Weiterbildung — die neue Herausforderung?
ÜBER DIE QUALITÄT VON ARGUMENTEN, MIT DENEN
DAS WEITERBILDUNGSERFORDERNIS BEGRÜNDET WIRD.
Professor Dr. Helmut Heid
Ordinarius für Pädagogik an der Universität Regensburg
Das hier vorliegende Referat hielt Professor Dr. Helmut Heid, Ordinarius für
Pädagogik an der Universität Regensburg, als Festrede am Hochschultag
1995.
Herausgeber: Universität St. Gallen —
Hochschule St. Gallen für Wirtschafts-,
Rechts- und Sozialwissenschaften (HSG)
Redaktion: Roger Tinner
Auflage: 3000
Copyright: Universität St. Gallen, 1996
Die Broschüren der Reihe «Aulavorträge» werden finanziert mit Unterstützung
des St. Galler Hochschulvereins und des Dr. Rudolf Reinacher-Fonds.
Sie gelangen nicht in den freien Verkauf.
Weiterbildung — die neue Herausforderung
ÜBER DIE QUALITÄT VON ARGUMENTEN, MIT DENEN DAS
WEITERBILDUNGSERFORDERNIS BEGRÜNDET WIRD.
VORBEMERKUNG
Ich fasse den Begriff «Weiterbildung» eng — «als Fortsetzung oder Wiederaufnahme
früheren organisierten Lernens» (Deutscher Bildungsrat 1970,
S. 51). Damit ist keine Wertung verbunden. Das sogenannte informelle Lernen,
zu dem uns jeder Stolperstein veranlasst, ist keineswegs geringzuschätzen,
aber es steht nicht im Vordergrund meiner Überlegungen.
Ich behandle das Thema unter primär pädagogischen Gesichtspunkten (vgl.
dazu auch Berufsbildungsforschung 1990, S. 62 ff.). Das ist nicht selbstverständlich,
denn die «soziale Tatsache» Weiterbildung kann auch Gegenstand
soziologischer, psychologischer, rechtswissenschaftlicher oder wirtschaftswissenschaftlicher
Fragestellungen sein.
ln meinen Ausführungen geht es um die Qualität von Argumenten zur Begründung
eines Bildungserfordernisses. Die Beurteilung der Qualität dieser
Argumente hat Beurteilungskriterien zur Voraussetzung. Als «pädagogisch»
bezeichne ich solche Kriterien, bei deren Inhaltsbestimmung die Urteils- und
Handlungskompetenz derer von zentraler Bedeutung ist, für die Weiterbildung
gefordert und realisiert wird (vgl. dazu auch Deutscher Ausschuss 1960,
S. 14 ff.).
Zwar stehen ökonomische und pädagogische Kriterien der Qualitätsbeurteilung
von Argumenten nicht a priori im Widerspruch zueinander, aber sie sind
— das ist das Mindeste, was sich sagen lässt — auch nicht identisch. Die These
von der «Koinzidenz ökonomischer und pädagogischer Vernunft» (Achtenhagen
1990, S. VII; vgl. auch Brater u.a. 1988, S. 58 und passim) erscheint
mir ebenso undifferenziert wie die Gegenthese vom Widerspruch zwischen
Ökonomie und Pädagogik oder auch vom Spannungsverhältnis zwischen beruflicher
Tüchtigkeit und persönlicher Bildung. Bei derartigen Dichotomisierungen
spielen modellplatonistische Hypostasierungen (Albert 1963) sowie
eine irreale Separierung des Ökonomischen und des Pädagogischen (Heid
1989) eine verhängnisvolle Rolle. Um diesen Gefahren zu entgehen, muss unterschieden
werden zwischen Gesichtspunkten, Kategorien, Kriterien, Maximen,
die sich in Traditionen differenzierenden Denkens herausgebildet haben,
einerseits, und der (freilich stets selektiv thematisierten) Realität praktischen
(wenn auch arbeitsteiligen, so doch stets komplexen) Handelns andererseits.
Das ökonomische Prinzip ist von pädagogischen Prinzipien unterscheidbar. Es
wäre jedoch fatal, bei der «Realisierung» dieser Prinzipien oder bei ihrer «Anwendung»
auf die Regulierung gesellschaftlicher Praxis zu übersehen, dass
es Wechselbeziehungen zwischen «Variablen» gibt, die verschiedenen Bereichen
(«der Wirtschaft», «der Erziehung») zugeordnet werden (dazu auch Dörner
1989). Es gibt Vernetzungen vielfältigster und subtilster Art, aber Vernetzungen
haben Differenzierungen zur Voraussetzung. Ich komme im II. Hauptteil
meiner Ausführungen darauf zurück.
Die Unterscheidung zwischen ökonomischen und pädagogischen Maximen
der Beurteilung menschlichen Argumentierens und Handelns hat in Ihrer
Hochschule besondere Bedeutung und einigen Reiz. Das, was Sie unmittelbar
bezwecken, nämlich die Schaffung von Voraussetzungen zur Entwicklung
ökonomischer Urteils- und Handlungskompetenz, gehört dem Kontext «des
Bildungssystems» an. Das, was Sie dadurch ermöglichen, nämlich dass die
Absolventen Ihrer Hochschule kompetent an der konkurrenzfähigen Produktion
von Gütern und Dienstleistungen mitwirken, das gehört dem «ökonomischen
System» an. Natürlich ist die «Logik» ökonomischen Handelns für Ihre
Bildungsarbeit von zentraler Bedeutung, aber nicht als Inhalt, sondern als Gegenstand
Ihrer Arbeit. Ich muss der Versuchung widerstehen, auf diese spannende
Frage näher einzugehen und komme eiligst zur Sache.
Seit etwa 20 Jahren gewinnt das Thema «Weiterbildung» in Gesellschafts-,
Beschäftigungs- und Bildungspolitik einen immer höheren Stellenwert (vgl.
u.a. Arbeitsgruppe ... 1994, S. 713 ff., 740 ff.). Kennzeichnend dafür ist, dass
die (freilich weder hinreichend transparent noch methodisch einwandfrei berechneten)
Ausgaben für Weiterbildung — gemessen am Anteil des Bruttosozialprodukts
— in Deutschland von 0,97% im Jahr 1975 auf 2,15% im Jahr
1990, also auf mehr als das Doppelte gestiegen sind. Demgegenüber sind die
Ausgaben für sogenannte allgemeinbildende Schulen und Hochschulen im
gleichen Zeitraum gesunken (dazu Maier 1994, S. 260; Arbeitsgruppe ...
1994, S. 750). Mit welchen Gründen wird die Expansion des Weiterbildungssektors
gefordert und gefördert? Ich unterscheide im folgenden zwei Begründungskontexte,
die sich aus der Bestimmung des Begriffs «Weiterbildung»
ergeben: Auf der einen Seite geht es in eher retrospektiver Betrachtung um
die Frage, was aus welchen Gründen der Weiterführung bedarf. Auf der anderen
Seite steht die Frage nach dem Wozu, also nach den Zwecken, dem
«Wohin» dieser Weiterführung und deren Begründung.
I. WEITERBILDUNG ALS WEITERFÜHRUNG ODER
REVISION ZUVOR ERWORBENER (GRUND-) BILDUNG
Im Begriff «Weiterbildung» ist die Weiterführung dessen angesprochen, was
als «Bildung» bezeichnet wird. Ich kann und muss in diesem Zusammenhang
nicht auf die überaus strittig und unergiebig geführte Diskussion eingehen,
was unter «Bildung» zu verstehen ist. Ich gehe vielmehr von der pragmatischen
und begriffsnominalistischen Feststellung aus, dass «Bildung» sowohl
den Prozess als auch das Ergebnis jener Persönlichkeitsentwicklung kennzeichnet,
die in einem bestimmten historischen, kulturellen und soziostrukturellen
Kontext als «Bildung» anerkannt und erstrebt wird. Man mag «Bildung»
von «Ausbildung» oder «Qualifizierung» unterscheiden. Es kann jedoch keine
realistische und auch keine «kritische» Begriffsbestimmung von «Bildung»
geben, die nicht auch Informationen darüber enthält, welche Kompetenzen
konkrete Menschen erwerben oder besitzen müssen, um sich in einer jeweils
vorgefundenen soziokulturellen Wirklichkeit kompetent und verantwortlich
behaupten und bewähren zu können (vgl. dazu u.a. Litt 1958; Deutscher Ausschuss
1960, S 30 ff.). Deshalb und für die Zwecke meiner Analyse ist die
Unterscheidung zwischen «Bildung» und «Qualifizierung» unwichtig. Nur als
«weltfremd» und «unkritisch» beurteilbare Bildungstheoretiker können übersehen,
dass als «Bildung» allgemein anerkannte und erstrebte Persönlichkeitsverfassungen
stets und unvermeidbar Kompetenzen enthalten (müssen),
sich im Kontext vorfindlicher Kriterien gesellschaftlicher Erfolgsbeurteilung
und unter (antizipierten) Bedingungen gesellschaftlicher Qualifikationsverwertung
— wie auch immer — zu behaupten und zu bewähren. Dass in einem exklusiven
Sinn als «gebildet» Apostrophierte den jeweiligen gesellschaftlichen
Verhaltenserwartungen dabei besonders kritisch gegenübergestanden hätten,
ist eine (historisch widerlegte) Illusion (vgl. Litt 1958). Diese Feststellung
erübrigt jedoch nicht die Frage nach den Gründen für die Empfehlung, erstens
zwischen pädagogischen und ausserpädagogischen Maximen der Beurteilung
menschlichen Denkens und Handelns sowie zweitens zwischen einer
affirmativen und einer kritischen Orientierung als gebildet oder qualifiziert
Geltender (dazu Benner 1995, S 51 ff., 141 ff., 161 ff.) zu unterscheiden. (Zu
den Ungereimtheiten traditioneller Unterscheidungen zwischen [allgemeiner]
Bildung und [beruflicher]Ausbildung vgl. u. a. Blankertz 1963; Heid 1978.)
1. Weiterbildung zum Ausgleich von Bildungsdefiziten
Ich beschäftige mich zunächst mit einem dominanten, jedoch höchst undifferenzierten
«Begründungs»-Muster, in dem die besondere Aktualität und Bedeutung
von Weiterbildung aus dem Erfordernis «abgeleitet» wird, nichttriviale
Defizite jener allgemeinen Grundbildung auszugleichen, die jeder Phase
der Weiterbildung üblicherweise jeweils zugrunde liegt (vgl. u.a. Maier
1994, S. 260; Schulenberg 1964, S. 68 ff.). Besonders deutlich wird diese
Aufgabenakzentuierung im Konzept «kompensatorischer» Weiterbildung
(Schulenberg 1964, S. 68): In der «ersten Bildungsphase» (Deutscher Bildungsrat
1970, S. 199 ff.) entstandene Bildungsdefizite sollen durch Weiterbildung
ausgeglichen werden. Eine systematische Kontextanalyse des erwähnten
Begründungszusammenhangs erfordert zunächst die informative
und handlungsbedeutsame Beantwortung von vier Fragen: Erstens: worin genau
bestehen die durch Weiterbildung auszugleichenden Defizite? Zweitens:
wer ist Subjekt der Bestimmung und Begründung des für die Defizitdiagnose
unentbehrlichen Beurteilungskriteriums? Drittens: welche Tatbestände tragen
zur Entstehung dieser Bildungsdefizite bei? Viertens: wie müssen Weiterbildungsmassnahmen
organisiert sein, von denen ein Beitrag zum Defizitausgleich
erwartet werden kann?
