Zur Grundlegung der
Geisteswissenschaften und Philologie
Rektoratsrede von
Prof. Dr. Olof Gigon
Verlag Paul Haupt Bern 1966
Alle Rechte vorbehalten
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Printed in Switzerland
Druck: Paul Haupt Bern
Die Frage, wie sich die Geisteswissenschaften und die Naturwissenschaften
zu einander verhalten, ist eine alte Frage. Sie lässt sich durch
die Jahrhunderte bis in die Zeit des Sokrates und seiner Schüler zurückverfolgen.
Dass sie aber für unsere Zeit ein besonderes Gewicht besitzt,
ist nicht zu bestreiten. Dies ist auch nicht verwunderlich. Die Geisteswissenschaften
fühlen sich heute schwer bedrängt, und dies ebenso
sehr auf dem Felde der wissenschaftlichen Methode wie im Hinblick auf
den Sinn und Zweck ihres Tuns im Ganzen. Allzu groß ist die Faszination,
die von der Exaktheit der quantitierenden und experimentierenden
Methode der Naturwissenschaften ausgeht, allzu drückend aber auch
das Bewusstsein, der offensichtlichen und jederzeit nachweisbaren
Brauchbarkeit der aus den Naturwissenschaften erwachsenen Technik
nichts Ebenbürtiges gegenüberstellen zu können. Die Geisteswissenschaften
scheinen sich also heute entschieden in der Defensive zu befinden.
Sie tun in dieser Lage, was sie können. Sie bemühen sich, ihren
Wert für das Gedeihen unserer Wohlstandsgesellschaft ins rechte Licht
zu rücken, und versuchen, entweder die Forschungsmethoden und
Fragestellungen der Naturwissenschaften zu übernehmen oder umgekehrt
(und zuweilen nicht ohne das Pathos des Verfolgten) zu betonen,
daß ihre Methode und Zielsetzung grundsätzlich von derjenigen der
Naturwissenschaften verschieden sei.
Doch auch in den Naturwissenschaften scheint ein gewisses Unbehagen
zu herrschen. Das aus der naturwissenschaftlichen Forschung die
Technik hervorgegangen ist, bereitet augenscheinlich manchen Naturforschern
keine besondere Freude. Man wird es beachten, wenn sie
sich nachdrücklich dagegen verwahren, für all das verantwortlich gemacht
zu werden, was die Techniker mit ihren Forschungsergebnissen
anfangen. Dem Außenstehenden scheint es, daß die Naturwissenschaften
heute vielfach danach streben, ihre Verbindung mit der Technik
nicht allzu eng werden zu lassen. Denn die Technik bezweckt nun einmal
nicht die Erforschung, sondern die Beherrschung der Natur, ist also
zu einem bedeutenden Teil eine Äußerung jenes Willens zur Macht, der
in früheren Jahrhunderten im politischen Bereiche heimisch war und
sich nun auf den Bereich des Umgangs mit der Natur verlagert hat. Und
jeder Wille zur Macht hat etwas Unberechenbares und Bedenkliches an
sich.
Überdies weist (wenn ich richtig informiert bin) gerade die modernste
Physik gerne darauf hin, dass an den äussersten Grenzen der makroskopischen
wie der mikroskopischen Betrachtung der Natur Phänomene
sichtbar werden, die einen sozusagen geschichtlichen Charakter besitzen,
also den Gegensatz zwischen Natur- und Geisteswissenschaften zu
verringern geeignet sind. So ist der kosmische Prozeß, durch den unser
Sonnensystem entstanden ist und sich weiter entwickelt, unumkehrbar
und kann eben in dieser seiner Irreversibilität mit einem geschichtlichen
Vorgange verglichen werden. Die mikroskopische Forschung wiederum
stößt nicht nur auf Situationen, in denen zwischen Beobachter
und Beobachtetem die strengste Korrelativität zu herrschen scheint,
sondern auch auf Elementarteilchen, deren Bewegungen jeder Gesetzmäßigkeit
ermangeln, so dass man versucht sein könnte, bei ihnen von
Freiheit und damit von Geschichtlichkeit zu sprechen.
Nehmen wir endlich dazu, das auf der andern Seite einige geisteswissenschaftliche
Disziplinen wie die Soziologie und Psychologie nicht
ohne Erfolg bestimmte naturwissenschaftliche Methoden des Quantitierens
und Experimentierens übernommen haben, so könnte es in der Tat
so aussehen, als stünden heute Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften
im Begriffe, einander näher und näher zu kommen.
