DER EINFLUSS DER
DESCENDENZLEHRE AUF DIE
PHYSIOLOGIE.
DIE VORBILDUNG FÜR DAS
UNIVERSITÄTSSTUDIUM INSBESONDERE DAS MEDICINISCHE.
ZWEI RECTORATSREDEN GEHALTEN AN
STIFTUNGSFESTE DER UNIVERSITÄT ZÜRICH
29. APRIL 1878 UND 29. APRIL 1879
VON
PROF. DR. L. HERMANN
IN ZÜRICH.
LEIPZIG,
VERLAG VON F. C. W. VOGEL. 1879.
DER EINFLUSS
DER DESCENDENZLEHRE AUF DIE PHYSIOLOGIE.
(29. April 1878.)
Hermann, Rectoratsreden.
Hochansehnliche Versammlung!
Die geräuschlose Thätigkeit der Universitäten hat
wenig Berührungspuncte mit dem practischen Leben,
obwohl sie indirect auf das letztere einen ungeheuren
Einfluss ausübt. Nicht allein ist ein grosser Theil der
Entdeckungen und Erfindungen, welche das alltägliche
Leben umgestalten, wenigstens mittelbar aus den
Werkstätten der Hochschulen, aus den stillen Studirzimmern
ihrer Lehrer hervorgegangen, viel mehr noch
sind die allgemeinen Anschauungen auf dem Gebiete
der Philosophie, des Rechtes, der Geschichte, der Religion,
jene Vorstellungen, welche dem Jahrhundert
ihren Stempel aufdrücken, und welche die Gedanken
und Handlungen des Staates so gut wie des Individuums
fast unvermerkt beherrschen, auf den Hochschulen
grossentheils entwickelt, und durch ihre Schüler
noch mehr als durch die Schrift in die Bevölkerung
hinausgetragen. Nicht mit Stolz, sondern
eher mit dem beengenden Gefühl einer hohen Verantwortlichkeit
ist sich die Hochschule dieses Einflusses
bewusst. Der Forscher sucht auf allen Gebieten
einzig nach Erkenntniss und Wahrheit; die practischen
Consequenzen aber gehen oft genug über seine Absichten
und selbst seinen Gesichtskreis hinaus, und
fast erschrocken steht er da vor den unabsehbaren
Wirkungen, welche ein ins Leben hinaus gedrungenes
Ergebniss daselbst entfaltet hat. Denn in unsern Tagen
sind unablässig Kräfte thätig, um jedes Neue nach
allen Richtungen so weit wie irgend möglich zu entwickeln,
und man kann fast sagen dass Alles bis an
die Grenzen des Unsinns ausprobirt, und diese Grenze
gewissermaassen experimentell ermittelt wird; ein Experiment
freilich, das in jedem Einzelfall auf viele Personen
vertheilt ist, und bei welchem derjenige, der die
Grenze zuerst erreicht hat, durch seinen Fall die Andern
belehrt und den Versuch nach einer gewissen
Richtung zum Abschluss bringt.
Wiederholentlich ist in neuerer Zeit die Frage aufgeworfen
worden, in wie weit die Wissenschaft für die
Consequenzen ihrer Ergebnisse wirklich verantwortlich
sei. Kein Forscher aber wird auch nur einen Augenblick
in Zweifel sein, dass eine solche Verantwortlichkeit
nicht existirt. Die Wissenschaft ist lediglich verantwortlich
für die Richtigkeit, oder vielmehr, da wir
der absoluten Wahrheit uns stets nur annähern können,
für die Begründung ihrer Aussprüche. Dass Ergebnisse
von der grössten denkbaren Sicherheit, wie z. B. der
pythagoräische Lehrsatz, oder das Princip von der Erhaltung
der Energie, oder das Gesetz der festen electrolytischen
Action, frei ausgesprochen, dem Volke zugänglich
gemacht und nach allen Richtungen ausgebeutet
werden dürfen, wird ja Niemand in Frage
stellen. Und sollte einst ein Unglück aus der Anwendung
eines dieser Sätze hervorgehen, so wird Niemand
daran denken diejenigen anzuklagen, welche den
Satz gelehrt und verbreitet haben, so wenig wie bei
der Schandthat jenes amerikanischen Mörders, welcher
die Bevölkerung ganzer Schiffe für eine Banknote in
die Luft sprengte, Einer daran gedacht hat, dem Chemiker
Schuld zu geben, von welchem das Nitroglycerin
entdeckt wurde. Die Wissenschaft nimmt weder Patente
für die Nützlichkeit, noch leistet sie Gewähr gegen
die Schädlichkeit ihrer Resultate.
Wo sie blosse Theorien aufstellt, sind diese, sobald
sie die von der Wissenschaft verlangten Grundlagen
besitzen, nicht viel anderes als ein modificirter Ausdruck
des augenblicklichen Standes der Kenntnisse
freilich gewonnen durch Zuhülfenahme gewisser logischer
oder mathematischer Operationen. Die Unsicherheit,
welche den besten Theorien anhaftet, rührt
daher, dass die zu Grunde gelegten Thatsachen niemals
völlig rein zur Beobachtung kommen, und daher
gewisse Vernachlässigungen unentbehrlich sind, bei
welchen individuelle Ansicht, Willkür nothwendig eine
Rolle spielen. Insofern steckt auch in den besten Theorien
ein gewisser Grad von Ungewissheit, und alle bedürfen
fortwährend neuer Proben an neu gefundenen
Thatsachen. Wie gross aber diese Ungewissheit auch
sein mag, die Theorie (d. h. diejenige, welche mit keiner
bekannten Thatsache in Widerspruch steht) ist, so gut
wie die unzweifelhafteste Thatsache selbst, ein berechtigtes
Resultat, d. h. das Beste was unter den vorliegenden
Umständen zur Zeit geleistet werden kann.
Für die Unsicherheit ist die Wissenschaft deshalb ohne
alle Verantwortlichkeit, weil sie aus derselben nie ein
Hehl macht, vielmehr der Theorie gewissermaassen
einen Werthstempel aufprägt, dessen Bedeutung dem
Wissenden erkennbar ist. Werden Theorien als absolute
Wahrheiten ins Publicum geworfen, so ist nur
Derjenige anzuklagen, welcher diesen Publicationsfehler
begangen, nicht Derjenige welcher die Theorie
erfunden hat.
Solche Publicationsfehler sind ungemein häufig
und werden mit Recht in hohem Grade verurtheilt.
Sie sind weit gefährlicher als die blosse Aufstellung
unberechtigter oder unrichtiger Theorien innerhalb der
Forscherkreise selbst; denn diese bleiben entweder unbeachtet,
oder es ereilt sie in kürzerer oder längerer
Frist das verdiente Schicksal der Widerlegung. Eine
falsche Theorie hat die Wissenschaft selber noch selten
auf die Dauer geschädigt, selbst wenn sie, unterstützt
durch Autorität, Schülerzahl oder gar stellungverleihende
Einflüsse ihres Urhebers sich einige Jahrzehnte
am Leben erhielt. Wandern aber selbst berechtigte
Theorien hinaus aus den Archiven, Studirzimmern und
Laboratorien und werden sie als Wahrheiten verkündet,
so kann das Unheil gross sein. Auf die vermeintlich
sichere Wahrheit bauen dann immer weitere Kreise
immer weitergehende Schlüsse, und alles Falsche, was
dabei, sei es durch Fehler des Schlussverfahrens, sei es
durch die der Wissenschaft selbst wohlbekannte, draussen
aber unbeachtete Mangelhaftigkeit der Grundlage
herauskommt, wird nur zu leicht schliesslich der Wissenschaft
selber zur Last gelegt. So empfindet denn
die Wissenschaft in jeder ihrer Theorien eine Quelle
von Missverständnissen nach aussen hin, und daher,
nicht aus einem ganz mit Unrecht vermutheten Gefühl
von Vornehmheit, kommt es, dass grade die besten
Forscher zur Popularisirung allgemeinerer Fragen wenig
Neigung verspüren.