Besteht ein durch Weiterbildung auszugleichendes Defizit beispielsweise darin,
dass Personen im Vergleich zu anderen oder gemessen an einem «objektiven»
bzw. sachlichen Kriterium oder gemessen an dem, was diese Personen
(unter günstigeren Bedingungen) hätten lernen können — also im Vergleich
zu den eigenen Lernpotentialen — rückständig sind? Da es Defizite
nicht an sich oder per se geben kann, wäre ausserdem zu klären, hinsichtlich
welcher Inhalte einer Qualifikation Defizite bestehen. Dabei spielt die Frage
eine wichtige Rolle, in welchem Verhältnis bestimmte inhaltliche Anforderungen
und deren Entwicklung einerseits sowie die zur «Erfüllung» dieser Anforderungen
als notwendig erachteten Qualifikationen und deren Entwicklung
andererseits stehen. Aus der Perspektive Lernender und im Hinblick auf Weiterbildungserfordernisse
kommt es bei der Defizitdiagnose und -analyse vor
allem auf jene Komponenten grundlegender Bildung oder Qualifizierung an,
von denen sowohl die Weiterbildungsbereitschaft als auch der Weiterbildungserfolg
abhängen oder wesentlich beeinflusst werden. Nach allem, was
darüber aus der Lehr-Lern-Forschung bekannt ist, kann man davon ausgehen,
dass es identifizierbare Elemente grundlegender Bildung oder Qualifizierung
gibt, die die Bereitschaft und den Erfolg permanenter Weiterbildung begünstigen.
Andererseits gibt es Inhalte und Modalitäten grundlegender Qualifizierung,
die die Weiterbildungsbereitschaft und den Weiterbildungserfolg mehr
oder weniger stark beeinträchtigen. Im Hinblick auf den Weiterbildungssektor
besteht diesbezüglich noch Klärungs- bzw. Forschungsbedarf.
Die Identifizierung eines Bildungs- oder Qualifikationsdefizits hat — wie bereits
erwähnt — die Bestimmung eines Beurteilungskriteriums zur Voraussetzung,
dessen präskriptive Komponenten «letztlich» auf wertende Stellungnahmen
und Entscheidungen konkreter Personen (-gruppen) zurückzuführen
sind. Darin (stets auch) enthaltene deskriptive Komponenten mögen einer
prinzipiell als wahr oder falsch beurteilbaren Argumentation zugänglich sein.
Jedoch bei Wertungen spielen —obgleich sozial «verhandelbar» — die persönlichen
Interessen Wertender sowie deren Definitions- und Sanktionsmacht die
ausschlaggebende und nicht hintergehbare Rolle (dazu Kutschera 1993/94,
S. 257). In diesem Tatbestand ist die Bedeutung der Frage nach dem Subjekt
der Kriterienbestimmung begründet; konkreter gewendet: Wem genügt die
durch Weiterbildung auf- oder nachzubessernde Grund- oder Ausbildung
nicht?
Bei der Entstehung von Bildungsdefiziten, die durch Weiterbildung ausgeglichen
werden sollen, spielen vier Faktoren eine Rolle: Erstens können Qualifikationsdefizite
(einzelner) dadurch «entstehen», dass die lern- und arbeitsbedeutsamen
Anforderungen an konkreten Arbeitsplätzen sich verändern. Zweitens
— und das ist die Kehrseite — können Defizite sich daraus ergeben, dass
eine vorhandene (als solche nicht notwendig «überholte») Kompetenz im Hinblick
auf neue Handlungsaufgaben obsolet (geworden) ist. Dazu gehört auch
die Unübertragbarkeit vorhandenen Wissens und Könnens auf die Organisation
der Lösung neuer Probleme (s. dazu u.a. Bergius 1969, S 232 ff.; Weinert
1986). Drittens werden Bildungsdefizite durch jene Eigendynamik der (wissenschaftlichen)
Wissensentwicklung (professioneller Wissensproduzenten)
«erzeugt», mit der die Wissensentwicklung der Wissensadressaten, potentieller
Wissensrezipienten bzw. potentieller Wissensverwender nicht «Schritt
hält». Manche Autoren sprechen in diesem Zusammenhang von (immer kürzeren)
«Verfallszeiten des Wissens» oder «positiv» vom «Wissensfortschritt».
Viertens resultieren hier thematische Qualifikationsdefizite aus —
wie auch immer im einzelnen begründeten — Versäumnissen, die für eine erfolgreiche
Weiterbildung vorausgesetzte grundlegende Bildung zu erwerben.
Dabei spielen nicht nur «quantitative» (beispielsweise curriculare oder zeitliche)
Einschränkungen eine Rolle; mindestens ebenso bedeutsam sind Mängel
der Unterrichtsqualität, der Lernerfolgskontrolle und anderer bildungsorganisatorisch
oder bildungspraktisch gestaltbarer Entwicklungsbedingungen und
Lerngelegenheiten. In diesem Zusammenhang ist häufig von «Chancenungleichheit»
die Rede.
Die skizzierten Faktoren der «Verursachung» von Bildungsdefiziten stehen in
einer komplexen und funktionalen Wechselbeziehung, auf die ich in diesem
Zusammenhang nicht ausführlicher eingehen möchte. Besondere Beachtung
verdient jedoch ein bisher völlig vernachlässigter «Rückkopplungseffekt», der
über das hinausgeht, was als «Wechselbeziehung» bezeichnet werden kann.
Die zunehmend verallgemeinerte und abstrahierte Weiterbildungsforderung
hat dazu beigetragen und wird argumentationsstrategisch dazu verwendet,
genau jene Ausbildungsversäumnisse zu bagatellisieren oder zu rechtfertigen,
von denen die Weiterbildungsbereitschaft und der Weiterbildungserfolg
in hohem Masse abhängen. Es lassen sich gesellschafts-, beschäftigungs- und
bildungspolitische Bestrebungen nachweisen, Grundbildungsversäumnisse
nicht nur zu bagatellisieren, sondern unqualifizierte und absichtlich herbeigeführte
Einschränkungen («Verschlankungem», «Reduktionen») im Grundbildungsbereich
damit zu rechtfertigen, dass es «ohnehin« notwendig sei, lebenslänglich
hinzu- und umzulernen — und dabei Versäumtes «nachzuholen»
oder Vorenthaltenes «auszugleichen». In der ganzen Geschichte des institutionalisierten
Bildungswesen hat es eine (im einzelnen unterschiedlich motivierte,
deklarierte und praktizierte) «Kritik» an «Überqualifikation» (s.z.B. Bullinger
1995, S. 24) gegeben. Relativ neu ist demgegenüber die von mir skizzierte
«Rationalisierung», dass Einschränkungen umso mehr vertretbar seien,
je weniger «ohnehin» auf lebenslange Weiterbildung verzichtet werden könne
(so Wilms 1985(a); Wilms 1985(b); mit kritischen Vorbehalten: Deutscher
Bildungsrat 1970, S. 202).
Damit kein Missverständnis entsteht: Auf allen Stufen institutionalisierter Bildung
oder Qualifizierung sind Auswahlentscheidungen völlig unvermeidlich.
Im Lichte historisch legitimierter Normen pädagogischen Handelns sind sie
jedoch nur vertretbar, so lange sie in nachprüfbarer Weise am Ziel der Kompetenzsteigerung
jedes einzelnen und nicht primär an oft kurzfristig wechselnden
Bedingungen der Qualifikationsverwertung und den dafür massgeblichen
Interessen orientiert sind. Menschen dumm zu halten, damit sie keine
unbequemen Fragen oder Ansprüche stellen, mag unter bestimmten Voraussetzungen
politisch oder einzelwirtschaftlich erwünscht sein, ein pädagogisches
Programm wird man darin nicht erblicken (dazu u.a. Blankertz
1982, S. 56 ff.; v. Friedeburg 1994, S. 8). Freilich schliesst Kompetenz — wie
schon gesagt — die Fähigkeit zur Erfüllung gesellschaftlicher (Arbeits-) Aufgaben
ein. Mit pädagogischen Maximen personaler Selbstbehauptung vereinbar
ist diese Aufgabenerfüllung jedoch nur dann, wenn sie die Gelegenheit nicht
vorenthält, bei der Definition und Ausgestaltung bereits der Aufgabenstellung
begründete Überzeugungen und eigene (verallgemeinerbare) Interessen zur
Geltung zu bringen.
Aus allen relevanten empirischen Untersuchungen geht hervor, dass vermeidbare
oder gar beabsichtigte Beschränkungen der für jede Weiterbildung vorausgesetzten
Grundbildung die Bedingungen der Möglichkeit erfolgreicher
Weiterbildung empfindlich beeinträchtigen. Dieser Zusammenhang lässt sich
auf die Formel bringen, dass sowohl die Bereitschaft zur Weiterbildung als
auch der dabei erzielte Erfolg eine Funktion des Umfangs und der Qualität
vorausgesetzter Vor- oder Grundbildung sind. Je umfangreicher und besser
die Grundbildung, desto grösser die Bildungsbereitschaft und der Erfolg in
der Weiterbildung — und umgekehrt (vgl. u.a. Arbeitsgruppe ... 1994, S. 740
ff.). «Daraus folgt, dass Weiterbildung bislang gerade denen am wenigsten
zugute gekommen ist, die in ihren Bildungschancen — wie auch in anderen
Lebenschancen — am stärksten benachteiligt sind» (ebd., S. 740). «Dies hatte
zur Folge, dass vorhandene Ungleichgewichte in Bildung und Ausbildung
durch Weiterbildung nicht ausgeglichen, sondern noch verstärkt wurden»
(ebd., S. 748).
Wenn man diese Erkenntnis auf die Interpretation der Bildungsbiographie eines
Menschen anwenden möchte, wäre es vielleicht fruchtbar, zwischen unvermeidbaren,
vermeidbaren und sogar beabsichtigten Defiziten zu unterscheiden,
die durch Weiterbildung ausgeglichen werden sollen. Analytisch
fruchtbar erscheint diese Unterscheidung insofern, als sie auf Handlungszuständigkeiten
verweist. Sie lenkt die Aufmerksamkeit auf die Tatsache, dass
sowohl die (geplante wie ungeplante) Bereitstellung und Gestaltung von
Lerngelegenheiten als auch die (explizite wie implizite) Bestimmung von Beurteilungskriterien
Resultate menschlichen Handelns sind.
