Universität
und «Um-Welt» 2000
Rektoratsrede von
Prof. Dr. Bruno Messerli
Verlag Paul Haupt Bern 1986
Universität und «Um-Welt» 2000
Rektoratsrede von Prof. Dr. Bruno Messerli
Am 18. November 1899, an der Wende
eines neuen Jahrhunderts, stand erstmals
und seither letztmals ein Geograph
an diesem Rednerpult. Prof.
Brückner, der bekannte Eiszeitforscher,
wandte sich mit dem Titel «Die
schweizerische Landschaft einst und
jetzt» an die «hochansehnliche Versammlung».
Wenn ich einige Schlusssätze
aus seiner Rede zitiere, dann
wollen wir darin die Sorge um die Umwelt,
aber auch das Vertrauen und den
festen Glauben an den eingeschlagenen
Weg in die Zukunft spüren: «Die
grossen Züge der Landschaft bleiben
unverändert, die kleinen aber zeigen
mannigfachen Wandel. Seen sind geschwunden,
Flüsse abgelenkt, Wälder
gefällt, Äcker an ihre Stelle getreten,
die dann selbst wieder Wiesen weichen
mussten. Nicht Naturkräfte sind es,
die hier blind walten, sondern der
Geist des Menschen, der seinen Wohnsitz
umgestaltet. Es ist der Kampf ums
Dasein, der diese Veränderung verursacht.
Gerade im Schweizerland ist
dieser Kampf besonders schwer, denn
rauh ist das Klima, unwirtlich und gefährdet
der Boden auf weite Strecken.
Nur bei höchster Anspannung aller
Kräfte gibt es Ertrag. Zum Rasten ist
das Schweizerland nicht geschaffen,
seinem Lande verdankt der Schweizer
ein gut Teil seiner besten Eigenschaften.» 1
Wieder nahen wir uns einer Jahrhundertschwelle:
Wo stehen wir heute?
Blieben die grossen Züge unserer
Landschaft unverändert, hat der Geist
des Menschen bloss seinen Wohnsitz
umgestaltet? Welche Dynamik hat diese
Landschafts- und Umweltveränderung
in unserem Jahrhundert entwickelt
und vor welche Probleme wird
uns das nächste Jahrhundert stellen?
Nehmen wir als Beispiel unsere allernächste
Umgebung, die Stadt Bern.
Seit ihrer Gründung bis in die Mitte
des 19. Jahrhunderts blieb sie während
Jahrhunderten in ihrer Grösse zwischen
ihren Mauern konstant. Dann
folgte eine erste Expansion bis zur
Jahrhundertwende, ausgelöst durch
den Eisenbahnbau, stimuliert durch
den aufkommenden Handel und Verkehr,
gefördert durch die politische
Bedeutung als neue Bundeshauptstadt.
Eine Stadt von 67000 und eine
Agglomeration von 87000 Einwohnern,
das war das «menschliche Umfeld»
der bernischen Universität und
ihres Rektors. Seit damals hat sich die
Stadt mehr als verdoppelt, die Agglomeration
fast verdreifacht und die
überbaute Fläche in Stadt und Agglomeration
mehr als vervierfacht 2. Das
alles ist in unserem Jahrhundert, vor
allem aber in den letzten 30-40 Jahren
passiert, in unserer Zeit, in unserer
Generation! Haben wir das eigentlich
Prof.
Dr. Bruno Messerli
1931 in Belp geboren, studierte Bruno Messerli
an der Universität Bern Geographie,
Geologie und Geschichte. Die Promotion
erfolgte 1962. Ausgedehnte Feldarbeiten
zur eiszeitlichen und gegenwärtigen Vergletscherung
der Mittelmeergebirge führten
1965 zur Habilitation. 1968 arbeitete er
als Humboldt-Stipendiat und auf Einladung
der Freien Universität Berlin im Tibesti-Gebirge
der zentralen Sahara an klimageschichtlichen
Fragen. 1969 wurde er zum
ao., 1978 zum ordentlichen Professor ernannt.
Die letzten 10 Jahre waren geprägt
durch ökologisch orientierte Forschungsprogramme
in den Alpen, im Himalaya
und in Ostafrika.
Heute präsidiert er die Kommission für Gebirgsökologie
der internationalen Geographischen
Union, arbeitet im Programm
«Mensch und Biosphäre» mit der UNESCO
zusammen und ist Projektleiter und
Mitglied des Planungsstabes der UNU
(United Nations University). Im Nationalfonds
leitete er das nationale Programm
«Sozio-ökonomische Entwicklung und
ökologische Belastbarkeit im Berggebiet»
(MAB). Von 1976-1982 war er Vizepräsident
der Schweizerischen Naturforschenden
Gesellschaft; 1984 ernannte ihn die
Deutsche Akademie der Naturforscher
Leopoldina zu ihrem Mitglied.
registriert? Haben wir uns die Fragen
nach dem Warum und Wie weiter gestellt?
In welchen längerfristigen Prozess
haben wir diese Entwicklung einzuordnen?
Wenn es richtig ist, dass Galileo Galilei,
einer der Begründer der modernen
Naturwissenschaften die Aussage gemacht
haben soll, «ich halte dafür,
dass das einzige Ziel der Wissenschaft
darin besteht, die Mühsahl der
menschlichen Existenz zu erleichtern»,
dann stehen wir heute in der westlichen
Welt nach 300 Jahren naturwissenschaftlich-technisch
bestimmten
Denkens und Handelns auf einem Höhepunkt,
vielleicht an einem Wendepunkt
dieser Entwicklung. Zugleich
aber stehen wir vor einem doppelten
und unerwarteten Konflikt: Einerseits
ist es gerade diese Erleichterung der
mühseligen menschlichen Existenz, die
jetzt unsere Lebensgrundlagen bedroht 3,
und andererseits werden die
Lebensgrundlagen dort noch viel mehr
bedroht, wo die mühselige menschliche
Existenz keine Erleichterung erfahren
hat, wo der Kampf ums Überleben
keine ökologischen Rücksichten
mehr kennt. Diese gegensätzlichen
Prozesse haben uns gezwungen, unseren
Titel von der «Umwelt» auf die
«Um-Welt» zu erweitern. Und gerade
diese entgegengesetzten Entwicklungen
zeigen uns, dass wir mit einem eingleisigen,
von Ideologien und Emotionen
geprägten Denken und Handeln
keine Probleme lösen. Wir stehen
weltweit vor der Auseinandersetzung
zwischen Erhalten und Entwickeln,
Schützen und Nutzen, Bewahren und
Fortschreiten zwischen Ökonomie
und Ökologie, zwischen menschlicher
Tätigkeit und natürlicher Umwelt.
Diese Dualitäten liessen sich beliebig
fortsetzen, und Sie spüren, was ich
meine. Es gibt keine «Entweder-Oder-Lösungen»,
wir haben diese scheinbar
unvereinbaren Kräfte zusammenzubringen,
wir haben neue Denkweisen
zu fördern. Die Wissenschaft als Stätte
des Vordenkens für unsere Gesellschaft
hat sich aus ihren allzu starren
Grenzen zu lösen und neue übergreifende
Ideen und Methoden zu entwickeln
Bei dieser — in gewissem Sinne doch
provozierenden —Aussage möchte ich
anhalten und mit Ihnen einen Gang
durch unsere grosse Welt antreten, bevor
wir zum Schluss wieder zu genau
dieser Problematik in unsere kleine
bernische Umwelt zurückkehren.
