlichen Geister. Wem man etwas Böses antun wollte, den wünschte man in der Trolle Gewalt. Die Edda und Saxo schilderten uns Utgard als Ort höllischen Spuks, es war der Ort, in dem Thor seine Kämpfe mit Geirrödh und Utgardaloki bestand.

Bei den Germanen mag auch ein Glaube an ein Jenseits bestanden haben, in dem immer das Feuer wütete. Vielleicht war das Reich Muspells, das Snorri als ein Reich des Südens auffaßte, eine flammende Unterwelt, aus der am Ende der Tage der dunkle Surt stürzte und sein Schwert gegen den leuchtenden Frey schwang. Die Vorstellungen von Utgard und Muspellsheim wären dann in den Sagen von Geirrödh und Utgardaloki verschmolzen. In Utgard kämpft Loki mit dem Feuerdämon Logi, zu Geirrödh fliegt der feuerholende Loki, Geirrödh schwingt gegen Thor die feurige Waffe, und der irdische Geirrödh setzt den Odhin zwischen zwei Feuer, Odhin aber weiß die Flamme zu bannen. — Ausgemalt ist die Vorstellung oon Utgard, wie wir betonten, mit phantastischen Zügen keltischer Herkunft.

Recht verwickelt ist die Geschichte des Glaubens an Walhall. Viele alte Vorstellungen sind darin eingegangen. Nach altem und immer noch lebendigem Wahn sterben die auf dem Schlachtfeld Gefallenen nicht, sondern kämpfen in den Lüsten über der Walstatt weiter, oder brausen mit den Abgeschiedenen durch die Lüfte, oder ziehen mit dem Sturm in die Berge und brechen mit ihm aus den Bergen hervor, geführt von einem gespenstischen Führer. Oft ist dieser mit Wodan verwandt, oder ist Wodan selbst. In den Bergen hausen die gestorbenen Könige mit ihrem Gefolge: auch an diesen Glauben erinnern die nordischen Aussagen über Walhall in manchem Zug. Schließlich hat Walhall mit Hel manches gemein, gleich ihr ist sie durch reißende Ströme vom Diesseits getrennt und nur durch lange Wanderungen zu erreichen.

Die alten Vorstellungen von den Kämpfen und Behausungen



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der gefallenen Helden mußten sich wandeln, als aus dem ruhelosen Seelenführer Wodan der Heldengott Odhin wurde, der im Himmel thronte, und als die christlichen Vorstellungen vom Himmel ihren Einzug in die nordische Dichtung hielten. Nun wurde aus dem Heldenreiche das himmlische Walhall, und die Helden, die Odhin auszeichnen wollte, .gingen in Walhall ein. In dem hohen Saal, in dem Odhin herrscht, bilden Speere das Sparrengerüst, Schilde decken als Schindeln das Dach, auf den Bänken liegen Brünnen. Im Westen des Tores hängt ein Wolf, darüber schwebt ein Adler, fünfhundertundvierzig Tore hat die Halle, aus jedem können achthundert Einherjer schreiten, wenn sie am Ende der Tage mit Odhin gegen den Wolf ausziehen. Die Einherjer bekämpfen sich täglich, einer fällt den anderen, dann versöhnen sie sich, lieben die Walküren, essen die köstlichste Speise und trinken den Trank, der Helden gebührt. Das alte Grauen des Schlachtfeldes , die Schrecken von Krieg und Blut und von endlosem Kampf sind aber in den nordischen Gedichten über Walhall ebensowenig verklungen wie in den Schilderungen von Odhin und den Walküren , ja sie sind, namentlich in der Wikingerzeit, da und dort gesteigert. Die Welt der alten Götter und Heroen wurde eben auch hier von den Wikingern in eine Welt der Unerbittlichkeit verwandelt, in einer Fülle tragischen Glanzes gebadet, und dann einer fessellosen und doch bisweilen pedantischen Phantasie ausgeliefert .

Den germanischen und nordischen Berichten über den Ansang der Welt und der Menschen und über die Reiche des Jenseits entsprechen verwandte Vorstellungen vieler Völker. Nur in seltenen Fällen gelang es, die besonderen Quellen zu ahnen, aus denen unsre Vorfahren und aus denen die Nordleute schöpften. Den verschiedenen Berichten über den Untergang der Welt hat vor allem Axel Olrik bis in ihre feinsten Verästelungen nachgespürt, dadurch hat sich manches Dunkel gelichtet, was über ihrer



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Heimat und ihren Wanderungen lag. Die Sagen vom gefesselten Unhold hörten die Germanen zuerst im Kaukasus. Die Vorstellungen von der Kälte, in der die Welt erfriert, vom Feuer, in dem sie verbrennt, scheinen auch von Osten eingewandert, ihre älteste Heimat scheint das persische Bergland und das heiße Asien. In der Furcht, daß eine große Flut die Welt begrabe, zitterten viele Völker, besonders alle, die das Meer und die Gewalt reißender Ströme kannten. Wenn sie Sterne vom Himmel fallen sehen, so wird in Tausenden die Angst entstanden sein, es möchten einmal alle Sterne stürzen und in ihrem Fall die Welt mit sich reißen. Und welcher lähmende Schreck eine Sonnenfinsternis für primitive Völker ist, bestätigen uns viele Beobachtungen der Gegenwart . Die Prophezeiung aber, daß am Ende der Tage die Welt verrucht werden müsse und daß die Schlechten über die Guten herrschen, ist christlicher Herkunft und tief in das Bewußtsein des Mittelalters gedrungen, in seinen sozialen Umwälzungen fanden sie oft neue Nahrung.