Jede Wissenschaft, und so auch die Physiologie,
die Lehre vom Leben des Menschen und der Thiere,
ist auf denjenigen Gebieten am meisten auf Theorien
angewiesen, wo sie an die letzten Fragen menschlicher
Erkenntniss heranstreift, und die Theorien dieser Gebiete
sind grade am meisten von allgemeinerem Interesse
und daher im eben erwähnten Sinne gefährlich.
Dass es in der Lehre vom Leben an Fragen jener
Art nicht fehlt, kann man sich denken; ja wir sind
überzeugt einen grossen Fortschritt gemacht zu haben,
als wir das frühere einzige Lebensgeheimniss, die Lebenskraft,
mit einer grösseren Anzahl wenn auch transscendenter
Fragen vertauschten. Nicht allein ist die
Physiologie, als angewandte Physik und Chemie, bei
allen letzten Fragen dieser Wissenschaften, Atomistik,
Beziehung zwischen Kraft und Stoff, lebhaft mit interessirt,
— hier kann sie wenigstens vermeiden sich
selbstständig zu äussern, — die Fragen aber, welche
sich unmittelbar mit ihrer ganzen Wucht vor ihr aufthürmen,
sind nichts Geringeres als: die Entstehung
des Organischen, das Geheimniss der Fortpflanzung
und Vererbung, die Artenbildung sammt der Abstammung
des Menschen, endlich die Fragen des Seelischen
und seines Zusammenhangs mit dem Materiellen.
Für eine Anzahl dieser Fragen hat sich eine Theorie
in hohem Grade förderlich erwiesen, welche übrigens
nicht auf dem Boden der Physiologie selbst erwachsen
ist, sondern allgemeinere biologische Grundlagen hat:
die Darwin'sche Descendenzlehre. Durch Publicationsfehler
der vorhin bezeichneten Art hat diese Lehre im
Publicum einen revolutionären, und besonders einen
antikirchlichen und atheistischen Beigeschmack erhalten,
der ihr ursprünglich ganz fremd ist. Mit dem sog.
Monismus hat diese Lehre nicht das Mindeste zu thun,
und ich halte, wie ich gleich hier bemerken will, die
instinctive Abneigung der Gegner monistischer Weltanschauung
gegenüber der natürlichen Zuchtwahl für
unberechtigt und abenteuerlich. Die Descendenzlehre
hat für religiöse und moralische Fragen kaum grössere
Bedeutung als die Gravitation; das kühne Wechselziehen
auf eine ungewisse Zukunft, welches man heute
Monismus nennt, ist vielleicht durch Darwin etwas
mehr ermuthigt worden; aber Galilei, Newton, Laplace
und Robert Mayer haben wohl ebensoviel daran verschuldet.
Mancher könnte auf den ersten Blick die Bedeutung
der Descendenzlehre für-die Physiologie, und den
Grund warum fast alle Physiologen eifrige und überzeugungstreue
Anhänger Darwin's sind, in den Aufklärungen
suchen, welche die Abstammung des Menschen
anscheinend durch jene Lehre empfangen hat;
denn durch eine Hochfluth von populären Schriften
und Vorträgen ist das Publicum verführt worden, diese
Frage als den eigentlichen Kern des Darwinismus zu
betrachten. Allein für die Naturwissenschaft ist sie
nicht um Haaresbreite wichtiger als die von der Abstammung
des Maulwurfs, der Weinbergschnecke oder
des Gänseblümchens, und fast mit Widerwillen wendet
man sich ab von der Unzahl von Missverständnissen,.
welche durch unkluges Nachdrucklegen auf das Schlagwort
von der Stammvaterschaft des Affengeschlechts
heraufbeschworen worden sind. Dass der Mensch ein
Säugethier ist mit ungemein entwickeltem Grosshirn,
dass er nur in Folge dessen über die übrigen Thiere
eine ungeheure geistige Ueberlegenheit besitzt, war
schon vor Darwin keinem wahren Naturforscher zweifelhaft,
und ist leicht jedem Laien durch das blosse
Skelett, ja durch einen einzigen Knochen zu demonstriren.
Schon vor Darwin hatte man eingesehen, dass
es principielle Unterschiede zwischen Mensch und andern
Säugethieren nicht giebt. Der ungemein fruchtbare
Gedanke, den der englische Forscher zuerst mit
voller Klarheit ausgesprochen hat, dass die Analogien
des Baues und der Lebenseigenschaften der Thiere
nicht Zufall, sondern Folge eines streng gesetzmässigen
Entwicklungsvorganges sind, reiht den Menschen
nicht etwa in eine Classe ein, in die man ihn früher
nicht zählte; hier bleibt Alles beim Alten. Nur wandelte
sich die schon unzweifelhafte Gemeinschaft der
Eigenschaften um in eine wirkliche Stammverwandtschaft.
Ueber letztere konnten nur Solche indignirt
sein, denen die erstere, so lange bekannte, fremd geblieben
war. Der stets sehr gewagte Versuch, den
Stammbaum der Thierformen specieller darzustellen,
ist für den Menschen nicht im Geringsten sicherer
ausführbar als für irgend ein anderes Thier, und es
lohnt nicht von einem so unfruchtbaren Forschungsgebiet
viel Aufhebens zu machen. Zwar hat die Anthropogonie
oder die Phylogenese des Menschen ihre
hypothetische Natur einigermaassen dadurch verdeckt,
dass sie zu einer ganz anderen Disciplin den Anstoss
gab, nämlich der prähistorischen Archäologie, und
dass Biologen plötzlich in ihren Mussestunden zu Archäologen
geworden sind. Aber diese Verbindung ist
unnatürlich, und wird sich schwerlich lange halten.
Die Hoffnung fossile Vorstufen des Menschen zu
finden, hat sich nicht erfüllt, ohne dass dies übrigens
irgendwie gegen die Entstehung des Menschen
durch natürliche Züchtung spräche, denn schon
Darwin hat die Gründe entwickelt, welche die Erhaltung
der Vor- und Zwischenformen der bestehenden
Arten erschwerten. Es ist deshalb unwahrscheinlich
dass über die Phylogenese des Menschen
durch Funde menschlicher Ueberreste etwas Wesentliches
ermittelt wird. Alle zweifellosen Ergebnisse,
die in den anthropologischen Archiven verzeichnet
sind, beziehen sich auf eine verhältnissmässig junge
Periode, in welcher das Genus Mensch längst in seiner
jetzigen Form morphologisch entwickelt war, und
betreffen also die ungeschriebene Geschichte des Menschen,
einen Gegenstand der durchaus mit archäologischen
Mitteln zu bearbeiten und daher dem eigentlichen
Arbeitsgebiet des Naturforschers, wenigstens des
Biologen, entrückt ist. Die Technik der Schädelmessung,
welche für die Erkenntniss der Racenwanderungen
und Racenabstammung unentbehrlich ist, bildet
fast den einzigen Berührungspunct der physischen und
der archäologischen Anthropologie, und diese Technik
erlernen die Archäologen grade so gut, wie die zur
Erkennung des Materials von Geräthen, der Holzart
von Bauten und dgl. erforderliche.
