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Vom verborgenen griechischen Erbe

Rektoratsrede gehalten an der Jahresfeier der Universität Basel

am 24. November 1967
Verlag Helbing & Lichtenhahn Basel 1968

© Copyright 1968 by Helbing &Lichtenhahn, Verlag, Basel
Druck von Friedrich Reinhardt AG., Basel

Vor fünfundzwanzig Jahren, im bedrückenden Kriegswinter 1942, hat Peter Von der Mühll in seiner Rektoratsrede daran erinnert, daß Basel einen griechischen Namen trägt, Basileia, ,die Kaiserstadt'. Niemand von uns denkt an diese Herkunft, wenn wir, was täglich mehrmals geschieht, ,Basel' sagen oder schreiben. Was dem Namen unserer Stadt widerfahren ist, gehört in den weiten Zusammenhang dessen, was ich unser verborgenes griechisches Erbe nennen möchte: von ihm soll heute die Rede sein.

Gewiß ist jedem von Ihnen manches, das ich erwähnen werde, längst bekannt. Vielleicht wird es mir, wenn ich dies oder jenes für griechisch erkläre, auch nicht immer gelingen, Sie zu überzeugen. Nun, solches Mißtrauen wäre berechtigt, wenn wahr wäre, was ein Kunsthistoriker zu einem Gräzisten gesagt hat: «Wir Kunsthistoriker arbeiten unter der Annahme, daß niemals irgendein Mensch irgend etwas selber erfunden hat; und ihr Philologen arbeitet unter der Annahme, daß die Griechen alles erfunden haben.» Immerhin: die Griechen haben doch einiges erfunden; und daß dazu allerlei gehört, dessen Ursprung wir vergessen haben, möchte ich eben zu zeigen suchen.

Wir alle sind spätestens beim Eintritt in die Primarschule unter griechischen Einfluß getreten, beim Erlernen der Schrift und des Alphabets. Zwar haben die Griechen das Schreiben nicht erfunden, sondern es bekanntlich von den Phönikern übernommen. Wohl aber

hat ein griechischer Anonymus —der Mythos nennt ihn freilich Palamedes — einigen phönikischen Konsonantenzeichen, denen keine griechischen Laute entsprachen, den Wert von Vokalen gegeben. Darin zeigt sich der Geist griechischer Wissenschaft: ,Palamedes' hatte erkannt, daß seine Sprache von Grund auf anders gebaut war als das zur semitischen Gruppe gehörige Phönikische. Bei jedem a, e, j, o, u, das wir schreiben, machen wir uns also eine griechische Erfindung zunutze, natürlich dank römischer und — wenn wir weiter zurückgehen —etruskischer Vermittlung. Nur aus der Macht der Überlieferung ist es erklärlich, daß die heutigen europäischen Schriften in der Wiedergabe des wirklichen Klangbildes nicht über die griechische hinausgekommen sind; daher ist ja auch die Zahl der Lautzeichen fast gleich geblieben.

Von den Griechen haben wir ferner gelernt, die Satzglieder durch Interpunktionszeichen voneinander abzuheben, und zwar ist unsere Rangordnung von Punkt, Strichpunkt, Komma schon in folgendem Satz des Dionysios Thrax im 2. Jahrhundert v. Chr. enthalten: «Der eigentliche Punkt ist das Zeichen eines abgeschlossenen Gedankens, der mittlere Punkt (etwa unser Strichpunkt) das Zeichen, das angewendet wird, um das Atemholen zu ermöglichen, der untere Punkt (unser Komma) das Zeichen dafür, daß ein Gedanke noch nicht abgeschlossen ist, sondern der Vervollständigung bedarf.» Eine Einzelheit: wenn wir heute vor wörtlich angeführter Rede den Doppelpunkt setzen, dann wohl deshalb, weil er in antiken Handschriften von Dramen etwa zur Bezeichnung des Personenwechsels diente.

Das Handbüchlein des Dionysios Thrax hatte im Gebiet der Grammatik eine beispiellose Wirkung. Es liegt, abgesehen von der ostasiatischen und der indischen Grammatik, allen uns bekannten Grammatiken zugrunde. Jedes westeuropäische Kind, das in seiner Muttersprache

die Redeteile und die Wortformen unterscheiden lernt, geht gewissermaßen bei den Griechen in die Schule. Ob ihm dabei die lateinischen grammatischen Bezeichnungen beigebracht werden, ob —wie oft bei uns — mehr oder weniger glückliche deutsche: aus dem Griechischen übersetzt sind sie beide.

Natürlich haben die Griechen schon lange vor jeder wissenschaftlichen Zergliederung über die Erscheinungen ihrer formenreichen Sprache sich ihre Gedanken gemacht. Dabei haben sie denn z. B. die verschiedenen Kasusendungen festgestellt, wie aus folgendem Bruchstück des Anakreon, also eines Dichters des 6. Jahrhunderts v. Chr., hervorgeht:

Des Kleobulos begehr ich,
dem Kleobulos bin ich hörig,
den Kleobulos bestaune ich.

Schwerlich ist es ein Zufall, daß in diesem sogenannten Polyptoton Genetiv, Dativ, Akkusativ bereits in der noch uns geläufigen Reihenfolge begegnen: die griechischen Grammatiker hätten mit ihr also etwas volkstümlich bereits Vorgebildetes übernommen. Beiläufig: einem Gedichtchen aus der Sammlung der kaiserzeitlichen Anakreonteen ist die Registerarie Leporellos in Mozarts Don Giovanni aufs treueste nachgebildet.

An das eben berührte Zeugnis aus der Frühgeschichte der griechischen Grammatik schließe ich eines aus ihrer Spätzeit an: um 400 n. Chr. hat ein Theodosios dem Lehrbüchlein des Dionysios Thrax einen Anhang in Tabellenform beigegeben, Kanones: damit war das Urbild der Tabellen aller modernen Schulgrammatiken geschaffen.

Im allgemeinen fanden die Griechen — etwa wie heute die Franzosen —, es sei nicht ihre Sache, fremde Sprachen zu lernen. Indessen wurde es in der Kaiserzeit doch nötig, ,beide Sprachen' des Reichs wenigstens

einigermaßen zu kennen. So entstanden griechisch-lateinische Gesprächsbücher. Diese Gattung ist noch von den Humanisten eifrig gepflegt worden. Auf unserer Universitätsbibliothek liegt eine Handschrift des späten 15. Jahrhunderts; darin sind in dem Dialog, der kaiserzeitliches Privatleben widerspiegelt, zwei antike Namen durch Reuchlin und Trithemius ersetzt. Diese sogenannten Schulgespräche sind der Anfang der heutigen zweisprachigen Konversationsbücher.

Auch außer dem Schreiben und der Grammatik hat sich im Schulunterricht Griechisches gehalten. Das geometrische Lehrbuch des Eukleides war in Deutschland bis in die achtziger Jahre des vorigen Jahrhunderts gebräuchlich; in England noch viel länger: die Geometrie heißt dort ja Euclid. Unsere elementargeometrischen Begriffe sind denn auch großenteils aus dem Griechischen übersetzt. Griechisch ist auch der Name des Faches Naturgeschichte; so heißt es zunächst nach der Naturalis Historia des Plinius. Dieser hatte im ursprünglichen griechischen Sinne von Forschung verstanden, also Naturforschung gemeint. Weil historia vor allem von der Geschichtsforschung, schließlich auch von der Geschichte selbst gebraucht wurde, konnte man auf die falsche deutsche Übersetzung verfallen; näher kommt der griechischen Vorlage das neuere Naturkunde. Darf ich unsere Biologen gleichwohl bitten, die Naturgeschichte nicht zu verstoßen, eben weil sie ein Griechenkind ist? Unter einem verstanden die Griechen übrigens nicht einen Gelehrten, der sich mit der Wissenschaft vom Leben befaßt, sondern jemand, der Alltagsleben in der Rede festhält, also etwa einen Mimen im Dienste der heitern Muse.