Sogar unser kurzer Auszug aus der Wöluspa macht deutlich, mit welcher Kunst der Dichter auch beim Weltuntergang aus den alten Vorstellungen wählt, wie er ordnet und steigert, wie er die Schrecken des Endes anwachsen läßt, wie endlich aus ihnen der große letzte Kampf von Riesen und Göttern aufsteigt. Das war ein Werk dieses Poeten, daß er die alten Mären vom Anfang und Ende der Dinge mit den Sagen vom Kampf der Götter und Riesen verschmolz, und daß er in diesem Kampf das Heldentum der germanischen Götter auf seine Höhe führte. Die Germanen Schreckten nicht vor dem letzten zurück. Sie stellten es sich in seiner ganzen finsteren Grausamkeit vor, damit sie ihm begegnen konnten, wenn es wirklich über sie kam, sie bestanden, still und groß, das ihnen auferlegte Schicksal. Sie kämpften ihren Kampf gegen alle Aussicht auf Erfolg und beschützten die Welt bis zum letzten Hauch ihrer Kräfte. Axel Olrik sagt:



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Während andere Skalden nach der Götternacht sehen und nach einem Hintergrund für die Götterdämmerung, sieht der Dichter der Wöluspa den Untergang an als das handgreiflich Nächste und blickt schon hinüber nach einer kommenden Herrlichkeit. Damit sind die Asen unter das Niveau der Götter heruntergedrückt, sie sind Helden, und die Einzelheiten sind in ein bestimmtes Verhältnis gebracht zum ganzen Hergang. Thor erscheint nur ein einziges Mal im Vorbeigehen, bevor wir ihn im letzten Kampf fallen sehen. Balder tritt in den Vordergrund, sein wehrloser Tod und die Sehnsucht nach ihm leitet das neue Zeitalter ein. Hinter dem blutigen Gott, den der Speer der Bosheit trifft, erahnen wir den leidenden Erlöser.

Die Götterdämmerung, ihre Vorbereitung und ihre Ausführung, bleibt des Dichters Hauptthema; hier bewegt die mächtige Dichterkraft sich frei unter den herandringenden Riesen, der Unruhe der Götter und der Welt, der Größe und dem Schmerz des Kampfes, bis die Erde, endlich zerstört, vom Feuer verschlungen wird und in das Meer sinkt. Die Bilder sind so mächtig und strömen so gewaltig vorüber, daß der Zuhörer kaum unterscheiden kann, daß zwischen die heidnischen Mythen christliche Züge eingewebt sind. Die sittliche Verderbnis, die Posaunen des Gerichts, die Sonne und die Sterne, die stürzen, und der Brand der Erde, und ebenso bei der Wiedergeburt die Erde, die aus dem Meer emportaucht und grün wird, der Adler und der Fisch, die goldenen Tafeln und die unbesäten Äcker, Balders Wiederkehr und die Herrschaft der jungen Götter, alles das erscheint uns vertraut, sogar Gimles (der neuen Welt) goldenes Dach entspricht Walhall. Und die Ankunft des Mächtigen ist natürlich als Offenbarung des Schicksals über den Asen, das schon lang geherrscht hat. Erst eine genauere Untersuchung zeigt, daß dieser Abschnitt, ähnlich wie andere auf heimischem Grund, sich zu entfalten beginnt in christlicher oder doch jedenfalls in monotheistischer Richtung . Der eigentlich heidnische Unsterblichkeitsglaube, die Wiedergeburt in dem jungen, nächsten Geschlecht, dämmert flüchtig auf, während die Seligkeit und die Gerechtigkeit die tragenden Gedanken sind und Gimle seinen Glanz erhalten hat von dem neuen Jerusalem. Am allermeisten gilt das von der Ankunft des Mächtigen, der das Reich aufrichtet, diese Auffassung sprengt die Heidenschaft und schafft die Lehre von einem Gott.

Der Dichter der Wöluspa war eine grübelnde und suchende Seele, erzeugt von der gärenden Wikingerzeit. Er hat das Problem zu lösen versucht, wie die überlieferte Mythenwelt sich vereinen ließe mit den



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neuen Gedanken und er schuf ein Werk, erfüllt von Schönheit, Beseelung und Tiefsinn. Es ist kein Versuch, die Lehre von den Göttern zu verteidigen , und noch weniger ein Versuch, christliche Wahrheiten in heidnische Tracht zu kleiden. Es ist die unmittelbare Arbeit einer ernsten Natur, den innersten Zusammenhang der Welt zu verstehen.

Andere eschatologische Weissagungen und Gedichte, besonders die der Bibel und Werke orientalischer Herkunft, hatten weltweite Wirkung, die Autorität der ihnen künstlerisch nicht unebenbürtigen Wöluspa blieb auf den Norden beschränkt. Denn ihre Welt ist die Welt des germanischen Nordens, die spröde Gelehrsamkeit und die dunklen Anspielungen der nordischen Poeten umkleiden ihre Visionen, sie gilt einem versinkenden Glauben, der nur im germanischen Norden aufrecht geblieben war. Gerade das aber, daß sie Geist ist vom edelsten Geist der Wikinger, bleibt für uns ihr höchster Wert. Die feierliche und prophetische Kraft, die einst die germanischen Frauen durchdrang, ihr tiefstes Wissen um Heldentum und Untergang entströmt in einer vorher nie gekannten Macht und Verklärung in der Wöluspa zum letzten Mal den Lippen einer germanischen Seherin.


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