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Inkongruenzen und Inkonvenienzen —oder: Der Kampf um das Forum

Prof. Dr. Gerhard Walter

I. Die Ausgangslage

1. «Der natürliche Richter»

«Der competente Richter ist derjenige, hinter welchem der Beklagte, den man rechtlich belangen will, mit Feuer und Licht ordentlich sitzt.»

Was die Berner Gerichtssatzung von 1761 mit so plastischen Worten beschreibt 1, bezeichnet man heute — immer noch recht feierlich — als den Grundsatz des «natürlichen Richters», des «juge naturel», d.h.: Soll jemand in einem Zivilprozess verklagt — auf gut Schweizerisch: «ins Recht gefasst» — werden, so hat dies im Normalfall am Wohnsitz des Beklagten zu geschehen. Beschrieben wird dieser Grundsatz auch mit der —heutigen Studenten schwer zu vermittelnden — römisch-rechtlichen Parömie «actor sequitur forum rei». Welchen Rang dieser Grundsatz in der Schweiz besitzt, kann man daran erkennen, dass er nicht nur —wie meist in anderen Ländern —auf der Ebene eines einfachen Gesetzes verankert ist (Art. 3 GestG), sondern sogar die Weihe einer Verfassungsnorm erhalten hat: Art. 30 Abs. 2 Satz 1 der Bundesverfassung (BV) vom 18. April 1999 bestimmt: «Jede Person, gegen die eine Zivilklage erhoben wird, hat Anspruch darauf, dass die Sache vom Gericht des Wohnsitzes beurteilt wird 2.»

Fragt man nach den Gründen für eine solche Bevorzugung des Beklagten, so trifft man regelmässig auf die Erklärung, es handle sich keineswegs um eine reine «Zweckmässigkeitsvorschrift», sondern um eine Regelung mit ausgesprochenem Gerechtigkeitsgehalt: «Dem Vorteil des Klägers, der nicht nur das Ob, sondern auch den Zeitpunkt und die Art des Klageangriffs bestimmt, entspricht die Vergünstigung des Beklagten, den ihm ohne und meist gegen seinen Willen aufgezwungenen Rechtsstreit nicht auch noch unter zusätzlichen Erschwerungen an einem auswärtigen Gericht führen zu müssen» 3; es gibt also einen «favor defensionis» 4. Der Gerechtigkeitsgehalt dieses «Beklagtengerichtsstandes» soll sich namentlich auch in neueren, zwingend oder teilzwingend ausgestalteten Regelungen zeigen, etwa im Bereich von Konsumentenschutz, Miete und Arbeitsrecht: Auf den Gerichtsstand kann die «schwächere» Partei nicht zum Voraus oder durch eine Einlassung auf den Rechtsstreit verzichten.

2. Ausnahmen vom natürlichen Richter

Von der Regel des «actor sequitur forum rei» gibt es (natürlich: aus Sachgründen) bestimmte Ausnahmen: So enthält schon Art. 30 Abs. 2 Satz 2 BV den Vorbehalt, das Gesetz könne einen anderen Gerichtsstand (scil.: als den des Wohnsitzes) vorsehen. Es gibt also etwa die so genannten «besonderen» Gerichtsstände der gelegenen Sache, der Erbschaft, des Deliktes usw. Damit bedeutet der besondere Gerichtsstand des Deliktsortes, dass das Opfer eines Deliktes den Täter (=Beklagten) nicht an dessen Wohnsitz aufsuchen muss, sondern am Deliktsort klagen kann.

II. Die Lage im internationalen Verhältnis

1. Unter der Geltung des IPRG

Diese Regel des «actor sequitur forum rei» beansprucht vorerst Geltung in rein nationalen Fällen, also für die sog. örtliche Zuständigkeit: Eine in Bern wohnhafte Person muss sich grundsätzlich nicht vor einem Zürcher Gericht ins Recht fassen lassen.

Operiert man —wie gesehen — mit Gerechtigkeitsüberlegungen als Geltungsgrund dieser Regel, so muss diese erst recht in einem sog. internationalen Verhältnis gelten: Warum soll sich zwar der Berner gegen einen Prozess in Zürich wehren können, nicht aber gegen einen solchen, der ihm in Prag aufgezwungen wird? (Von einem Prozess in den USA ganz zu schweigen, aber darauf kommen wir noch ...).