Noch auf einem Gebiet haben wir alle auf der Schule vom griechischen Erbe gezehrt und zugleich es mehren helfen: beim Verfassen unserer Aufsätze. Im Elementarunterricht der antiken Rhetorenschule hatte der Knabe

allerhand Vorübungen zu schreiben, als da waren: Fabel, Erzählung, Sentenz, Chrie, Charakteristik, Vergleich, Beschreibung. Diese Exerzitien sind in Rom wie in Byzanz aufgenommen und in nie abgerissener Überlieferung an das neuzeitliche Unterrichtswesen weitergegeben worden. So kommt es, daß noch in unsern Tagen Themen gestellt werden, die sehr ähnlich lauten wie jene, die von den Schulknaben der Antike behandelt werden mußten. Beliebt war damals und ist jetzt z. B. der Vergleich: Aias und Achill. Seefahrt und Ackerbau. Land und Stadt. Dies letzte Thema könnte noch heute wörtlich gleich gestellt werden. Gang und gäbe ist auch bei uns die Sentenz oder Gnome. Pseudolibanios empfahl als solche etwa den folgenden Satz aus einer demosthenischen Rede: Geld ist unentbehrlich, und ohne Geld läßt sich nichts Notwendiges verwirklichen. Und ich erinnere mich, diese zwei Gnomen bearbeitet zu haben: Es bildet ein Talent sich in der Stille, sich ein Charakter in dem Strom der Welt, und Strafe soll sein wie Salat, der mehr Öl als Essig hat (Logau). Als ungemein lebenskräftig erweist sich auch die Chrie, die ,Nutzanwendung' — das Wort vermutlich zunächst eben Übersetzung von Chrie Bei ihr handelt es sich darum, Kernworte berühmter Persönlichkeiten auszulegen. Etwa Isokrates sagte, die Wurzel der Bildung sei bitter, aber ihre Früchte süß. Für unsere Maturitätsprüfungen schlagen die Fachlehrer auch heute noch unentwegt Chrien vor: kürzere oder längere Abschnitte aus einem Schriftsteller, dessen Name jetzt in der Regel nicht mehr vorangestellt, sondern am Schluß in Klammern beigefügt wird. Der Schüler muß den Text erläutern, die Auffassung des Verfassers beweisen oder widerlegen. Eine Steigerung der Schwierigkeit liegt darin, daß zum gleichen Gegenstand zwei sich widersprechende Äußerungen vorgesetzt werden. Nun gilt es, Stellung zu nehmen und sie zu begründen. Auch das ist eine wohlbekannte Übung der

antiken Rhetorenschule (confirmatio —refutatio,

Doch. es ist Zeit, den Schritt vom Gymnasium zur Universität zu tun. Es liegt auf der Hand, daß frühere Geschlechter gewisse Hochschuleinrichtungen nicht griechischen Institutionen nachgebildet haben, sondern solchen der römischen Republik: Der zurücktretende Dekan wird Prodekan, wie der Praetor Propraetor wurde. Unser Rektoratsjahr beginnt und endet mit dem Kalenderjahr wie das Amtsjahr der römischen Konsuln. Freilich verbirgt sich in unserm Universitätslatein doch auch Griechisches. Dafür nur zwei Belege: Immatrikulation und Professor.

Matrix, matricula heißt seit dem 2. Jahrhundert n. Chr. die Liste, der Rodel. In der Spätantike haben sich auch die Griechen dieser lateinischen Wörter bedient: (matrix, matríkion). Verständlich wird die Bezeichnung eines solchen Verzeichnisses als eines ,mütterlichen' aber doch erst aus dem Griechischen. Den Weg kann uns das Neugriechische weisen: da heißt Matrikel mitroon. Im altathenischen Heiligtum, das ursprünglich der Erdmutter Demeter, später der Großen Mutter der Götter, Kybele, geweiht war, eben im Metroon, befand sich das Staatsarchiv; dort wurde unter anderm die Bürgerliste aufbewahrt. Immatrikuliert werden bedeutet also eigentlich ,in das Verzeichnis der echtbürtigen Athener aufgenommen werden'.

Professor ist seit der frühen Kaiserzeit der öffentliche Lehrer, qui profitetur, der sich durch ausdrückliche Erklärung zu etwas bekennt, etwas verspricht, (epangélletai). Seine professio ist griechisch (epátngelma). In diesem Sinne der ,Lehrverpflichtung' braucht das Wort zuerst Protagoras im gleichnamigen Platonischen Dialog, und zwar dort, wo er verspricht, seine Schüler die Kunst der Politik zu lehren.

Es ziemt sich wohl, daß wir Professoren uns dann und wann an den ursprünglichen Sinn unserer Amtsbezeichnung, an das Verpflichtende, das darin liegt, erinnern.

In den eben besprochenen lateinischen Fremdwörtern aus unserer akademischen Fachsprache wirkt also Griechisches nach. Das sind indes nur zwei kleine Sonderfälle eines ungleich weitern Fortlebens des Griechischen in allen Bezirken unserer Sprache, auch in Wörtern und Wendungen, die uns durch und durch deutsch erscheinen.

Der Strom, der unserer Muttersprache griechisches Gut zuführt, fließt seit ihren Anfängen bis auf den heutigen Tag. Die wichtigsten Epochen waren die Zeit der Christianisierung, Scholastik, Mystik, Renaissance und Humanismus, Reformation; aber auch seither hat die Aneignung von Griechischem nie aufgehört. Im wesentlichen sind drei Formen der Übernahme zu unterscheiden: einmal Fremdwörter, die dem Deutschen so früh einverleibt worden sind, daß man ihnen die griechische Herkunft nicht mehr ansieht, wie z. B. Bibel, Pfingsten, Bischof, Priester, Pfaffe, Teufel, Engel. Sodann deutsche Neuschöpfungen, die das Vorbild möglichst getreu wiedergeben: Gewissen, Mitleid, Langmut, erbauen (im geistlichen Sinn). Schließlich Wörter, die im Deutschen schon vorhanden waren, die nun aber aus dem Griechischen mit einem neuen Sinn erfüllt wurden: Gnade, Sünde. In all diesen Fällen hat jeweils ein lateinisches Wort die Vermittlung besorgt. Dies gilt ganz allgemein; neben dem Lateinischen haben oft auch neuere Sprachen, die selbst ebensogut Erbinnen des Griechischen sind wie das Deutsche, diesem gegenüber die Vermittlerrolle gespielt, so etwa das Französische. Dieses hat übrigens in besonderem Maße auch dem heutigen Neugriechischen althellenisches Sprachgut zurückgegeben; zwei Beispiele mag ich Ihnen nicht vorenthalten: Die Wirkung der Gestirne hieß bei den griechischen Astrologen

(apórrhoia), später (epirrhemé), was die lateinischen mit influentia übersetzten. Daraus wurden influence und Einfluß, zuerst durchaus im engen astrologischen, dann im jetzt geläufigen, ungleich weiteren Sinn. Eben unter französischer ,influence' brauchen die heutigen Griechen das Wort wieder, doch in der modernen Bedeutung. Ferner: jeder Student der Philosophie weiß oder sollte wissen, daß Platon unsern philosophischen Begriff der Qualität in kühner Wortschöpfung als erster eingeführt, daß Cicero diese platonische (poiótes) in qualitas umgesetzt hat. In ihrer alltäglichen Bedeutung ist die Qualität aus Paris nach dem Ursprungsland zurückgewandert: Qualitätsstrümpfe, bas de qualité heißen jetzt auf athenischen Lichtreklamen (káltses piótitos).