Es hat indessen keinen Sinn, sich Illusionen zu machen. Gewiß ist es
die eine Welt, die wir alle im Auge haben, und gewiß ist es die eine
Wahrheit, nach der wir forschen. Vergegenwärtigen wir uns aber die
Arbeitsweise der verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen, so
lässt sich schlechterdings nicht übersehen, dan der gegenseitigen Annäherung
von Geisteswissenschaften und Naturwissenschaften von
den Sachen selbst her bestimmte unüberwindbare Grenzen gesetzt
sind; und ich denke, das die Zusammenarbeit zwischen diesen beiden
Gruppen von Wissenschaften dann doch wohl am fruchtbarsten werden
dürfte, wenn jede sich über ihren besonderen Aufgabenkreis und über
die diesem Aufgabenkreis adaequate Methode so klar als möglich zu
werden sucht.
Es sei gestattet, von einigen einfachen Feststellungen auszugehen.
Schon die Anthropologie des 5. Jahrhunderts v. Chr. hat hervorgehoben,
dass der Besitz der Sprache zu den auszeichnendsten Eigenschaften
des Menschen gehört. Aufgabe der Sprache ist die Verständigung.
Diese kommt nur dort zustande, wo es gleichbleibende Tatbestände
und Wertungen gibt, über die sich der Sprechende und der Hörende in
gleichbleibenden Worten zu verständigen vermögen. Dies gilt natürlich
erst recht, wenn wir zur Sprache die Schrift hinzunehmen, die eine Verständigung
zwischen dem Schreibenden und dem Lesenden über die
weitesten Distanzen von Raum und Zeit hinweg herzustellen beansprucht.
Insofern kann man wohl sagen, dass die Sprache als Mittel der Verständigung
über konstante, also gemeinsam verstehbare und schließlich für
jedermann verstehbare Tatbestände von vorneherein auf das naturwissenschaftliche
Denken hin angelegt sei. Denn dieses Denken zielt
vorzugsweise auf das Allgemeine: in der Antike auf das Allgemeine der
Wesenheiten, in der Moderne auf das Allgemeine der sich wiederholenden
Prozesse. Wie bekannt, ist seit einigen hundert Jahren zur Beobachtung
und Interpretation der sich wiederholenden Prozesse das Experiment
hinzugetreten, also das künstliche In-Gang-Setzen wiederholbarer
Prozesse. Dadurch werden die wissenschaftlichen Aussagen mit
einer Zuverlässigkeit kontrollierbar, die alle früheren Methoden der
Nachbeobachtung, der Vergleichung und des Nachrechnens weit hinter
sich lässt. Es ist begreiflich, dass dieser Typus der Wissenschaft, also die
Wissenschaft vom Konstanten, Allgemeinen, sich Wiederholenden und
experimentell Kontrollierbaren in der Regel als Idealtypus einer Wissenschaft
oder gar als Wissenschaft schlechthin gilt.
Indessen ist die sprachliche Verständigung über Allgemeines nur die
eine Seite der besonderen menschlichen Natur. Es gibt die andere Seite,
diejenige der Freiheit der Entscheidung, des verantwortlichen Handelns
und von da her die doppelte Möglichkeit des Aufsteigens in die
Leistung oder des Absinkens in die Schuld. Dieser Bereich steht dem
soeben skizzierten polar gegenüber. Denn das Handeln ist gerade darum
verantwortlich, weil es nicht einfach auf ein Allgemeines rekurrieren
kann. Von den vier Begriffen Schuld und Strafe hier, Leistung und Ruhm
dort zu sprechen, hat überhaupt einen Sinn nur auf dem Hintergrund
persönlicher Verantwortung. Hier begegnet also nicht Allgemeines, sondern
je Einmaliges. Und aus solchem verantwortlichem Handeln entsteht
die Geschichte, dann jedenfalls, wenn das Handeln nicht nur die
zu allen Zeiten gleichmäßig wünschbare Erhaltung des physischen Lebens
bezweckt, sondern darüber hinaus dasjenige durchsetzen möchte,
was man behelfsmäßig eine Idee nennen mag. Denn die Menschheit
kennt auch geschichtslose Zeiten. Die geschichtlichen Zeiten aber zu
verstehen, ist die Aufgabe der Geisteswissenschaften.
Eine Randbemerkung darf hier beigefügt werden.
Wenn der Blick der Naturwissenschaft auf das Allgemeine, Gleichbleibende
oder sich Wiederholende an den Erscheinungen gerichtet ist, so
entspricht dies völlig dem antiken Begriff der Wissenschaft. Das es Wissenschaft
nur vom Allgemeinen geben könne, nicht vom Einzelnen, ist
eine These, in der Platon und Aristoteles übereinstimmen, so verschieden
sie im übrigen dieses Allgemeine aufgefaßt haben. Dem entspricht
weiterhin, das die Antike zwar eine Reihe großer Historiker hervorgebracht,
aber eine Geschichtswissenschaft nicht gekannt hat; denn der
Gegenstand einer solchen Wissenschaft wäre gerade nicht das Allgemeine,
sondern das Einzelne. Natürlich hat das antike Denken es trotzdem
sehr viel mit dem geschichtlichen Menschen zu tun. Der Gegenstand
der Ethik und der Staatslehre ist kein anderer als der geschichtliche
Mensch. Doch Aristoteles vor allem lässt keinen Zweifel darüber,
das diese Disziplinen nur in einem eingeschränkten oder uneigentlichen
Sinne als Wissenschaften bezeichnet werden können. Nach antiken Anschauungen
kann es eine Wissenschaft vom Einzelnen per definitionem
nicht geben.