Ungleich mehr als hinsichtlich der Frage nach
der Abstammung des Menschen ist die Descendenzlehre
fruchtbar gewesen durch die allgemeinen Forschungsprincipien,
welche sie vor Allem der Physiologie
eingehaucht hat, und hier liegt der Grund weshalb
diese Lehre für die Physiologie gradezu eine
Lebensfrage geworden ist. Sie hat den transscendenten
Zweckbegriff beseitigt, und dadurch einen wahren
Alp von den Forschern genommen. Vor zwanzig Jahren
herrschte in der Physiologie eine ganz eigenthümliche
Verlegenheit in der Redewendung. Ein Beispiel
wird sie Ihnen veranschaulichen. Dass das Auge ein
zum Sehen höchst vollkommen eingerichtetes Organ
ist, wird Jedermann zugeben. Das Bild welches die
Gegenstände auf die Netzhaut werfen, ist so vollkommen
wie es künstliche Instrumente kaum erreichen können,
von selber richtet sich das Auge für die Entfernungen
der Gegenstände optisch ein, corrigirt seine
sphärische Aberration in dem Maasse wie es der Brechzustand
jedesmal erfordert, regulirt zum Schutze der
Netzhaut die ins Auge fallende Lichtmenge, u. s. w.
u. s. w. Und doch war es verpönt zu sagen, die Iris
mit der Pupille habe den Zweck, die Randstrahlen
von der Linse abzublenden, die Lichtintensität zu reguliren,
die Linse habe den Zweck, ein verkehrtes reelles
Bildchen auf die Netzhaut zu werfen, das Auge
sei zweckmässig zum Sehen eingerichtet. Der Ausdruck
Zweck involvirte ja die Annahme eines schöpferischen
Willens, dem Zwecke vorschwebten, und um
in dieser Hinsicht nichts zu präjudiciren, war es Styl
nur von Wirkungen und Folgen, nicht von Absichten
und Zwecken der vorhandenen Einrichtungen zu sprechen.
Es entstanden dadurch höchst gezwungene Redewendungen,
die Zweckmässigkeit, welche stillschweigend
überall erkannt wurde, durfte nicht laut genannt
werden.
Jetzt reden wir in dieser Beziehung ungleich natürlicher.
Wir sagen ganz unbedenklich, das Organ
habe diese oder jene Aufgabe, welche in zweckmässigster
Weise erfüllt wird; freilich ist dies nur ein abgekürzter
Ausdruck für die Aussage, dass das Organ
in all seinen Details sich dadurch entwickelt hat, dass
seine Wirkungen dem Thiere gewisse Vortheile verschafften.
Der Ausdruck Zweck bezeichnet also hier
keine Willkür einer schöpferischen Kraft, sondern umgekehrt
einen Nutzen, welcher selbst schöpferisch wirken
musste. Ausdrucksweisen und Begriffe haben
sich in der seltsamsten Weise umgewandelt. Die naive
Anschauung sagte: der Schöpfer hat die Iris erschaffen;
damit sie durch ihre Zusammenziehung im Lichte die
Netzhaut vor Blendung bewahre. In der Zeit unmittelbar
vor Darwin hiess es: die Iris zieht sich im Lichte
zusammen; dies hat, gleichsam zufällig, die Wirkung
dass die Netzhaut vor Blendung bewahrt wird; auch
wenn das Gegentheil der Fall wäre, würden wir uns nicht
wundern. Endlich heute sagen wir: ein Organ, welches
durch seine Zusammenziehung die Netzhaut vor Blendung
bewahrt, musste sich heranzüchten, weil diese
Bewahrung vortheilhaft ist, weil die Thiere, welche
sie besitzen, im Tageslichte besser sehen können als
andre, und daher besser ihre Beute erkennen,. ihren
Feinden entgehen, u. s. w. Wir sind durch die Descendenztheorie
noch viel fester als vorher von der
Zweckmässigkeit jeder Organisation überzeugt, und
ahnen hinter jeder morphologischen Eigenthümlichkeit
mit Recht einen Vortheil irgend welcher Art, den die
Zukunft enthüllen wird; denn ohne einen Vortheil
könnte sie nicht existiren. Und man sucht auch selten
vergebens nach diesen Vortheilen, wenn man nur
alle Möglichkeiten genügend übersieht und der Prüfung
unterwirft. Die Krystalllinse aller Wirbelthiere
zeigt z. B. einen eigenthümlichen schaligen Bau.
Von der Ueberzeugung ausgehend, dass derselbe irgend
einen optischen Nutzen haben müsse, gelangte
man dazu in demselben eine Einrichtung zu erkennen,
welche das Gesichtsfeld des Auges sehr viel grösser
macht als das aller künstlichen optischen Instrumente.
Die Frage nach dem Nutzen der bestehenden Organisationen
ist in der Physiologie zu einem wichtigen
heuristischen Elemente geworden.
Obgleich wir nun den Zweck der morphologischen
Bildungen beständig im Munde führen, ist doch der
eigentliche Zweckbegriff, wie eine einfache Ueberlegung
lehrt, grade durch die Descendenzlehre ganz
aus der Wissenschaft verbannt, und jenes Wort wie
schon bemerkt nur eine Abkürzung für eine ganz andere
Begriffsreihe. Seltsam ist es, dass dies noch immer
von Einzelnen verkannt und der Descendenzlehre der
Vorwurf gemacht wird, dass sie so gut wie die persönliche
Schöpfungslehre einen Schöpfungszweck annehme.
Nun wäre das zwar für die Physiologie noch kein
grosses Unglück. Mag man doch immerhin, wenn
man will, jenes so wunderbar entwicklungsfähige Urprotoplasma
erschaffen sein lassen, um irgend einem
Schöpfungszwecke zu genügen, wenn nur von da ab
Alles mechanisch, d. h. naturwissenschaftlich aufgefasst
werden darf, so kann die Physiologie sich zufrieden
geben; sie hätte dann die lähmende specielle
Teleologie vertauscht mit einer einzigen teleologischen
Frage höheren Ranges. Hätte die Descendenzlehre
nichts weiter geleistet, als diese Modification der Teleologie,
so gewährte sie schon einen hohen Grad von
Befriedigung. Diejenige Schöpfungskraft, welche durch
jenen einzigen Act die ganze zauberhafte Fülle der organischen
Natur zu Wege brachte, wäre doch wohl
für jeden Denkenden eine befriedigendere Annahme,
als die unmittelbare willkürliche Erschaffung der jetzt
bestehenden Formen, eine Erschaffung welche bei aller
Bizarrerie doch der Schablone nicht entrathen konnte.
Denn das Stirnbein mit all seinen Gräten und Löchern
wiederholt sich in allen höheren Wirbelthieren, und der
Vorderarm besteht stets aus zwei Knochen, sollte der
eine auch nur rudimentär sein; als wäre ein Pinsel über
ein Loch der Schablone mit zu wenig Druck hinübergefahren.
Aber man versuche es doch, jener ersten Entstehung
des Urprotoplasma einen Schöpfungszweck
unterzulegen! Man wird schwerlich einen einleuchtenden
angeben können, und immer nur bis zu der
Behauptung kommen, eine Substanz, deren Eigenschaften
solche waren, dass ihre gesetzmässige Entwicklung
bis zum Menschen führte, habe nicht durch Zufall entstehen
können. Bestenfalls sei sie die Wirkung eines
weiteren, unbekannten, über dem Darwinismus stehenden
Gesetzes, das die unorganische Materie zum entwicklungsfähigen
Protoplasma gleichsam heranzüchte.
Weder aber könne das Bestehen eines solchen Gesetzes,
noch eine directe Entstehung des Protoplasma
ohne Annahme einer Absicht, heisse sie wie sie wolle,
begriffen werden.
Warum sollte aber nicht eine Substanz von jenen
Eigenschaften durch Zufall haben entstehen können?
Ist denn etwa nachgewiesen, dass alle Weltkörper belebt
sind, wissen wir es ausser der Erde, diesem winzigen
Sandkorn unter Myriaden, auch nur von Einem?
Ist ein Schluss von Einem Object auf Myriaden an
derer im geringsten gerechtfertigt? Wer hiergegen
einwendet, es sei äusserst unwahrscheinlich, dass nur
ein einziger Weltkörper protoplasmatisch belebt ist,
hat eben die Annahme, dass das Protoplasma eine
allgemeine Entwicklungsstufe der Materie ist, ohne
weitere Grundlage schon im Voraus gemacht; und
wer ferner den Zufall zu unwahrscheinlich findet, dass
dieser Eine Weltkörper mit Protoplasma grade unsre
Erde ist, begeht ungefähr den gleichen Fehler wie
Jemand, der sich wundert, dass bei allen Dingen die
er beobachtet, er selber mit auf der Scene ist. Ausserdem
bleibt der bekannte Ausweg, anzunehmen, dass
das Protoplasma irgendwo nur einmal entstanden, und
durch Meteoriten-Infection von Weltkörper zu Weltkörper
verpflanzt worden sei.
