Strukturfragen in Kristallographie und Hochschule
Wohlgelungene Formulierungen sollte man nicht ändern; schon
gar nicht, wenn sie aus unserer ältest-ehrwürdigen Schwesterhochschule
stammen. Gestatten Sie mir daher, als Einleitung zu
zitieren, was Herr Kollege Rintelen, Magnifizenz von Basel, kürzlich
seiner Rektoratsrede vorangestellt hat: «Eigentlich ist es
Tradition, daß der jeweilige Rektor, eine flüchtige Erscheinung
in der relativen Konstanz des Universitätsganzen, anläßlich der
Jahresfeier der Hohen Schule in mehr oder minder allgemein verständlicher
Sprache aus dem Fache berichtet, das er an der
Universität vertritt. Er wendet sich an eine begrenzte Öffentlichkeit,
die sich für die Universität ex officio interessieren muß,
aber auch aus echter Verbundenheit, aus eigenem Bedürfnis und
vielleicht aus sympathischer Neugier an ihrem Ergehen Anteil
nimmt. Die Hochschule sollte es ja sein: Anliegen möglichst großer
Teile unserer Bevölkerung.» Wenn ich heute wie er, übrigens
auch wie der Rektor der Universität Bern — weitere Präzedenzfälle
mögen mir entgangen sein —, diese Tradition teilweise verlasse,
geschieht das nur, weil ich der Meinung bin, an dieser
139. Stiftungsfeier unserer mehr denn je im Umbruch begriffenen
Universität dürfe sich eine Festrede nicht einfach auf den akademisch-fachlichen
Bezirk zurückziehen. Da für mich der Vergleich
der Hochschule mit einem Kristall naheliegt, werde ich
also versuchen, einige Analogien zwischen kristallstrukturellen
Problemen und aktuellen Hochschulfragen aufzuzeigen. Dabei
werde ich —wiederum von der Tradition abweichend —mich sehr
kurz fassen, weil sich Vertreter der Assistentenschaft und der
Studentenschaft bereit erklärten, ebenfalls das Wort zu ergreifen.
Mir scheint, die sich damit abzeichnende Möglichkeit einer echten
«universitas» aller Glieder unserer Hochschule rechtfertige
dieses Vorgehen.
Heute vor 31 Jahren hat mein verehrter Lehrer und Namensvetter,
der damalige Rektor Paul Niggli, seine Festrede unter den
Titel «Der Kristall» gestellt. Er gab einen souveränen Überblick
über die Problemstellungen von Mineralogie und Kristallographie,
die schon damals tastende Versuche einschlossen, Zusammenhänge
zwischen Struktur und Eigenschaften von Festkörpern zu
erfassen. Daß diese Rektoratsrede von 1941 in einer besonders
unangenehmen Phase des Zweiten Weltkrieges gehalten wurde,
sei nur am Rande vermerkt; die Lektüre des Jahresberichts, in
dem sich die für unsere Universität aus dem Aktivdienst resultierenden
Schwierigkeiten niederschlagen, wäre vor allem für
unsere junge Generation lohnend.
Ich erwähnte den Begriff «Festkörper»: Heute gelten eben als
«Kristalle» alle dreifach-periodischen, d.h. etwa im Sinne eines
dreidimensionalen Tapetenmusters aufgebauten, Anordnungen
von Atomen, Ionen oder Molekülen im festen Zustand. Nur vergleichsweise
wenige Stoffklassen — etwa die Gläser — sind nicht
Kristalle oder Kristallaggregate; die Grenze zwischen «kristallin»
und «amorph» ist indessen fließend und hängt von der verwendeten
Untersuchungsmethode ab. Seit von Laue 1912 mit
seinem berühmten Beugungsexperiment gleichzeitig zeigen konnte,
daß Röntgenstrahlen Wellennnatur besitzen und daß Kristalle
wegen ihres gitterartigen Aufbaus mit Atomabständen in der
Größenordnung der Röntgen-Wellenlängen als Beugungsgitter
wirken können, hat sich die Röntgen-Diffraktion zur wirksamsten
Methode der Kristallstrukturforschung entwickelt; inzwischen
sind noch Elektronen- und vor allem Neutronendiffraktion
hinzugekommen. So versucht nun die Strukturforschung, die
Verteilung der streuenden Materie, also die Architektur der
Atome, Ionen und Moleküle, zu ermitteln. Daß das sinnvoll ist,
zeigt schon nur das einfache Beispiel, daß klassisch-chemisch zwei
wegen ihrer Strukturen so grundverschiedene Stoffe wie Graphit
und Diamant dasselbe, nämlich elementarer Kohlenstoff sind.