Die Schweiz und die Welt im
ökologischen Vergleich
Betrachten wir die Karte der Gunst-
und Ungunsträume (Fig. 1), das heisst
der Grenzertragsgebiete oder ganz einfach
der Gebiete der Erde, die für die
landwirtschaftliche Nutzung begrenzende
oder limitierende Bedingungen
aufweisen, so erkennen wir folgendes:
Fast 1/3 der Erdoberfläche ist durch
ungenügende Niederschläge gekennzeichnet,
sei es, dass diese mengenmässig
nicht genügen oder dass die
Variabilität räumlich und zeitlich so
gross ist, dass Krisen und Katastrophen
sozusagen vorprogrammiert
sind. Klimatisch begrenzt sind aber
auch die Anbaugebiete in den Kältebereichen
der arktischen und subarktischen
Zonen und in den Gebirgen der
Erde 4. Nicht berücksichtigt haben wir
die klimatisch bedingten Einschränkungen
für Mensch und Tier in den
feuchten Tropen, sei es durch dauernde
Schwüle oder sei es durch die in diesem
Milieu lebenden Krankheitserreger.
Die verbleibenden Zonen können
durch schwierige Bodenbedingungen
weiter limitiert werden, sei es durch
Erosionsanfälligkeit oder durch Nährstoffmangel 5.
Ziehen wir Bilanz aus diesem knappen
und summarischen Überblick, so heben
sich aus der weltweiten Darstellung
einige wenige Gunstgebiete mit
relativ stabilen ökologischen Bedingungen
heraus — dazu gehört auch die
Schweiz!
Diese Aussage wird noch verstärkt,
wenn wir die Bodenbedingungen
(Fig.2) in Betracht ziehen: Nach dem
heutigen Stand des Wissens zeigt sich,
dass nur etwa 11% der Landfläche
ohne wesentliche Einschränkung nutzbar
sind 6, dazu gehört auch das
schweizerische Mittelland! Betrachten
wir schliesslich noch die Gebiete der
Erde, die durch exogene Kräfte, durch
Erosion von Wasser und Wind gefährdet
oder bereits betroffen sind, dann
bestätigt sich wieder das gleiche Bild:
Die Schweiz gehört zu den Gunstgebieten
unserer Erde (Fig. 3).
Wir leben ganz offensichtlich im klimatisch
bevorzugten Übergangs- und
Begegnungsbereich zwischen polaren
und tropischen Luftmassen mit ausgeglichenen
Wärme- und Feuchtigkeitsverhältnissen
Wir leben in einer der
GUNST- UND UNGUNSTRÄUME DER ERDE
ökologisch
stabilsten Zonen der Erde
und wissen es kaum! Als der Herrgott
die Welt aufteilte, war er wirklich
nicht gerecht. Doch eines ist sicher,
wir hatten Glück!
Was bedeutet das in unserem Zusammenhang?
— Diese Sicht der Welt war vor 100
Jahren, an der Wende zu unserem
Jahrhundert, noch nicht möglich.
Es fehlten die Kenntnisse der weltweiten
ökologischen Strukturen und
Prozesse, um uns in diese Um-Welt
einzuordnen.
Haben das alle unsere Schul- und
Lehrbücher realisiert, oder leben
wir heute immer noch im Bewusstsein,
mit unseren 25% unproduktiver
Flächen ein armes Land zu sein?
Aegypten hat 97% unproduktives
Die Limitierung der LANDWIRTSCHAFT
durch die weltweiten BODENBEDINGUNGENWASSER- UND WINDEROSION
Land. Ganz abgesehen davon bringt
uns das sogenannt unproduktive Land
mit seinem Tourismus als drittwichtigstem
Einnahmezweig der Schweiz über
10 Milliarden Franken pro Jahr ein.
— Gerade unsere Alpen zeigen uns
aber seit langem, was eine ökologische
Benachteiligung bedeutet: verkürzte
Vegetationszeit, verminderter
Futterertrag, fehlender Ackerbau,
Schwierigkeiten des Bodens
und des Reliefs mit all ihren ökonomischen
Auswirkungen. Ist es nicht
erstaunlich, mit welcher Selbstverständlichkeit
wir in unserem kleinen
und überblickbaren nationalen Rahmen
als Resultat eines langen politischen
Lernprozesses mit ökonomischen
Mitteln diese ökologischen
Benachteiligungen auszugleichen
versuchen? Sollten wir Schweizer
also nicht imstande sein, genau
diese Problematik weltweit zu verstehen?
— Wir leben in einer ökologischen Stabilitätszone.
Auf dieser Grundlage
haben sich die grossen Industrienationen
des Nordens entwickelt, und
wir erleben jetzt, dass auch stabilen
Ökosystemen Grenzen der Belastung
gesetzt sind. Wieviel gefährdeter
sind denn erst leistungsschwache
und leicht verletzliche Ökosysteme?
Müssen sie auf die Eingriffe des
Menschen durch Nutzung und
Übernutzung nicht noch viel empfindlicher
reagieren?
Verfolgen wir diese Problematik an
den von der Natur und vom Menschen
geprägten Umweltkrisen der Vergangenheit.
Die von der Natur
geprägten Umweltkrisen der
letzten Jahrtausende
Die gewaltigen und weltweiten Umweltveränderungen,
die sich seit der
letzten Eiszeit abgespielt haben, lagen
zweifellos ausserhalb jeglichen
menschlichen Einflusses. Nachdem die
feuchten Tropen während unserer
letzten Eiszeit ganz allgemein trockener
waren als heute, was unter anderem
auch zu einer starken Reduktion
der tropischen Regenwälder führte,
folgte zwischen 15000 und 10000 B.P.
(vor heute) ein erstaunlicher und ökologisch
äusserst wirkungsvoller Umschwung
zur sogenannten holozänen
Warmzeit (Fig. 4). Global gesehen
nehmen wir an, dass die Temperaturen
zwischen 10000 und 4000 B.P. ungefähr
1-2 Grad über den heutigen Werten
lagen. Für Afrika bedeutete das,
dass die sommerlichen Vorstösse tropischer
Luft nicht nur wie heute bis in
den Sahel reichten, sondern über die
Sahara hinweg den Rand des Mittelmeeres
erreichten 7, 8, 9. Im Südteil der
Sahara bildeten sich offene Seen.
Der Tschadsee zum Beispiel, heute
zwischen 12000 und 25000 km²
schwankend, war um 5000 vor heute
350000 km² gross, fast so gross wie
das Kaspische Meer, und reichte vom
nördlichen Kamerun bis an den Fuss
des Tibestigebirges in der zentralen Sahara.
Die verstärkte sommerliche Bewölkung
und die erhöhten Niederschläge,
die dadurch verminderte Verdunstung
und veränderten Abfluss-
und Grundwasserverhältnisse ergaben
eine völlig neue hydrologische Situation.
In den heute extrem trockenen
Gebieten kam es nicht nur zur Seen-,
sondern auch zu Bodenbildungen, die
heute noch als Paläoböden bedeutungsvoll
und vielerorts auch nutzbar
sind. Eine offene Savannenvegetation,
verdichtet entlang von stehenden oder
fliessenden Gewässern, erlaubte der
afrikanischen Grosswildfauna bis an
den Südfuss des Atlas zu wandern. In
die gleiche Zeit gehören die Felsbilder
der Sahara und zahlreiche Siedlungsplätze
vom Atlantik bis zum Indik und
vom Sahel bis an den Rand des Mittelmeeres.
Zweifellos liegt der Beginn der
ägyptischen, syrischen und mesopotamischen
Hochkulturen in dieser holozänen
Warm- und Feuchtzeit.