Unvermeidbar sind aus bildungspolitischer und bildungspraktischer Sicht jene
Defizite, die aus der nicht antizipierbaren Entwicklung des Wissens sowie der
technischen und ökonomischen Wissensverwendung erst «entstehen». Genau
genommen handelt es sich dabei allerdings um jene (sozial) ungleiche
Teilhabe an der Produktion, Rezeption und «Anwendung» neuen Wissens, die
in der gesellschaftlichen Arbeitsteilung (insbesondere zwischen «Wissenschaft»,
«Wissenschaftstransfer» und «Praxis») begründet ist.
So unproblematisch es zumindest auf den ersten Blick sein mag, unvermeidbare
Entwicklungsdefizite zu beschreiben, so schwierig und differenzierungsbedürftig
ist die Bestimmung vermeidbarer Beeinträchtigungen der Bildungsvoraussetzungen
für Weiterbildung. Nach der auch für diesen Zusammenhang
unentbehrlichen Bestimmung dessen, worin genau Defizite bestehen,
geht es dabei beispielsweise um die Frage, wie gross ein Aufwand noch sein
«darf», um die Entstehung eines bestimmten Defizits zu verhindern. «Vermeidbarkeit»
ist ein kontextueller und überaus relativer Begriff. Zu seiner entscheidungsabhängigen
Bestimmung benötigt man nicht nur ein Kriterium,
sondern jenseits eines wohl nur theoretisch relevanten «absoluten Nullpunkts»
eine Kosten-Nutzen-Kalkulation — keineswegs nur im fiskalischen
Sinn. Überaus abstrakt und «idealtypisch» formuliert: der Aufwand, der erforderlich
ist, um ein Defizit zu verhindern, darf (aus der Sicht eines jeweiligen
Kalkulationssubjektes) nicht grösser sein als der Nachteil, der aus diesem Defizit
resultiert oder auch als der Aufwand, der erforderlich ist, um die aus dem
Defizit resultierenden Nachteile auszugleichen. Zwei konkrete Beispiele
sollen die praktische Bedeutsamkeit dieser hoch abstrakten, «modelltheoretischen»
Orientierungsgrösse veranschaulichen:
(a) Wenn ein konkretes Bildungsvorhaben von bildungspolitischen Entscheidungsträgern
mit der Begründung abgelehnt wird, die dafür erforderlichen finanziellen
Mittel stünden nicht zur Verfügung, dann hat diese Entscheidung
eine bildungspolitische Prioritätensetzung zur Voraussetzung, so dass man
die erwähnte Begründung auch ganz anders interpretieren könnte: Der für
diese Entscheidung als zuständig anerkannten Instanz ist die mit dieser Bildungsmassnahme
bezweckte Qualifikation nicht soviel wert, dass sie die
dafür erforderlichen Mittel bereitstellt. Jede Mittelallokation hat eine Entscheidung
über Prioritäten der Mittelverwendung zur Voraussetzung.
(b) Ähnlich verhält es sich mit der Bestimmung von Grenzen menschlicher
Lernfähigkeit, auf die bei Entscheidungen darüber häufig Bezug genommen
wird, ob eine Bildungsaktivität sich noch «lohnt». Der Punkt, bis zu dem ein
Mensch noch als lernfähig gilt, ist nicht völlig unabhängig von einem jeweiligen
Qualifikationsbedarf bestimmbar. Es lässt sich der historische Nachweis
führen, dass unter Bedingungen beschäftigungswirksamen Qualifikationsmangels
der Bildungsaufwand über einen Punkt hinaus finanziert wurde, der
als «unuberschreitbar» gilt, wenn der Qualifikationsbedarf «gedeckt» ist oder
wenn sogar «Überqualifikation» kritisiert wird.
Bei der Suche nach Antworten auf die Frage, welche Bildungsdefizite vermeidbar
sind, muss auch geklärt werden, wer, welche Instanz, welches Subjekt,
welche wie gekennzeichnete Personengruppe unter welchen Voraussetzungen
überhaupt in der Lage ist, die Entstehung von Defiziten grundlegender
Bildung zu verhindern. Als Subjekte kommen nicht nur die in Qualifizierungsprozessen
Lernenden, sondern auch jene Personen oder Instanzen in
Betracht, die bewusst oder unreflektiert Lerngelegenheiten bereitstellen und
organisieren. Lernende, die «ungefragt» in einen bestimmten geschichtlichen
und soziokulturellen Kontext hineingeboren werden und hineinwachsen, sind
zumindest zu Beginn ihrer Entwicklung nur in sehr eingeschränktem Masse in
der Lage, die Bedingungen ihrer Entwicklung zu beeinflussen bzw. zu gestalten.
Als Subjekte der Konkretisierung von Voraussetzungen erfolgreichen versus
defizitären Lernens kommen also zunächst «Agenturen» primärer Sozialisation
in Betracht. Und da Sozialisationsprozesse von Sozialisationsbedingungen
abhängen, darf auch nach Zuständigkeiten für die gesellschaftspolitische
Realisierung dieser Bedingungen gefragt werden. Von nicht zu unterschätzender
Bedeutung sind darüber hinaus jene Instanzen, die ein Bildungssystem
konstituieren, finanzieren, regulieren und kontrollieren, die also die Bedingungen
und den Handlungsrahmen erfolgsorientieren Lehrens und Lernens bestimmen.
Nun gibt es nicht nur unvermeidbare und vermeidbare Defizite, aus denen
das Weiterbildungserfordernis «abgeleitet» wird. Ich habe schon erwähnt,
dass es durchaus auch so etwas wie beabsichtigte Defizite gibt. Das beginnt
damit, dass ein Wissen darüber, wie vermeidbare Versäumnisse (Lehrmisserfolge)
ohne besonderen (finanziellen) Aufwand vermieden werden könnten,
mit Billigung jeweiliger «Kontrollinstanzen» (z.B. der Schulaufsicht) ignoriert
wird. Wer versäumt, erfolgreicher zu unterrichten, als er es tut, obwohl das
nach dem Stand bewährten Wissens und Könnens möglich wäre, der beteiligt
sich an der Erzeugung vermeidbarer Defizite bzw. Versäumnisse. Vermeidbare
Versäumnisse, die bewusst nicht vermieden werden, können nicht unerwünscht
sein. Auf die explizite Kritik an Überqualifikation habe ich bereits hingewiesen.
Wer Überqualifizierung — mit welcher Bezugnahme auch immer —
kritisiert, der postuliert die Suspendierung möglicher Lernerfolge. Restriktionen
im Grundbildungsbereich mögen mit dem «Versprechen» gerechtfertigt
werden, Versäumtes könne und müsse «ohnehin» in lebenslanger Weiterbildung
nachgeholt werden. Die allgemein bekannte Weiterbildungswirklichkeit
(vgl. Arbeitsgruppe ... 1994, S 740 ff.) macht dieses Versprechen jedoch unglaubwürdig.
Wohlwollend — aber vielleicht unzutreffend — interpretiert, liegt dieser Orientierung
ein Irrtum zugrunde. Weniger «wohlwollend», dafür vielleicht zutreffender
ist die Vermutung, dass die Behauptung der Möglichkeit und Fruchtbarkeit
eines späteren Defizitausgleichs eine argumentationsstrategische
Funktion besitzt. Mit der Parole, Menschen könnten und müssten ohnehin lebenslang
hinzu- und umlernen, können und sollen die Bildungsansprüche und
Lernbereitschaften Heranwachsender in quantitativer und qualitativer Hinsicht
mit manifesten oder absehbaren gesellschaftlichen und ökonomischen
Qualifikationsbedarfen in einen gewissen Einklang gebracht werden. Massgabe
für die Bestimmung des pädagogisch Erwünschten ist dann nicht eine
Lernfähigkeit Lernender, die möglichst unabhängig vom jeweiligen Qualifikationsbedarf
gemessen wird, so sehr diese freilich auch von Lernprozessen abhängen
und mit Qualifikationsanforderungen vermittelt sein mag, sondern
von vornherein der (vermeintliche) Qualifikationsbedarf des Beschäftigungssystems.
Kennzeichnend dafür ist folgendes Beispiel: In einem (Tagungs-) Bericht
über «Kooperation in der Weiterbildung» (Flüter/Zedler 1994) wird zwischen
«Bildungsanbietern» und «Bildungsnachfragern» unterschieden. Bildungsanbieter
sind darauf spezialisierte Dienstleistungsunternehmen in «bunter
Mischung», z.B. Volkshochschulen, Universitäten, Kammern. Wer aber ist
«Bildungsnachfrager»? Wer auf den vielleicht naheliegenden Gedanken
kommt, es könnten vielleicht Beschäftigte, also Bildungssubjekte sein, der
hat sich getäuscht. Bildungsnachfrager sind — nach dem zitierten Bericht —
Unternehmen. Und den Bildungsbedarf bestimmen sie. Von Beschäftigten als
Bildungssubjekten ist in diesem Dokument an keiner Stelle die Rede. Dafür
umso mehr von den Bedürfnissen der Betriebe und von jener betrieblichen
Kosten-Nutzen-Relation, die implizit als zentrales Kriterium für die Bewertung
beruflicher Weiterbildung angesehen wird (dazu auch Posth 1989, S. 19 ff.;
Frieling 1994, S. 12 ff.). Dass bei der Frage nach Bestimmungsgrössen für die
«Bildungsnachfrage» die konkreten Bildungssubjekte schlicht vergessen,
übersehen, ignoriert werden, ist eine überaus bemerkenswerte Tatsache.
Beabsichtigt bzw. erzeugt werden kann ein Weiterbildungserfordernis allerdings
auch durch jenes Streben nach beruflichem und sozialem Aufstieg, das
eine Weiterführung bereits erworbener Qualifikation zur Voraussetzung hat.
Hierbei mag die Weiterbildungsinitiative zwar vom Weiterbildungssubjekt
ausgehen. Das Kriterium zur Bestimmung dessen, was «erforderlich ist»,
wird jedoch durch jene externalen Qualifikationsanforderungen definiert, die
durch Weiterbildungsaktivitäten allein praktisch nur in geringem Masse beeinflussbar
sind. 1
Theoretisch wie praktisch bedeutsam erscheint mir auch die erwachsenenpädagogisch
vernachlässigte Frage, ob sich Typen von Qualifizierungsdefiziten
nach dem Gesichtspunkt ihrer pädagogischen Behebbarkeit unterscheiden
lassen. Dass Grundbildungsdefizite Weiterbildungserfolge zu beeinträchtigen
scheinen, mag damit begründet werden, dass die (höchst differenzierungsbedürftige!)