Doch wieder zu unserm Deutschen. Ohne die Entstehungszeit zu nennen, zähle ich einfach eine verschwindend kleine Auswahl von Wörtern auf, die mit Sicherheit aus dem Griechischen entlehnt sind; ich gebe sie in ihrer heutigen Lautform: allmächtig, unendlich, unfaßbar, angeboren, eingeboren, schadenfroh, beschaulich, begreifen, bezeichnen, erörtern, ermitteln, Beiwerk, Blumenlese, Handbuch, Leitfaden, Wesenheit, Wirklichkeit, Möglichkeit, Eindruck, Begeisterung, Umstand, Jenseits. Dieses begegnet zum erstenmal in Tiedges Lehrgedicht über die Unsterblichkeit (auch sie ein griechisches Wort), in der ,Urania' von 1801; das Jenseit(s) gibt klärlich das neuplatonische z. B. (epékeina tu nu, ,jenseits des Geistes') wieder. Spitteler hat ,auferscheinen' gewagt, nach (epiphaínesthai), vom plötzlichen Erscheinen göttlicher Wesen; der Begriff war ihm von seinem Theologiestudium her natürlich wohlvertraut. Erst zu unsern Lebzeiten dürften eigengesetzlich, Eigengesetzlichkeit entstanden sein, offensichtlich als Verdeutschung von (autonomos, autonomia).

Doch nicht bloß einzelne Wörter, auch ganze Wendungen sind griechischen Ursprungs. So das ungeschriebene Gesetz, unter dem freilich bei den Griechen nicht bloß, wie bei uns meistens, eine stillschweigend anerkannte Spielregel verstanden wurde, sondern das ewige göttliche Gesetz im Gegensatz zum menschlichen. So auch die euphemistische Formel Wenn mir etwas Menschliches zustoßen sollte: sie steht oft am Eingang griechischer Testamente. Es liegt im argen —eine Wendung, die noch heute etwas seltsam klingt — ist von Luther wörtlich übersetzt aus der von ihm nicht restlos begriffenen Stelle im 1. Johannesbrief 5, 19, die besagt: (Die ganze Welt) liegt in der Gewalt des Bösen . Der Winkeladvokat und ähnliche Existenzen können ihre Ahnenreihe über Cicero zurückverfolgen bis zu Platons ,Gorgias'. Griechisch sind das notwendige Übel; der aufgewärmte Kohl; auf des Messers Schneide stehen. Aus einer Mücke einen Elephanten machen ist eine griechische Redensart; ihre Herkunft aus der Fremde verrät sie schon durch die Nennung des exotischen Tiers. Zugleich ist sie ein Beleg dafür, daß es nicht angeht, die erstaunlichen Übereinstimmungen solcher griechischen und deutschen Wendungen damit abzutun, daß eben in verschiedenen Sprachgebieten und zu verschiedenen Zeiten dieselben menschlichen Erfahrungen denselben sprachlichen Ausdruck gefunden hätten. Das mag in Einzelfällen zutreffen. Im ganzen dürften aber solche Ausdrücke genau gleich von Osten nach Westen gewandert sein wie sehr viel anderes Kulturgut; man denke bloß an die Fabeln und Märchen. Aus der Äsopischen Fabel vom Satyr, der dem Menschen die Freundschaft aufkündigt, stammt kalt und warm aus einem Munde blasen. Nur gerade noch hingewiesen sei auf folgende durchwegs griechischen Prägungen: Vor Neid platzen. Vom Pferd auf den Esel kommen. Leeres Stroh dreschen. Ein Sturm

im Wasserglas. Und auch daß einem die gebratenen Tauben in den Mund fliegen ist, wie das ganze Schlaraffenland, eine Erfindung griechischer Komödiendichter des 5. vorchristlichen Jahrhunderts. Gebratene Drosseln mit Kuchen zugleich, die flogen hinein in die Mäuler hieß es bei Telekleides.

Auch eine sehr große Zahl eigentlicher Sprichwörter ist aus dem Griechischen ins Deutsche übernommen worden. Wieder nur wenige Proben: Arbeit schändet nicht. Volkes Stimme, Gottes Stimme. Von seinen Feinden soll man lernen. Eine Schwalbe macht noch keinen Sommer. Kommt Zeit, kommt Rat. Alter schützt vor Torheit nicht. Wie der Mann, so die Rede. Über das Mittellatein zunächst auf Ovid zurück geht Steter Tropfen höhlt den Stein, gutta cavat lapidem. Aber geprägt, jedenfalls in einen Vers gebracht, hat den Gedanken ein Grieche des 5. Jahrhunderts, Choirilos von Samos. Gottes Mühlen mahlen langsam, mahlen aber trefflich klein klingt so deutsch wie man nur wünschen mag, ist aber von Logau 1654 sehr genau aus einem schon im Altertum ausdrücklich als Sprichwort bezeichneten Hexameter übersetzt. Man kann nicht über seinen eigenen Schatten springen scheint im Lateinischen nicht belegt zu sein. Wohl aber findet sich das Sprichwort beim Kirchenvater Gregor von Nazianz und schon früher bei Plutarch. Aus ihm dürfte es —wiederum von Logau —ins Deutsche eingeführt sein, in einem Sinnspruch Die Poeten:

Über seinen Schatten springen
kan dem Leichsten nicht gelingen:
Tichtern aber kans gelingen
über ihren Tod zu springen.

Griechisch ist hier natürlich auch der Gedanke von der Unsterblichkeit des Dichters. Zu einem großen Teil dürfte es sich bei diesen Sprichwörtern und sprichwörtlichen Wendungen um Lesefrüchte der Humanistenzeit

handeln. Manches stammt gewiß aus den Adagia des Erasmus; so etwa der Kümmelspalter, der genau eine griechische Vokabel kyminoprístes) — sie steht z. B. in der Nikomachischen Ethik — wiedergibt. Die Aufgabe, in jedem einzelnen Fall die Herkunft zu bestimmen, bleibt großenteils noch zu leisten. Wer sie in Angriff nimmt, wird gut tun, die deutschen Übersetzungen griechischer Autoren im 16. und 17. Jahrhundert zu durchforschen. Auch die Schulaufführungen antiker Dramen könnten diesen und jenen Gemeinplatz, die eine und andere Redensart verbreitet haben. Solchen Ursprung möchte ich etwa vermuten für den bekannten Ausspruch Dei providentia, hominum confusione Helvetia regitur. Bei Aristophanes lesen wir in den ,Wolken':

Heißt's doch, Unberatenheit sei in eurem Staat zuhause; aber was ihr nur verfehlt, werde durch die Huld der Götter doch zum guten stets gewandt.

,Unberatenheit der Athener' Athenaíon ist ein erasmisches Adagium.

Wie stark die Griechen das neuere europäische Schrifttum mitgeformt haben, ist bekannt. Daß sein unmittelbarer gemeinsamer Nährboden die lateinische Literatur des Mittelalters ist, hat E. R. Curtius eindrücklich dargelegt. Natürlich haben die heutigen europäischen Literaturen auch ihre nationalen Wurzeln, die in die indogermanische Frühzeit hinabreichen mögen. Das Verwandtschaftsverhältnis zum Griechischen ist in diesem Fall das von Geschwistern, nicht jenes von Kïndeskindern. So läßt sich etwa der alte deutsche vierhebige Vers mit freien Senkungen zum Enhoplier der Griechen in Beziehung bringen. So hat der Stabreim, ungemein lebenskräftig und nicht aus dem Griechischen herzuleiten, immerhin seine Entsprechung in Prägungen

wie Heraklits (pólemos pánton patér, ,der Krieg ist der Vater aller Dinge').

Unnötig zu sagen, daß die deutsche Literatur, neben vielem offensichtlich von den Griechen Beeinflußten, auch Werke und Formen aufweist, zu denen es bei ihnen vielleicht Ansätze gab; daß aber die neuen Erscheinungen nicht bloß ungleich differenzierter, sondern von den antiken oft so verschieden sind, daß das möglicherweise Verwandte neben dem Andersartigen belanglos geworden ist. Unnötig auch zu sagen, daß eine Anknüpfung an Griechisches, auch eine solche über das Verbindungsglied des mittelalterlichen und klassischen Lateins, in manchen Fällen schlechterdings nicht möglich ist. Auch wir Philologen, und gerade wir, freuen uns ehrlich, daß das so ist; nichts liegt uns ferner, denn uns modernes als Epigonen der anciens hinzustellen. Aber wir sind nun einmal ihre Enkel und Urenkel. Einige nicht ohne weiteres sichtbare Merkmale, die auch hier unsere Abstammung verraten, möchte ich deshalb doch nennen. So wirkt griechische Auffassung etwa darin nach, daß wir unter Prosa im allgemeinen nur die schriftstellerisch gestaltete verstehen, die belles lettres, nicht die Erzeugnisse des Alltags, auch nicht die fachwissenschaftliche Literatur. Nun, so hat es eben die griechische Rhetorik gewollt.