Wie leicht zu erkennen, verschiebt sich nun allerdings die Optik (und damit verschieben sich auch die Begriffe): Natürlich kann man nicht verhindern, dass sich ein ausländisches Gericht — nach dessen eigenen Zuständigkeitsregeln —für zuständig hält. Die Frage lautet jetzt vielmehr, ob ein solches Urteil, das gegen eine Person mit Wohnsitz in der Schweiz im Ausland ergangen ist, hierzulande auch anerkannt wird. Wir sprechen deshalb jetzt von der so genannten indirekten oder auch Anerkennungszuständigkeit.

Die für die Schweiz massgeblichen Bestimmungen über die indirekte Zuständigkeit, die im Schweizer Gesetz über das Internationale Privatrecht (IPRG) enthalten sind (z.B. Art. 149 IPRG), sehen als Regelfall vor, dass eine ausländische Entscheidung in der Schweiz (nur) dann anerkannt wird, wenn sie in einem Staat ergangen ist, in dem der Beklagte seinen Wohnsitz hatte. Wer von einem Gericht seines Wohnsitzstaates verurteilt wird, muss also immer damit rechnen, dass die entsprechende Entscheidung in der Schweiz anerkannt wird. Wenn der Fall aber anders herum liegt, wenn also eine Person mit Wohnsitz

in der Schweiz von einem Gericht im Ausland verurteilt wird, so wird eine derartige Entscheidung hierzulande grundsätzlich nicht anerkannt — weil sie nicht vom «juge naturel» getroffen worden ist.

Hier stossen wir allerdings auf eine Inkongruenz der schweizerischen Rechtsordnung, die ihr im Ausland häufig übel genommen wird.

Betrachten wir folgendes Beispiel:

Verursacht ein tschechischer Autofahrer einen Verkehrsunfall in der Schweiz, so kann er von dem Geschädigten in der Schweiz verklagt werden (Art. 129 Abs. 2 IPRG): Gerichtsstand des Deliktsortes. Wir gehen bei diesem Beispiel davon aus, dass der Geschädigte eine in der Schweiz wohnhafte Person sei. Nehmen wir nun einmal den spiegelbildlichen Fall an, d.h. die Person mit Wohnsitz in der Schweiz verursacht in Prag einen Unfall und wird dort von tschechischen Gerichten verurteilt. Die tschechischen Gerichte tun also nichts anderes, als dieselbe Zuständigkeit für sich in Anspruch zu nehmen, die ein schweizerischer Richter im spiegelbildlichen Fall beanspruchen würde. Ein in Prag ergehendes Urteil wird gleichwohl in der Schweiz nicht anerkannt (Art. 149 Abs. 2 lit. f IPRG): Das Prinzip des «juge naturel», des Wohnsitzrichters, geht vor!

2. Unter der Geltung des LugÜ

Diese rigide Haltung konnte die Schweiz allerdings nicht durchgehend durchhalten: Der «fremde» Richter hat inzwischen auch hierzulande Einzug gehalten. So ist etwa im Anwendungsbereich des sog. «Lugano-Übereinkommens» (LugÜ) vom 16. September 1988 (dem alle 15 Staaten der EU sowie die Schweiz, Polen, Island und Norwegen angehören) prinzipiell jede Entscheidung, die von einem Gericht eines Vertragstaates erlassen worden ist, in jedem anderen Vertragsstaat anzuerkennen. Die Entscheidung eines Gerichtes in Palermo ist also auch hier in der Schweiz, am Wohnsitz des Beklagten, zu akzeptieren. Die Schweiz ist somit zwar nicht Mitgliedsland (schon gar nicht der EU, aber auch nicht) des Europäischen Wirtschaftsraumes (EWR), wohl aber des Europäischen Justizraumes.

3. Zwischenergebnis

Aus Schweizer und aus (kontinental-)europäischer Sicht sind die Bestimmungen über die örtliche und die internationale Zuständigkeit eines Gerichts vom Gesetzgeber (im voraus und abstrakt) getroffene Entscheidungen, die nicht nur einen technischen Charakter, sondern eben auch einen eigenen Gerechtigkeitsgehalt aufweisen. Mit dem allgemeinen Gerichtsstand am Wohnsitz

des Beklagten als Regelfall konkurrieren nur ausnahmsweise, und auch dann nur aus bestimmten Sachgründen, besondere oder zwingende Gerichtsstände. Das zuständige Gericht, das «Forum», ist zugeschnitten auf den Beklagten oder auf die besonderen Sachumstände des Falles (Delikt, Erbrechtsstreitigkeiten usw.). Das Forum «konveniert» den Beteiligten oder der Sache.