Wenn aber die Belebung nicht eine allgemeine
Entwicklungsstufe aller Materie ist, so könnte sie in
der That einmal durch einen Zufall entstanden sein.
Man überlege doch, dass zahllose ähnliche Bildungen
durch analoge Zufälle aufgetreten, alle aber wieder zu
Grunde gegangen sein könnten; eben die Eigenschaften,
welche Persistenz und allgemeine Ausbreitung verbürgten,
konnten allein sich halten. Grade wie jede
Variation der Form später durch Zufall entstand, aber
nur dann sich hielt und weiter entwickelte, wenn sie
irgend welche Vortheile bot, kann ja auch unter Millionen
an das Protoplasmatische heranstreifender Zustände
des Stoffes der eine, welcher wirklich noch jetzt
besteht, einer einzigen Eigenschaft wegen sich erhalten
haben.
Und wer sich die bestehende Belebung der Erdoberfläche
als jenes Schöne und Wünschenswerthe vorstellt,
das wir uns als Schöpfungszweck denken können,
übersieht, wie der Umstand, dass wir die Natur
schön finden, in Nichts beruht als in unsrer vollendeten
Anpassung an das Bestehende, die sich auch
auf unsre Seele erstreckt; er übersieht, dass ein mephistophelischer
Geist dieses Wuchern des Protoplasma,
dieses Sicheindrängen des Gewürmes in alle Spalten
der Natur widerlich finden könnte; er übersieht, dass
dieselben Entwicklungsgesetze auch jene krankheiterzeugenden
Bacterien und Micrococcen heranzüchten,
die mit dem Menschengeschlecht im Kampfe ums Dasein
liegen, und dasselbe vielleicht eines Tages vertilgen
werden. Er übersieht endlich, dass die ganze
belebte Welt, gleichmässig über die Erdoberfläche ausgebreitet,
eine Schicht von wenigen Millimetern ausmachen
würde, sich also zur Erdmasse vielleicht verhält
wie Eins zu einer Milliarde. Dieser winzige Bruchtheil
kann für den Planeten als Glied des Universums keine
Bedeutung haben. Und selbst unsren Geist überheben
wir, wenn wir ihn, in seiner unsäglichen Unvollkommenheit
und Wirkungslosigkeit für das All, als den Endzweck
einer Schöpfung hinstellen. Immer überhaupt
machen wir beim Statuiren von Schöpfungszwecken
im Grunde denselben kindlichen Fehler, wie als wir
Sonne und Mond als Lichter für die Erde ansahen,
oder wie derjenige der das Sonnensystem mit der
Absicht ausgeführt sich vorstellen wollte, dass am
6. Mai 1878 Nachm. 3 Uhr 49' für Zürich der Mercur
in die Sonnenscheibe eintreten soll. Wem also die Descendenzlehre
noch Zwecke in der Natur übrig zu lassen
scheint, der steht eben dem grossen Problem gegenüber,
warum überhaupt das Universum besteht, und
mit diesem mag er sich abfinden.
Die Physiologie darf also den Menschen betrachten
als das Product eines in den Grundzügen übersehbaren
Entwicklungsgesetzes. Kein Einwand hiergegen
ist es, dass in diesem Gesetze lauter Dinge vorkommen,
die wir nicht weiter verfolgen können, das Geheimniss
der Formung und Vererbung, das Geheimniss des Bewusstseins
u. s. w. Denn überall in der Naturwissenschaft
sind die Erklärungen nichts anderes als Zurückführung
zahlreicher Erscheinungen auf eine geringere
Zahl einfacherer; ob diese letzteren weiter erklärbar
sind, ist eine ganz andere Frage. Zu den befriedigendsten
Gebieten menschlichen Wissens gehört die Astronomie
des Sonnensystems und die Lehre vom Lichte.
Erstere führt zahllose Erscheinungen auf die allgemeine
Gravitation, letztere auf die Elasticität eines Lichtäthers
zurück. Aber Gravitation, Lichtäther, Elasticität sind
selber unerklärte und vielleicht auf immer unerklärbare
Dinge.
Mit der Begründung der Ueberzeugung, dass jede
Einzelheit der Organisation einen Nutzen für das Dasein
habe, den wir erforschen können, mit der dadurch
gegebenen heuristischen Bedeutung, ist die Wirkung
der Descendenzlehre auf die Physiologie keinesweges
erschöpft. Die Thierreihe bildet für uns nunmehr
ein genetisches Continuum, und in ihren niederen Stufen
müssen sich alle Elemente in vereinfachter Gestalt
wiederfinden, welche im Menschen in schwer entwirrbarer
Complicirtheit vorhanden sind. Die Studien an
Thieren, welche früher nur vermöge mehr oder weniger
unsicherer Analogieschlüsse auf den Menschen
anwendbar schienen, haben durch die Descendenzlehre
eine erhöhte Bedeutung gewonnen; sie stellen jetzt
dar ein Aufsuchen des gleichen Objectes in einfacherer,
der Erkenntniss zugänglicherer Gestalt. So können
wir denn auch, die unmittelbaren Analogiebeziehungen
aufgebend, hinabsteigen zu den allerniedersten
Thierformen; wir können den Muskel auf der Stufe
aufsuchen, wo er noch formloses contractiles Protoplasma
darstellt, den Kreislauf wo er noch nichts anderes
ist, als unmittelbarer hin und her wogender Verkehr
des durch die Verdauung gewonnenen Nährsaftes
mit den Geweben, die Athmung wo sie befriedigt wird
durch den directen physicalischen Austausch der Gewebsgase
mit den Gasen des die Oberfläche bespülenden
Wassers, weil die Oberfläche wegen der Kleinheit
des Gebildes noch jedem Gewebspuncte hinreichend
nahe ist. Vergeblich wäre es, wollte ich bei der Kürze
der Zeit Ihnen die Fülle der Aufklärung zu schildern
versuchen, welche jedes Capitel der Physiologie unter
dem Einfluss dieser Erkenntniss gewonnen hat. Der
genannte Einfluss der neuen Lehre hat erst begonnen,
die vergleichende Physiologie ist viel jünger als ihre
Schwester, die vergleichende Anatomie; von Hoffnungen
aber viel zu reden, würde Sie wenig befriedigen.
Eine ganz unmittelbare, aber freilich durchaus
nicht unbestrittene Anwendung hat die Descendenzlehre
in der embryonalen Entwicklungsgeschichte erfahren.
Vermöge angeerbter geheimnissvoller Eigenschaften
sehen wir das befruchtete Ei jedes Thieres
eine Reihe höchst wunderbarer gesetzmässiger Umwandlungen
durchmachen, bis es schliesslich ein dem
elterlichen Organismus in jeder Einzelheit ähnliches
Gebilde wird. In diesem Entwicklungsvorgang sieht
nun Häckel nichts anderes als eine rasche Repetition
desjenigen Entwicklungsganges, den die Species selbst
von der einfachsten einzelligen Urform im Laufe vieler
Millionen von Jahren durchlaufen hat. Jeder Organismus
hat nach dieser Lehre, welche als das "biogenetische
Grundgesetz" bezeichnet wird, gleichsam
seine ungeheure Geschichte geerbt und hat sie in nuce
zu repetiren. Wenn diese Anschauung mehr ist, als
ein geistreiches Aperçu, und man muss gestehen dass
sie sehr viele Thatsachen für sich anführen kann, so
würde sie uns in der That wesentlich weiter bringen,
indem sie in das grösse Räthsel der organischen Formung
das erste Licht wirft. Auch physiologische
Thatsachen kommen ihr zu Hülfe; in der functionellen
Entwicklung des Individuums finden sich unverkennbare
Analogien mit der Functionenentwicklung in der
Thierreihe.