Es kommt dazu, das die Antike den Gesamtbereich des wandelbaren
menschlichen Handelns der Vergänglichkeit, den Bereich des Allgemeinen
und sich Wiederholenden dagegen dem Göttlichen zugeordnet hat.
So sind für Platon die ewig sich gleichbleibenden Urgestalten (schulmässig
Ideen genannt), für Aristoteles die ewig gleichmäßige Kreisbewegung
der Gestirne und hinter ihnen der unbewegte Beweger der vornehmste
und angemessenste Gegenstand aller Wissenschaft.
In unserer Zeit hat sich diese Zuordnung vollständig umgekehrt. Aus der
Tatsache, dass es Gleichbleibendes und sich Wiederholendes gibt, hat
sich die Möglichkeit der Technik ergeben. Scharf formuliert ist für uns
das Konstante an den Erscheinungen nicht mehr das Göttliche in ihnen,
sondern umgekehrt der Ansatzpunkt, von dem aus wir die Erscheinungen
beherrschen können. Es ist nur folgerichtig, dan wir dem gegenüber
das Göttliche, soweit wir es suchen, im Bereich der Freiheit, die
sich nicht beherrschen lässt, und im Bereich der Geschichte vorzufinden
hoffen.
Doch nun drängt sich die Frage auf, ob und wie weit es, entgegen der
Meinung der Antike, vielleicht doch eine Wissenschaft vom Einzelnen
geben könne. An der Beantwortung dieser Frage hängt es, ob die Geisteswissenschaften,
die es alle mit dem Einzelnen zu tun haben, mit
Recht den Anspruch auf Wissenschaftlichkeit erheben oder nicht.
Zweifellos können wir niemandem das Recht streitig machen, Wissenschaft
nur dort anzuerkennen, wo quantitierend und experimentell vorgegangen
wird. Es ist aber grundsätzlich auch ein anderer Begriff der
Wissenschaft möglich. Aussagen können richtig sein, auch ohne einen
Anspruch auf mathematische Exaktheit zu erheben. Sie können beweisbar
sein, ohne dass der Beweis jenen zwingenden Charakter besitzt, der
etwa in der von Karl Jaspers vorgetragenen Definition der Wissenschaft
eine so grosse Rolle spielt. Schließlich können die Beweise auch nachprüfbar
sein, ohne das die Kontrolle die Form eines wiederholenden
Experimentes annehmen müsste. Was dies konkret bedeutet, sei am
Falle der altertumswissenschaftlichen Methode dargelegt.
Doch ehe ich dazu übergehe, müssen die allgemeinen Erwägungen
noch etwas vervollständigt werden.
Wenn vom Einmaligen und Einzelnen als dem Gegenstand der Geschichte
die Rede ist, so ist darunter nicht das Einmalige im strengsten
Sinne des Wortes zu verstehen. Denn über das unvergleichbar Einmalige
ist gar keine sprachliche Aussage möglich. Das Einmalige am
menschlichen Handeln bewegt sich jedoch innerhalb eines bestimmten,
umgrenzten Spielraumes. Konkreter gesagt: Die Einmaligkeit menschlichen
Entscheidens steht gewissermassen in der Mitte zwischen der völligen
Identität wesenhaft gleichartiger und der völligen Verschiedenheit
wesenhaft unvergleichbarer Vorgänge. Dies bedeutet noch etwas
konkreter: Das Handeln des andern Menschen ist weder so beschaffen,
dass ich es in meinem Handeln geradezu nachahmen könnte, noch so,
dass es mich überhaupt nichts anginge. Es steht zu meinem Handeln in
der Kategorie der Ähnlichkeit. Qualifizierte Ähnlichkeit ist Vorbildlichkeit.
Und wo die Vorbildlichkeit nicht nur von einem Handeln, sondern
von der Gesamtheit eines handelnden Menschen ausgesagt wird, sprechen
wir von Autorität. Damit sind drei der wichtigsten Kategorien des
geschichtlichen Seins genannt.
Auf der so verstandenen Ähnlichkeit beruht es, das ein im Prinzip adaequates
Interpretieren geschichtlichen Handelns möglich ist.