III. Das Problem mit den USA: Inkonvenienzen

Im Bereich der internationalen Zuständigkeit haben wir nun allerdings einen Zustand der Inkonvenienz zu beklagen. Zwar nicht innerhalb des Europäischen Justizraumes — da verfügen wir über eine einheitliche Zuständigkeits- und Anerkennungsordnung. Inkonvenienzen aber gibt es vor allem mit den USA; einige Beispiele möchte ich in Ihre Erinnerung zurückrufen:

• Sammelklage von Freda Rosenberg u.a. gegen Schweizer Banken vor einem U.S.-Bezirksgericht («nachrichtenlose Vermögen»)

• Klage des ehemaligen Wachmannes Christoph Meili gegen die Schweizerische Bankgesellschaft (UBS) bei einem amerikanischen Gericht

• Klage der Opfer des Swissair-Absturzes bei Halifax (Kanada) vor einem US-Gericht

• Klage von Opfern des Apartheid-Regimes gegen UBS AG, CSG und weitere Banken vor dem US-Bezirksgericht Manhattan («Apartheid»)

• Mögliche Klage des Ehepaares Borer/Fielding gegen Beklagte mit Schweizer Wohnsitz vor einem Gericht in Texas

Um es klarzustellen: Ich habe hier nur Fälle erwähnt, bei denen es sich um Beklagte mit Sitz/Wohnsitz in der Schweiz handelte. Das Problem ist allerdings global, wenn auch die meisten Beklagten (ihrer finanziellen Potenz wegen) ihren Sitz/Wohnsitz in Europa haben. Es ist deswegen in der juristischen Fachliteratur denn auch durchweg vom so genannten «Justizkrieg mit den Vereinigten Staaten von Amerika» die Rede. Die geschilderten spektakulären Fälle sind nämlich keine Einzelphänomene, sondern die typischen Erscheinungsformen eines Dauerkonfliktes mit sich ständig steigernder Intensität 5.

Beschränken wir uns unter den vielen Aspekten des «Justizkonfliktes» auf die Frage der Zuständigkeit.

1. Vorteile der lex fori

Es stellt sich nämlich in all diesen Fällen die Frage, warum die Klage nicht beim «juge naturel» angebracht wird, sondern bei einem Gericht, das (denken Sie an die «Apartheid»-Klage von Ed Fagan) zu dem Fall offensichtlich gar keine Beziehung aufweist.

Die Antwort ist einfach:

Ist ein Gericht nach seinen Zuständigkeitsvorschriften zuständig, so bestimmt das Recht dieses Gerichtes, die lex fori, auch alles Weitere und damit in gewisser Weise auch den Prozessausgang.

Der Kläger kann sich also durch ein bestimmtes Forum eine günstige Rechtsposition verschaffen (sog. forum shopping). Ein paar Beispiele mögen hier genügen:

Die lex fori bestimmt den Verfahrensablauf

Jedes Gericht der Welt handelt nach seiner eigenen «Zivilprozessordnung». Ein Unterschied zwischen der Schweiz und den USA besteht z.B. darin, dass es hier keine Sammelklage gibt, dort ja (Sammelklage, dass action, heisst, dass einzelne Kläger als Angehörige einer Klasse die Ansprüche der ganzen Klasse geltend machen können).

Beispiel «Apartheid»-Klage: 4 Kläger «on behalf of themselves and as representatives of all other victims of Apartheid Human Rights Violations and Crimes against Humanity and other persons similarly situated». Auf diese Weise kommt man dann auf einen Gesamtbetrag an Schadenersatz für die ganze Klasse, der 80 Mrd. $durchaus erreichen kann.

Weiteres Beispiel: Nach einer dpa-Meldung 6 hat ein schwergewichtiger Amerikaner vier grosse Imbissketten verklagt. Er macht McDonald's und Co. für seine Fettleibigkeit und Krankheiten verantwortlich. Sein Anwalt sagte gegenüber einem Fernsehsender, dass aus dem Vorstoss seines Mandanten durchaus eine Sammelklage werden könnte.

• Die lex fori beherrscht die Dauer des Verfahrens

Z.B. dauert ein Prozess in Italien in erster Instanz durchschnittlich etwa 4 Jahre, während dasselbe Verfahren hierzulande nach 6 Monaten beendet ist. Man spricht daher auch von einem italienischen Torpedo.