Auf griechische Lehre und auf griechisches Vorbild geht letztlich auch eine besondere Form deutscher Prosa zurück, eine mit Recht bewunderte. Was gemeint ist, kann am kürzesten mit dem Namen Lessing verständlich gemacht werden: Klarheit, Sachlichkeit; kein bloßes Andeuten, kein Geheimnisdunkel, kein Poetisieren; ein von allem Ungewöhnlichen, Gesteigerten freier Wortschatz. Lessings unmittelbares Muster werden hier wie anderswo die von ihm bekämpften Franzosen gewesen sein. Es genügt, Voltaire zu nennen. Daß dieser so anders schreibt als etwa Rabelais, hat

seinen Grund mit in den theoretischen Auseinandersetzungen des Grand siècle: damals hat man Forderungen der Lateiner — Ciceros, Caesars, Quintilians — auf das Französische übertragen. Hinter diesen steht das Vorbild der attischen Redner des 4. Jahrhunderts v. Chr., an denen man die Reinheit des Wortschatzes, die Klarheit des Gedankens, den schlichten Ausdruck bewunderte. Der Attizismus — so hieß dieses Stilideal — wirkt also nach bis in die neue französische und deutsche Prosa.

Im Anschluß daran sei eine Vermutung zur Wortwahl im Deutschen gewagt: Daß sie in unserer hohen Poesie sich von prosaischer oft stark unterscheidet, ist bekannt. Man wird das als einen Wesenszug aller Poesie bezeichnen. Gewiß, aber eine Sondererscheinung ist so doch nicht ohne weiteres zu erklären: daß klassische (und auch romantische) deutsche Poesie, vor allem lyrische, die Fremdwörter weitgehend meidet. Weitgehend: zugelassen, offenbar erwünscht sind etwa Äther, Sphäre, Diadem, Melodie, Harmonie, Äonen u. dgl. Aber im übrigen sind die Fremdwörter so gut wie verbannt. Warum? Wohl weil sie als termini technici der Alltagssprache oder von Fachsprachen gelten. In ihrer Meidung dürfte somit abermals jene Vorstellung von Sprachreinheit nachwirken, die wir auf Erneuerung des attizistischen Stilideals zurückgeführt haben.

Zu einem großen Teil griechischen Ursprungs ist letztlich die Metrik der klassischen und nachklassischen deutschen Dichtung. In ihr ist die einstige Freiheit in der Zahl der Senkungen, wie sie der sogenannte Knittelvers gehabt hatte, im allgemeinen einer regelmäßigen Wechselfolge betonter und unbetonter Silben gewichen. Opitz, der Begründer dieser Metrik, hat sie zunächst dem Französischen und dem Lateinischen abgesehen. Aber dahinter stehen abermals die griechischen Muster, im besondern die aufs strengste silbenzählende äolische

Poesie. Beiläufig darf hier wenigstens gefragt werden: Geht es nicht letzten Endes auch auf die Äoler Sappho und Alkaios zurück —eine dichterische Ahnenschaft von höchstem Adel —, daß der Vierzeiler die häufigste deutsche Strophenform ist?

Ein eigentümliches Nachleben hat die ,Sapphische Strophe' gehabt, natürlich in der Gestalt, die ihr Horaz verliehen hatte. Schon der mittelalterliche lateinische Kirchengesang hat sie sich angeeignet; von deutschen Kirchenliedern erinnere ich bloß an das bekannteste: Herzliebster Jesu, was hast du verbrochen? In der uns seit dem Religionsunterricht vertrauten Gliederung der Sapphischen Strophe in drei gleiche Langzeilen und einen kurzen Schlußvers (bist du geraten?) ist übrigens auch noch ein Stück alexandrinischer Philologie erhalten; genauer gesagt: eine irrige metrische Analyse der Sapphischen Strophe. Richtig wäre es gewesen, den schließenden Kurzvers zur dritten Zeile zu schlagen: denn Sappho selbst hatte die Strophe in zwei lange und eine überlange Zeile gegliedert, nicht in drei lange und eine kurze wie die Alexandriner, Horaz und das Kirchenlied.

Ein zweiter Beleg für das Nachleben griechischer Metrik im Deutschen: Seit Klopstock kennt die deutsche Poesie sogenannte freie Rhythmen. ,Prometheus', ,Wandrers Sturmlied', ,Grenzen der Menschheit', Hyperions Schicksalslied' sind Gedichte, in denen diese scheinbar so regellose Form aufs vollkommenste gemeistert ist. Sie lebt weiter bei Nietzsche und natürlich auch in der unübersehbaren Masse der meist reim- und strophenlosen Gegenwartslyrik, deren Erzeugnisse übrigens häufig einfach in Kurzzeilen unterteilte Prosa, oft von bemerkenswerter Banalität, sind. Bei den eben genannten klassischen Gedichten liegt es nahe, in ihrer Form ein kraftvolles Hervorbrechen urdeutschen rhythmischen Gefühls zu erblicken. Tatsächlich aber haben

auch bei der Geburt dieser deutschen freien Rhythmen im 18. Jahrhundert die Griechen zu Gevatter gestanden. Man hatte Pindar entdeckt und fand in ihm einen Dichter von korybantischer Verzücktheit, in seinen Oden Äußerungen eines genialisch ungebundenen Gemüts. Bestärkt werden mußte man in dieser Meinung durch das typographische Bild, in dem die Ausgabe des Erasmus Schmid von 1616 und noch die Heynesche von 1773 den griechischen Text gaben: ängstlich waren darin die rhythmischen Analysen der Byzantiner beibehalten, in denen die erst seither wiedererkannten strömenden Langzeilen Pindars in kurze und kürzeste Glieder zerhackt waren — eben derart, daß sich dem Auge ein Druckbild darbot, das sehr ähnlich aussah wie bald nachher ein deutsches Gedicht in freien Rhythmen. Der byzantinischen Verstrennung liegt, wie Papyrusfunde gezeigt haben, schon hellenistische metrische Gliederung des Pindartextes zugrunde. Wahrscheinlich geht sie auf Aristophanes von Byzanz (um 200 v. Chr.) zurück. Seinem metrischen Irrtum kommt also ein Mitverdienst auch daran zu, daß es in deutscher Poesie Rhythmen gibt wie

Wenn die Räder rasselten,
Rad an Rad rasch ums Ziel weg,
hoch flog
siegdurchglühter Jünglinge Peitschenknall
und sich Staub wälzt',
wie vom Gebirg herab
Kieselwetter ins Tal,
glühte deine Seel' Gefahren, Pindar,
Mut.

Griechischen Ursprungs sind auch gewisse Fragestellungen der neueren Literaturkritik. Wieder bezieht sich, was wir erwähnen werden, zunächst auf eine uns

bereits etwas ferner liegende Epoche der deutschen Literaturgeschichte. Unsere zeitgenössischen Kritiker haben andere, verwickeltere Probleme, ein anderes, raffinierteres Vokabular. Immerhin: die schlichten griechischen Fragestellungen ließen sich ohne weiteres in die oft etwas geschwollene heutige Fachsprache übersetzen. Ich will nicht so boshaft sein, auch das Umgekehrte für möglich zu erklären, sondern führe in ihrer anspruchslosen Formulierung drei Themen an, um die sich die griechischen Theoretiker der Poesie bemüht haben.

Erstens: Wie verhält sich die Dichtung zur Wirklichkeit? Besonders nahe stehen der sogenannten Realität naturgemäß der epische und der dramatische Dichter. Die Griechen haben ihr Schaffen als Nachahmung der Wirklichkeit, als Mimesis bezeichnet. Daß das Wort zum Titel eines vielbeachteten literarkritischen Werkes unserer Gegenwart gewählt worden ist, zeigt zur Genüge, wie jedenfalls den Fachleuten der Ursprung dieser Fragestellung noch durchaus bewußt ist.