Dieses Interpretieren vollzieht sich nicht so, dass ein solches Handeln
unter ein Allgemeines, das viele gleiche Fälle umfaßte, subsumiert
würde. Vielmehr wird es auf ein Umgrenzen hinauslaufen. Die Sprache
liefert immer nur Allgemeinbegriffe. Doch diese lassen sich auf die annähernde
Bezeichnung eines Einzelnen hin koordinieren, vergleichsweise
so, wie eine Vielzahl von geraden Linien den Ort eines Kreises
einzugrenzen vermag, auch wenn sie sich niemals ganz zum Kreise runden
wird. Man kann darum sehr wohl sagen, da8 jeder Aussage über
geschichtliches Handeln ein Charakter der Indirektheit anhaftet. Dieses
Handeln lässt sich niemals so bestimmen wie ein gleichmässig sich wiederholender
physischer Ablauf. Doch umgrenzen lässt es sich mit hinlänglicher
Genauigkeit.
indessen ist in unserer Beschreibung des geschichtlichen Handelns ein
entscheidendes Moment noch gar nicht zur Sprache gekommen. Es ist
das Moment der Zeit. Geschichte hat es grundsätzlich mit dem Handeln
des Menschen in der Vergangenheit, einer nahen oder fernen Vergangenheit,
zu tun. Wozu tut sie dies? Was geht uns, die wir heute leben,
die Vergangenheit eigentlich an?
In der Frage nach der Relevanz der Vergangenheit für die Gegenwart
unterscheiden sich noch einmal die Geisteswissenschaften von den Naturwissenschaften.
Abgesehen von einigen Sonderfällen, die hier beiseite
bleiben dürfen, ist der Gegenstand der Naturforschung grundsätzlich
das Gegenwärtige. Nur dieses lael sich mit Hilfe des naturwissenschaftlichen
Instrumentars beobachten und experimentell verifizieren.
Beobachtungen und Hypothesen vergangener Jahrhunderte sind nur so
weit interessant, als sie durch heutige Beobachtungen bestätigt werden
können.
In den Wissenschaften vom handelnden Menschen ist das Verhältnis
zur Vergangenheit von Grund auf ein anderes.
Unter einem ersten Gesichtspunkt darf man darauf hinweisen, dass unser
gegenwärtiges Wissen von den Leistungen der Vergangenheit wesenhaft
korrelat ist mit dem Bemühen der Menschen eben jener Vergangenheit,
mit ihren Leistungen in der Erinnerung späterer Jahrhunderte
weiterzuleben; die Werke der Historiker dienen so oder anders
diesem Bemühen. Man könnte also die These aufstellen, der Wunsch
des Menschen, nicht vergessen zu werden, wie das Interesse, das der
Mensch vergangenen Ereignissen entgegenbringt, seien nur zwei Seiten
einer und derselben Eigentümlichkeit der menschlichen Natur, die
als solche nicht weiter ableitbar sei.
Unter einem anderen Gesichtspunkt mag man von einem Satz des Aristoteles
ausgehen, wonach der Mensch die Gesamtheit seiner ethischen
Qualitäten zunächst nur als Anlage besitzt. Verwirklicht und sichtbar
werden diese Qualitäten erst durch das Handeln, also im Raume der
Geschichte. Die Gesamtbreite der Anlagen des Menschen ist zweifellos
begrenzt; doch innerhalb dieser Breite scheinen zahllose Varianten
der Verwirklichung möglich zu sein. Die Geschichte treibt immer neue
Verwirklichungen hervor, und zwar so, dass wir nur durch die Geschichte
überhaupt erfahren, wozu wir als Menschen unseren Anlagen nach fähig
sind, im Guten wie im Bösen. Etwas überspitzt gesagt (und wiederum
in Abwandlung einer eigenartigen aristotelischen These) heisst dies,
dass wir uns im Sinne des delphischen «Erkenne dich selbst» nur auf
dem Umweg über die Geschichte kennen zu lernen vermögen. Davon
abgesehen vollzieht sich jedes menschliche Handeln im Spielraume
der jeweils gegebenen Tradition, in der Orientierung an Vorbildern und
Autoritäten. Ein Handeln, das ohne derartige Voraussetzungen lediglich
von einer abstrakten Richtigkeit ausginge, gibt es gar nicht. Doch
dies haben wir hier nicht näher darzulegen. Denn worauf es in unserm
Zusammenhang ankommt, ist weniger die Frage nach der geschichtlichen
Vergangenheit im allgemeinen als vielmehr die besondere Frage
nach der Antike, Ich habe schon vorhin auf antike Texte hingewiesen,
und von einem bestimmten Problem der antiken Geistesgeschichte soll
nachher ausdrücklich die Rede sein. Doch was geht uns die Antike
heute noch an?