Werfen wir beispielsweise einen Blick auf ein Gebiet,
welches, obwohl vom allgemeinsten menschlichen
Interesse, doch mit der Physiologie am innigsten verknüpft
ist, auf die psychischen Functionen der Organismen.
Grade hier dürfen wir von der Descendenzlehre
mächtige Förderung im Verständniss erwarten,
obwohl ich zur Vermeidung von Missverständnissen
sofort bemerken muss, dass sie uns über jene grosse
und hoffnungslose Frage nach dem Wesen des Psychischen
und seines Zusammenhangs mit der Materie
zweifellos nicht hinweghelfen kann. Aber es handelt
sich in der Physiologie nicht sowohl um die Psyche
selber, als um ihre motorischen Aeusserungen. Erstere
können wir nur unmittelbar an uns selbst, letztere an
jedem Thiere beobachten, und hier gestattet uns die
neue Anschauung die Frage aufzuwerfen, wie sich motorische
Aeusserungen des Bewusstseins von einer
niedrigsten einfachsten Stufe ab entwickelt haben. Die
Physiologie sieht einen ganz continuirlichen Uebergang
von den Reactionen des einfachsten Organismus auf
schmerzhafte oder gefahrdrohende Eingriffe bis zu den
verwickeltsten Handlungen des Menschen. Auf jener
ersteren Stufe erscheint uns ein blosser Mechanismus.
Das Protoplasmaklümpchen, das wir mit der Nadel berühren,
und das sich vor der Spitze zurückzieht, könnten
wir uns als völlig seelenlos vorstellen, nur gehorchend
dem mechanischen Gesetze, dass mechanische Reizung
der contractilen Substanz dieselbe an Ort und Stelle
zur Zusammenziehung bringt. Trotzdem darf der denkende
Naturforscher nicht zweifeln, dass auch dieses
Klümpchen mit den elementarsten seelischen Fähigkeiten,
mit Lust und Unlust, oder wenigstens mit einem
Wechsel zwischen Gleichgültigkeit und Unlust, begabt
sei; wir brauchen freilich diese Psyche nicht zur Erklärung
des Wahrgenommenen, aber wir müssen sie
annehmen, weil wir uns unmöglich denken können,
dass eine so fundamentale Eigenschaft der organisirten
Materie erst in einem höheren Entwicklungsstadium
plötzlich zugeflogen sei. So wird auch Niemand
zweifeln, dass dem Menschen schon im Eizustand, wo
er eben nichts als ein Protoplasmaklümpchen ist, ein
psychisches Element innewohnen müsse; denn wann
sollte es etwa später entstehen? Das Embryonalleben
bietet nur ganz allmähliche Uebergänge, keinen plötzlichen
Sprung, und der Moment der Geburt ist ja auch
nichts anderes als eine gewisse Veränderung des Athmungs-,
Kreislaufs- und Ernährungsmodus, und absolut
nicht dazu angethan, dass in diesem Moment etwa das
Seelenleben erst begänne.
Aus dem Protoplasmaklümpchen, welches noch
alle elementaren Functionen vereinigte, entwickelte
sich nun nach der Theorie ein immer complicirterer
Organismus. Jenes Klümpchen hatte die Eigenschaft,
sich auf äussere Reize zusammenzuziehen, und alle
Reize, Druck, Wärme, Licht etc., wirkten noch direct
auf die homogene contractile Masse ein. Indem sich
dann an der Oberfläche besonders lichtempfindliche,
besonders druckempfindliche u. dgl. Puncte heranbildeten,
hatten besondere Reize besondere Angriffspuncte
erhalten, die zugleich specifisch viel empfindlicher
waren als die ursprüngliche Alles vereinigende
Masse. Zur Einwirkung dieser Sinnespuncte auf die
contractile Masse brauchten die Verbindungsstränge
nicht mehr selbst contractil zu sein, sondern es genügte,
dass sie die Erregung leiteten; so entstand ein
Strang, der die Eigenschaft der Contraction verlernt
oder verloren hatte und nur noch die ebenfalls ursprüngliche
Eigenschaft der Leitungsfähigkeit behielt,
ein Nerv. Und das Bewusstsein concentrirte sich an
der Stelle, wo es mit dem empfindenden Nerven in
innigster Verbindung war, in einem Mittelglied zwischen
Empfindungs- und Bewegungsnerven, in einem
nervösen Centralorgan.
Die Mechanik des Centralnervensystems auch nur
in dem Umfange auseinanderzusetzen, in welchem sie
den Physiologen sicher bekannt ist, würde allein eine
Anzahl von Vorträgen erfordern. Für unsern augenblicklichen
Zweck aber genügt es, zu bemerken, dass
ein Theil dieses Organs einfach nach dem Schema des
Zugapparats an manchen Hausthüren gebaut ist. Bei
Tage wird der Riegelzug in den Glockenzug eingehängt,
so dass wer nur zu läuten glaubt, sich unmittelbar
selber die Thür öffnet. Wir vertrauen dabei auf
völlig normale Verhältnisse, wir lassen jeden ein, der
hinein will. Nachts aber lösen wir beide Züge von
einander; der Einlass Begehrende läutet, und es kommt
auf den Entschluss einer Seele, eines Portiers oder einer
Hausmagd an, ob auf das Läuten geöffnet werden soll
oder nicht. Im elementarsten Theil unsres Centralnervensystems,
im Rückenmark, sind solche Verbindungen
zwischen Glocken- und Riegelzügen, d. h.
zwischen Empfindungs- und Bewegungsnerven hergestellt,
dass jeder Reiz sich selber Erledigung schafft;
nur besteht dieselbe hier nicht in Einlass, sondern in
Abweisung, nämlich in Beseitigung der reizenden Ursache.
Das enthirnte oder das schlafende Thier machen
maschinenmässige Abwehrbewegungen (wir nennen
diese Bewegungen Reflexe), indem der Verbindungsnerv
direct mit Bewegungsnerven in leitender
Verbindung steht. Aber beide sind ausserdem mit
höheren, psychischen Organen leitend verbunden, von
welchen das Läuten des Reizes gehört, die Abwehrbewegungen
auf Grund von Ueberlegung zugelassen
oder unterdrückt, und die gleiche Bewegung auch
ohne jenen Reiz eingeleitet werden kann, ganz wie
der Portier die Thür durch Zug öffnen kann auch ohne
dass es geläutet hat.
Das Centralnervensystem hat also eine niedere,
rein mechanische, und eine höhere, psychische Sphäre,
die erstere gleichsam für die alltäglichen gemeinen
Bedürfnisse, die zweite für höhere Interessen. Ganz
so einfach ist aber die Sache nicht; es giebt noch
zahlreiche Zwischenstufen. Das System, elementarere
Dinge von Faserverbindungen niederer Ordnung erledigen
zu lassen, in welche immer höhere Organe
regulirend eingreifen, welche complicirteren Erregungscombinationen
gehorchen, ist auf die wunderbarste
Weise durchgeführt, ein wahres Muster erleuchteter
Bureaucratie, wo jede höhere Instanz zwar alle niederen
widerspruchslos beherrscht, aber nur dadurch,
dass sie viel mannigfachere Nachrichten empfängt,
also viel umfassender unterrichtet ist. Die höchste
all dieser Instanzen ist das eigentliche Seelenorgan,
dessen Sitz die Grosshirnrinde ist. Hier werden nicht
allein von allen Theilen der Peripherie Nachrichten
in Empfang genommen, sondern die motorischen Aeusserungen
werden ausser durch diese auch durch die
vergangenen Erregungen, welche Spuren zurückgelassen
haben, beeinflusst, wodurch die Aeusserungen
von höherem Gesichtspuncte zweckmässig werden. So
ist z. B. der Organismus in seiner Mechanik nicht
darauf angelegt, sich widerstandslos schmerzhaften
Eindrücken preiszugeben. Die niederen Centra schleudern
das Messer hinweg, welches ins Fleisch schneiden
will; Erfahrung kann aber machen, dass ein heilsamer
Schnitt zugelassen wird.