Zweitens: Was macht den Dichter aus, geniale Naturanlage oder künstlerische Anstrengung, Physis oder Techne? Jene ist eine Gabe der Gottheit, ihr Träger schafft, wenn er ,des Gottes voll' ist, im Enthusiasmus, im Zustand der Inspiration. Ihn erklärte Demokrit wohl als erster für die unerläßliche Voraussetzung dichterischen Gelingens: Ein Dichter aber, was immer er mit Verzückung und göttlichem Anhauch schreibt, das ist gewiß schön. Genau gleich hat Platon geurteilt. Horaz spricht sich — auf Grund hellenistischer Quellen — für das Sowohl-Als-auch von ingenium und ars aus: Ob Natur, ob Kunst ruhmwürdige Lieder gebäre, fragt sich mancher: mich dünkt, nicht Fleiß ohn göttlichen

Funken, auch nicht das rohe Talent vollbringt's. Das eine Vermögen fordert das andre heraus und verlangt freundwilligen Beistand. (R. A. Schröder).

Eine Spielart des eben berührten Gegensatzpaares ist die Antithese von Genie und bloßem Talent, des dämonischen Dichters und des nur untadeligen. So stellt die Schrift vom Erhabenen Archilochos, den Begründer der europäischen Lyrik, und den feinen hellenistischen Poeten Eratosthenes einander gegenüber. Wenn heute etwa erörtert wird, ob Thomas Mann reiner Literat, bloßer Virtuose sei oder doch ein wirklicher Dichter, wendet man also eine Fragestellung der griechischen Literaturkritik auf einen Sonderfall unserer Gegenwart an.

Griechisch ist zum dritten auch die Frage nach dem Sinn, dem Zweck der Dichtung. Hat die Poesie zu erziehen oder zu erfreuen, ethisch oder ästhetisch zu wirken? Nach volkstümlicher altgriechischer Anschauung waren die Dichter die Erzieher ihrer Mitbürger. So heißt es bei Aristophanes:

Denn zwar den Kindern, den kleinen ist Lehrer, wer ihnen das Richtige zeigt; den Erwachsenen sind es die Dichter.

Dem gegenüber ist früh der Gedanke vertreten worden, daß die Poesie nicht uns zu bessern, sondern auf unser Gemüt zu wirken habe; unübersetzbar schön hat das Eratosthenes ausgedrückt: Nicht belehren will der Dichter, sondern ergreifen . Bis zur Zeit des Horaz waren die beiden Richtungen miteinander ausgesöhnt, wie sich wieder aus seiner Ars poetica ergibt:

Nutzen wollen die Dichter und wollen auch freilich ergetzen, wollen das Schöne verkünden und das, was Lebenden heilsam. (R. A. Schröder).

Mit dieser Harmonisierung ist das Problem als solches freilich nicht aus der Welt geschafft. Daß es noch offen ist, zeigt der Zürcher Literaturstreit unserer Tage, bei dem es doch eben um das Ziel, das Telos schriftstellerischen

Tuns geht. Im Grunde nimmt man in beiden Lagern die von Horaz bezogene Stellung ein: daß echte, ans Herz rührende Dichtung letztlich nicht im Widerspruch stehen könne zu dem was sittlich ist, daß das Schöne mit dem Guten zusammenfalle. Was allerdings schön und was gut sei, darüber gehen die Meinungen im heutigen Streitgespräch weit auseinander.

Die Geschichte verrät ihren griechischen Ursprung noch heute in den Benennungen histoire, storia, history. Im Deutschen ist ,Geschichte', verstanden als Geschehen innerhalb einer Nation oder der Menschheit wie als Geschichtswissenschaft, erst seit dem 17. Jahrhundert belegt. Immerhin: das Wort ist deutsch. Aber einige wesentliche Züge der modernen Geschichtsforschung und Geschichtsschreibung sind durchaus griechisch: Wenn wir von ,Allgemeiner Geschichte' oder mit Schiller von ,Universalgeschichte' sprechen, gehen Begriff und Sache auf Polybios zurück, und offensichtlich meinte dieser damit das, was wir heute auch Weltgeschichte nennen. Roms Aufstieg zur Herrschaft über die Oikumene hat ihn die allgemeine Verflechtung der Ereignisse, die Unzulänglichkeit einer bloßen ,Teilgeschichte' erkennen lassen.

Noch heute klagt man darüber, daß im Geschichtsunterricht vorwiegend die Kriegsgeschichte und die politische Geschichte behandelt würden, daß daneben die Kulturgeschichte zu kurz komme. Nun, da hat eben Thukydides allen Historikern nach ihm das harte Gesetz des literarischen Gattungszwangs auferlegt. Denn er ist es, der die Geschichte fast ausschließlich in den Entscheidungen auf dem politischen und auf dem Schlachtfeld hat sehen lehren.

Vieles andere wäre hier noch zu betrachten, das die moderne Geschichtswissenschaft den Griechen — besser gesagt, dem größten ihrer Geschichtsschreiber — verdankt. Doch ich muß mich damit begnügen, es mit einigen

Stichworten anzudeuten: Urkundlichkeit, kausale Verknüpfung, eigentliche Gründe und äußere Anlässe, Unveränderlichkeit der menschlichen Natur, Freiheit und Zwang als Grundformen staatlichen Lebens, Wille zur Macht, Fluch der Macht, Recht und Macht als Gegenkräfte im historischen Geschehen. Wo immer der heutige Historiker mit diesen Begriffen und Einsichten, nach diesen Gesichtspunkten und Methoden arbeitet, verwendet er das Werkzeug, das der Athener Thukydides geschmiedet hat.

Auf eine andere Art als Thukydides lebt Polybios fort. Er hat uns die wichtigsten Nachrichten über die griechischen Staatengebilde erhalten, die sich Roms Übergriff nach Hellas widersetzten, ihm allerdings schließlich erlagen. Es waren die Bünde der Ätoler und der Achäer. In diesen Bünden wurde versucht, den berüchtigten griechischen Partikularismus zu überwinden, d.h. die einzelnen Gemeinwesen eines größern Landgebietes zusammenzufassen, und zwar so, daß darin nicht einfach wieder die mächtigste Polis die Hegemonie über die Verbündeten ausübte, wie das in älterer Zeit Athen und Sparta gehalten hatten. Das besonders Eigentümliche dieser Neubildungen war aber, daß sie nicht bloß lockere Staatenbünde, sondern Bundesstaaten waren — oder doch sein wollten. Der Ätolerbund war etwas wie eine Landsgemeindedemokratie. Der etwas jüngere Achäische Bund hatte eine oligarchische Spitze; die Bundesorganisation war aber im wesentlichen gleich wie bei den Ätolern. Diese griechischen Bünde ziehen natürlich in besonderem Maße die Aufmerksamkeit von uns Schweizern auf sich. Die Analogie von Polis und Ort, von griechischem Partikularismus und unserm Kantönligeist bringt es, nebenbei bemerkt, mit sich, daß der Schweizer im allgemeinen über die politische Zersplitterung der Griechen milder urteilt, als es die Bürger der uns umgebenden großen Nationalstaaten zu tun pflegen.

Selbstverständlich steht die Geschichte der Eidgenossenschaft vom 13. bis zum 19. Jahrhundert in keinem Zusammenhang mit dem Ätolischen und dem Achäischen Bund. Wohl aber haben diese griechischen politischen Gebilde, hat Polybios mittelbar auf die Schaffung der Schweizerischen Eidgenossenschaft von 1848 eingewirkt. Im Jahre 1776 hatten sich die dreizehn englischen Kolonien in Amerika unabhängig erklärt, ein Jahr darauf in den Konföderationsartikeln sich zu einem Staatenbund zusammengeschlossen. Sie bemühten sich, eine unabhängige Zentralgewalt zu errichten, die aber doch die Freiheit der Gliedstaaten respektieren sollte. Die maßgebenden Staatsmänner studierten alle Föderativorganisationen der Geschichte. In den Jahren 1787 und 1788 empfahlen Alexander Hamilton und James Madison, der spätere Präsident, in ,The Federalist', als Vorbild das griechische Bundessystem, namentlich der Achäer — daher wohl die noch heute so erstaunliche Machtfülle des Präsidenten der Vereinigten Staaten. In ihrem Bemühen, dem Volke des Staates New York klarzumachen, worum es ging, verglichen sie etwa den ursprünglichen, unbefriedigenden amerikanischen Staatenbund mit einer frühgriechischen Amphiktyonie; als Beispiel des Bundesstaates, wie er anzustreben sei, stellten sie ihr eben den Achäischen Bund gegenüber.