Lernbereitschaft (Lernfähigkeit eingeschlossen) eines Menschen
mit zunehmendem Alter abnimmt. Mit relevanten Ergebnissen der Lebenslaufforschung
(vgl. z.B. Baltes/Baltes 1989) ist diese Auffassung allerdings
nicht vereinbar. Einiges spricht dafür, dass die Modalitäten und Strategien
des Lernens mit fortschreitendem Alter sich auf eine Weise ändern, für
die in der traditionellen Weiterbildung jedoch noch nicht die adäquate Didaktik
gefunden bzw. entwickelt wurde (vgl. allerdings Löwe 1976). Auch damit ist
eine zwar viel und vorallem programmatisch diskutierte, jedoch bislang nicht
befriedigend gelöste Aufgabe für die empirische Weiterbildungsforschung angesprochen.
2. Weiterbildung zur Korrektur von Fehlqualifizierung
Bedeutung und Aktualität der Weiterbildung sind nicht nur in dem skizzierten
Erfordernis begründet, Defizite grundlegender (Allgemein-) Bildung auszugleichen,
also die Bedingungen erfolgreichen Hinzulernens zu organisieren. Immer
wichtiger wird auch die Weiterbildungsaufgabe, inhaltliche Fehlqualifizierungen
zu korrigieren, also lebenslanges Umlernen zu ermöglichen (dazu u.a.
Maier 1994, S. 260 f.). Die Bearbeitung dieses Problems erfordert die Beantwortung
folgender Fragen: Was ist als Fehlqualifizierung anzusehen; aus welchen
Gründen kommt es zu Fehlqualifizierungen; woran hat eine Korrektur
dieser Fehlqualifizierungen sich zu orientieren und welche pädagogischen
und beschäftigungspolitischen Implikationen haben Versuche, diese Aufgabe
der Weiterbildung zu realisieren?
Zur Feststellung dessen, was als «Fehlqualifizierung» bezeichnet wird,
benötigt man ein Beurteilungs- und Entscheidungskriterium. In der oft impliziten
Bestimmung eines solchen Kriteriums kommen Interpretationen manifesten
Qualifikationsbedarfs zur Geltung. Fehlqualifiziert ist im hier zur Diskussion
stehenden Kontext jemand immer nur im Hinblick auf jeweilige reale Bedingungen
einer (meistens betrieblichen) Qualifikationsverwertung. Aus der
Sicht aller an der grundlegenden und weiterführenden Qualifizierung Beteiligten
sind damit folgende Probleme verbunden:
(a) Subjekt der Bestimmung dessen, was als erwünschte Qualifikation versus
unerwünschte Fehlqualifikation gilt, sind externe Instanzen.
(b) Die Möglichkeiten der Qualifizierungssubjekte, Fehlqualifizierungen dieses
Verständnisses zu vermeiden, sind aus folgenden Gründen ausserordentlich
begrenzt:
— Sie bestimmen und beeinflussen —wie schon gesagt — die Qualifikationsanforderungen
nicht (direkt) und
— sie sind (ebenso wie professionelle Qualifikationsforscher) nicht einmal in
der Lage, künftige Qualifikationsanforderungen einigermassen zuverlässig
zu prognostizieren. (Darüber, welche Qualifikationen in absehbarer Zeit
nicht gefragt sein werden, ist oft Genaueres bekannt als darüber, was gefragt
sein wird.)
— Unter gegenwärtigen Arbeitsmarktbedingungen sind Qualifizierungssubjekte
sogar «gezwungen», mit Mitbewerbern um Qualifizierungsgelegenheiten
zu konkurrieren, die zu verschiedenen Zeiten und in verschiedenen Regionen
in unterschiedlichem Masse angeboten werden, und zwar ziemlich
unabhängig davon, ob die jeweils erworbenen inhaltlichen Qualifikationen
unter unabsehbaren Verwertungsbedingungen gefragt sein werden. Konkreter:
es gibt Konstellationen — ohne behaupten zu wollen, dass dies die
Regel sei —, in denen die Chance, einen Ausbildungsplatz zu finden, umso
grösser ist, je geringer die Aussicht ist, in dem dort «erlernten Beruf» auch
(längerfristig) erwerbstätig werden zu können.
Damit ist auch schon einiges darüber gesagt, aus welchen Gründen Fehlqualifizierungen
entstehen und vielleicht sogar zunehmen: An erster Stelle sind innovative
Entwicklungen im Beschäftigungssystem zu nennen, von denen
auch die arbeitsorganisatorischen Bedingungen der Qualifikationsverwertung
(in längerfristig unvorhersehbarer Weise) betroffen sind. Zu einem Qualifizierungsproblem
wird dieser Tatbestand dadurch, dass diese — innovativen —
Entwicklungen nicht oder nur höchst unzuverlässig prognostizierbar sind. Unvorhersehbar
sind diese Entwicklungen nicht nur für Qualifizierungssubjekte
und für Qualifikationsforscher, sondern auch für Entscheidungsträger, die in
neue — eben innovative — Produktionssysteme investieren und — wenn sie
sich im Wettbewerb behaupten wollen — investieren müssen. Fehlqualifizierungen
«erzeugen» diese Entwicklungen jedoch nur unter der Voraussetzung,
dass die Qualifikation des «Fehlqualifizierten» für die Bewältigung neuer (Arbeits-)
Aufgaben ungeeignet bzw. irrelevant ist.
Eine — weltweit keineswegs seltene — Besonderheit sehe ich in dem gesellschaftspolitisch
definierten Anspruch an die Mitglieder eines Gemeinwesens,
sich mit einem politischen «Umsturz» oder «Umbruch» sowie mit jenen Anforderungen
zu «arrangieren», die aus der Etablierung einer neuen Wirtschafts-,
Gesellschafts- und Rechtsordnung resultieren (vgl. dazu
Jansen/Stooss 1993, S. 114 f.; Hild u.a. 1993, S. 7 ff.). Freilich schlagen diese
Wandlungen sich grossenteils auch in den Kriterien, Regeln und Praktiken der
betrieblichen Rekrutierung bedarfsgerecht Qualifizierter nieder.
Nun kann man auch hier zwischen unvermeidbaren, vermeidbaren und leichtfertig
in Kauf genommenen Fehlqualifizierungen unterscheiden:
Unvermeidbar erscheint mir — unter der Voraussetzung überkommener Qualifizierungspraxis
— die «Entstehung» jener Fehlqualifikationen, die aus Entwicklungen
der Produktionstechnologie und Arbeitsorganisation resultieren,
wobei freilich das Fortschrittskriterium zu präzisieren, zu differenzieren, zu
begründen und kritisch zu befragen wäre. Das «Risiko», das mit jeder innovativen
geistigen Tätigkeit verbunden ist, nämlich dass ihre Fortschritte und deren
Nutzbarmachung für gesellschaftliche Arbeit nicht prognostizierbar sind,
kann niemandem angelastet werden. Aus dieser Feststellung unvermittelt
und undifferenziert eine generelle und «abstrakte Weiterbildungszumutung»
(Kutscha 1992, S 543) «abzuleiten», erscheint mir jedoch gesellschafts-, beschäftigungs-
und bildungspolitisch problematisch. Soweit es sich hierbei
überhaupt um ein durch (Weiter-) Bildung lösbares Problem handelt, kommt
nicht ein unqualifiziertes Mehr an Qualifikation in Betracht (was ja auch mit
der Abneigung gegen Überqualifizierung unvereinbar wäre), sondern eine geeignetere
Modalität bzw. Qualität der Qualifizierung (dazu u.a. Dubs 1993;
Alisch 1994; Maier 1994, S 262). Die bislang vorwiegend programmatische
und strategische Erörterung der für diesen Aufgabenbereich wahrscheinlich
bedeutsamen Schlüsselqualifikationen könnte verworrener kaum sein. Von einer
überzeugenden oder gar empirisch erprobten Realisierung kann bisher
nicht die Rede sein (vgl. dazu u.a. Lehmkuhl 1994; Dörig 1994; Dubs 1995).
Hier liegt ein überaus wichtiges Feld weiterbildungstheoretischer Forschungs-
und Entwicklungsarbeit, zu der aus St. Gallen bereits sehr wichtige
Beiträge geleistet worden sind.
Als «vermeidbar» möchte ich Fehlqualifizierungen bezeichnen, die aus «handhabbaren»
Mängeln der Qualifizierungsorganisation resultieren. Dazu gehören
nicht nur Restriktionen und Disproportionen im Bereich des Ausbildungsstellenangebots,
sondern auch Mängel der Ausbildungsqualität.
Unter den vermeidbaren stellen die leichtfertig in Kauf genommenen Fehlqualifizierungen
eine Besonderheit dar. Sie sind überall dort anzutreffen, wo Auszubildende
—ohne jede Rücksicht auf diesbezüglich absehbare Entwicklungen
des Beschäftigungssystems — als kostengünstige Arbeitskräfte betrachtet
und behandelt werden, wo also aus diesem Grund allzu bedenkenlos, kurzfristig
und spezialisiert «über den Bedarf» ausgebildet wird. Schon im zitierten
Sprachgebrauch kommt der Zynismus zum Ausdruck, mit dem hier die Qualifizierungsobliegenheiten
betrachtet werden. Von der durch Qualifizierung
nicht (direkt) oder nur unwesentlich beeinflussbaren Nachfrage hängt nicht
nur ab, ob jemand «richtig» qualifiziert ist. Von der «richtigen» Qualifikation
und der tatsächlichen Verwertung dieser Qualifikation in Produktionsprozessen
(i.w.S.) hängt für jene, die auf ertragreiche Verwertung ihrer Qualifikation
durch Nachfrager angewiesen sind, ja auch all das ab, was in unserer Gesellschaft
mit der Erwerbstätigkeit verbunden ist. Menschen, deren Qualifikation
nicht (mehr) gefragt ist, haben nach ihrer Entlassung (prinzipiell) dieselben
Bedürfnisse wie zuvor.
Nach allem, was wir darüber wissen, können Fehlqualifizierungen nicht dadurch
vermieden werden, dass man die Prognosen zukünftiger Qualifikationsanforderungen
verbessert und die Qualifizierung daran orientiert. Diese Strategie
hat in der Vergangenheit eher zu grösseren Problemen geführt. Die Lösung
dieses Problems wird wohl in einer ganz anderen Richtung gesucht
werden müssen, nämlich in einer Qualifizierung, die Qualifizierungssubjekte
unabhängiger macht von unvorhersehbaren Wechselfällen zukünftiger Qualifikationsanforderungen.
Das bedeutet nicht, dass gegenwärtige und absehbar
künftige Qualifikationsanforderungen ignoriert werden können oder dürfen.