• Die lex fori bestimmt die Kosten des Verfahrens

Während in der Schweiz ein Anspruch der obsiegenden Partei auf Erstattung ihrer (v.a. Anwalts-)Kosten, ein Anspruch auf Parteientschädigung, besteht, bleibt man nach der sog. «American Rule» auf seinen eigenen Kosten sitzen; selbst wenn die Klage abgewiesen wird, muss der Beklagte die Kosten seines Anwaltes selbst tragen.

Weiteres Beispiel: In den USA ist ein «Erfolgshonorar» für Anwälte (30-40% der Entschädigung) durchaus üblich, in der Schweiz verpönt.

• Die lex fori bestimmt das Beweisverfahren

Stichwort hier: die «pretrial — discovery» des amerikanischen Rechts, d.h.: Die Parteien sind schon zu Beginn des Verfahrens (nach Einreichung der bloss summarisch abgefassten Klage) verpflichtet, einander alle wesentlichen Beweismittel völlig unaufgefordert anzugeben (führt zu der sog. «fishing expedition»). Aber, wie ein Kritiker dieser Regelung völlig zu Recht bemerkt hat: «Eine Partei muss nicht nur den Gegner in ihren Gewässern fischen lassen, sondern ihm sogar selbst und von sich aus die Fische bringen 7.»

• Die lex fori bestimmt das Kollisionsrecht und damit indirekt das in der Sache anwendbare Recht. Ist in einem Schadenersatzprozess ein amerikanisches Gericht zuständig, so gilt in der Regel auch amerikanisches Schadenersatzrecht. Die horrenden Schadenersatzsummen, die wir aus Entscheidungen amerikanischer Gerichte kennen, sind natürlich überhaupt nicht vergleichbar mit europäischen «Tarifen».

Beispiele:

• Im Busengrapscher-FaIl wurden einer Sekretärin, die von ihrem Chef sexuell belästigt wurde, von einem Geschworenengericht in San Francisco 7 Mio. $ als Schadenersatz zugesprochen.

• Einer 81-jährigen Frau, die sich beim Öffnen eines Styropor-Bechers mit 82 bis 87°C heissem Kaffee bei McDonald's verbrüht hatte, sprach ein Geschworenengericht in New Mexico 200000 $Schadenersatz für die aufwendige Spitalbehandlung sowie 2,7 Mio. punitive damages zu 8.

Dass die Familien von Opfern, die bei dem Brand der Gletscherbahn in Kaprun (Österreich) ums Leben gekommen sind, ihre Klagen gegen deutsche, österreichische und Schweizer Unternehmen bei einem Gericht in New York eingereicht haben, hat natürlich mit diesem Umstand (und der Schamlosigkeit gewisser amerikanischer Anwälte, Stichwort: Erfolgshonorar!) zu tun.

2. Gründe für die Zuständigkeit amerikanischer Gerichte

Zurück zur Ausgangsfrage: Warum wird versucht, jede denkbare Klage vor ein US-amerikanisches Gericht zu bringen? Nach den Beispielsfällen dürfe die Antwort klar sein: Die Vorteile, die eine Klage vor einem amerikanischen Gericht mit sich bringt, dürften in mancher Hinsicht für den Kläger gegenüber einer Klage am Sitz/Wohnsitz des Beklagten deutlich überwiegen.

Der entscheidende Punkt aber ist noch offen: Warum bejahen amerikanische Gerichte ihre Zuständigkeit, auch wenn der Beklagte keinen Wohnsitz oder (als Unternehmung) Sitz in den USA hat?

Der Grund liegt in der unterschiedlichen Auffassung von Zuständigkeit 9: Während wir hierzulande Wohnsitz, Sitz, Niederlassung einer Partei oder ähnliche, relativ stabile Anknüpfungspunkte für die Annahme von Gerichtszuständigkeit verlangen, genügen nach dem Recht mancher amerikanischer Staaten schon minimum contacts oder das doing business des Beklagten im betreffenden Bundesstaat. Für die Zuständigkeit amerikanischer Gerichte genügt es, dass ein Unternehmen in den USA eine Niederlassung oder geschäftliche Verbindungen hat — auch wenn dies mit dem Tatgeschehen überhaupt nichts zu tun hat.