Dieses Bild völlig veränderter Umweltbedingungen
dürfen wir aber nicht
überzeichnen. Die Niederschläge
könnten über der Sahara Werte erreicht
haben, die gerade eine offene
Savannenvegetation ermöglichten,
welche sich höchstens in Galerien entlang
von Flussläufen etwas verdichtete.
Vielleicht konnten diese Werte, wo
sie heute 100mm sind, damals 200 bis
300mm erreicht haben. Eine sehr bescheidene
Zunahme also, aber unter
den gegebenen Grenzbedingungen gerade
genügend, um das gesamte Umweltsystem
völlig zu verändern.
Genau gleich empfindlich reagierte
diese neu entstandene afrikanische
Umwelt aber auch auf die nun beginnende
Klimaverschlechterung. Bereits
um 7000 vor heute zeichnen sich in den
Flussterrassen Starkniederschläge mit
torrentiellem Abfluss ab. Die Bodenprofile
wechsellagern mit eingewehtem
Sand oder eingespültem Grobmaterial.
Aber erst ab etwa 4000 B.P. werden
die Niederschlagsmengen deutlich
geringer, die offenen Wasserflächen
verschwinden, die geschlossenen Vegetationsdecken
lösen sich auf, die
Grosstierwelt stirbt aus, die bestehenden
Kulturen mit ihrer Jagd-, Fisch-
und Weidewirtschaft brechen zusammen:
eine Umweltkatastrophe grössten
Ausmasses, die von der Natur aus
gesehen diejenigen der letzten Jahre
und Jahrzehnte bei weitem übertrifft.
Aber nicht nur das: Den gleichen Vorgang
erkennen wir im Bereich der tropisch-monsunalen
Luftmassen auch in
Asien, im Himalaya und im Tibet.
Auf 3500 m, im Tal des Mt. Everest,
finden wir begrabene Paläoböden mit
4670 Jahren vor heute datiert, die mit
ihrer Podsolierung auf ein deutlich
feuchteres Klima hinweisen 10. Sehr
wahrscheinlich haben diese sommerlichen
Monsunvorstösse deutlicher als
heute den Himalaya und selbst das
Plateau von Tibet erreicht, wie zum
Beispiel tiefgründige Torfprofile 100
km nordwestlich von Lhasa zeigen.
Um etwa 4000 B.P. wurde das Klima
trocken und kontinentaler, die Torfbildung
hörte auf. Wie weit Teile des
Plateaus von Tibet in dieser Phase bewaldet
waren, und wie weit diese empfindlichen
Wald-Ökosysteme erst unter
der Einwirkung des Menschen zerstört
wurden, sind spannende natur-
und kulturgeschichtliche Fragen, die
noch nicht restlos geklärt sind. Dieser
Blick nach Tibet sollte uns bloss zeigen,
von welch globalem Ausmass diese
Umweltkatastrophe war, und sie
soll uns auch zeigen, wie fragil diese
Welt ist, in der wir leben.
Jetzt werden Sie mich fragen, warum
wir diese doch zeitlich weit entfernte
Klimaveränderung so ausführlich besprochen
haben.
Zum ersten: Was ich Ihnen hier vorgeführt
habe, ist eine von der Natur diktierte
Klimaschwankung, die künftig
im Bereich der menschlichen Einwirkungen
liegen könnte. Eine globale
Erwärmung um 1-2 Grad Celsius, wie
sie sich für diese holozäne Warmphase
abschätzen lässt, wird durch den Anstieg
des CO 2 für die erste Hälfte des
nächsten Jahrhunderts prognostiziert.
Selbstverständlich können die Auswirkungen
dieses anthropogen bestimmten
Prozesses sehr verschieden sein.
Aber es wäre denkbar, dass die heute
benachteiligten Randtropen begünstigt
und heutige Gunstzonen durch
geringere Niederschläge und einen verminderten
Bodenwasserhaushalt benachteiligt
werden könnten. Auch
wenn diese Angaben noch wenig gesichert
sind, so ist es doch unumgänglich,
die Klima- und Umweltveränderungen
der letzten Jahrtausende zu
verstehen, um mögliche Szenarien für
die gegenwärtig ablaufenden Prozesse
zu entwickeln. Von ganz besonderer
Bedeutung ist dabei das Verhalten der
tropischen Luftmassen, die über
Glück oder Unglück eines grossen Teiles
der Entwicklungswelt entscheiden
werden.
Zum zweiten: Die Konsistenz dieser
Bilder hängt von einer intensiven Zusammenarbeit
zwischen verschiedensten
Disziplinen ab. Klimamodelle
müssen durch Felddaten erhärtet und
Felddaten müssen durch modellmässige
Einordnung erweitert werden. In
diesem Forschungsbereich ist ein Zusammenwirken
verschiedenster Disziplinen,
von den Natur- bis zu den Humanwissenschaften
zur Rekonstruktion
früherer Mensch-Umwelt-Systeme
unabdingbar. Dieser Aspekt, allzu
lange vernachlässigt, wird um so wichtiger,
je häufiger und je stärker natürliche
und anthropogene Prozesse miteinander
verknüpft sind.
Zum dritten: Unter ökologischen
Grenzbedingungen haben die kleinsten
Veränderungen, ob sie nun natürlich
oder anthropogen verursacht sind,
grösste Wirkungen. Die gleiche Veränderung,
1 bis 2 Grad Temperatur und
100-200 mm Niederschlag, hätte bei
uns niemals diese gleiche Gunst- oder
Ungunstwirkung. Stabile Ökosysteme
verfügen über eine ganz andere Pufferkapazität
als labile. Das sollten wir
bedenken, wenn wir die zunehmende
Übernutzung der Ressourcen in den
empfindlichen und marginalen Gebieten
unserer Erde durch die rasch
wachsende Bevölkerung in den
kommenden Jahren mitverfolgen.
Die vom Menschen geprägten
Umweltkrisen der letzten Jahrzehnte
Die letzten zwei Jahrzehnte waren in
grossen Teilen Afrikas von zwei verheerenden
Trockenphasen zu je 3-5
Jahren geprägt. Betrachten wir die am
stärksten betroffenen Gebiete, dann
fällt uns auf, dass sie sich um die
feuchten Tropen herum einordnen, im
kritischen Grenzraum zu den Trockenzonen,
symmetrisch auf der Nord- und
Südhemisphäre, dazu auf dem von
den tropischen Westwinden abgeschirmten
Ostafrika. Die Niederschlagskurven
(Fig. 5) zeigen die enormen
Schwankungen, dazu aber unverkennbar
einen Abwärtstrend während
der letzten Jahrzehnte 11, 12. Auch wenn
diese Niederschlagsabnahme mehrmals
von guten Jahren unterbrochen
wird, so gibt uns dieses Bild doch zu
denken. Wir wissen es noch nicht zu
interpretieren: Zahlreiche Arbeiten
über die Bedeutung der veränderten
Rückstrahlung und Flächenverdunstung,
des Mikroklimas und Bodenwasserhaushaltes
sind im Gange, die
Resultate erlauben noch keine flächenhafte
und grossräumige Aussage. Vor
allem wissen wir nicht, ob das ein natürlicher
Prozess ist, oder ob unter
Umständen anthropogene Einwirkungen
durch Veränderungen der Vegetations-
und Bodendecke mit im Spiele
stehen.