Sind nun jene einfacheren Reactionen, die wir
ziemlich leicht mechanisch erklären können, ebenfalls
Wirkungen eines Bewusstseins, oder sind umgekehrt
auch die höchsten und complicirtesten Handlungen der
Seele reine Maschinerie? Beide Ansichten haben ihre
Vertreter, und beide ihre Berechtigung, ja sie können
nebeneinander bestehen, sie schliessen sich nicht aus.
Die Centralorgane niederer Thiere, denen wir ohne
allen Zweifel doch Bewusstsein zuschreiben müssen,
stehen in jeder nachweisbaren Beziehung noch unter
der Stufe der elementarsten Centralgebilde des Rückenmarks
der Säugethiere. Es scheint also kein Grund
vorhanden, diesem letzteren seelische Functionen ganz
abzusprechen. In der That machen die Handlungen
eines enthirnten Thieres dem Unbefangenen den Eindruck,
als ob sie von einem Bewusstsein geleitet würden,
und vor zwanzig Jahren war die Annahme einer
besonderen "Rückenmarksseele" unter den Physiologen
sehr verbreitet. Seitdem hat sich die Sachlage insofern
geändert, als man eingesehen hat, dass sich jene Handlungen
mechanisch durch Reflexmechanismen erklären
lassen. Diejenigen nun, welche zur Annahme eines
Bewusstseins erst da schreiten, wo die mechanischen
Erklärungen nicht mehr ausreichen, bestreiten dem
Rückenmark psychische Functionen, oder, wenn sie
sie wegen der eben angeführten Analogien zulassen,
so halten sie sie wenigstens für wirkungslos und gleichgültig.
Aber ganz ähnlich ist die Situation selbst für die
unzweifelhaften Seelenorgane des Grosshirns. Materielle
Vorgänge können nach einem Grundprincip der
Naturwissenschaft nur durch materielle Einwirkungen
bedingt sein. Sehen wir einen Augenblick ab von
unserer unmittelbaren Erfahrung an uns selbst, von
der Empfindung unseres Ich, beschränken wir uns auf
die Betrachtung eines fremden Organismus, so sind
selbst dessen complicirteste Handlungen, Gang, Griff,
Blick, Wort und Schrift, lediglich Muskelbewegungen,
deren mechanische Vorbedingungen nothwendig in den
augenblicklichen und allen früheren mechanischen Einwirkungen
der Aussenwelt auf Sinnesorgane und Nervensystem
jenes Individuums gegeben sind (wobei das
Wort "mechanisch" im weitesten Sinne genommen ist,
also auch chemische, optische Bewegung in sich begreift).
Wir haben also eine Maschine vor uns, wenn
auch von unendlicher Complicirtheit, und dadurch noch
verwickelter dass jeder Eindruck sie bleibend verändert.
Die Anschauung dass der Mensch und jedes Thier
eine Reflexmaschine sei, ist wie man sieht die Folge
eines allgemeinen naturwissenschaftlichen Princips. Sie
steht bekanntlich in unlösbarem Widerspruch mit der
Annahme eines absolut freien Willens. Entweder also
ist diese Freiheit eine Selbsttäuschung, d. h. unser
Wille ebensogut eine nothwendige Folge unsrer augenblicklichen
und sämmtlicher früheren Empfindungen,
wie die diesem Willen entsprechende motorische Erregung
nothwendige Folge aller augenblicklichen und
früheren Sinneserregungen, — oder jenes allgemeine
naturwissenschaftliche Princip, von dem man zugeben
muss, dass es empirischer und inductiver Natur ist,
leidet an einem Puncte eine Ausnahme und ist also
unrichtig. In dieser Alternative kann die Naturforschung
nur sagen, sie halte an ihrem empirischen
Princip so lange fest, bis unwiderleglich bewiesen ist,
dass der Wille wirklich frei sei, d. h. sicherer bewiesen
als durch das unmittelbare Empfinden dieser Freiheit.
Dieser Beweis würde aber erfordern zwei absolut
gleiche Organismen von absolut congruenter sinnlicher
Vergangenheit, auf welche absolut dieselben
Eindrücke momentan wirken; hier müsste nachgesehen
werden, ob sie genau dasselbe oder ob sie verschiedenes
thun. Man versuche nun dieses Experimentum
crucis!
Bis es zu unsern Ungunsten entschieden sein wird,
werden wir also daran festhalten müssen, alle motorischen
Aeusserungen der Organismen rein mechanisch
aus mechanischen Bedingungen herzuleiten. (Die Empfindung
des freien Willens erklärt sich dann aus der
aufs Höchste getriebenen Anpassung der Organisation,
mit Einschluss der psychischen Functionen, an die bestehenden
Verhältnisse; die Maschine glaubt das zu
wollen, was sie wirklich thut und thun muss.) Wem
es aber sinnlos scheint, dass eine Maschine ein Buch
schreiben und einen Vortrag halten kann, wolle doch
bedenken dass auch alle Vorbedingungen hierzu, alles
Auffassen und Lernen dieser Maschine, in sinnlichen
Eindrücken bestanden, also sich aus reiner Mechanik
zusammensetzten. Wem ferner diese Actionen zu verwickelt
erscheinen um mechanisch erklärbar zu sein,
der möge ein Stück Eisen zerbrechen und die Bruchfläche
betrachten. Wie unendlich verwickelt, wie fern
von aller Darstellbarkeit durch eine mathematische
Formel ist ihr Gefüge! Und doch zweifelt Niemand
daran, dass diese Form der Bruchfläche in allen unendlich
verwickelten Details lediglich die nothwendige
Folge ist der mechanischen Verhältnisse in den zwei
Acten des Erstarrens nach dem Schmelzen, und des
Zerbrechens. Und bei einem Organismus, der so viel
verwickelter gebaut ist, und in welchem nicht bios
zwei momentane Vorgänge, sondern jede Secunde
Jahrzehnte lang die mechanischen Bedingungen änderte,
sollte man behaupten wollen, die Handlung des
Moments sei zu verwickelt um in den mechanischen
Vorbedingungen ihre erschöpfende Begründung zu
haben?
Und doch steckt in dieser Maschine, wie sie jedem
fremden Auge erscheint, für sie selbst ein Bewusstsein,
steckt in ihr Lust und Unlust, Leidenschaft, ein Résumé
aller ihrer Erlebnisse; kurz alle centralen Leitungs-
und Erregungsprocesse sind von psychischen
Erscheinungen begleitet. Welche Bedeutung haben
diese letzteren, wenn sie doch mechanisch wirkungslos,
wenn sie gleichsam nur "zum Vergnügen des Einwohners"
oder zu seiner Qual da sind? Wenn es
wahr ist, dass alle Functionen des Organismus sich
unter dem Einfluss eines Nutzens für den Kampf ums
Dasein heranbildeten, so stehen wir hier vor einem
Widerspruch, der uns ängstlich und vorsichtig machen
muss. Man sieht aber weiter, dass wir mit der
Hirnseele grade im gleichen Dilemma sind, wie mit
der Rückenmarksseele. Letztere brauchten wir nicht
zur Erklärung der rein mechanisch leicht deutbaren
Rückenmarksfunctionen, sondern nahmen sie nur per
analogiam an, obgleich wir von ihrem Dasein keine
unmittelbare Ueberzeugung hatten. Vom Dasein der
Hirnseele haben wir an uns selber die unmittelbarste
Ueberzeugung, können sie aber zur Erklärung
der objectiven Vorgänge nicht verwerthen, sondern
erklären diese rein mechanisch, per analogiam.