Soweit darauf theoretisch geantwortet werden kann, muss die Antwort
darin bestehen, dass die Griechen und Römer eben unsere Vergangenheit
darstellen. Eine wesentliche weitere Komponente bildet nur noch
die Welt des Alten und Neuen Testamentes, wogegen der Beitrag unserer
germanischen und keltischen Vorfahren zum mindesten überaus
schwer zu fassen ist. Von den Griechen und Römern stammt die Form
unseres Denkens, aber auch zu einem großen Teil die Skala unseres
Empfindens. Zum ersten genügt es hier, an Schlüsselbegriffe wie «Natur»
und «Staat» zu erinnern, die durch die Griechen geschaffen worden
sind, und zum zweiten dürfen Namen wie Homer und Herodot, Catull
und Tacitus genannt werden. In der Dimension der Zeit sind wir
dort in demselben Sinne zuhause, wie wir in der Dimension des Raumes
an einem bestimmten Orte zuhause sind, mögen auch andere Orte
anziehender und interessanter sein. Jedenfalls kann das Gerede der
Paradoxologen von der «Unbehaustheit» des Menschen die Tatsache
nicht hinwegschaffen, dass zum Wesen des Menschen ein qualifiziertes
Zuhausesein in Raum und Zeit notwendig gehört.
Es kommt dazu, da8 die Welt der Griechen (und Römer) eine einmalig
privilegierte Verwirklichung der menschlichen Möglichkeiten darstellt.
Das Privilegium selbst mag man summarisch damit umschreiben, dass
vor allem die Griechen unter allen bekannten Völkern in ihren geschichtlichen
Leistungen die grösste Spannweite erreicht und zugleich eine
eigentümliche Vorbildlichkeit entwickelt haben. Man kann es auch so
sagen, da8 kein anderes Volk eine so große assimilierende Kraft besessen
hat wie eben die Griechen. Sie haben dem römischen Geiste Gestalt
gegeben, und die Römer haben wiederum auf die Kelten und Germanen
gewirkt; aus der griechischen ist die europäische Denkform geworden
und wirkt auf die ganze Erde weiter. Ich weiß wohl, dass diese
Anschauung heute vielfach heftig bestritten wird. Das sie widerlegt worden
wäre, ist mir nicht bekannt.
Natürlich ist die geschichtliche Welt in der Mitte des 20. Jahrhunderts
nicht dieselbe wie diejenige des Perikles, Platon oder Cicero. Die fast
vollständige Technisierung unseres äußeren Daseins und die ebenfalls
fast vollständige Säkularisierung unseres Denkens sind eindrucksvolle
Phänomene, deren Einfluß kein Verständiger unterschätzen wird. Dennoch
bleiben die entscheidenden Gegebenheiten, aus denen das geschichtliche
Handeln erwächst, prinzipiell ähnlich und vergleichbar, —
und wer vergleicht, wird auch nicht zögern können, sich einzugestehen,
das etwa im Felde der Ethik oder der politischen Wissenschaften Platon
und Aristoteles in mehr als einem Punkte klarer gesehen haben, als es
uns heute möglich zu sein scheint. Vollends zu behaupten, dass wir angesichts
der heutigen Entwicklung von der gesamten bisherigen Geschichte
Abschied zu nehmen hätten und das unser Zeitalter als Eintritt
in eine völlig neue Welt verstanden werden müsse, dies vermag nur der,
der von der bisherigen Geschichte nichts weiß und von der eigenen
Gegenwart Distanz zu nehmen nicht fähig ist. Gebildete Epochen haben
gewußt, daß nur ein Barbar sich einbilden kann, die ganze Weltgeschichte
drehe sich um ihn und seine Zeit.
Doch nun zurück zu jener nüchternen Frage nach der Wissenschaftlichkeit
der Geisteswissenschaften, die wir oben unbeantwortet ließen.
Am Falle der altertumswissenschaftlichen Methode, so sagten wir, solle
gezeigt werden, wie es damit stehe. Dies sei nun unternommen.
Ich skizziere in grossen Zügen einen Arbeitsgang im Bereich der klassischen
Altertumswissenschaft.