Nun aber stellt sich in der unübersehbaren
Informationsflut über diese Katastrophe
immer wieder die Frage, ob
denn das Klima allein verantwortlich
war. Erste Untersuchungen der 20jährigen
Geschichte der Hungerkatastrophen
in Äthiopien zeigen, dass von
1958 bis 1977 immer irgendwo im Lande
Hunger herrschte, was zum Teil nur
schwer mit Trockenjahren allein zu erklären
ist 13. Abgesehen von entwicklungspolitischen
Fehlern, die bedingt
sind durch Projekte von aussen, oder
durch eine von vielen Staaten selbst
eingesehene falsche Landwirtschaftspolitik
der letzten Jahrzehnte, scheint
mir ein Problem immer gravierender:
Die fortschreitende Erosion und Degradation
der Böden, der wichtigsten
Ressource zum Leben und Überleben
heute und in Zukunft. Ein tiefgründiger
Boden, wie wir ihn in den wechselfeuchten
Tropen eigentlich antreffen
sollten, verfügt über genügend Nährstoffe,
bildet einen guten Wasserspeicher
und liefert bei sorgfältiger Nutzung
gute Erträge. Demgegenüber
sind erodierte Böden (Fig. 6) durch die
Zerstörung ihrer Struktur nicht nur
zunehmend anfälliger für Erosion,
sondern sie werden auch immer ärmer
an Nährstoffen und verlieren ihre Kapazität
als Wasserspeicher 14. Das kann
bedeuten, dass die Vegetationszeit
durch fehlendes Bodenwasser um
20-30 Tage verkürzt wird, und gerade
das kann bei ungenügenden Niederschlagsmengen
ein entscheidender
Faktor für den Ertrag sein. Aber nicht
nur das: Erodierte Böden sind nicht
nur nährstoffarm und schlechte Wasserspeicher,
sondern sie zwingen durch
den ständig abnehmenden Ertrag den
Bauern geradezu, die Brachezeiten
noch weiter zu verkürzen, den Anbau
noch mehr zu intensivieren und das
fehlende Brennholz durch Viehdung
und Getreidestoppeln zu ersetzen. Das
Nährstoffdefizit wird ständig grösser,
der Wasserspeicher immer kleiner, die
Erträge zunehmend schlechter, und
diese Abwärtsspirale ist bei fortdauerndem
Bevölkerungswachstum und
immer kleiner werdender Landfläche
pro Familie nicht mehr aufzuhalten.
Eine erste Zusammenstellung zeigt,
dass über weite Teile des äthiopischen
Hochlandes eine negative Bilanz zwischen
Bodenerosion und Bodenregeneration
besteht (Fig. 7), ein Prozess,
der bei ungehindertem Fortschreiten
irreversible Folgen haben kann 15, 16, 17.
Das bedeutet, dass die dort lebenden
Menschen ständig auf der Suche nach
neuem Land sind. Land ist aber nur
dort verfügbar, wo es bis jetzt nicht
genutzt wurde: Entweder sind es die
Wälder (Äthiopien hat als tropisches
Gebirgsland nur noch 3%Wald), oder
es sind die marginalen Lagen: noch
höher, noch steiler, noch trockener,
noch felsiger. Gerade hier aber fehlt
sehr oft die Erfahrung im Umgang mit
diesen noch empfindlicheren Ökosystemen,
und das Resultat ist eine noch
beschleunigtere Zerstörung.
Instabilen und geschwächten Ökosystemen
fehlt die nötige Pufferwirkung.
Jede Dürre wird zur Katastrophe
und deckt die Mängel der Landnutzung
und — sagen wir es so — die
Fehler der Behörden und der Bewohner
schonungslos auf! Das heisst mit
anderen Worten, natürliche und anthropogene
Einwirkungen sind aufs
engste verknüpft, und es ist oft kaum
mehr möglich, dieses Wirkungsgefüge
zu zerlegen und den Anteil einer Komponente
quantitativ und qualitativ zu
erfassen. Wir stehen vor dem Problem,
dass ökologische und sozioökonomische
Prozesse aufs engste
miteinander vernetzt sind. Wir müssen
sie ganzheitlich sehen und doch auch
mit Spezialistenwissen lösen. Eine
fachliche und methodische Herausforderung
—wir kommen darauf zurück.
Die Bedeutung dieses Problems wird
noch grösser, wenn wir bedenken,
dass in Afrika nördlich des Äquators
von der gesamten Landesfläche 11,6%
durch Wasser und 22,4% durch Winderosion
betroffen sind. Für Indien zeigen
erste Hochrechnungen, dass im
Durchschnitt pro Jahr 16,35 Tonnen
Boden pro Hektar verlorengehen, aber
nur 4,5-11,2 Tonnen wieder erneuert
werden 18. Wenn für die USA ein jährlicher
Nährstoffverlust durch Bodenerosion
von 50 Mio t geschätzt wird 6,
dann kann das durch künstliche Düngung
mit einem gewaltigen Energieinput
kompensiert werden, nicht aber
in der Dritten Welt. Nach einer FAO-Berechnung
wird die für den Regenfeldbau
nutzbare Ackerfläche der
Welt bis zum Jahre 2000 um 18% sinken,
wenn gegenüber heute keine Bodenkonservierungsmassnahmen ergriffen
werden. Die Produktion kann
sogar um 29% zurückgehen, weil die
Erosion nicht nur Land zerstört, sondern
— wie wir gesehen haben — auch
Erträge reduziert. Das alles bedeutet,
dass die Neulandgewinnung, die für
Afrika nach verschiedensten Informationsquellen
in grossem Stile noch
möglich sein soll, durch diesen Verlust
wieder aufgehoben wird. Und das alles
bei rasch wachsender Bevölkerung!
«Wir rennen immer schneller, um letztlich
doch still zu stehen!»
Diese dramatische Situation, berechnet
auf das Jahr 2000 für eine Subsistenzlandwirtschaft
ohne künstliche Düngung,
ohne Pestizide und Herbizide,
die nur mit einfachsten Werkzeugen arbeitet,
zeigt das folgende: Bodenerosion
reduziert die Tragfähigkeit für
eine bestimmte Bevölkerung in den gefährdeten
Regionen um mehr als 50%,
in den feuchteren Tropen bis zu 30%
(Fig. 8). Wir wissen nicht, ob alle diese
Potentialbestimmungen für eine solche
Aussage genügen; wir wissen noch
nicht, ob die heute vorliegenden Abschätzungen
über einen Rückgang des
bebaubaren Landes bis zum Jahre
2000 von heute 0,37 auf 0,25 Hektar
pro Kopf eintreffen werden 6, und wir
wissen auch nicht, ob es wirklich wahr
ist, dass ein Teil Afrikas mit seiner Bevölkerungszahl
beim heutigen Stand
der Anbautechnik die Grenze der
Tragfähigkeit bereits überschritten
hat 19 (Fig.9).
Was bedeuten diese Aussagen und diese
Unsicherheiten?
— Unser Wissen über elementare, ja
sogar existentielle Probleme unserer
«Um-Welt» ist sehr bescheiden,
oder sagen wir es deutlicher, es ist
ungenügend. Stehen die Universitäten,
insbesondere diejenigen der begünstigten
Welt, nicht vor gewaltigen
Aufgaben? In diesem Jahr hat
eine Gruppe unabhängiger und berühmter
Staatsmänner aus Nord
und Süd in einer Resolution das folgende
festgehalten: «Wir haben das
Gleichgewicht zwischen Bevölkerung,
Umwelt und Entwicklung verloren.
Das nächste Jahrhundert darf
nicht kommen, wenn diese Probleme
nicht gelöst sind, und wir werden
sie nicht in gegenseitiger Isolation
lösen. Umweltprobleme kennen
keine politischen Grenzen» 20.