Ein Menschenalter nach ihnen hat in der Schweiz der frühere helvetische Innenminister Albrecht Rengger, der sich nach dem Versagen der Helvetik zum maßvollen Föderalisten gewandelt hatte, in einer Schrift von 1814 ,Über den Schweizerischen Bundesverein' wieder auf Polybios und den Achäerbund hingewiesen: «Wir verlangen keinen stärkern Bundesverein, als der aus den Niederländern, aus den Amerikanern und selbst, obgleich unter andern Formen, aus den Griechen eine Nation gemacht hat.» Oder, wohl im Blick auf die griechischen

Bünde: «Jedes Glied des Bundes muß sich eines Teils seiner Souveränetätsrechte begeben, um die übrigen desto sichrer ausüben zu können.» Daß auf unsere Bundesverfassung von 1848 die amerikanische eingewirkt hat, ist bekannt. Wenn man das ausspricht, denkt man zunächst meist an das den Vereinigten Staaten abgesehene Zweikammersystem. Dieses ist freilich etwas Modernes. Aber darob sollte man nicht vergessen: hinter der nordamerikanischen Verfassung wie hinter der schweizerischen steht Polybios und mit ihm der Achäerbund, der im 3. Jahrhundert v. Chr. versucht hatte, was die Eidgenossenschaft erst 1848 zustandebrachte: den Schritt vom Staatenbund zum Bundesstaat zu tun. Auch unsere Bundesverfassung enthält griechisches Erbe.

Wenn das theoretische Denken Madisons und Renggers durch reale griechische Staatswesen angeregt worden ist, sind umgekehrt im letzten halben Jahrhundert von Postulaten der platonischen Staatstheorie zwei zu einem guten Teil verwirklicht worden; Postulate, die zu Lebzeiten des Philosophen außerhalb der Akademie schwerlich jemand ernstgenommen hat: der Kommunismus und die Gleichberechtigung der Frau. Allerdings sind in beiden Fällen Platons kühne Entwürfe sehr verschieden von dem, was wir heute in der Realität vor uns haben. Doch das ändert nichts daran, daß die modernen Theoretiker und Begründer des Kommunismus wie der Frauenemanzipation von platonischen und andern griechischen Gedanken angeregt worden sind. Karl Marx war humanistisch gebildet. Bis ins Alter las er mit Begeisterung die Äschyleischen Tragödien im Urtext. Schon sein lateinischer Maturitätsaufsatz ,An principatus Augusti merito inter feliciores rei publicae Romanae aetates numeretur' war sachlich und stilistisch als eine ,non contemnenda scriptura' bewertet worden. In seiner Dissertation befaßte er sich mit dem philosophischen

Materialismus Demokrits und Epikurs. Die von Epikur gepriesene unpolitische Lebensform hat Marx selbstverständlich nicht gelten lassen. Stand sie doch im schroffsten Gegensatz zu seiner Überzeugung vom Vorrang der Gesellschaft vor dem Individuum, vom Menschen als einem Gesellschaftswesen. Hier denkt Marx wie Aristoteles — wie übrigens auch Platon und die Stoiker. Und in der griechischen Polis fand Marx den Gedanken, den er diesen Philosophen zuschrieb, verwirklicht, daß die res publica der Lebensinhalt, die eigentlichste Privatangelegenheit der Bürger sein sollte. Nach ihm gab es in der griechischen Polis den Gegensatz nicht zwischen dem Einzelnen als citoyen, Staatsbürger, und als bourgeois, Angehörigem einer Gesellschaftsklasse. Im griechischen, d. h. im athenischen Politen seien Einzelmensch und Staatsbürger völlig eins gewesen, und eben in dieser Einheit habe die Freiheit bestanden. Sie durch eine Revolution der bestehenden Verhältnisse zurückzuführen, hielt Marx für denkbar. Die darauf zu errichtende klassenlose Gesellschaft werde wieder eine Polis sein, allerdings eine Kosmopolis.

Es liegt auf der Hand, daß Marx sich von der Wirklichkeit griechischen staatlichen Lebens eine allzu schematische Vorstellung gemacht hat. Denn sogar in der radikalen athenischen Demokratie gab es neben dem staatlichen durchaus auch den privaten Bereich, gab es übrigens auch ausgeprägte gesellschaftliche Unterschiede. Aber gleichwohl: Marxens materialistisches Weltbild stammt aus Epikur; die Forderung, daß das Individuum in der Gemeinschaft aufgehe, aus seiner Wunschvorstellung von altgriechischem politischen Leben und aus der platonisch-aristotelischen Auffassung des Menschen als eines (zoon politikón); die Idee des Kosmopolitentums aus der Stoa: tragende Fundamente des modernen Sozialismus und Kommunismus sind von griechischen Architekten gelegt.

August Bebels 1879 erstmals erschienenes Buch ,Die Frau und der Sozialismus' hat meines Wissens im deutschen Sprachgebiet eine Verbreitung gefunden wie keine andere Schrift über den Gegenstand. Der Leipziger Drechslermeister hatte, anders als Marx, keine höhere Bildung genossen, sondern in Wetzlar die Armen- und Bürgerschule besucht. Sein Bildungswille war allerdings ungeheuer. So zeigt denn das zweite Kapitel seines Buches, daß er sich aus Übersetzungen angeeignet hatte, was antike Mythen und Literaturwerke für sein Thema abwerfen konnten. Er beruft sich unter anderm auf Bachofens ,Mutterrecht' und geht so weit zu behaupten: «Die Geltung des Mutterrechts bedeutete Kommunismus, Gleichheit aller; das Aufkommen des Vaterrechts bedeutete Herrschaft des Privateigentums und zugleich bedeutete es Unterdrückung und Knechtung der Frau.» Und zur Stütze seiner Ansicht, daß der Kommunismus für die Frauen der günstigste Sozialzustand sei, führt er die Aristophanischen ,Ekklesiazusen' an: Wie der athenische Staat in ausweglose Not geraten ist, und wie deshalb die Männer in der Volksversammlung beschließen, seine Führung den Frauen anzuvertrauen, führen diese sofort den Kommunismus ein. Bebel übersieht selbstverständlich nicht, daß Aristophanes das bloß erfindet, um die utopische Gesellschaftsordnung der Philosophen lächerlich zu machen: Aber — so fährt Bebel fort — er «ahnte nicht, wie er im Scherz das Richtige traf». Die ,Orestie' betrachtet Bebel unter dem Gesichtspunkt des Kampfes zwischen Mutter- und Vaterrecht. Er schreibt dazu in einer spätem Auflage seines Buches: «Als im Winter 1899 auf 1900 in Berlin, Wien usw. eine neue Bearbeitung der Orestie des Äschylos durch Herrn v. Wilamowitz-Moellendorff auf der Bühne erschien, waren Publikum und Kritik unfähig, den tiefen Sinn dieser Tragödie zu erfassen, sie standen ihr fremd gegenüber.» Wieder sollen die Zusammenhänge

nicht übertrieben werden. Aber so viel bleibt doch bestehen: der Mann, der —jedenfalls in Deutschland —wie schwerlich ein zweiter die Emanzipation der Frau vorangetrieben hat, arbeitet zu einem nicht unbeträchtlichen Teil mit dem Material, das Bachofen aus der griechischen Literatur zusammengetragen hatte, um das Bild einer Gesellschaft zu zeichnen, in der die Frau eben jene Stellung innehatte, die ihr Bebel dann zurückgewinnen wollte. Beiläufig: wenn Marx in Athen den wahren Staatsbürger, wenn Bebel bei Aristophanes und Platon die gleichberechtigte Frau gefunden zu haben meinte, waren diese beiden Vorkämpfer einer neuen Ordnung noch durchaus erfüllt von jenem Klassizismus, der in Hellas absolute Menschheitsideale verwirklicht glaubte.