Gegeben ist zunächst ein Text, etwa von Platon oder von Vergil. Gegebensein
bedeutet in diesem Falle, das er in einer Anzahl von Handschriften
des Mittelalters, im günstigsten Falle der ausgehenden Antike,
vorliegt. Diese Handschriften sind abgeschrieben aus älteren Handschriften
und diese aus Papyrusrollen, die letzten Endes auf das Manuskript
des Verfassers selbst zurückgehen. Die ältesten uns erhaltenen
Handschriften sind von den Verfassern durch Zeiträume getrennt,
die zwischen 200 und 1500 Jahren schwanken können. Dies impliziert,
das für Verunstaltungen des ursprünglichen Textes ein erheblicher
Spielraum angesetzt werden muss. Die Aufgabe ist also zunächst, durch
Vergleich die relativ zuverlässigste Handschrift zu ermitteln, und sodann,
diese daraufhin zu prüfen, wie weit ihr Text als der ursprüngliche
Text des Verfassers gelten darf. Die möglichen Fehlerquellen sind zahlreich,
aber grundsätzlich überschaubar. Die Schreiber von Handschriften
haben genau so viele Fehler gemacht wie unsere heutigen Drucker
und nicht selten sogar Fehler genau desselben Typus. Dazu können absichtliche
Eingriffe kommen. Ein Text, der zum Schultext wird, wird
sprachlich geglättet und vereinfacht; schwierige Stellen werden ausgelassen,
oder es werden erläuternde Begriffe und Sätze in den Text interpoliert.
Bei Dramatikern greifen die Regisseure ein, bei philosophischen
und politischen Texten wird zuweilen der Wortlaut verändert, also verfälscht,
damit der Text als Beweisstück für bestimmte Thesen, die der
Fälscher vertritt, dienen kann. Alle diese Eingriffe gilt es zu erkennen
und soweit als möglich rückgängig zu machen. Methodisch geht dabei
der Weg in der Regel über die Beobachtung des Sprachgebrauchs und
der Gedankenführung. Wo plötzlich Wörter und Wendungen auftreten,
die dem Gebrauch des Autors sonst fremd sind und deren Auftreten an
der fraglichen Stelle nicht ausreichend motivierbar ist, oder wo die Gedankenführung
durch unmotivierte Abschweifungen, Wiederholungen,
Gedankensprünge und Widersprüche gestört ist, da darf man annehmen,
dass nachträgliche Eingriffe in den Text des Autors vorgenommen
worden sind. Doch gilt es dann auch herauszufinden, welches im konkreten
Falle der Grund des Eingriffs gewesen ist. Nicht selten zeigt es
sich, daß ein gesamter Text planmässig unter einem bestimmten formalen
oder sachlichen Gesichtspunkt retouchiert worden ist.
Das Ergebnis dieses ersten Arbeitsganges wird ein Text sein, der zwar
nicht mit absoluter Sicherheit derjenige des Verfassers selbst ist, aber
ihm doch so nahe kommt, als es die Sachlage gestattet.
Eine derartige Textherstellung leistet natürlich auch schon einen guten
Teil dessen, was man die Interpretation nennen wird, also die möglichst
genaue Feststellung dessen, was der Text als solcher besagt. Dieses
Interpretieren vollzieht sich gewissermassen dialektisch. Von der Terminologie
und Denkform eines Textes im Ganzen her muss das Einzelne
erklärt werden, und der Wortlaut des einzelnen Satzes wiederum entscheidet
darüber, wie das Ganze zu verstehen sei.
Ist die Interpretation im engsten Sinne durchgeführt, wird der Philologe
zu den eigentlich geschichtlichen Fragen weiterschreiten können. Sie
gliedern sich in zwei Gruppen. Die erste betrifft die Voraussetzungen,
die zweite die Absichten des gegebenen Textes.
Nach den Voraussetzungen müssen und dürfen wir darum fragen, weil
kein geschriebenes Werk aus dem Nichts entstanden ist. Zweifellos besitzt
jede noch so geringe Leistung ihren individuellen Charakter. Doch
diese Individualität ist beim bedeutendsten wie beim unbedeutendsten
Werke verknüpft mit Traditionen, Vorbildern und Anregungen der verschiedensten
Art. Jede neue Literaturgattung rankt sich gewissermaßen
an einer schon bestehenden Gattung empor und gewinnt erst allmählich
ihre Selbständigkeit. Jeder Philosoph geht von der Fragestellung seiner
Vorgänger aus, jeder Dichter hat seine Vorläufer, von denen er lernt und
die er mit seiner Leistung zu überwinden trachtet. In anderer Richtung
arbeitet der Historiker, Ethnologe, Geograph oder Biologe mit bestimmtem
Material, mit Informationen, die er entweder persönlich gesammelt
oder aus zweiter Hand übernommen hat. Die philologische Aufgabe ist
dann die, festzustellen, woher das Material letzten Endes stammt, auf
welchen Wegen es zu unserm Autor gelangt ist und wie er selbst es verwertet.
Denn es kommt prinzipiell nicht nur darauf an, den Text zu begreifen,
wie er nun einmal geschrieben vorliegt, sondern auch zu erkennen, wie
er entstanden ist.
Noch gewichtiger ist allerdings die Frage nach den Absichten und von
ihr nicht abtrennbar die Frage nach der Wirkung des gegebenen Textes.