Im Unterschied zu den langfristigen
Umweltkatastrophen (Grössenordnung
Jahrhunderte bis Jahrtausende),
die allein durch die Instabilität
der Natur, das heisst durch die Zirkulationsstruktur
oder die Interaktionen
Atmosphäre — Ozeane gesteuert
worden sind, werden die
kurzfristigen Umweltkrisen (Grössenordnung
Jahre bis Jahrzehnte)
durch ein vernetztes Wirkungsgefüge
von natürlichen und anthropogenen
Prozessen bestimmt. Vielleicht
dürfen wir sogar sagen, mit zunehmender
Bevölkerung werden die anthropogenen
Einwirkungen immer
wesentlicher.
Aus neueren Berichten geht hervor,
dass möglicherweise der Untergang
der Mayakulturen um 900 n. Chr.
von solchermassen anthropogen
verursachten Umweltkatastrophen
mitbestimmt war 6. Das gleiche vermutet
man für den Untergang des
Reiches von Axum (Äthiopien) im
5. Jahrhundert, und schliesslich
erinnern wir uns an die Umweltzerstörung
des Mittelmeerraumes in römischer
und nachrömischer Zeit 21.
Die kahlen und verkarsteten Flächen,
die wohl in der holozänen
Warmzeit einen Boden und eine Vegetation
getragen haben, zeigen uns
den Preis, den wir noch Jahrhunderte
und Jahrtausende später für
diese Handlungsweise zu zahlen haben.
Passiert jetzt genau das gleiche
südlich der Sahara und in vielen Gebieten
der Entwicklungsländer? Wir
brauchen die Geschichtsforschung,
um uns diese Prozesse und ihre Wirkungen
zu zeigen, die heute sozusagen
unverstanden vor unseren Augen
ablaufen. Schliesslich aber stehen
wir vor der Frage, wie wir diesen
Umwelt- und «Um-Welt»-Veränderungen
(«global change») begegnen
und wie wir die Aufgabe und
die Verantwortung der Wissenschaft
in diesem äusserst dynamischen
Prozess verstehen.
Vergessen wir nach diesen Ausführungen
aber die positiven Strukturen und
Prozesse nicht. Denken Sie an die
jahrhundertealten Terrassenkulturen
Süd- und Ostasiens, an den Terrassenbau
in den Anden oder in den trockenen
Mandarabergen Nordkameruns.
Der Bodenverlust einer sorgfältig gepflegten
und bewässerten Terrassenlandschaft
in Nepal ist nicht grösser
als einer Fläche unter Waldbedeckung.
Ist es nicht grossartig zu sehen,
wie der Mensch in diesen Gebirgsräumen
durch die Entwaldung die Hänge
destabilisierte, aber durch seine
menschliche Arbeitskraft mit dem
Terrassenbau wieder stabilisierte.
Aber auch dort, wo eine solche langfristige
ökologische Erfahrung fehlt,
sind weitsichtige Aufbauarbeiten in
Angriff genommen worden (Fig. 10).
In diesem Sinne müssen zerstörte und
erodierte Landschaften wieder regeneriert
und repariert werden, dies um so
mehr, als in den wechselfeuchten Tropen
die Natur willens ist, mit einer
raschen Gesteinsverwitterung und einer
guten Bodenbildung die menschlichen
Anstrengungen zu unterstützen.
Figur 11 könnte irgendwo in Afrika,
im Himalaya oder in den Anden sein.
Durch Übernutzung sind die Ressourcen
zerstört. Der Mensch in der erodierten
Landschaft ist ein Individuum
im Kampf ums Überleben. Wie kann
er in einer Zeitdimension von 30 Jahren
denken, wenn er nicht weiss, wie er
die Nahrung für morgen beschaffen
soll? Er zerstört seine Umwelt, um zu
überleben. Ein Boden wird in Jahrzehnten
degradiert, der zu seiner Bildung
Jahrtausende brauchte. Ganz
anders der Mensch in der intakten
Kulturlandschaft: Er ist in einer Gemeinschaft
eingeordnet: Aufforstung,
Bewässerung, Erschliessung, Energieversorgung
usw. sind Elemente dieser
Landschaft, die nicht von Einzelnen,
sondern nur von einer Gesellschaft in
einem entsprechenden sozialen, politischen
und ökonomischen Umfeld gemeistert
werden können. Ökologische
Nutzung der Ressourcen setzt funktionierende
ökonomische und politische
Strukturen voraus. Aber funktionierende
ökonomische und politische
Strukturen führen nicht immer zur
ökologischen Nutzung der Ressourcen!
Dieser Aufbauprozess von der erodierten
zur «reparierten» Kulturlandschaft
enthält aber auch eine wissenschaftliche
Herausforderung: Wer
stellt Grundlagenwissen bereit, der
Förster oder der Agronome, der Ingenieur
oder der Planer, der Hydrologe
oder der Bodenkundler, der Ethnologe
oder der Ökonome? Wir brauchen
alle, wir brauchen Spezialisten, aber
nur solche, die das Ganze sehen, nur
solche, die bereit sind, ihr Wissen in
ein vernetztes Wirkungsgefüge einzuordnen,
nur solche, die menschlich
und fachlich imstande sind, sich als
bescheidener Teil eines Ganzen zu sehen.
Leider ist diese Art von Wissenschafter
noch allzu selten, vielleicht
müsste zu seiner Förderung ein spezieller
Nobelpreis vorgesehen werden!
Natur und Mensch im Wirkungsgefüge
unserer Umwelt
Stehen wir nicht vor ähnlichen Problemen
bei uns? Über lange Zeiten hinweg
sind die natürlichen Ökosysteme
aus dem komplexen Zusammenspiel
von Atmo-, Litho-, Hydro-, Pedo- und
Biosphäre entstanden 21, 22 (Fig. 12).
Dem Werden eines solchen Ökosystems
können Sie im Laboratorium
der Natur zuschauen, wenn Sie
im Gletschervorfeld (Grindelwald,
Aletsch) die verschiedenen Stadien
von der unverwitterten Gesteinsoberfläche
über den entstehenden Boden
bis zu der sich entwickelnden Vegetation
beobachten. Beim Betrachten
dieses Prozesses aber müssen Sie bedenken,
dass jede kleinste Veränderung
im Klima- oder Wasserhaushalt,
im Relief oder im Gestein, in der Höhenlage
oder in der Exposition sofort
ein neues Einpendeln aller Parameter
erfordert, sei es in relativ kurzer Zeit
für die Vegetation, sei es in relativ langer
Zeit für den Boden. Mit dieser
Überlegung beginnen wir erst zu verstehen,
wie unerhört fein und vielfältig
dieses System ist. Aber es wird noch
anspruchsvoller: Jetzt greift der
Mensch nutzend in dieses fliessende
Gleichgewicht ein. Anfänglich noch
bescheiden und angepasst, aber in
ganz kurzer Zeit, sozusagen im letzten
Sekundenbruchteil der Erdgeschichte,
mit unerhörter Kraft, mit grossem
Energieeinsatz und mit rasch sich verdichtender
Intensität über die ganze
Erde hinweg. In Unkenntnis dieser
ökologischen Grundlagen und Interaktionen
sind wir von einer globalen
Wachstumsentwicklung mitgerissen
worden. Wir haben kaum Entscheide
gefällt, keine Wirkungsketten überdacht,
nie Alternativen überlegt. Stark
vereinfacht lässt sich dieser Prozess in
Figur 13 erkennen 23. Eine naturnahe
Nutzung durch Jagen, Sammeln und
einen lokal begrenzten Ackerbau hatte
kaum eine Wirkung auf das Ökosystem.
Eine sogenannt halboffene Nutzung
muss die verbrauchte Energie-
Stoffmenge bereits durch einen
externen Eintrag an Energie, Dünger
usw. wieder ersetzen. Beim industriellen
System wird rücksichtslos herausgeholt,
was zu holen ist, und dafür
wird das entstandene Defizit künstlich
gedeckt. Der Konsum geschieht weit
ausserhalb des Produktionsortes (Export).