Das Problem des Psychischen steht also trotz
Allem in voller grausiger Hoffnungslosigkeit vor uns,
und ich muss gestehen dass auch die neuesten panpsychistischen
Versuche, wie z. B. derjenige, die
Umwandlung von Spannkraft in lebendige Kraft mit
Lust, die umgekehrte Verwandlung mit Unlust zu identificiren,
mir wenigstens nicht eine Spur von Aufklärung
verschafft haben, wie denn auch die Naturwissenschaft
jeder vermeintlichen Lösung des psychischen
Problems ein starkes Misstrauen entgegenbringt. Auch
die Descendenzlehre kann, wie schon bemerkt, das psychische
Problem selbst weder lösen noch fördern. Sie
kann allenfalls aus der allgemein zugegebenen Grundlage
dass der niederste thierische Organismus ausser
seiner Erregbarkeit und Contractilität auch ein Bewusstsein
besitzt, eine Entwicklung ableiten, welche
die Localisation dieser psychischen Eigenschaft in die
sich heranbildenden nervösen Centralorgane verständlich
macht; aber damit ist wenig gewonnen; immer
bleibt das Problem des Psychischen an sich ungelöst,
immer führt auch die Entwicklung auf ein Multiplum
von Ichs, welche die sensiblen Puncte der Oberfläche
repräsentiren, aber nie auf jenes einheitliche Ich, dessen
Existenz unsere unmittelbarste Ueberzeugung uns
documentirt. Die naheliegende Betrachtung dass jene
sensiblen Elemente seit der Geburt gleichsame Schicksale
erlebt haben, und zwar in unabänderlicher räumlicher
Zusammenordnung, genügt nicht um über die
Schwierigkeit hinwegzuhelfen; eine Compapnie Soldaten
wird, auch wenn sie Jahrhunderte mit unveränderter
Anordnung ununterbrochen zusammen exercirte,
nicht zu einem einzigen Ich-Bewusstsein verschmelzen.
Allein für das rein mechanische Problem des Causalnexus
zwischen den Einwirkungen der Aussenwelt
und den motorischen, d. h. reflectorischen Actionen,
bietet uns die Descendenzlehre in ihrem Grundgedanken
Anhaltspuncte. Ich habe schon darauf hingewiesen,
dass wir in dem scheinbar willkürlichen Handeln
der Thiere eine continuirliche Entwicklungsreihe erblicken
vom niedrigsten bis zum höchsten Organismus.
Auf der untersten Stufe sehen wir nur die elementarste
Form des Reflexes, nämlich die unmittelbare
Reaction der contractilen Substanz auf die Reizung;
dann folgt die Stufe des durch Nerven vermittelten
Reflexes, hierauf immer complicirtere Centralnerven
bis hinauf zur Rückenmarksformation, welche
so ziemlich mit der Grenze zwischen Wirbellosen und
Wirbelthieren zusammenfällt, und zu den Grosshirnfunctionen.
Diesem Entwicklungsgang der Arten entspricht
auch der embryonale des Individuums, ja neuere
anatomische und physiologische Untersuchungen deuten
darauf hin, dass im Neugebornen zahlreiche elementare
Hirnfunctionen und die ihnen entsprechenden
anatomischen Bezirke noch nicht einmal angelegt
sind. Anstatt nun die Mechanik der centralen Reaction
zu studiren an dem unendlich verwickelten Gehirn
der höchsten Organismen, wird man sie, um Licht
zu erlangen, in niederen, einfacher übersehbaren Formen
aufzusuchen haben.
Die interessanteste und wichtigste aller hier auftauchenden
Fragen ist aber sicherlich die der individuellen
Entwicklung der centralen Mechanik. Das
Centralnervensystem verhält sich den centripetalen
Eindrücken gegenüber wie weiches Wachs; jeder hinterlässt
etwas Bleibendes, das die späteren Reactionen
modificirt und zwar zweckmässiger macht. Im Gebiet
der höchsten Centra nennen wir diese Eindrücke und
ihre Wirkung auf das zukünftige Verhalten Erinnerung
und Lernen. Aber ganz Analoges beobachten
wir auch in niederen Centralorganen, denen die Meisten
das Bewusstsein vollständig absprechen, und wo mechanische
Anschauungen Jedem als das Natürlichste
erscheinen. Ich könnte aus den experimentellen Erfahrungen
an normalen und operirten Thieren eine
ganze Reihe derartiger Fälle anführen, wenn es nicht
unmöglich wäre, dieselben ohne Benutzung von Zeichnungen
und ohne sehr eingehende Erläuterungen verständlich
zu machen. Mit Einem Wort, auch die niederen
Centralorgane haben die Eigenschaft, unter der
Einwirkung sinnlicher Eindrücke ihre Mechanik zu verändern.
Es entsteht also die Frage: wie kann erklärt
werden, dass die sensiblen Einwirkungen ausser der
momentanen Reaction auch noch eine derartige bleibende
Abänderung im Reflexmechanismus hervorbringen
können, dass die zukünftigen Reactionen
stets den durch die sensiblen Einwirkungen angezeigten
Bedingungen entsprechend und zweckmässig bleiben?
Diese Frage ist nicht allein nicht hoffnungslos,
sondern vielleicht sogar an niederen Organismen dem
Experimente zugänglich. Man kann schon ungefähr
voraussehen, dass ihre Lösung auf einem ähnlichen
Zuchtwahlprincip beruhen wird, wie die ganze Descendenz
der Thierformen. Die Physiologie lehrt dass
die Wahl zwischen möglichen Reactionen auf einen
sensiblen Eingriff lediglich auf Differenzen im Widerstande
der Leitungswege beruht. Diese Widerstände
variiren offenbar fortwährend unter dem Einfluss der
durchgehenden Erregungen selbst. Zweckmässige Abwehr,
um zunächst den einfachsten Fall eines schmerzhaften
Angriffs zu nehmen, wird diejenige sein, welche
den Erregungszustand des Centrums am schnellsten
beseitigt und am wenigsten anwachsen lässt; Dauer
der Erregung ist nämlich, in Folge einer den Centren
eigenthümlichen Summation, zugleich Anwachsen. Das
Princip der kleinsten Erregung nach Stärke und Dauer
muss sich aber als eine allgemeine Eigenschaft der
Reactionsapparate herangezüchtet haben, weil jede
überflüssig starke oder dauernde Erregung einen Nachtheil
gegenüber besser organisirten Reactionsapparaten
darstellte. Alles kommt also schliesslich auf das mechanische
Problem heraus, wie unter der Einwirkung
des Princips der kleinsten Erregung stets der Widerstand
derjenigen reflectorischen Bahnen der kleinste
ist, welche unter den gegebenen Umständen dem Reizzustand
die schnellste Erledigung schaffen, d. h. die
zweckmässigste Abwehr bewirken. Ist diese Frage
einmal gelöst, und sie gehört durchaus nicht zu den
transscendenten, so wird uns vielleicht selbst für das
Seelenorgan dasjenige nicht mehr ganz unerreichbar
scheinen, was E. du Bois-Reymond in seinem Vortrage
"über die Grenzen des Naturerkennens" als "astronomische
Kenntniss", d. h. vollkommenes mechanisches
Verständniss bezeichnet hat. D. h. wir werden eine
Maschine begreifen können, die sich den verschiedensten
Aufgaben gegenüber stets von selber leistungsfähig
erhält, wenn nur all diese Aufgaben sich zurückführen
lassen auf Beseitigung eines aus äusseren Einwirkungen
hervorgegangenen Erregungszustandes. Es
wird darauf ankommen wie weit sich unsre willkürlichen
Handlungen auf dies oder ein ähnliches Princip
zurückführen lassen; so weit dies möglich sein wird,
werden sie mechanisch erklärbar sein. Den mit diesen
Acten verknüpften seelischen Process werden wir
aber damit nicht im Mindesten erklärt haben.
Das genetische Moment spielt , wie man sieht, in
den Hoffnungen der Physiologie eine grosse Rolle.