Jedes menschliche Werk, nicht nur das geschriebene, wird mit
einer bestimmten Absicht unternommen. Der Urheber hat bestimmte
Adressaten im Auge, auf die er mit bestimmten Mitteln in einer bestimmten
Richtung einwirken will. Der Philologe mus erkennen, an wen sich
das Gedicht, das Geschichtswerk, das philosophische Buch richtet, was
es beim anvisierten Leser zu erreichen strebt und welche Mittel es einsetzt
um eben dieses Ziel zu erreichen. Schwierig, aber in vielen Fällen
ungemein fruchtbar ist die Komplementärfrage, wen der Verfasser als
Adressat gerade nicht meint, welche Ziele, die er verfolgen könnte, er
gerade nicht verfolgt, und welche Mittel er nicht einsetzt, obschon man
erwarten dürfte, dass er sie einsetzte. Ganz allgemein wäre also die
Frage zu beantworten, aus welchen Gründen er all das nicht tut, was
er in seiner Situation hätte tun können.
Ist dies alles geschehen, so wird hinter den Buchstaben des Textes die
Person des Verfassers lebendig. Wir sehen nun, was er gewollt hat, wie
er gearbeitet hat, welches seine Ansprüche waren und ob sein Können
seinen Ansprüchen gewachsen war oder nicht. Wir lernen also einen in
jedem Falle interessanten und nicht selten höchst bedeutenden Menschen
kennen, und dies ist ein erster Gewinn der Philologie. Aber es
gibt noch mehr. Es verbleibt die Frage nach der Wirkung des Werkes,
und zwar auf zwei Ebenen. Auf der Ebene der Geschichte in einem
engen Sinne gilt es zu verfolgen, ob der Autor in seiner Zeit und bei seinen
Adressaten die Wirkung gehabt hat, die er suchte, —und wenn nicht,
welche andere Wirkung er gehabt hat. Die Tatsache, das ein im alten
Athen oder Rom verfasstes Buch sich durch die Jahrhunderte hindurch
erhalten hat, beruht auf der Wirkung, die es schon in seiner Zeit und
dann fortdauernd auszuüben fähig war. Der Philologe muss hier, entgegen
einer verbreiteten Meinung, betonen, da8 die Zahl der sozusagen
zufällig erhalten gebliebenen griechischen und lateinischen Texte erstaunlich
gering ist. Wir können auch umgekehrt in sehr vielen Fällen
die Gründe nachweisen, aus denen dieser oder jener Text sich nicht
erhalten hat. Der Anteil des Zufalls ist in diesen Dingen bescheiden
neben dem Anteil der erreichten oder ausgebliebenen geschichtlichen
Wirkung.
Es gibt schließlich diese Wirkung auch in einem weiten und fundamentalen
Sinne. Die Frage, die damit aufgeworfen ist, greift allerdings über
die Philologie hinaus.
Die Adressaten eines geschriebenen Werkes sind ja nicht nur die Zeitgenossen
und deren Nachfahren, sondern auch wir selbst. Wenn Vergil
auf seine Leser in einer bestimmten Weise hat wirken wollen und gewirkt
hat, so erhebt sich das Problem, ob er auch auf uns ebenso —oder
anders — zu wirken vermag. Ist das, was für ihn dichterisch war, auch
für uns dichterisch? Und was den Philosophen angeht, so wollen wir
zu guter Letzt nicht bloß wissen, was er seinen Zeitgenossen hat mitteilen
wollen und auf welche Weise er dies getan hat und was seine Zeitgenossen
über ihn gedacht haben: wir möchten auch wissen, ob das,
was er lehrt, wahr ist oder nicht. Der Philosoph, auch ein Lukrez und
Cicero, von Platon oder Aristoteles ganz zu schweigen, hat einen Anspruch
darauf, auf die mögliche Wahrheit seiner Aussagen hin befragt
zu werden. Natürlich ist die ganze Wahrheit bei Lukrez und Aristoteles
genau so wenig zu finden wie bei Kant oder Heidegger. Aber es ist ein
richtiger, in der Antike selbst mehr als einmal ausgesprochener Gedanke,
das ein Stück Wahrheit auch in den abseitigsten Theorien vermutet
werden darf.
Auf diesen Gedanken kann heute nicht nachdrücklich genug hingewiesen
werden. Denn heute pflegt die Communis opinio zu meinen, schon
die Tatsache, dass eine Lehre vor dreihundert, vor tausend oder gar
zweitausend Jahren vorgetragen worden sei, genüge zum Beweis, das
sie veraltet und überholt, also falsch sei. Nun wird sicherlich niemand
behaupten wollen, das die Lehre Platons die volle Wahrheit enthielte
und heute Wort für Wort wieder aufgenommen werden könne. Doch genau
so absurd ist es, zu behaupten, das sie darum falsch sei, weil sie
aus dem 4. Jahrhundert v. Chr. stamme. Zeitliche Distanz ist auf der
Ebene der philosophischen Wahrheit genau so wenig ein Argument wie
auf der Ebene der dichterischen Vollkommenheit. Um ein Kunstwerk
oder eine philosophische These zu verwerfen, bedarf es anderer Argumente.