Der Energie- und Stoffeintrag
kommt von aussen, zum Teil aus nicht
erneuerbaren Ressourcen (Import).
Die Frage ist bloss, ob wir das Ökosystem
so gut kennen, dass diese Rechnung
auf lange Sicht aufgeht. Die Forschung
hat noch keine gültigen Antworten,
die Alarmzeichen sind aber
unübersehbar. Dazu kommt ein Weiteres:
Die natürlichen Systeme sind lokal
und regional angepasst, je künstlicher
sie werden, desto mehr geraten sie
in technische, ökonomische und selbst
politische Abhängigkeiten. Gerade das
kann für Entwicklungsländer verheerend
sein. Hat man sich das überlegt,
hat man die politischen Entscheide
über die Art und Intensität der landwirtschaftlichen
Produktion wirklich
in Kenntnis dieser ökologischen Zusammenhänge
gefällt? Genau gleich
bei uns: Kennen wir die Bilanz zwischen
ständig steigendem Ertrag und
immer grösser werdender Energiezufuhr,
die zum grössten Teil erst noch
auf nicht erneuerbaren Ressourcen beruht?
Diese Umweltprobleme der
grossen Welt und der kleinen heimischen
Welt führen uns zu fachlichen
und methodischen Aspekten dieser
komplexen Kreisläufe und ihrer
menschlichen Beeinflussung.
Wenn wir einen kleinen Raum, eine typische
Landschaft aus unserer allernächsten
Umgebung herausgreifen,
muss ich Sie folgendes fragen: Wissen
wir eigentlich, was da auf kleinstem
Raum alles passiert, sich gegenseitig
beeinflusst und vernetzt ineinandergreift?
Eigentlich möchte ich Sie alle
fragen, wie Ihre allernächste Umgebung
bei Ihnen zu Hause aussieht, und
warum es gerade so aussieht. Für dieses
Wissen brauchen Sie nicht nur einige
Kenntnisse in Erdgeschichte und
Ökologie, sondern ebensosehr ein Verständnis
für geschichtliche, ökonomische
und politische Prozesse. Aber
nicht wahr, für Sie ist diese Umwelt
doch ein Ganzes. Sie können es nicht
trennen in Ökologie und Ökonomie,
genau so wie der Mensch als komplexes
System auch nicht trennbar ist in
einen naturwissenschaftlichen und einen
geistig-seelischen Teil. So ist auch
die Landschaft, wie unser Körper, eine
Ganzheit, in der sich alle darauf einwirkenden
Kräfte gegenseitig bestimmen.
Wie gehen wir nun vor, um dieses System
zu verstehen und — wenn nötig —
zu steuern oder nach einer Schädigung
auch wieder zu heilen 24 (Fig. 14)?
Zuerst geht es darum, die Funktionsweise
zu verstehen, sowohl der natürlichen
Prozesse wie auch der sozioökonomischen
Antriebskräfte. Beide
spiegeln sich in der Nutzung des Raumes
wieder, sei es als Eignung der Ressourcen
auf der natürlichen Seite, sei
es als Einwirkung des Menschen auf
der ökonomischen Seite. In ihr erkennen
wir Stabilität oder Instabilität in
einer überschaubaren und messbaren
Zeitperiode, zum Beispiel in einer Generation.
Zum Verständnis dieser
Funktionsweise brauchen wir eine
Prozessforschung. Diese kann disziplinar
sein, doch wird sie sehr bald an die
Grenzen einer Disziplin stossen und
nach interdisziplinären Verbindungen
rufen.
Die nächste Ebene ist die Frage nach
den Belastungen und der Belastbarkeit.
Dazu brauchen wir Wirkungsanalysen,
die mit hoher Wahrscheinlichkeit
Disziplingrenzen überspringen.
Schliesslich fragen wir auf der Ebene
der Entscheidung nach der Steuerbarkeit,
und da sind wir in Anbetracht der
komplexen Probleme kaum mehr imstande,
für die Zukunft genaue Aussagen
zu machen. Wir können uns höchstens
mit Szenarien behelfen: Pessimistische
und optimistische Bilder zeigen
den Spielraum auf, weisen auf Alternativen
hin und schaffen gedankliche
Voraussetzungen für den Entscheidungsprozess.
Damit wird eines klar:
Der Politiker kann vom Wissenschafter
nicht eindeutige und widerspruchslose
Antworten erwarten. Genau so
kompliziert wie der menschliche Körper
ist auch die Landschaft mit ihren
ökologischen Grundlagen. Die Kreisläufe
sind so komplex, dass immer
Unsicherheiten bestehen bleiben. Ist es
da nicht verständlich, dass die Wissenschaft
auf dem steinigen Weg der ökologischen
Forschung sehr oft Widersprüche
und Unsicherheiten zeigt?
Viele Missverständnisse könnten wohl
vermieden werden, wenn Bevölkerung
und Behörden sich mit den Wundern
der Natur nicht nur äusserlich betrachtend,
sondern auch innerlich verstehend
auseinandersetzen würden. Dann
käme ein Dialog zustande, der nicht
mehr zu emotionsgeladenen, sondern
zu sachbeladenen Entscheiden führen
könnte. Das bedeutet aber noch etwas
anderes: Die scheinbare Kluft zwischen
Ökologie und Ökonomie muss
überwunden werden. Sie führt nicht
weiter, sie löst keine Probleme. Der
Ökologe muss endlich einsehen, dass
die ökonomischen Kräfte eine Realität
sind, und dass wir sie für eine gesunde
Umwelt nötig haben. Der Ökonome
muss endlich verstehen, dass eine gesunde
Umwelt die einzige mögliche
Grundlage für eine Weiterentwicklung
von Gesellschaft und Wirtschaft ist.
Ökologie ist nichts anderes als Langzeit-Ökonomie!
Und vergessen wir eines nicht: Das lateinische
Wort für «cultura» bedeutet
ursprünglich Ackerbau. Es wurde auf
das geistige Gebiet übertragen in der
Meinung, dass sich die Humanität des
Menschen nur dann entfaltet, wenn er
sein geistiges Vermögen ebenso bestellt
wie seinen Acker 25. Damit ist
nicht nur die lebensnotwendige Partnerschaft
zwischen Natur und Mensch
auf eindrückliche Weise angesprochen,
sondern auch die ertragsversprechende
Verbindung zwischen Natur-
Sozialwissenschaften zur Bewältigung
unserer Umweltprobleme.
Was bedeutet das alles für die Beziehung
Universität und Um-Welt?
Universität und «Um-Welt»
Müssen sich unsere Universitäten
nicht neuen Problemen stellen? Überall
in der Dritten Welt stossen wir auf
Aufgaben, die die dortigen Universitäten
nicht lösen können. Nicht weil sie
dazu unfähig wären, sondern weil die
Entwicklungszeit zum Aufbau einer
auf die eigenen Bedürfnisse ausgerichteten
Forschung zu kurz war und vor
allem, weil die Mittel fehlen. Dazu
kommt, dass unter dem Druck des
Westens vielerorts eine wichtige Phase
in der Grundlagenforschung übersprungen
wurde. Man sucht den Anschluss
an die westliche Spitzenforschung
und verpasst die Erforschung
der eigenen Umwelt und Ressourcen
mit einfachsten Mitteln und Methoden.