Das Gericht in New York hat sich für die Sammelklage von Ed Fagan gegen das deutsche Unternehmen Siemens wegen der Seilbahnkatastrophe in Kaprun für zuständig erklärt. Die Begründung ist (aus amerikanischer Sicht) einfach: Siemens wird beschuldigt, fehlerhafte elektronische Geräte für den Unglückszug geliefert zu haben. Da Siemens (u.a.) auch in den USA Tochterunternehmen hat, könne das Unternehmen in den USA auch verklagt werden!

Weiteres Beispiel: Ein Amerikaner stürzt in der Badewanne seines Hotelzimmers in London und verletzt sich schwer. Das New Yorker Gericht stützt seine Zuständigkeit zur Beurteilung dieses Falles auf die Tatsache, dass die britische Hotelkette in den USA Agenturen unterhält, bei denen man Zimmer buchen kann, und dass sie somit in den USA eine Geschäftstätigkeit ausübt.

3. Zuständigkeitsfrage als Ermessensentscheidung: Forum non conveniens

Weil amerikanische Gerichte einerseits also relativ schnell eine Zuständigkeit annehmen, haben sie dann auf der anderen Seite Probleme, sie — wenn unerwünscht —wieder loszuwerden. Bei konkurrierenden amerikanischen und ausländischen Gerichtsständen gibt es so mitunter die Tendenz, eine Sache «nach Hause» zu holen, andererseits auch das Bemühen, unerwünschte Sachen, mit denen man nichts zu tun haben will, abzuschieben. Damit läuft aber letzten Endes die Zuständigkeitsfrage auf eine Ermessensentscheidung des angerufenen Gerichts hinaus.

Die leichte Zugänglichkeit amerikanischer Gerichte («minimum contacts» genügen) kann nämlich durch die Lehre vom «forum non conveniens», eben dem inkonvenienten Forum, wieder eingeschränkt werden. Was bedeutet «forum non conveniens»?

Nach dem Recht zahlreicher amerikanischer Bundesstaaten kann eine Klage aus Gründen des «forum non conveniens» zurückgewiesen werden, wenn der Kläger anderenorts klagen kann und die Klage nach Auffassung des US-Gerichtes dort besser aufgehoben ist.

Beispiel «Piper Aircraft»: Ein von Piper Aircraft Co. hergestelltes Flugzeug stürzt über Schottland ab. Die Angehörigen der verunglückten Passagiere verklagen den Hersteller Piper an dessen Sitz in den USA (juge naturel). Obwohl das amerikanische Gericht nach seinen eigenen Zuständigkeitsregeln

(Sitz des Herstellers im Gerichtsbezirk) zuständig ist, weist es die Klage zurück mit der Begründung, die Kläger könnten ja (was zutrifft) in Schottland am Unfallort klagen. Denn dort seien Zeugen und andere Beweismittel greifbar, auf den Fall sei auch schottisches Recht anwendbar, und deswegen seien die schottischen Gerichte more appropriate, more convenient als amerikanische Gerichte.

Nach dieser Lehre ist also unter mehreren zuständigen Gerichten (nur) dasjenige zur Beurteilung des Falles verpflichtet, das ein convenient, appropriate forum ist, also (nach Auffassung des angerufenen Richters!) unter mehreren fora eine grössere Beziehung zum Rechtsstreit aufweist als das angerufene Forum.

Ein besonderer Stein des Anstosses besteht nun aber darin, dass die Lehre vom «forum non conveniens» diskriminierend angewendet wird: Die Klage eines Amerikaners wird nämlich in der Praxis kaum je als inkonvenient zurückgewiesen.

Beispiele:

• Im Fall des Swissair-Absturzes bei Halifax konnten die Opfer bzw. ihre Angehörigen nur deshalb in den USA eine Klage einreichen, weil die Mehrheit von ihnen in den USA wohnte.

• Christoph Meili konnte seine Klage in den USA nur deshalb aufrechterhalten, weil er in einer Nacht- und Nebelaktion auf Antrag von Senator D'Amato durch den US-Senat aufgrund seines «Märtyrertums» zum amerikanischen Staatsbürger ernannt worden war.

Daraus folgt, dass unser Prinzip des «actor sequitur forum rei» in den USA zu einem bestimmten Grad ins Gegenteil verkehrt wird: Klagen eines Ausländers gegen einen Amerikaner, die auf Vorgängen beruhen, die sich zur Hauptsache im Ausland zugetragen haben, werden in der Regel als inkonvenient zurückgewiesen. Klagen eines Amerikaners gegen einen Ausländer können demgegenüber wegen der weit reichenden Zuständigkeitsregeln relativ einfach in den USA angebracht werden und scheitern in der Regel auch nicht an der Lehre des «forum non conveniens».