Es bedeutet aber sehr wohl, allzu direkte und kurzfristige, vor allem aber
falsche Fixierungen auf solche Anforderungen zu vermeiden. Denn das Risiko
einer Fehlqualifizierung steigt mit der Rigidität, mit der die Qualifizierung sich
an vorfindlichen oder absehbaren Anforderungen orientiert. Als «falsch» bezeichne
ich derartige Orientierungen dann, wenn sie ausser Acht lassen, dass
manifeste und absehbare Qualifikationsanforderungen Bedingungen und
nicht auch schon Maximen einer realitätsadäquaten Qualifizierung sind. Als
Bedingungen möglichst «krisenfester» Qualifizierung müssen die absehbaren
Qualifikationsanforderungen allerdings sehr ernst genommen werden. Aus
wie auch immer diagnostizierten Fehlqualifizierungen werden häufig in logisch
unzulässiger Weise Empfehlungen «abgeleitet», bevor wesentliche Voraussetzungen
sowohl des Erfordernisses als auch der Erfolgswahrscheinlichkeit
geklärt sind, Fehlqualifizierungen zu korrigieren: Warum und wie kommt
es zu Fehlqualifizierungen («Ursachen»)? Durch welche (nicht allein, aber
auch nicht zuletzt: pädagogischen) Massnahmen wären Fehlqualifizierungen
zu verhindern (Prophylaxe)? Wie wirkt permanentes Umlernen sich auf die
Lernmotivation, den Lernerfolg und vor allem auf die (präzisierungsbedürftige)
personale Integrität aus? Was kann und was sollte geschehen, um Flexibilität
und Mobilität einerseits sowie Identität und kontinuierliche Entwicklung des
Lernenden andererseits in ein (und auch das ist zu präzisieren und zu begründen:)
konstruktives Verhältnis zu bringen? Ich möchte nicht ausschliessen,
dass es sich bei der allzu bedenkenlosen «Flexibilisierung» der Arbeitskraft
im allgemeinen und der Qualifikation im besonderen um eine grandiose Ressourcenvergeudung
handelt. Damit muss insbesondere dort gerechnet werden,
wo unübertragbar (dazu u.a. Dieterich 1987; Mandl u.a. 1992) für einen
jeweiligen Qualifikationsbedarf gelehrt und gelernt wird, den es — und darin
läge eine Zuspitzung des Problems! — (so) noch nicht einmal gibt. Wenn das
Handlungsfeld dementiert, was das Lernfeld postuliert, muss auch für jene
Qualifikationselemente, die gegenwärtig als besonders bedeutsam gelten
(z.B. Selbständigkeit, soziale Kompetenz, Verantwortungsbereitschaft), sogar
mit einem negativen Lerntransfer, mit einer Demotivierung, mit «Verschleisseffekten»
gerechnet werden. Die — auch sozialen — Kosten, die mit der Realisierung
des Postulats verbunden sind: «eine (beliebige und im Hinblick auf
den Qualifikationsbedarf falsche) Ausbildung ist besser als keine», sind überhaupt
noch nicht berechnet (vgl. dazu Axmacher 1990, S 121 ff.).
Das sind Fragen, die sich aus einer eher volks- und betriebswirtschaftlichen
Betrachtung aktueller Weiterbildungserfordernisse ergeben. Wie sieht die Sache
unter primär weiterbildungspädagogischen Gesichtspunkten aus? Auch
Pädagogen, die sich mit Problemen der beruflichen Aus- und Weiterbildung
beschäftigen, beteiligen sich an einer Vereinseitigung der hier zur Diskussion
stehenden Fragestellung. Ich halte die Frage: «Welche wie qualifizierten
Menschen 'braucht' eine bestimmte Arbeitsorganisation?» nur dann für gerechtfertigt,
wenn sie die andere Frage nicht ausschliesst: «Welche Arbeitsorganisation
brauchen konkrete Menschen?» 1 Üblicherweise werden mit der
ersten Frage konkrete Vorstellungen verbunden, die überdies in jedem einzelnen
Personalrekrutierungsverfahren ebenso konkret zur Geltung kommen.
Demgegenüber bleiben die Bestimmungen der zweiten Frage meistens sehr
abstrakt — nach dem Muster: «im Mittelpunkt 'der' Wirtschaft steht 'der
Mensch'» oder «Menschen machen Wirtschaft». An einem Beispiel möchte
ich verdeutlichen, wie das (durchaus auch) gemeint sein kann: Bereits Taylor
hat bei seinen Studien zur Optimierung der Arbeitsorganisation buchstäblich
«am Menschen» Mass genommen. Sein primäres Interesse galt aber nicht
der Würde und dem kulturellen Anspruch der von ihm vermessenen Menschen.
Seine Frage lautete vielmehr: Wie sind Anatomie und Physiologie
«durchschnittlicher» Menschen beschaffen und wie muss dementsprechend
eine Arbeitsorganisation aussehen, die das Optimum an Arbeitseffektivität
aus diesen so beschaffenen Wesen herauszuholen vermag? Was nach Humanität
aussah und aussieht, war und ist nicht der Zweck, sondern (nur) das Mittel
einer produktiveren Verwertung der Arbeitskraft und letztlich eines rentableren
Einsatzes kostspieliger Produktionstechnologie. Freilich können und
werden bei diesen als «Humanisierung» bezeichneten Massnahmen zur Produktivitätssteigerung
auch (partielle) Verbesserungen menschlicher Arbeitsbedingungen
herauskommen. Das ändert jedoch nichts an dem erwähnten
Zweck-Mittel-Verhältnis. Und dieses Verhältnis wird wiederum höchst relevant,
wenn es um Kosteneinsparungen oder ganz generell um das Kosten-Nutzen-Kalkül
geht.
Ein weiteres Problem sehe ich darin, dass eine demonstrative Gleichgültigkeit
gegenüber der Dignität bestimmter Anforderungs-, Qualifizierungs- und
Arbeitszwecke wie -inhalte von denjenigen systematisch eingeübt wird, die je
nach den (konjunkturellen) Wechselfällen betrieblicher Organisationsentwicklung
beliebig ent-, um- und nach- oder «abstrakt» weiterqualifiziert «werden»
(müssen) (vgl. dazu auch Kutscha 1992, S. 543). Für Betriebe mag es wünschenswert
sein, dass Beschäftigte diskussionslos, effektiv, sorgfältig und
vor allem selbst wollen und tun, was immer von ihnen verlangt wird. Als ein
pädagogisches Ideal wird diese Kritiklosigkeit jedoch nicht angesehen.
Mit diesen Überlegungen bin ich schon in die Fragestellung des zweiten
Hauptteils meiner Ausführungen hineingeraten. Woran können oder sollen
grundlegende und weiterführende Qualifizierungen aus welchen Gründen
sich orientieren?
II. ZIELE DER WEITERBILDUNG
Während ich im ersten Hauptteil meiner Ausführungen retrospektiv danach
gefragt habe, was aus welchen Gründen und mit welchen Konsequenzen
weitergeführt, ausgeglichen, revidiert werden soll, möchte ich mich im zweiten
Hauptteil mit der prospektiven Frage nach dem Wohin der Weiterbildung
beschäftigen. Auch dabei spielt das Weiterbildungserfordernis, oder wie ich
hier lieber formulieren möchte: der Weiterbildungsbedarf eine zentrale Rolle.
In der Folge der sogenannten «realistischen Wendung» der Pädagogik (die
freilich zunächst vor allem forschungsmethodologisch motiviert war), galten
und gelten jene Pädagogen als besonders «realistisch», die ihre Arbeit an
«den» gesellschaftlichen Realitäten orientieren (dazu u.a. Krais 1984, S. 540).
Am Anfang jeder Curriculumentwicklung habe gleichsam eine Marktanalyse
zu stehen. Erst wenn bekannt sei, welche Anforderungen sich aus «den» gesellschaftlichen
und wirtschaftlichen Strukturwandlungen «ergäben» oder
(weniger mystisch:) welche Qualifikationen auf dem Arbeitsmarkt nachgefragt
würden, sei eine realistische Basis für die Bestimmung der Ziele
pädagogischen Handelns gegeben. Die höchst differenzierungsbedürftige Frage,
wer eigentlich — mit welcher Berechtigung — Subjekt der Bestimmung
«des» Qualifikationsbedarfs ist oder unter gegebenen Bedingungen zu sein
vermag, diese Frage wurde mit «pädagogischer» Dienst- und Eilfertigkeit völlig
bedenkenlos beantwortet: Das sind die sogenannten Abnehmer, jene also,
die Qualifizierte zur Erfüllung bestehender Arbeitsaufgaben rekrutieren. Mindestens
ebenso häufig werden hoch aggregierte «Systeme» als Subjekte
oder als «Auslöser» bestimmter Qualifikationsanforderungen genannt: beispielsweise
«das Beschäftigungssystem», «die technische Entwicklung»
oder «neue Technologien» (vgl. dazu u.a. Kern/Schumann 1970; kritisch dazu
Krais 1984, S 542 ff.).
Methoden- und ideologiekritische Sondierungen dieses undifferenziert, simpel,
geradezu positivistisch «registrierten» Qualifikationsbedarfs sind bis zum
heutigen Tag ausgesprochene Raritäten (vg. dazu Heid 1977; Berufsbildungsforschung
1990, S 59). Unproblematisiert blieb und bleibt u.a. folgendes:
— Die Rezeption eines als «Anforderung» kodierten Systems deskriptiver und
normativer Aussagen darf man weder naiv empiristisch noch solipsistisch
fehlinterpretieren. Sie ist vielmehr eine höchst aktive, selektive und interpretative
Handlung, in der das bereits vorhandene Wissen und Problembewusstsein,
aber auch die jeweiligen Interessen und Wertüberzeugungen
des Rezipienten, in anderen Kategorien: die für jede sinnvolle Realitätswahrnehmung
unentbehrlichen Relevanzkriterien und kognitiven Referenzsysteme
zur Geltung kommen. Insofern ist der Rezipient — unvermeidbar —
an der Konstitution des Gegenstandes seiner Wahrnehmung aktiv beteiligt.
Der Pädagoge «sieht» eine Anforderung anders als der Ökonom, der Ingenieur
oder der Jurist, und zwar auch dann, wenn er zu wissen glaubt, dass
es sich bei diesen Anforderungen um eine personexogen real existierende
und identische Wirklichkeit handelt. Andererseits antizipieren oder projizieren
bereits die verschiedenen Konzeptualisierungen von Anforderungen die
«Menschenmöglichkeit» der Erfüllung dieser Anforderungen durch konkrete
Menschen. Schon die Thematisierung von Anforderungen impliziert also
ein (mehr oder minder zutreffendes) Wissen von Menschen sowie ein (besser
oder schlechter begründetes) Interesse am (sozial differenten) Umgang
mit Menschen. Nicht nur die Konzeptualisierung, sondern auch die Registrierung
von Anforderungen ist insofern stets perspektivisch und durchaus
auch programmatisch. Nun gibt es jedoch im Hinblick auf hier thematische
Qualifikationsanforderungen nicht das Wissen und auch nicht die Interessen.