Was nützt ein Labor für höchste
Analytik, wenn im ganzen Land, grösser
als die Schweiz, kaum ein Niederschlagsmesser
funktioniert und die
Kenntnisse über Böden und Gesteine,
über Land- und Forstwirtschaft völlig
fehlen. Wir müssen uns noch weiter
fragen, ob die Diskrepanz zwischen
den Universitäten unserer Welt und
der Entwicklungswelt in den nächsten
Jahren mit der rasch wachsenden
Computer-, Informations- und Kommunikationstechnik
nicht noch grösser
wird. Eine intensivere Zusammenarbeit
zwischen den Universitäten der
Industrie- und Entwicklungswelt ist
höchst dringend. Bei der Aufnahme
von jungen und qualifizierten Wissenschaftern
aus der Dritten Welt sollten
wir nicht mehr die Frage stellen, ob sie
in unsere Reglemente passen und mit
welcher Qualifikation sie hier antreten,
sondern mit welcher Qualifikation
sie hier austreten, um in ihrem
Land dringende Aufgaben anzupacken
Dafür sollten die Studienpläne so
gemacht werden, dass die selbständigen
Arbeiten, zum Beispiel in den Umweltwissenschaften,
in der Land- und
Forstwirtschaft usw. an den Problemen
ihres Landes gemacht werden.
Das schafft die nötige Bindung, dass
sie wieder dorthin zurückkehren. Das
aber bedeutet erhöhten Betreunngsaufwand
bedeutet Kenntnis des Landes,
bedeutet Zusammenarbeit mit
den dortigen Universitäten. Wäre eine
solche Weltoffenheit nicht eine wesentliche
Verpflichtung unserer Hohen
Schulen? Müssten unsere forschungsfördernden
Institutionen nicht vermehrt
solche Zusammenarbeit unterstützen?
Müsste nicht auch die Entwicklungspolitik
verstehen, dass es
ohne Grundlagenforschung keine Entwicklung
gibt? Dabei möchten wir eines
klarstellen: Wissenstransfer ist nur
beschränkt möglich. In vielen Fällen
führt er sogar zu Misserfolg. Wir können
unsere Erfahrungen aus unserem
Raum nicht unbesehen in die Tropen,
in eine völlig verschiedene natürliche
und kulturelle Umwelt, übertragen.
Das Prozessverständnis hört nicht im
Labor oder Büro einer westlichen
Hauptstadt auf, es beginnt im Felde
mit der Analyse der regionalen und
dem Verständnis der lokalen Probleme.
Beim einzelnen Bauern sollten wir
zuerst lernen, warum er etwas so tut
und nicht anders. Dann erst dürfen
wir unser Wissen und unsere Methodik
ins Spiel bringen, wie man etwas
verändern und verbessern könnte.
Dieses «Etwas» muss aber Teil eines
Ganzen sein, Teil eines umfassenden
Mensch-Umwelt-Systems. Nur in dieser
ökologisch-ökonomisch kulturellen
Gesamtsicht lassen sich Veränderungen
und Verbesserungen durchführen,
die früher oder später verstanden
und unterstützt werden. Vergessen wir
das afrikanische Sprichwort nicht:
«Der Fremde mag noch so grosse
Augen haben, er ist mit Blindheit geschlagen» 26.
Das bedeutet, eine anwendungsorientierte
Grundlagenforschung
muss neu und auf den Problemen
eines bestimmten Raumes basierend
aufgebaut werden. Das ist für
uns nicht nur eine Herausforderung,
sondern eine gewaltige Bereicherung.
Ist das nicht forschungswürdig in einer
Welt, die zunehmend interdependent
wird und deren Probleme zunehmend
die nationalen Grenzen überschreiten?
Wenn wir schliesslich bedenken, dass
wir pro Jahr aus dem Handel mit den
Entwicklungsländern einige Milliarden
Franken Gewinn erzielen, warum
können wir dann unsere ökonomisch
funktionierende Weltoffenheit nicht
zumindest mit einer verantwortungsvollen
wissenschaftlichen Öffnung
und Solidarität ergänzen und ausgleichen?
Das führt uns zu einem nächsten Problem:
In den letzten 20-30 Jahren haben
alle durch UNO-Statistiken fassbaren
Elemente eine Verdoppelung
oder Verdreifachung gezeigt:
Die Bevölkerung ist von 2,5 auf fast 5
Milliarden Menschen angestiegen, die
landwirtschaftliche Produktion ist um
das 1,7fache, die Autoproduktion um
das 2,7fache, die Ölförderung um das
5fache und die Plastikherstellung um
das 15fache gewachsen. 1923 gab es 11
Millionenstädte, heute 160 und im
Jahre 2000 werden es 300 sein. Die
Zahl der Menschen mit Beschäftigungsungewissheit
ist auf über 1 Milliarde
angestiegen 27/28. Wir stehen an
einer Wende zu einer Welt, die in wenigen
Jahrzehnten völlig anders aussehen
wird. Werden Indien mit 700 Millionen
oder Kenia mit 18 Millionen
Einwohnern, wenn sie sich in 25 Jahren
verdoppelt haben, noch die gleichen
Staaten mit den gleichen politischen
Strukturen sein? Wie steht es
mit den globalen Ressourcen und ihrer
Verteilung? Wie werden wir die Umweltprobleme
lösen? Weichen wir
nicht ganz einfach diesen Fragen aus?
Wo lernt die Jugend, bei uns und in
der Dritten Welt, sich mit diesen Problemen
auseinanderzusetzen?
Wir werden eine globale Kultur zu entwickeln
haben, ohne die eigene kulturelle
Identität zu verlieren. Wir werden
Selbstverwaltung und Autonomie
auf der einen Seite mit weltweiter
ökonomischer und ökologischer Zusammenarbeit
auf der anderen Seite zu
verbinden haben. Mit dieser Dualität
werden wir uns auseinandersetzen
müssen. Vielleicht wird die nächste
Generation sogar die Frage stellen:
Warum wurden wir nicht vorbereitet
auf ein Leben, in dem wir täglich mit
Fragen der globalen Interdependenz
konfrontiert sind? Sollten wir nicht
die sehr ökologische Weisheit des ersten
chinesischen Ökonomen Kuan-Tzu,
dessen Werk aus dem 3. Jahrhundert
v. Chr. stammt, zur Kenntnis nehmen:
«Wenn Du für ein Jahr planst,
pflanze Reis, wenn Du für 10 Jahre
planst, pflanze Bäume, und wenn Du
für 100 Jahre planst, erziehe die
Menschen.»
Universität und Umwelt
Was sind die Konsequenzen für uns,
für Lehre und Forschung? Ich greife
nochmals zurück auf unser Erosionsproblem
in den Gebirgen der Welt.
Erosion ist äusserlich ein messbarer
naturwissenschaftlicher Prozess, an
dem Klima, Boden, Vegetation, Relief
und Bodenbearbeitung beteiligt sind.
Innerlich aber ist dieser Prozess Ausdruck
einer schweren demographisch-ökonomisch-sozialen
Krise, die durch
die Empfindlichkeit des ökologischen
Systems verschärft wird. Das heisst,
wir verstehen die quantitativen Messdaten
nur, wenn wir die Natur und die
Menschen als Auslöser dieses Prozesses
verstehen. Wenn Sie den Bauern in
seiner Umwelt verstanden haben,
dann entdecken Sie plötzlich, dass eine
Rutschung entstand, weil eine Wasserleitung
nicht geflickt wurde, das austretende
Wasser einen Gleithorizont
bildete und den Hang anriss. Was sind
die Ursachen? Der Bauer muss mehr
als 50% seines Ertrages einem fernen
Grundbesitzer abgeben. Sein Interesse
ist deshalb nicht besonders gross, seine
Arbeitskraft unverzüglich einzusetzen,
er hat ja nicht viel davon. Und plötzlich
sehen Sie, dass Erosion nicht nur
ein naturwissenschaftliches Problem
ist, das mit einer Bodenverlustgleichung
verstanden werden kann. Dahinter
stehen menschliche, ökonomische
und politische Aspekte und
Strukturen wie Landbesitz und Steuern.