In den letzten Jahrzehnten hat sich die Strukturforschung,
deren Methodik selbst immer noch ein wichtiges Forschungsobjekt
der modernen Kristallographie darstellt, an immer anspruchsvollere
und kompliziertere Probleme auf anorganischem
und organischem Gebiet — bis zur Untersuchung biologisch interessierender
Riesenmoleküle —herangewagt; das wurde nicht
zuletzt durch die für den Kristallographen gerade rechtzeitige
Entwicklung elektronischer Großrechenanlagen ermöglicht. Wenn
eine Materialwissenschaft im weitesten Sinne in den Festkörpern
«Werkstoffe» sieht, so ist nun in zunehmendem Maße die Möglichkeit
gegeben, Zusammenhänge zwischen Struktur und — von
der Gestalt bis zu mechanischen, optischen, elektrischen, magnetischen,
biologischen usw. reichenden —Eigenschaften zu erforschen
und damit gezielte Entwicklungen zu gestatten. Daß in
Zürich die eigentliche Kristallographie organistorisch den Erdwissenschaften
zugerechnet wird, ist nur in der geschichtlichen
Entstehung begründet. Die moderne Kristallographie liegt nämlich
im Schnittpunkt mehrerer «etablierter» Fachgebiete, von
Mathematik — vor allem wegen der gruppentheoretisch zu behandelnden
Symmetrielehre — über Physik, Chemie und eigentliche
Erd-bzw. Raumwissenschaften bis zu Biologie und Materialwissenschaften;
sie hat somit die reizvolle Funktion eines interdisziplinären
Bindegliedes (mit den Vorteilen der gegenseitigen Anregung
und der Zusammenarbeit, aber auch mit dem Nachteil,
nirgends richtig «zu Hause» zu sein).
Um wieder auf den Kristall-Begriff zurückzukommen, läßt sich
seine durch streng gesetzmäßigen Aufbau gegebene Definition
nur gedanklich realisieren: dem «Idealkristall» steht in der
Praxis der «Realkristall» gegenüber, der eine riesige Mannigfaltigkeit
von Abweichungen von der abstrakten Idee aufweisen
kann. Das beginnt bei rein geometrischen Baufehlern, wie sie
sich ja in jeder konkreten Konstruktion zeigen: je nach den
Entstehungsbeclingungen können Verzwillingungen oder Versetzungen
eintreten, wobei einzelne in. sich noch gesetzmäßig gebaute
Bereiche gegenüber Nachbardomänen «aus dem Takt» fallen,
verschoben oder verdreht sind. Dazu kommen die eher chemischen
Möglichkeiten, gewisse Gitterplätze durch Fremdatome —
was etwa für die Halbleitertechnik von größter Bedeutung ist —
oder im Sinne von Leerstellen überhaupt nicht zu besetzen.
Schließlich geben Ordnungs-Unordnungs-Vorgänge die Möglichkeit
einer verschiedenartig mehr oder weniger geregelten Verteilung
unterschiedlicher Bausteine auf an sich gleichwertige
Plätze. Verfeinerte Untersuchungs- und Auswertemethoden erlauben
in zunehmendem Maße, auch eine solche «Pathologie»
der Kristalle zu erfassen. Darüber hinaus werden auch die thermischen
Schwingungen der Atome oder Ionen untersucht: man
kann ja, ebenso wie etwa bei einer Cumulus-Wolke, durchaus
sagen, daß auch ein Kristall eigentlich kein Zustand, sondern ein
Vorgang sei.
Ich muß Sie bitten, mich nicht falsch zu verstehen, wenn ich
nun die Analogien zu Hochschulproblemen im Anschluß an diese
pathologischen Betrachtungen zu konstruieren beginne; das ist
vielmehr darin begründet, daß auch die Hochschule — trotz
strengster Gesetze —ein lebendiger Organismus ist und auch sein
muß. Um mit dem alten Symbol des Kristalls, dem Quarz als
Bergkristall zu beginnen, drängt sich natürlich der Gedanke an
die Transparenz auf. Abgesehen davon, daß es auch Amethyste
und sogar sehr dunkle Rauchquarze gibt, sind an sich klare Bergkristalle
oft mit einer grünlichen, opaken Chloritschicht überzogen,
wie wenn sie der Außenwelt den Einblick verwehren wollten.
Um die Analogie zu vervollständigen, müssen die ästhetisch
oft wunderschönen sogenannten «Phantomquarze» erwähnt werden,
bei denen durch in mehreren Wachstumspausen entstandene
Chloritüberzüge einzelne Kristallbereiche sich gegenüber Nachbarbereichen
abschirmen.
Die Analogie zwischen strenger Gesetzlichkeit des Idealkristalls
und Realkristall einerseits und der Universität andererseits ist
trivial. Man könnte nun natürlich einzelne Baufehler wie Fremdatome,
Unordnung usw. im einzelnen betrachten. Ich möchte
aber lieber noch auf einige Begriffe hinweisen, die sich in den
Materialwissenschaften eingebürgert haben und die auch schon
in der Rektoratsrede von 1941 erwähnt wurden: Verformung,
Ermüdung, Verfestigung, Erholung, Vergütung, Veredlung, Regeneration
und Rekristallisation. Ich möchte es Ihnen überlassen,
Parallelen zu ziehen oder sich mindestens in Gedanken-Assoziationen
zu ergehen.
Schließlich komme ich auf die Frage der Grenzziehung zwischen
Kristall und amorphem Festkörper zurück. Das Funktionieren
einer Universität setzt eine gewisse Ordnung voraus, während
beim Kristall eine gewisse Gesetzmäßigkeit der Struktur
nur aus Definitionsgründen gefordert wird. Ich sagte schon, und
dies mag auch gegenüber allen Hochschul-Reformbestrebungen
versöhnlich wirken, daß die Grenze zum amorphen Festkörper
fließend sei und von der Untersuchungsmethode oder Betrachtungsweise
abhänge. Ich möchte aber mit Ihnen hoffen und auch
daran mitarbeiten, daß unsere Universitas Turicensis im angedeuteten
Sinne ein Kristall bleiben möge.