Sie differieren zwischen Autoren dieser Anforderungen einerseits und
ihren Adressaten andererseits sowie zwischen verschiedenen Autoren und
vor allem zwischen verschiedenen Rezipienten. Ausserdem sind konkurrierende
Auffassungen und Interessen, die in alternativen Formulierungen und
Begründungen, in alternativen Rezeptionen und Verarbeitungen von Anforderungen
zur Geltung kommen, weder gleich «mächtig», noch ohne weiteres
gleichwertig. Eine empirische Analyse der überaus komplexen, dynamischen
und heterogenen Struktur dessen, was als «Qualifikationsanforderung»
oder als «Qualifikationsbedarf» bezeichnet wird, würde zeigen, in wie
hohem Masse Qualifikationsanforderungen von sozialen Auseinandersetzungen
abhängige und sozialem Handeln zugängliche Grössen sind.
Eng damit zusammen hängt die Tatsache, dass die überaus missverständlich
so genannte «Ableitung» von «Anforderungen» aus arbeitsorganisatorischen
«Gegegebenheiten» und von «Weiterbildungsaufgaben» aus manifesten
«Anforderungen» eine Abfolge höchst vernetzter Entscheidungen ist,
in denen vieldimensionale und permanente Abstimmungen erfolgen zwischen
dem, was als technisch, ökonomisch und sozialpolitisch möglich und
wünschenswert erscheint. Auf jeweilige Qualifikationsanforderungen Bezug
nehmende Begründungen eines Weiterbildungserfordernisses gehen weit
über das hinaus, was als «Ableitung» bezeichnet werden kann.
Die Sachverhalte (Produktionstechnologie, Arbeitsorganisation), auf die in
der «Ableitung» von Anforderungen Bezug genommen wird, sind ihrerseits
Resultate von Zweckbestimmungen, Entscheidungen, Handlungen und insofern
auch von personaler und sozialer Kompetenz. Bereits Konzeption
und Konstruktion von Technik und Arbeitsorganisation enthalten eine «Anthropologie»
dessen, der in der Lage sein muss, jene Anforderungen zu erfüllen,
die sich aus den Funktionserfordernissen einer Technik und Arbeitsorganisation
«ergeben», die ihrerseits als Mittel zur Erfüllung von Zwecken
menschlichen Handelns organisiert sind, auch wenn diese Anthropologie —
wie am Beispiel Taylors gezeigt wurde — höchst fragwürdig sein kann. Dadurch
erhalten «Ableitungen» dieser Art etwas Zirkuläres.
— Unterschätzt wird auch die Tatsache, dass der manifeste Bedarf weder
eine einheitliche noch eine feste, unabänderliche Grösse ist, dass insbesondere
gleich Qualifizierte für unterschiedliche Tätigkeitsanforderungen sowie
unterschiedlich Qualifizierte für gleiche Tätigkeitsanforderungen (je nach Arbeitsmarktkonstellation)
geeignet zu sein vermögen und dass Betriebe
technische und arbeitsorganisatorische Möglichkeiten nutzen können, in
bestimmten Grenzen sich von den Wechselfällen des Qualifikationsangebots
auf dem Arbeitsmarkt unabhängig zu machen und (wiederum in bestimmten
Grenzen) Arbeitskräfte durch Technik zu ersetzen.
— Schliesslich — und dieses Argument ist von besonderer Bedeutung — kann
aus der Feststellung einer arbeitsorganisatorischen Gegegebenheit und
auch eines manifesten Qualifikationsbedarfs nur um den Preis eines naturalistischen
Fehlschlusses eine pädagogische Norm bzw. Maxime abgeleitet
werden. Von einer «Ableitung» (im logischen Sinne) kann also keine Rede
sein. Ich wiederhole: Ein manifester Qualifikationsbedarf ist eine zwar nicht
zu vernachlässigende Bedingung, jedoch keine Maxime weiterbildungspädagogischen
Denkens, Planens und Handelns.
So wie Versuche, aus arbeitsorganisatorischen Gegebenheiten Qualifikationsanforderungen
und aus jeweiligen Qualifikationsanforderungen weiterbildungspädagogische
Programme abzuleiten, einer logischen und methodologischen
Kritik nicht standhalten, muss auch die ebenso verbreitete Neigung kritisiert
werden, individuelle Bildungsbedürfnisse zur Bezugsgrösse für die Zielbestimmung
von Weiterbildung zu erklären. Auch vorfindliche Lernfähigkeiten
und Bildungsbedürfnisse der Adressaten organisierter Weiterbildung sind
nicht zu vernachlässigende, aber kritisch zu sondierende Bedingungen und
nicht auch schon Maximen weiterbildungspädagogischen Handelns. Ausserdem
scheinen die Befürworter einer Orientierung pädagogischer Zielbestimmungen
an den je vorfindlichen Bildungsbedürfnissen sich nicht für die soziokulturellen
Bedingungen der Entwicklung und Ausprägung eines individuellen
Bildungsbedürfnisses zu interessieren. Aber es gibt keine entscheidungs- und
handlungsbedeutsamen Bedürfnisse, deren Inhalt und Zielrichtung sich
erstens nicht in Auseinandersetzungen mit den Anforderungen einer konkreten
Umwelt herausgebildet haben und die sich zweitens über vorfindliche
oder herstellbare Bedingungen ihrer Realisierung völlig hinwegsetzen können.
Kein Mensch wird mit dem Bedürfnis geboren, Spanisch oder Klavierspielen
zu lernen oder einen Computer-Kurs zu belegen. Derartige Lernbedürfnisse
sind auf der einen Seite Resultat von Lernprozessen, in denen gesellschaftliche
Anforderungen und gesellschaftliche Kriterien für die Bestimmung
von Lernerfolgen eine zentrale Rolle spielen. Auf der anderen Seiten
haben diese Lernbedürfnisse externale Bedingungen bzw. Gelegenheiten der
Verwendung des zu Lernenden (freilich in einem weiteren Sinn) zur Voraussetzung.
Ich gehe sogar noch weiter und vermute, dass Weiterbildungsbedürfnisse
sich faktisch in aller Regel an jenen gesellschaftlichen Anforderungen
orientieren, durch deren Erfüllung Weiterbildungserfolge definiert sind.
Auch wer lernt, sich kritisch zu manifesten Anforderungen zu verhalten, bezieht
sich einerseits auf das zu Kritisierende und andererseits auf eine (von
wem auch immer definierte) Anforderung mit dem Namen «kritische Kompetenz».
Damit ist eine — zu Beginn des 1. Kapitels bereits angesprochene — Unterscheidung
benannt, der allerdings besondere pädagogische Bedeutung zuzumessen
ist, nämlich die Unterscheidung zwischen einer affirmativen und einer
kritischen Bezugnahme zu sozioökonomischen Entwicklungsbedingungen
und Verhaltenserwartungen. In der Tradition pädagogischen Denkens und
Handelns hat die Idee der Aufklärung (freilich nicht unbestrittene und faktisch
oft vernachlässigte) Geltung gewonnen. Danach wäre die Erzeugung oder
auch nur Begünstigung der (sozialisationsabhängigen) Bereitschaft eines
Menschen, jeweils vorfindliche Anforderungen («der Gesellschaft» oder «des
Beschäftigungssystems») kritiklos zu erfüllen, mit zentralen Maximen
pädagogischen Denkens und Handelns unvereinbar. Ziel hätte vielmehr die
Fähigkeit eines jeden zu sein, «sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen
zu bedienen» und «von seiner Vernunft in allen Stücken öffentlichen
Gebrauch zu machen» (Kant 1784/1964, S. 53, 55). Konkreter formuliert geht
es um die Befähigung Lernender, an der Fortentwicklung und Ausgestaltung
jener Bedingungen der Qualifikationsverwertung fachlich kompetent und sozial
verantwortlich mitzuwirken, auf die in «Ableitungen» von Qualifikationsanforderungen
üblicherweise Bezug genommen wird. Aber auch die Partizipation
mündiger «Wirtschaftsbürger» an der Ausgestaltung der «Anspruchsgrundlage»
für Qualifikationsanforderungen kann die kritisch sondierende
Stellungnahme der Anforderungsadressaten nicht erübrigen. Kritik — von der
hier mehrfach die Rede ist impliziert oder bezweckt nicht die Ablehnung
oder negative Bewertung, sondern die kompetente, differenzierte und distanzierte
(unabhängige) Überprüfung und sondierende Beurteilung der zu kritisierenden
Sache oder Theorie (Ideologie).
Weil man den Weiterbildungsbedarf des Beschäftigungssystems einerseits
und individuelle Bildungsbedürfnisse der Weiterbildungssubjekte andererseits
nicht in der kritisierten Weise gegeneinander ausspielen kann, ist es auch
problematisch, Bildungs- und Beschäftigungssystem — wie es zu undifferenziert
heisst: — entkoppeln zu wollen. Zwar ist die Entkopplungsthese, die in
der Regel von Repräsentanten «des Bildungssystems» sowie von Verfechtern
einer konventionellen und meines Erachtens naiven Dichotomisierung
sozioökonomischer Anforderungen und individueller Bildungsbedürfnisse vertreten
wird, meist kritisch motiviert. Jedoch hat sie folgende Mängel:
(a) Sie ist ideologisch, sofern sie die erwähnte Hypostasierung und Dichotomisierung
«des Ökonomischen» und «des Pädagogischen» voraussetzt
oder impliziert.
(b) Sie ist utopisch. In den Anforderungen der Gesellschaft und des Beschäftigungssystems
kommen durchaus auch für jedes Individuum bedeutsame
Überlebenserfordernisse (in einem weiten und komplexen Sinn des Wortes)
zur Geltung.
(c) Diese Empfehlung ist unverantwortlich, weil ihre Realisierung genau jene
Anforderungen, die das Entkopplungspostulat ausgelöst haben mögen, einer
kritisch-sondierenden Analyse entzieht (vgl. dazu auch Bourdieu 1985,
S 57 ff.) und weil sie ausserdem zu Qualifizierende daran hindert, sich
sachkompetent und inhaltlich mit — wie auch immer — kritikwürdigen Anforderungen
auseinanderzusetzen. Denn abstrakte «Kritikfähigkeit» (ohne
«entsprechende» fachlich inhaltliche Sach- und Urteilskompetenz) gehört
zwar zu den am häufigsten geforderten Schlüsselqualifikationen, ihre
«Vermittlung» führt jedoch zu einer praktisch eher affirmativen, weil fachlich
inkompetenten Kritik «im luftleeren Raum». Die postulierte Entkopplung
begünstigt abstrakte und pauschale Ignoranz oder Negation. Darin
vermag ich nicht die Lösung jener Probleme zu sehen, aus deren Erörterung
Befürworter der Entkopplung die Argumente für ihr Plädoyer beziehen.