In der Medizin liegt viel Griechisches offen zutage. Ihre Fachsprache ist großenteils Griechisch oder latinisiertes Griechisch. Doch auch deutsche Begriffe der Anatomie, nicht bloß der wissenschaftlichen, sind einfach aus dem Griechischen übersetzt: so z.B. Schlüsselbein, Weisheitszahn, Blinddarm, Zwölffingerdarm. Die eben aufgeführten Beispiele zeigen, daß man selbstverständlich auch die jetzt noch gebräuchlichen griechischen und lateinischen Bezeichnungen verdeutschen könnte. Aber auch wenn man nun endlich im Begriffe steht, unsere Mediziner von der drückenden Last des Lateins zu befreien: daran, daß der Wortschatz ihrer Wissenschaft seinem Wesen nach griechisch ist, wird auch die fortschrittlichste Studienreform nichts ändern. Und vielleicht wird es auch in der bevorstehenden gigantischen Epoche des Technischen Humanismus unter den Medizinern einige sonderbare Käuze geben, die sogar noch wissen, daß der Arzt eine früh ins Deutsche übernommene griechische Berufsbezeichnung trägt. Manifestes Griechisch liegt vor, wenn der Mediziner sein ärztliches Handeln Praxis nennt; wenn er seine Patienten

in der Klinik behandelt, d.h. dort wo die Kunst am Krankenbett, der (klíne) ihren Ort hat; wenn er die Heilmittel in der Apotheke holen läßt. Die Benennung des Chirurgen ist neu übernommen, aber im gleichen Sinn hatten sie schon die Griechen gebraucht. Das Wort Chiropraktor dagegen hat es im Altertum nicht gegeben. In seinem zweiten Bestandteil steckt hoffentlich die hochpoetische Bedeutung von ,Wirker' (z. B. Zeus) und nicht die geläufige prosaische des ,Geldeintreibers'.

Wenn in der Medizin das Griechische gegenwärtiger ist als in den meisten andern Wissenschaften, dann deshalb, weil sie eben erst in den letzten Jahrhunderten entschieden über die Griechen hinausgekommen ist. Noch die 22bändige Galenausgabe Kühns, die 1821 bis 1833 erschien, war für Mediziner, nicht für Philologen bestimmt. Freilich, wie die Dinge heute stehen, begreift man, daß die angehenden Ärzte geneigt sind, auch die richtigen Erkenntnisse ihrer antiken Kollegen zu belächeln. Immerhin: daß die ethischen Grundgebote ihres ärztlichen Tuns griechisch sind, das ist allen Ärzten und nicht bloß ihnen wohlbekannt. Zwar trägt der ,Eid des Hippokrates' seinen Namen kaum zu Recht; aber das ändert nichts an der Tatsache, daß schon nach dieser Urkunde der in seinen Beruf eintretende Arzt eidlich zu versprechen hat: Das Wohl des Patienten zur Richtschnur seines ganzen ärztlichen Handelns zu nehmen. Alles zu tun, um das Leben zu erhalten, auch das erst werdende. Nie seine ärztliche Stellung in unsittlicher Weise zu mißbrauchen. Das ärztliche Geheimnis unbedingt zu wahren. — So viel Stichworte, so viel Grundgebote auch der heutigen ärztlichen Ethik. Hoffen wir, daß der Schweizer Arzt, auch wenn er nicht mehr lateinisch gebildet, doch noch griechisch gesinnt sein wird.

Aber nicht bloß die ärztliche Ethik, auch die ärztliche

Methode, d. h. die Ausübung des Berufs auf rationalen Grundlagen, ist griechischen Ursprungs. Die sogenannten Primitiven erklären die Krankheit bekanntlich mit der Einwirkung böser Dämonen; ihre Behandlung ist deshalb Sache des Priesters oder des Zauberers, des Medizinmannes, nicht des Mediziners. Es gab und gibt rätselhafte Heilungen; aber grundsätzlich gilt für die Medizin, wie sie an unsern Universitäten gelehrt und wie sie von unsern Ärzten ausgeübt wird, doch: daß die Krankheit eine Veränderung des Körpers ist, und daß sie deshalb durch Behandlung des Körpers geheilt werden muß. Eben dieser Leitgedanke ist griechisch; auch er geht unter dem Namen des Hippokrates: «Mit der sogenannten Heiligen Krankheit (der Epilepsie) verhält es sich folgendermaßen: sie scheint mir um nichts göttlicher und heiliger zu sein als die andern Krankheiten. Vielmehr haben alle andern Krankheiten ihre natürliche Ursache und so hat auch diese ihren natürlichen Ursprung und Anlaß.» Man kann die Tragweite einer solchen Erkenntnis für die Medizin kaum überschätzen.

Wichtig ist auch der Gedanke, der in der erwähnten Schrift gleich folgt; klar und scharf ist darin der Gegensatz wissenschaftlicher und unwissenschaftlicher Gesinnung ausgesprochen: «Magier... und Quacksalber... schieben ,das Göttliche' vor, um ihre Ratlosigkeit und Unfähigkeit zu helfen, zu verdecken — damit nicht an den Tag komme, daß sie nichts wissen.»

Der Begriff der Physis, den wir eben angetroffen haben, ist grundlegend für die ganze geistige Haltung der hippokratischen Medizin. Ein ,Hippokratiker' ist es denn auch, der gesagt hat: «Jedes Leiden hat seine Physis» (d. h. sein eigentümliches Werden und Wachsen), «und keines von ihnen entsteht ohne Physis» (d. h. ohne Mitwirkung der Natur im umfassenden Sinne, wie wir das Wort heute meist gebrauchen).

Dieser Begriff der Physis mag uns kurz das Gebiet der Naturwissenschaften betreten und uns die Frage nach der Herkunft der Vorstellung des Naturgesetzes stellen lassen. Sucht man, so gerät man zuerst auf Seneca, Plinius, Lukrez, bei denen Wendungen begegnen wie leges naturae, foedera naturai, jura naturae, constituta naturae. Es ist begreiflich, daß man in neuerer Zeit gerne bei dieser Feststellung stehenblieb und erklärte, die Römer als unerreichte Meister des Rechts hätten den Begriff des Gesetzes aus dem menschlichen Bereich eben auf den des Naturgeschehens übertragen. Vor etwa zehn Jahren hat nun aber Klaus Reich einleuchtend gezeigt, daß der Begriff halt doch griechisch ist und bereits in dem Traktat eines Peripatetikers des 2. Jahrhunderts v. Chr., des Kritolaos von Phaselis, begegnet: An mythische Vorstellungen von erdentsprossenen, ausgewachsenen Menschen glauben «heißt die Naturgesetze nómus physeos) verkennen, die doch unverrückbare Satzungen sind».