Ursprünglich vor das Studium des complicirtesten aller
thierischen Organismen, des Menschen gestellt, ja eigentlich
ausgegangen von den Bemühungen die Krankheiten
zu verstehen, hat sie allmählich gelernt, an einfacheren
und einfachsten Naturgebilden Vorstudien zu
machen. Diese Studien hatten früher nur die Tendenz,
an leichter übersehbaren Objecten gewisse einfache
Thatsachen kennen zu lernen, und diese theils durch
mehr oder weniger sichere Analogieschlüsse auf den
Menschen zu übertragen, theils und hauptsächlich um
sie heuristisch zu verwerthen, d. h. Fragen stellen zu
lernen in der Untersuchung des Complicirteren. Durch
die Descendenzlehre haben aber die Untersuchungen
niederer Gebilde eine ganz neue fruchtbare Seite gewonnen.
Von den Eigenschaften derselben ist keine
bei der Weiterentwicklung ganz verloren gegangen,
sondern sie steckt, wenn auch sehr verborgen, mit im
höchsten Organismus. Am niedersten Gebilde studiren
wir implicite auch das höchste, gewissermaassen in
einem frühzeitigen Entwicklungsstadium, wo noch Alles
einfacher, elementarer, übersehbarer ist. Ich bin überzeugt,
dass bald die Physiologen nicht weniger eifrig
als die Anatomen und Zoologen an die Meeresküste
pilgern werden, jene unerschöpfliche Fundgrube für
genetische Studien.
Trotz Allem was ich hier auseinandergesetzt, halte
ich die neuerdings aufgestellte Forderung, dass die
Descendenzlehre zur Grundlage des naturwissenschaftlichen
Unterrichts schon auf der elementarsten Stufe
gemacht werde, für unberechtigt und übertrieben.
Die höchsten Blüthen menschlicher Erkenntniss sind
fast stets, um unsern Flug zü hemmen, mit dem eingangs
besprochenen theoretischen Werthstempel versehen.
Das Unsichere aber zur Grundlage des Unterrichts
zu machen wäre ebenso thöricht, als es verkehrt
wäre, in der Forschung selber die Theorie zu verschmähen,
weil sie nur Theorie ist. Ich würde deshalb
in einer Schule die Descendenzlehre nicht einmal
erwähnen. Die ersten Stadien jedes Unterrichts müssen
in der Aufnahme sicherer Thatsachen bestehen,
und wenn ich unsre Lehramtscandidaten Vorlesungen
über die Darwin'sche Theorie hören sehe, so hoffe ich,
dass dies nur geschieht um ihren eigenen Gesichtskreis
zu erweitern, nicht damit sie ihre Schüler in die Geheimnisse
der Descendenz einweihen. Man beginnt
ja gewiss auch den astronomischen Schulunterricht
nicht mit der Newton'schen Gravitationsiehre, obgleich
diese eine ungleich sichrere Theorie ist als die Darwinsche.
Ueberhaupt möchte ich den Fanatikern der Descendenzlehre
etwas vorhalten, was der neueren Descendenzlehre
selbst entnommen ist. Häckel hat das vorhin
erwähnte "biogenetische Grundgesetz"aufgestellt, nach
welchem jedes Individuum in seiner Embryonalentwicklung
den ganzen Entwicklungsgang in wenigen Tagen
oder Monaten noch einmal durchmacht, den die Art
durchlaufen hat in ihrer vielleicht Jahrmilliarden umfassenden
Entwicklung. Wenn dies Gesetz richtig ist,
so schliesst es wohl eine beherzigenswerthe Lehre ein
für jede künstliche Entwicklung, also auch die geistige,
welche die Aufgabe der Pädagogik bildet. Dem
biogenetischen liesse sich ein "noogenetisches"Gesetz an
die Seite stellen, nach welchem auch die gesunde geistige
Entwicklung des Individuums am besten in nuce
den Gang wiederholt, den die geistige Entwicklung
des Menschengeschlechts durchlaufen hat. Gewiss hat
es dereinst Menschen gegeben, ja wir sehen noch heute
solche unter den sog. Wilden, welche in geistiger Beziehung
auf dem Niveau unsrer Kinder vor der Schulstufe
stehen, und so mag jeder Entwicklungsstufe des
heutigen Menschen ungefähr ein Zeitalter der Menschheit
entsprochen haben. Lassen wir bei unsern Kindern
zuerst die naivste Anschauung sich entwickeln,
lassen wir sie immerhin die Welt betrachten als von
einer Gottheit zur Freude des Menschen geschaffen,
lassen wir sie sich die Bilder der Natur unbefangen
einprägen als Geschöpfe einer formenreichen Schöpferkraft,
überlassen wir sie zunächst, ohne theoretische
Scrupel, den Einwirkungen der Religion und des Cultus
unter dem sie geboren sind, und welche, wie historisch
in den Völkern, so auch im Individuum fruchtbare
moralische Keime entwickelt. Der Unterricht
muss nach jenem Grundgesetz gradeso inductiv fortschreiten,
wie die Wissenschaft selbst fortgeschritten
ist, und deren letzte theoretische Errungenschaften
müssen auch die letzte Stufe des Unterrichts bilden;
wer diese Stufe erreicht, wird dann auch befähigt
sein, über die höchsten Fragen selbstständig nachzudenken,
und der Religion gegenüber nach Gutdünken
Stellung zu nehmen, ebensogut wie gegenüber
der naiven Schöpfungsgeschichte; wer sie nicht erreicht,
wird auch bei seinen naiven Anschauungen
glücklich sein. Einem Individuum diesen Act der
selbstständigen Entscheidung irgendwie durch verfrühte
Unterrichtstendenzen vorwegnehmen, halte ich
für verkehrt und verderblich. Wenn jenes so einfache
und natürliche Grundgesetz der Erziehung befolgt
wird, werden sich von selber manche Schwierigkeiten
lösen, die die Neuzeit zu Tage gefördert hat.
Ich hoffe, Niemand wird mich dahin missverstehen,
dass ich wünschte, das Individuum solle auch die thatsächlichen
Irrthümer der Vergangenheit noch einmal
durchmachen. Irrthümer hängen vom Zufall ab, und
sind zwar ein schwer vermeidlicher, aber kein gesetzlich
nothwendiger Vorgang beim Erkennen. Die von
der Menschheit und der Wissenschaft durchlaufenen
niederen Erkenntnisstufen sind characterisirt nicht
durch die Herrschaft falscher, sondern durch den
Nichtbesitz richtiger Lehren. Die Erziehung hat also
keineswegs Unrichtiges zu lehren, wenn sie jenem
Principe folgt.
Uebrigens bin ich nicht der Erste, der dieses
noogenetische" Princip aufstellt. Für den naturwissenschaftlichen
Unterricht ist es längst als die beste
Methode erkannt, sowohl im lebendigen Vortrag als
in der Darstellung des Lehrbuchs, das Individuum denselben
Gang durchmachen zu lassen, den die Wissenschaft
in langen Zeiträumen genommen hat. Man beginnt
mit der naivsten Auffassung der dem unbefangenen
Beobachter sich aufdrängenden Erscheinungen,
und schreitet so vor, als ob die aufklärenden Entdeckungen
erst im Laufe des Vortrags selbst vom Lehrer
in Gemeinschaft mit dem Schüler gemacht würden. Ein
solcher, den inductiven Gang der Forschung repetirender
Unterricht kann auf jeder Stufe Halt machen, ohne
eine Lücke oder einen Zwiespalt zu hinterlassen, wie
es sein würde, wenn die Theorie vorweggenommen
wäre und nachher die Schule den Anschluss nicht erreichte.
Möge unsre Hochschule stets eine Stätte solider
und inductiver Forschung und entsprechenden
Unterrichts bleiben; dann wird sie am besten die edlen
Absichten erfüllen, welche vor 45 Jahren ihre Gründer
beseelten.