Im Umkreis der Versuche, Kriterien oder auch Verfahren der Abgrenzung zwischen
pädagogisch akzeptablen und nicht akzeptablen Anforderungen zu finden
und zu begründen, spielt auch die in der Pädagogik überaus verbreitete
Unterscheidung von Selbst- und Fremdbestimmung eine zentrale Rolle. Dabei
entsteht häufig der Eindruck — zumindest wird er nicht deutlich genug ausgeschlossen
—, dass das, was Menschen selbst bestimmten, was sie selbst
wollten oder täten, schon deshalb gut sei, weil sie es selbst bestimmen, wollen
oder tun. Als ob beispielsweise Hitler oder Stalin oder die Unzahl jener
Helfershelfer, ohne die Hitler und Stalin zur völligen Belanglosigkeit verurteilt
geblieben wären, nicht selbst bestimmt, gewollt und getan hätten, was wir —
heute — mit Entsetzen verurteilen! Ist es andererseits nicht überaus fragwürdig,
alles das zu verdächtigen oder abzuwerten, was andere von mir erwarten
oder fordern? Da jede An-Forderung erstens interaktive Beziehungen voraussetzt,
zweitens auf die Willensäusserung eines Subjektes zurückgeht und
drittens auf die Modifikation der Willensäusserung anderer abzielt, hat jede
Forderung stets beide Funktionen: Es gibt überhaupt keine Forderung, die
nicht letztlich vom Subjekt dieser Forderung selbst bestimmt ist und die Aktivierung
des Urteilens, Wollens und Handelns anderer bezweckt. Nur wenn
man unterstellt, dass der Vorteil dessen, der eine Forderung (selbst) bestimmt,
regelmässig oder gar notwendig von einer Benachteiligung dessen
abhängt oder auch nur begleitet wird, an den diese Forderung adressiert
wird, kann man diese meist allzu generelle Bewertungsdichotomie aufrecht
erhalten.
Nun hat man sich aber doch mit folgendem Einwand zu beschäftigen: Zwar
garantiert Selbstbestimmung keine inhaltliche Unbedenklichkeit, jedoch
Fremdbestimmung ist als eine solche prinzipiell problematisch. Warum?
Wenn man respektiert, dass der Mensch —anthropologisch — ein Wesen ist,
das die internalen, sozialen und kulturellen Bedingungen seiner Entwicklung
selbst hervorbringen oder gestalten muss (dazu u.a. Herder 1772/1960;
Schleiermacher 1826/1957, S 14 ff.; Litt 1921/1969, S 286 ff.; Gehlen 1958,
S 88 ff.; Benner 1987, S 54 ff.), ein Wesen also, dessen instinktive Verhaltensunsicherheit
durch jene Unbestimmtheit «aufgehoben» ist, die wir Freiheit
nennen, dann werden die Zwecke menschlichen Handelns nicht durch
«die Natur» oder «die Gesellschaft», sondern durch räsonable Gründe, d.h.
durch Urteile, Entscheidungen und Handlungen der Handlungssubjekte selbst
bestimmt. Jede pädagogische Intervention findet ihre Grenze in der Unhintergehbarkeit
dieser Zuständigkeit und Entscheidung des Interventionsadressaten.
Selbst der Zwang — den es in vielen Formen und Graden geben kann —
bezweckt die Einwilligung zum Erzwungenen und findet in dieser Einwilligung
auch erst seine Vollendung. Aber erzwungene Einwilligung kann wohl kaum
als Ideal pädagogischen Handelns gelten. Als pädagogisch legitim können
pädagogische Praxis konstituierende Diskurse vielmehr nur in dem Masse anerkannt
werden, in dem die Qualität der Argumente zur Begründung einer
Handlungsregulierung die soziale oder ökonomische Macht des Argumentierenden
erübrigen oder ersetzen.
Wenn diese hier nur extrem knapp formulierbaren Überlegungen einer kritischen
Überprüfung standhalten, haben sie Konsequenzen für die kritische Beurteilung
der verbreiteten und allzu umstandslosen Dichotomisierung von
«(beruflicher) Tüchtigkeit» und «(beruflicher) Mündigkeit» (vgl. dazu auch Kutscha
1992, S 542 ff.). Mündigkeit (oder auch: «Selbstverwirklichung» oder
«sittliches Handeln») ohne Tüchtigkeit vermag ich mir nicht vorzustellen. Und
wenn der Begriff «Tüchtigkeit» nicht von vornherein für die kritiklose Unterwerfung
unter beliebigen fremden Willen reserviert bleibt, kann (und sollte)
Mündigkeit wesentlicher Bestandteil von Tüchtigkeit sein.
Freilich kann eine Orientierung, die als «Mündigkeit» bezeichnet und faktisch
anerkannt werden mag, in einem Sinne instrumentalisiert werden, die das
Gegenteil des herkömmlich mit der Verwendung dieser Vokabel Suggerierten
bezweckt und bewirkt — etwa indem alles getan wird, damit der Interventionsadressat
selbst will, was er nach den Zwecken dessen wollen soll, der
Gründe dafür hat, erstens das zunächst nur von ihm Erwünschte zu bewirken
und zweitens diese Unterwerfung als «Mündigkeit» zu benennen. Aber auch
wo und soweit das gilt, wird damit die erwähnte Dichotomisierung fragwürdig,
so berechtigt es sein mag, die skizzierte Instrumentalisierung von Mündigkeit
zu verurteilen.
III. KONSEQUENZEN FÜR PRAXIS UND THEORiE
DER WEITERBILDUNG
Was folgt daraus für eine Hochschule, die ihre international bekannten und
anerkannten Weiterbildungserfolge durch Schaffung eines Weiterbildungszentrums
zu konsolidieren beabsichtigt? Ich unterscheide Konsequenzen für
zwei eng zu vermittelnde Bereiche, nämlich für die Weiterbildungspraxis und
für die Weiterbildungsforschung. Und ich beschränke mich auf wenige
grundsätzliche Erwägungen.
Zunächst zur Weiterbildungspraxis: Jede Konzeption von Weiterbildung hat
es mit zwei Typen von Realisierungsbedingungen zu tun, und zwar erstens
mit (lernabhängigen) personimmanenten Weiterbildungsbedingungen und
zweitens mit (entscheidungsabhängigen) personexogenen Entwicklungsbedingungen,
insbesondere mit Qualifikationsanforderungen des Beschäftigungssystems.
1. Zum einen muss eine Weiterbildung, die an den gestaltbaren Bedingungen
ihres eigenen Erfolges nicht desinteressiert ist, sich auch um jene der Weiterbildung
vorausgehende Ausbildung kümmern, von der die Bereitschaft zur
und der Erfolg von Weiterbildung in hohem Mass abhängen. Diese Schlussfolgerung
hat u.a. einen bildungsorganisatorischen und einen curricularen
Aspekt: Um einen Informations- und Erfahrungsaustausch, im Idealfall sogar
eine Kooperation zwischen den für die Ausbildung und den für die Weiterbildung
Zuständigen zu gewährleisten, wäre eine Institutionalisierung der Kooperation
zwischen Aus- und Weiterbildung zum Zweck wechselseitiger Bezugnahmen
von nicht zu unterschätzender Bedeutung. Die Ausbildung würde
von Erfahrungen profitieren, die in der Weiterbildung gesammelt und konsolidiert
werden können. Die Weiterbildung könnte in viel systematischerer und
erfolgreicherer Weise an das in der Ausbildung Erreichte anknüpfen. In dieser
Kooperation liessen sich auch evaluative Elemente zur Geltung bringen: In
der Weiterbildung hätte sich der Ertrag der Ausbildung zu bewähren; die Ausbildung
erhielte verwertbare Rückmeldungen über einen wichtigen Aspekt
des Erfolges ihrer Arbeit. Das für St. Gallen geplante Modell bietet ideale und
nach meiner Kenntnis im nationalen wie internationalen Rahmen mustergültige
Voraussetzungen für die Entwicklung, Erprobung und Konsolidierung des
von mir hier nur Andeutbaren. Ihre Hochschule entspräche damit in sehr viel
elaborierterer Weise, als das bei konventionellen Institutionalisierungen der
Fall ist, einem Votum, das der Deutsche Bildungsrat vor einem Vierteljahrhundert
folgendermassen formuliert hat: «Die derzeitige Weiterbildung entspricht
nicht den Bedingungen einer fortgeschrittenen Industriegesellschaft. Ständige
Weiterbildung muss sich auf eine institutionelle und organisatorische Basis
stützen können, die es ihr erlaubt, die Herausforderungen der wissenschaftlich-technischen,
wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Veränderungen
angemessen zu beantworten» (Deutscher Bildungsrat 1970, S 208).
Zu den curricularen Konsequenzen gehört, dass schon in der Ausbildung Konzepte
entwickelt, erprobt und realisiert werden, die ein erfolgreiches Weiterlernen
ermöglichen und begünstigen. Dazu gehören unter anderem lern- und
transfertheoretisch qualifizierte Elemente und Strukturen deklarativen und
prozeduralen Wissens; dazu gehören Lerntransfer begünstigende Strategien
erfolgreichen Lernens sowie auch bewährte sachstrukturelle und soziale Kontextualisierungen,
Dekontextualisierungen und Rekontextualisierungen der
Wissensgenerierung und der Wissensverwendung. Das damit Angedeutete
wird unter den Stichworten der «Problemorientierung», der «Situationsorientierung»,
der «Anwendungs-» oder «Handlungsorientierung», des «kooperativen
Lernens», aber auch des «Denkens in komplexen und realitätsadäquaten
Zusammenhängen», der «Metakognition», der «Interdisziplinarität», der «Internationalität»
sowie des alten, nahezu klassischen «exemplarischen oder
auch kategorialen Prinzips» diskutiert. Das geschieht in der Regel hoch abstrakt
und rein programmatisch; empirisch kontrollierte und praktisch erprobte
Konzepte sind demgegenüber eher selten (vgl. dazu u.a. Prenzel u.a. 1994,
bes. S 30 ff.; Alisch 1994). Dabei geht es keineswegs nur um das Wie, also
um sogenannte «formale» Bildung, sondern um das besondere Wie des besonderen
Was. Das Institut für Wirtschaftspädagogik der Hochschule St. Gallen
gehört zu den ganz wenigen Einrichtungen des deutschen Sprachraums,
die auf diesem Gebiet international beachtete Pionierleistungen erbracht haben
(zuletzt und resümierend Dubs 1995).
Die mehrfach erwähnte Abhängigkeit des Weiterbildungserfolgs von der Qualität
vorausgehender Ausbildung bietet Anlass, den Stellenwert «kompensatorischer
Weiterbildung» neu zu diskutieren und zu bewerten. Freilich mag es
stets vermeidbare Ausbildungsdefizite geben, die von einer dafür allerdings
besser auszustattenden Weiterbildung nicht ignoriert werden dürfen. Jedoch
kann und sollte die Bestrebung dahin gehen, die Gründe für das Entstehen
kompensatorischer Weiterbildungserfordernisse zu beseitigen, so dass für
Weiterbildung Zuständige sich unabhängiger, innovativer und durchaus auch
kritischer um prospektive Entwicklungsperspektiven kümmern könnten.