Daß die moderne Naturwissenschaft oft an Erkenntnisse der griechischen Naturphilosophie anknüpft, hat unter andern Werner Heisenberg ausgesprochen. Nach ihm sind es vor allem zwei Gedanken der frühen griechischen Philosophen, die noch heute den Weg der exakten Naturwissenschaft bestimmen: Einmal die Überzeugung vom Aufbau der Materie aus kleinsten unteilbaren Einheiten, den Atomen, und zum zweiten der Glaube an die «sinngebende Kraft mathematischer Strukturen». Diese Einsichten oder Arbeitshypothesen haben ihren Höhepunkt in der eigenartigen Atomtheorie des Platonischen ,Timaios' gefunden, in dem gelehrt wird, daß die winzigsten Bausteine der Welt nach mathematischen Gesetzen gebildet sind und nur in den vier Typen Pyramide, Würfel, Oktaeder und Ikosaeder vorkommen. Die Verwandtschaft der griechischen Atomtheorie mit der modernen besteht also

nicht bloß in der gemeinsamen Annahme kleinster Körperchen, sondern in der gemeinsamen Vorstellung eines letzten Elements von — sagen wir —abstrakt-mathematischem Wesen. Und es ist nicht übertrieben zu behaupten, daß die moderne Atomforschung von der platonischen Spekulation wichtige Impulse empfangen hat. Hören wir Heisenberg selbst, dessen Vater übrigens Griechischlehrer und später Professor der Byzantinistik in München war: «Wir benützten damals (am Gymnasium) ein.., recht gutes Physikbuch, in dem... auf den letzten Seiten auch einiges über die Atome zu lesen (war), und ich erinnere mich deutlich an ein Bild, auf dem eine größere Anzahl von Atomen zu sehen war. Das Bild sollte offenbar den Zustand eines Gases im Kleinen wiedergeben. Einige Atome hingen jeweils in Gruppen zusammen, und zwar waren sie durch Haken und Ösen, die wahrscheinlich die chemische Bindung darstellen sollten, miteinander verknüpft. Außerdem war im Text zu lesen, daß die Atome nach der Ansicht der griechischen Philosophen die kleinsten unteilbaren Bausteine der Materie seien. Dieses Bild hat mich immer zu heftigem Widerspruch gereizt, und ich war empört darüber, daß so etwas Dummes in einem Physiklehrbuch stehen konnte. Denn ich dachte: Wenn die Atome so grob anschauliche Gebilde sind, . . . wenn sie... sogar Haken und Ösen besitzen, dann können sie unmöglich die kleinsten, unteilbaren Bausteine der Materie sein.»

Im Sommer 1919, in der Zeit des bayerischen Bürgerkriegs, stellte sich der damals 17jährige Gymnasiast Heisenberg als Hilfskraft zur Verfügung. Der Dienst war weder kriegerisch noch anstrengend. So konnte sich Heisenberg jeweils kurz nach Sonnenaufgang auf das Dach des Priesterseminars, in dem er einquartiert war, begeben, um dort zu lesen. Einmal nahm er, trotz eher bescheidenen griechischen Kenntnissen, eben den ,Timaios' mit aufs Dach. Er schreibt darüber: (Zum erstenmal

erfuhr) «ich... wirklich etwas aus erster Quelle von der griechischen Atomphilosophie... Die These, die Plato im ,Timaios' vertritt, daß die Atome reguläre Körper seien, wollte mir zwar auch noch nicht recht einleuchten, aber es befriedigte mich immerhin, daß sie wenigstens keine Haken und Ösen hatten. Jedenfalls entstand schon damals in mir die Überzeugung, daß man kaum moderne Atomphysik treiben könne, ohne die griechische Naturphilosophie zu kennen, und ich dachte, der Zeichner jenes Atombildes hätte ruhig seinen Plato anständig studieren können, bevor er an die Herstellung seiner Bilder ging.»

Griechisches im Staatsrecht, in der Medizin, in Philologie und Historie, in den Naturwissenschaften haben wir berührt. Manches mußte beiseite gelassen werden: So z. B., daß die Prinzipienfrage, ob Bildung rein wissenschaftlich, oder ob sie nützlich sein solle, griechisch ist. So, daß wir den Griechen verdanken: die Einteilung und Benennung der Staatsformen, den Begriff des gesunden und des entarteten Staatswesens, die Vorstellung der Menschenrechte. Und vieles in der Anthropologie: Noch Julian Huxley befindet sich im Gefolge der Griechen, wenn er die ,Einzigartigkeit des Menschen' darlegt, wenn er sie zum Teil mit den gleichen Merkmalen begründet wie sie: mit der Sprache, dem aufrechten Gang, dem Lachen. Griechisches wirkt nach in der geläufigen Dreiteilung der Seelenkräfte: Gefühl, Verstand, Wille; in den Vorstellungen der Temperamente und der Charaktertypen; im Problem der geistigen oder körperlichen Natur der Seele. In der von uns bei allem Erdenklichen geübten Unterscheidung von Theorie und Praxis. Und die Griechen sind es, denen wir die Idee der Freiheit verdanken: Nichts Größeres gibt es für griechische Menschen als die Freiheit, heißt es auf einer hellenistischen Inschrift aus Priene.

Ich zögere, zumal in diesem kirchlichen Raume, auch noch das Gebiet der ehrwürdigen Theologischen Fakultät zu betreten. Es sei doch gewagt, aber so, daß ich an ein einziges Graecum erinnere, und zwar an eines, das ein berufener Kollege vor etwa zehn Jahren behandelt hat. Was berührt werden soll, ist allerdings etwas Zentrales, und eben deshalb hält es außer Theologen und Philologen wohl fast jedermann ohne weiteres für etwas durch und durch Christliches. Fragt man nämlich nach der christlichen Vorstellung vom Jenseits, so wird den Kern der Antwort so gut wie sicher die Unsterblichkeit der Seele bilden. Oscar Cullmann hat auf das Unrichtige dieser Ansicht hingewiesen. Worauf es ankommt, zeigt schon der Titel seiner so wichtigen Abhandlung: ,Unsterblichkeit der Seele und Auferstehung der Toten'. Ja, das Christentum, jedenfalls das Neue Testament, lehrt die Auferstehung der Toten, des Fleisches. Daß die Seele unsterblich sei, ist platonische Lehre, nicht christliche. Wie gründlich sich aber das Christentum dieses griechische Erbstück zu eigen gemacht hat, zeigt das teils schmerzliche, teils empörte Echo, das jener Aufsatz hervorgerufen hat. Ein im Grund zugleich erstaunliches Echo; beweist doch Paulus im 1. Korintherbrief 15 aus der Auferstehung Christi die Auferstehung der Gestorbenen: «Die Toten werden auferweckt werden unverweslich, und wir werden verwandelt werden. Denn dieses Verwesliche muß anziehen Unverweslichkeit und dieses Sterbliche (muß) anziehen Unsterblichkeit.» Das ist übrigens die eine der beiden Stellen, an denen im Neuen Testament das Wort ,Unsterblichkeit', (athanasia), überhaupt vorkommt. Aber nach dem Zusammenhang ist damit offensichtlich nicht die griechische Unsterblichkeit der Seele gemeint, sondern die Unsterblichkeit des wieder erweckten Leibes. Es gibt freilich Dogmatiker, die erklären, der Unterschied zwischen den beiden Vorstellungen sei gar nicht so wichtig.

Eindrücklicher als mit dieser Ausflucht könnte man wohl kaum zugeben, wie völlig hier ein fremder, griechischer Gedanke in christliches Besitztum eingegangen ist.

Doch wir müssen zum Schlusse kommen. Lohnt es sich, diese und andere verborgenen griechischen Erbstücke auszugraben? Läuft ein solches Bemühen nicht auf eine rückwärts gewandte, lebensfremde Haltung, auf einen unfruchtbaren Historismus hinaus? Ist es nicht besser, was wir nicht mehr als griechisch empfinden, vergessen sein, was tot ist, tot bleiben zu lassen?

Nun, es gibt viele Leute, die sogar so weit gehen, die griechische Sprache eine tote Sprache zu nennen. Die Antwort ist ihnen längst gegeben worden: das Griechische ist eine unsterbliche Sprache. Diese Feststellung gilt aber in einem viel weiteren, in umfassendem Sinn: Unser ganzes griechisches Erbe ist kein äußeres Gut, das wir, wenn es uns so beliebte, liegen lassen oder vernichten könnten. Es ist eine geistige Kraft, die —ob wir wollen oder nicht —, solang wir leben, in uns lebt und wirkt.

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Zu S. 29: KLAUS REICH, Der historische Ursprung des Naturgesetzbegriffs. Festschrift Ernst Kapp, S. 121-134. Hamburg 1958.

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Zu S. 32: OSCAR CULLMANN, Unsterblichkeit der Seele und Auferstehung der Toten. Theologische Zeitschrift, hg. von der Theolog. Fakultät der Universität Basel. 12, 1956, 126-156.