Sie alle spielen in diesem Erosionsgeschehen
mit, sie sind Teil der
Nutzung, Teil der Stabilität oder Instabilität.
Wir kommen um die Frage
der Interdisziplinarität, des Zusammenwirkens
von Natur und Sozialwissenschaften
nicht herum. Weil ich diese
Erfahrungen einer Universität mit
stolzen Fakultätsgrenzen nicht so klar
vorzutragen wagte, zitiere ich einen
Nobelpreisträger in theoretischer Physik:
«Die Wissenschaft befindet sich in
einer Phase des Umbruchs und einer
konzeptionellen Neuorientierung, die
klassischen Grenzen zwischen harten
und weichen Wissenschaften werden
immer mehr durchbrochen und bringen
die exakten Wissenschaften wie
Physik und Chemie immer näher an
die Probleme der Biologie, der
Ökonomie und der Geisteswissenschaften.
In den harten Wissenschaften
gibt es neben den klassischen, zeitreversiblen
Naturgesetzen, die in der
Vergangenheit und in der Zukunft ihre
Gültigkeit haben, die Zeit irreversiblen,
die keinen Verlauf in die Zukunft
determinieren. Im Gegenteil, sie
werden davon abhängen, ob und wie
wir intervenieren. Diese komplexen
und nichtvorhersehbaren Prozesse
wurden früher als Artefakte bezeichnet,
aber jetzt zeigt sich in der rasch
sich wandelnden Welt immer mehr,
dass gerade diese Gesetze entscheidend
sind. Evolution, Fluktuation,
Diversifikation sind Dinge, die wir bis
jetzt in der Biologie und in den Humanwissenschaften
gekannt haben.
Nun erscheinen sie auch immer stärker
in der Welt der exakten Wissenschaften
und umgekehrt werden die Entdeckungen
der exakten Wissenschaften
immer bedeutungsvoller für die
Geistes- und Sozialwissenschaften 29 .»
Ohne näher auf diese Zusammenhänge
einzutreten stehen wir vor der Tatsache,
dass unsere Umweltprobleme
sowohl in der kleinen wie in der grossen
Welt ohne neue Strukturen in Forschung
und Lehre kaum mehr lösbar
sind. Wenn ich das sage, möchte ich
ganz klar dafür plädieren, dass man
komplexe Probleme ohne einen gut
eingestellten Kompass gar nicht angehen
kann, und das heisst, wir brauchen
auch künftighin ein Studium in
einem bestimmten Fach. Daraus entsteht
Fachwissen, oder noch besser
wäre ein Fachkönnen. Darauf muss
ein breites Orientierungswissen aufbauen,
das den Spielraum schafft, um
sich in einem interdisziplinären Prozess
sinnvoll und zielvoll einzuschalten,
neue Fragen zu entdecken und
neue Methoden zu entwickeln. Ist es
nicht erstaunlich, dass in einer Umfrage
unter 5000 Wissenschaftern der
Europäischen Gemeinschaft 85 % gewünscht
haben, vermehrt in multi- und
interdisziplinären Projekten zu arbeiten
30 ? Um das richtige Mass zwischen
Tiefe und Breite zu finden, hat Goethe,
ich bin versucht zu sagen, im
Blick auf kommende Studienplanüberlegungen
und Forschungsplanungen
den folgenden weisen Leitgedanken
geprägt: «Die Wissenschaften zerstören
sich auf doppelte Weise selbst:
Durch die Breite, in die sie gehen, und
durch die Tiefe, in die sie sich versenkend
31.
Die Wissenschaft wird sich den zwei
Grundprinzipien, die im neuen Umweltschutzgesetz
enthalten sind, nicht
entziehen können: Vorsorge und ganzheitliche
Betrachtung!
Vorsorge heisst, dass wir uns nicht nur
rückblickend, wenn Schäden und Katastrophen
offensichtlich sind, mit den
Problemen anklagend auseinandersetzen.
Vorsorge heisst, schädliche Prozesse
in einem Frühstadium erkennen,
Modelle und Szenarien entwickeln,
den politischen Behörden Entscheidungsgrundlagen
bereitstellen. Ganzheitliche
Beratung verlangt eine neue
Fähigkeit zur Zusammenarbeit. Dazu
können Modelle wichtige Kommunikations-
und Führungsinstrumente
sein, wie wir das in interdisziplinären
Projekten des Schweizerischen Nationalfonds
(MAB) kennengelernt haben.
In diesem Sinne haben wir neue Methoden
zu entwickeln, um die Effizienz
interdisziplinärer Projekte zu
verbessern, auch wenn sie die menschliche
Befähigung zur Zusammenarbeit
nie ersetzen können.
Schliesslich aber haben wir uns klar zu
werden, dass die Gegensätze zwischen
Breite und Tiefe, zwischen Stabilität
und Instabilität, zwischen Ordnung
und Unordnung, zwischen Aufbau
und Zerstörung zu unserem Leben gehören.
Dieses Gesetz gibt es in der
Physik, in der Medizin, in der Biologie
und in den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften.
Wir erkennen es in unserer
grossen und globalen «Um-Welt»
wie in unserer kleinen und heimischen
Umwelt. Das führt uns zum Schluss
wieder zurück in die bernische Umgebung:
Sehen Sie sich bloss die zwei Gesichter
Fig
15: Bern — die zwei Gesichter einer Stadt
der Stadt Bern an. Zum einen
die Ordnung der Altstadt, angepasst
dem Relief, dem Fluss, dem Lokalklima.
Die Freiheit des Einzelnen war beschränkt,
die Bauordnung straff, die
Planung rigoros. Zum andern im Westen
die Stadt der letzten Jahrzehnte,
die Stadt unserer Generation: Ein
Durcheinander von verschiedensten
Bautypen, Verkehrsträgern, Erholungsräumen,
Industriestandorten
usw. auf engstem Raum.
Die physikalischen und biologischen
Gesetze des Zusammenwirkens von
Ordnung und Unordnung sind auch in
unserer unmittelbaren Umwelt abgebildet.
Noch mehr, diese, unsere Stadt
spiegelt, wie die grosse Welt auch, die
Dynamik der letzten Jahrzehnte wieder.
Sie zeigt uns die Wachstums- und
Umweltproblematik unserer Zeit, sie
ist ein Teil unserer Welt: Eine Stadt
hat Verschmutzung und Lärm, aber
sie hat auch Kultur und Bildung. Wir
müssen lernen, das Ganze zu sehen,
damit zu leben und daraus neue Ideen
für die Zukunft zu entwickeln. Diese
ganzheitliche Betrachtung der Probleme,
hin und wieder über Fakultätsgrenzen
hinweg, wäre eigentlich die
vornehme Aufgabe der «Universitas»
im wahrsten Sinne des Wortes. Mit
den auf uns zukommenden Problemen
der grossen Welt, der «Um-Welt» und
den auf uns wartenden Problemen der
nicht minder wichtigen kleinen Welt,
unserer Umwelt, muss sich die Universität
auf ihrem Weg von den Aufgaben
der Vergangenheit zu den Aufgaben
der Zukunft neu besinnen.
Anmerkungen
Fantine in Ethiopia 1958-1977. Addis Abeba
University and Vikas Pul. Hares, New Delhi:
191 S.