2. Weiterbildungserfolge sind nicht nur von der lernabhängigen Weiterbildungsbereitschaft
und der Weiterbildungsfähigkeit potentieller Weiterbildungssubjekte,
sondern auch von der didaktischen Qualität der Weiterbildungsmassnahmen
abhängig. Diese Qualität wird von zwei Tatbeständen beeinträchtigt:
Vom geringen Professionalisierungsgrad der Weiterbildner und
vom unbefriedigenden Entwicklungsstand der Weiterbildungsdidaktik. Obwohl
die Weiterbildung zu den am stärksten expandierenden Sektoren des
Bildungssystems gehört und obwohl die Erwachsenenbildung beispielsweise
in der Bundesrepublik zu den am stärksten frequentierten Studienrichtungen
eines erziehungswissenschaftlichen Hauptfachstudiums gehört, sind nur zwei
Prozent der Lehrenden im vergleichsweise stark formalisierten Volkshochschulbereich
hauptberuflich in der Weiterbildung tätig (Arbeitsbericht 1994,
S 738 f.; vgl. auch Deutscher Bildungsrat 1970, S 207 f.). In dem besonders
stark expandierenden Feld betrieblicher Weiterbildung ist der Anteil hauptberuflich
tätiger Weiterbildner wahrscheinlich noch geringer. Wer die Schwierigkeiten
einer Qualitätssicherung im Weiterbildungsbereich kennt, kann ermessen,
wie unbefriedigend dieser Zustand ist. Bereits 1970 waren die Verfasser
des Strukturplans für das Bildungswesen der Auffassung, dass «es ... zukünftig
immer weniger denkbar sein (wird), dass ein Bildungsbereich mit stark zunehmender
Bedeutung überwiegend von nebenberuflich tätigen Mitarbeitern
getragen wird» (Strukturplan 1970, S 208). Qualifizierung und Professionalisierung
der Weiterbildner sind sicher keine hinreichenden Bedingungen zur
Gewährleistung höchstmöglicher Weiterbildungsqualität; sie dürften aber zu
den notwendigen Voraussetzungen dafür gehören.
Von gleicher Bedeutung ist die Weiterbildungsdidaktik. Auch diesbezüglich
besteht eine Diskrepanz zwischen der Bedeutungszuschreibung einerseits
und der Qualitätssicherung andererseits. Zwar hat die psychologische Erforschung
von Lernprozessen im höheren Lebensalter inzwischen eine sehr bemerkenswerte
Forschungstradition entwickelt (vgl. dazu Thomae; Lehr; Baltes).
Damit sind nicht zu vernachlässigende grundlagenwissenschaftliche
Beiträge zur Fundierung erfolgsorientierten Lehrens und Lernens im Kontext
organisierter Weiterbildung geschaffen worden. Jedoch die Transformation
bzw. Nutzung dieser auch international anerkannten Forschungsergebnisse in
eine empirisch überprüfte und praktisch erprobte Weiterbildungsdidaktik
steht weitgehend noch aus. Auch hier zeigt sich ein Missverhältnis zwischen
dem Umfang spekulativen und programmatischen Räsonierens einerseits und
der Entwicklung und Anwendung empirisch gesicherter Erkenntnisse andererseits.
Für beide Aufgabenbereiche schafft Ihr Weiterbildungszentrum günstige
Voraussetzungen. Es bietet nicht nur Gelegenheit zur wissenschaftlichen
Weiterbildung, sondern auch zur Entwicklung, Erprobung, Konsolidierung
und Institutionalisierung praxisbedeutsamer Konzeptionen, Strategien
und Praxen wissenschaftlicher Weiterbildung sowie zur Weiterbildnerqualifizierung,
und zwar auf seiten der Adressaten sowie auf seiten der Autoren,
und hier insbesondere des wissenschaftlichen Nachwuchses.
Soviel zu jenen Konsequenzen, die sich auf die lernabhängigen, personimmanenten
Bedingungen und — eher exemplarisch — auf bildungsorganisatorische
wie curriculare Voraussetzungen erfolgsorientierter Weiterbildung beziehen.
3. Von zentraler Bedeutung für die Entwicklung einer exemplarischen Konzeption
(nicht nur) wissenschaftlicher Weiterbildung erscheint mir aber auch die
Frage, wie die für Weiterbildung zuständigen Instanzen oder Personen mit
Ansprüchen umgehen, die unter Bezugnahme auf externale Weiterbildungsbedingungen
an sie herangetragen werden. Weiterbildung mag sich an manifestem
Weiterbildungsbedarf orientieren. Da es aber «den» Weiterbildungsbedarf
nicht gibt, wäre einerseits zu klären, auf wessen wie begründeten Bedarf
es dabei jeweils ankommt. Zum anderen wäre zu erörtern, was «Orientierung»
am Bedarf heissen kann. Die in jeglichem Bedarf zur Geltung kommenden
Interessen und Normen sind —wie bereits ausgeführt —sehr ernst zu
nehmende Bedingungen, nicht aber auch schon Maximen einer von Weiterbildnern
zu verantwortenden Zielbestimmung und -realisierung. Weiterbildner
können durch ihre — wie auch begründete —Orientierung an vorfindlichen Bedarfen
nicht aus ihrer Zuständigkeit und Verantwortung für das, was sie wollen
und tun, entlassen werden. Sie haben nicht nur die Möglichkeit, sondern
auch die Pflicht, zu vorfindlichen Anforderungen in kritischer, d.h. differenzierender
und sondierender Argumentation Stellung zu nehmen. Die betrieblicher-
oder staatlicherseits allzu oft erwünschte spezielle, kurzfristige und affirmative
Anpassungsweiterbildung im Sinne einer (bereits methodologisch
naiven) Unterwerfung von Qualifizierungsprogrammen unter unabhängig davon
entwickelte Produktionsprogramme (i.w.S.) ist nicht nur gesellschafts- und
bildungspolitisch reaktionär, sondern auch ökonomisch, kulturell und humanitär
unproduktiv. Denn die Geschwindigkeit und wohl auch das Ausmass,
in dem Gelerntes «veraltet», korreliert positiv mit der unmittelbaren Verwertungsnähe
bzw. -dienlichkeit des Gelernten (dazu auch Dubs 1995, S 174).
Weiterbildung muss und darf ihre Adressaten —auf allen Qualifikationsstufen!
— nicht zu unselbständigen Objekten der Anpassung an vermeintliche oder
tatsächliche Anforderungen oder Ansprüche machen. Sie kann und sollte sich
dem Versuch widmen, ihre Adressaten als urteils- und handlungskompetente
Subjekte der Mitgestaltung von Voraussetzungen der Weiterbildungsansprüche
zu denken, zu respektieren und zu qualifizieren, und zwar — wie
schon gesagt —keineswegs nur für Führungskräfte und «selbständige» Unternehmer.
Alles andere wäre Vergeudung innovativen Potentials — um noch gar
nicht von humanitären Belangen zu reden.
Auch zur Gewährleistung dieser Unabhängigkeit bietet die Einrichtung eines
eigenständigen Weiterbildungszentrums ideale Voraussetzungen, die — und
davon bin ich überzeugt — auch verallgemeinerbar begründeten Qualifikationserfordernissen
des Beschäftigungssystems im ganzen und langfristig besser
gerecht werden als eine allzu direkte, kurzfristige und unkritische Anpassungsqualifizierung
(s. dazu u.a. Baethge 1992, S 8 f.).
Damit bin ich schon bei meinen Schlussfolgerungen für die Weiterbildungsforschung.
Mein Respekt vor Ihrer Leistung auf diesem Gebiet verbietet es,
ins einzelne gehende Vorschläge zu unterbreiten. Auf einen Gedanken möchte
ich — als Aussenstehender — ganz kurz eingehen: Ich habe bereits mehrfach
auf zwei für die Weiterbildungsforschung bedeutsame Diskrepanzen hingewiesen,
und zwar erstens auf die Diskrepanz zwischen der gesellschaftlichen
Bedeutung und der üblichen didaktischen Qualität der Weiterbildung sowie
zweitens auf die weiterbildungstheoretische Diskrepanz zwischen abstrakt-spekulativen
und disparaten normativ-programmatischen Aussagen einerseits
und einer Vernachlässigung der Entwicklung, empirischen Überprüfung
und praktischen Erprobung konsistenter und leistungsfähiger Weiterbildungskonzeptionen
andererseits. Beide Diskrepanzen verweisen auf Defizite
der Weiterbildungsforschung. Und diese wiederum sind im Fehlen optimaler
Forschungsvoraussetzungen begründet. Beim gegenwärtigen Stand der auch
für die Weiterbildungsforschung bedeutsamen entwicklungspsychologischen,
lern- und transfertheoretischen, unterrichtswissenschaftlichen und sozialwissenschaftlichen
Grundlagenforschung kann man nicht darauf rechnen, dass
der für die Qualitätssicherung unentbehrliche wissenschaftliche Fortschritt
sich in der Weiterbildungspraxis —gleichsam nebenbei — «ereignet». Auf der
anderen Seite kann eine für die Weiterbildungspraxis ergiebige Weiterbildungsforschung
immer weniger in institutionalisierter Distanz zu dieser Praxis
vorangebracht werden. Zwar lässt sich in Forschung und Lehre die Weiterbildungspraxis
«simulieren», aber doch nur höchst unvollkommen «substituieren».
Das Niveau der Weiterbildungsforschung könnte eine der Bedeutung
des Weiterbildungssektors entsprechende Steigerung erfahren, wenn sie —
ich greife auf eine Analogie aus der Medizin zurück — ein «Klinikum» erhielte.
Damit ein solches Klinikum sich nicht als blosse «Versuchsanstalt» von der
gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Praxis entfernt, müsste — wie das in
Kliniken der Fall ist — in dieser Einrichtung «ganz normale» wissenschaftliche
Weiterbildung betrieben werden. Genau das scheint durch Ihr Weiterbildungszentrum
geplant zu sein. Damit schaffen Sie die einmalige Gelegenheit,
Weiterbildungsforschung mit Weiterbildungspraxis — auf dem Niveau wissenschaftlicher
Weiterbildung — zu verbinden. Ein Verzicht auf die Nutzung dieser
singulären Chance käme fast schon in die Nähe einer Ressourcenvergeudung
— vielleicht das schlimmste, was man einer Hochschule für Wirtschafts-,
Rechts- und Sozialwissenschaften «nachsagen» könnte. Ich hoffe, Sie haben
nicht überhört, dass ich diesen Satz im Konjunktiv formuliert habe.