Hinzu kommt ein Weiteres. Das weit reichende Ermessen der erstinstanzlichen Gerichte bei der Bestimmung der internationalen Zuständigkeit bedeutet nicht nur, dass das Bestehen der Zuständigkeit eines bestimmten amerikanischen Gerichts oft schwierig vorauszusehen ist. Seine Bestimmung erfordert auch ein umfangreiches Beweisverfahren (jurisdictional discovery) und lange (und teure) Rechtsschriften der Anwälte. Das führt dazu, dass amerikanische Anwälte eine Klage anhängig machen, auch wenn sie nicht so sicher sind, dass die Zuständigkeit des Gerichts gegeben ist. Sie hoffen dann, dass die voraussichtlichen Kosten der Verteidigung den Beklagten zum Vergleich zwingen.

Beispiel:

• In keinem der eingangs genannten Fälle ist (bisher) von einem amerikanischen Gericht über seine internationale Zuständigkeit befunden worden! Die Beklagten haben sich (unter der Drohung

eines Verfahrens!) zu einem Vergleichsabschluss bereit gefunden und somit das Verfahren beendet.

IV. Schlussbetrachtungen

Der «Kampf ums Recht», den Rudolf von Jhering vor genau 130 Jahren als Begriff in das deutschsprachige Rechtsdenken eingeführt hat, beginnt in einer globalisierten Welt schon mit dem Kampf um das Forum. Typisch dafür ist eine Schlagzeile aus einer Schweizer Sonntagszeitung des vergangenen Sommers: «Skyguide: Opfer drohen mit US-Klage.» Macht man sich klar, was das Recht unter dem Begriff «Drohung» versteht, nämlich: «Inaussichtstellen eines Übels, auf dessen Eintreten der Drohende Einfluss zu haben vorgibt», so wird deutlich, dass das Forum «US-amerikanisches Gericht» als ein Ubel angesehen wird, dem es möglichst zu entkommen gilt. Dass dies ein unerfreulicher, ja besorgniserregender Zustand ist, liegt auf der Hand.

Meine Damen und Herren:

Inkongruent bedeutet «nicht übereinstimmend, sich nicht deckend», Inkonvenienz meint auf Deutsch «Ungelegenheit, Unschicklichkeit». Nachdem der Rektor in seiner Rede vor einem Jahr die Inkonsistenzen der Universitätspolitik zum Thema gemacht hatte (inkonsistent =unbeständig, unhaltbar), wollte ich Ihnen mit der Darlegung von Inkongruenzen und Inkonvenienzen mein Forschungsgebiet als Professor für Internationales Zivilprozessrecht etwas näher bringen. Ich bin gespannt, wie diese Reihe im nächsten Jahr fortgesetzt werden wird.

Fussnotenanmerkungen 1

III. Theil, II. Titel («Von dem competenten Richter»), 1. Satzung (S. 330); zitiert auch bei Max Kummer, Grundriss des Zivilprozessrechts, 4. Auflage 1984, §14 (S. 49).

2 Zur Geschichte des «natürlichen Richters» s. näher Schurter/Fritzsche, Das Zivilprozessrecht des Bundes, Zürich 1924, S. 29 ff. (insbes. S. 40). 3

Vgl. MünchKommZPO —Patzina § 12 An. 2; Zöller/Vollkommer, ZPO, 23. Auflage, § 12 Rn. 2; Vogel/Spühler, Grundriss des Zivilprozessrechts, 7. Auflage, Bern 2001, 4 N 25 ff.

4 BGHZ 88, S. 335.

5 So R. Stürner, Der Justizkonflikt zwischen U.S.A. und Europa, in: Der Justizkonflikt mit den Vereinigten Staaten von Amerika, Bielefeld 1986, S. 8.

6 S. NZZ Nr. 172 S. 48 vom 27.128. Juli 2002. 7

Reimann, IPRax 1994, S. 152.

6 Die betreffenden «awards» sind dann allerdings später vom vorsitzenden Berufsrichter herabgesetzt worden (im Fall McDonald's auf 480000 $ für «punitive damages», was auch immer noch zu viel ist).

9 Siehe dazu G. Walter/R. Dalsgaard, The Civil Law Approach, in: Transnational Tort Litigation (ed.: Campbell McLachlan/Peter Nygh, Oxford 1996, S. 41 ff.).