Wenden wir uns nun nach dieser etwas umständlichen Grundlegung der
Sache wie der Methode der Philologie zu einem Einzelproblem, an dem
das Gesagte zum Teil wenigstens wird anschaulich werden können.
Von Platon und Aristoteles war schon öfters die Rede. Wir besitzen von
Platon das ganze von ihm selbst publizierte Oeuvre und von Aristoteles,
der neben einigen Dialogen eine gewaltige Masse mehr oder weniger
formlos skizzierter Einzeluntersuchungen hinterlassen hat, eine Auswahlausgabe
der wichtigsten Texte, die die Peripatetiker des letzten
Jahrhunderts v. Chr. mit erstaunlichem Geschick hergestellt haben.
Diese Auswahl, die logische, naturphilosophische und ethische Untersuchungen
umfaßt, ist immer noch höchst voluminös; mit Absicht ausgeschlossen
wurden nur die Dialoge.
Es hat seinen guten Grund, dass uns die Werke gerade dieser beiden
Philosophen in einem (verglichen mit dem Schicksal anderer) so ungewöhnlich
grossen Umfang erhalten geblieben sind. Die beiden sind in
ihrer eigenen Zeit die beherrschenden Gestalten gewesen, und in der
Spätantike wiederum waren sie die einzigen Philosophen, deren Werke
immer und immer wieder gelesen und kommentiert worden sind. Und
aus jener Distanz gesehen, in der der geistige Rang am deutlichsten
zutagetritt, sind sie unzweifelhaft die größten Philosophen der Antike.
Aber nun stoßen wir auf ein sonderbares Phänomen. Wir erwähnen die
eigene Zeit Platons und des Aristoteles, also das 4. Jahrhundert v. Chr.
und sprachen dann von der Spätantike, worunter wir hier das 2. bis
6. Jahrhundert n. Chr. verstehen. Wie aber verhält es sich mit den vierhundert
Jahren dazwischen?
Da zeigt es sich nun, da8 der unmittelbare Einfluß der beiden Großen
verhältnismässig rasch abnimmt und für einige Generationen völlig zu
verschwinden scheint. Beide haben Schüler gehabt, die ihre Lehren getreu
und gewissenhaft weiterentwickelten; doch diese Schüler haben
sich in ihrer Zeit nicht mehr durchsetzen können. Neue Lehren traten
auf, die ausdrücklich gegen Platon und Aristoteles gerichtet waren. Wir
meinen vor allem Epikur auf der einen, Zenon, den Begründer der Stoa,
auf der andern Seite. Was da gelehrt wurde, ist uns nur fragmentarisch
bekannt; und was wir wissen, macht im Vergleich zu Platon und Aristoteles
einen undifferenzierten und zuweilen geradezu primitiven Eindruck.
Doch die Jahrhunderte zwischen dem Tode der letzten persönlichen
Schüler Platons und des Aristoteles um 280 v. Chr. und dem Anlaufen
des Neuplatonismus sind geistig weitgehend beherrscht von Epikur
und der Stoa. Die Römer Lukrez, Cicero und Seneca sind dafür die
deutlichsten Belege.
Hier setzt das Problem ein, das uns beschäftigen soll. Wenn Epikur
und die Stoa so rasch und gründlich Platon und Aristoteles verdrängen
konnten, so ist dies kein Werk des Zufalls oder äusserer Umstände. Es
muss Gründe gegeben haben, Gründe nicht nur im philosophischen Können
und pädagogischen Geschick Epikurs und Zenona, sondern auch
im Kern der Lehren Platons und des Aristoteles selbst. Sie müssen gewissermaßen
Keime des Niedergangs in sich selbst getragen haben.
Bestimmte Möglichkeiten des philosophischen Denkens müssen sie ungenutzt
gelassen haben — so sehr, dass Epikur und Zenon sich einschalten,
jene Möglichkeiten verwirklichen und die klassische Philosophie
überwinden konnten. Welches waren diese Möglichkeiten, und wie ist
der Vorgang der Ablösung der klassischen durch die nachklassische,
hellenistische Philosophie überhaupt zu verstehen? Dies ist die Frage,
die wir uns stellen.
Die geistige Situation, die Platon in seiner Jugend vorfand, war zur
Hauptsache die folgende.
Gegeben war die Naturphilosophie, die immer verwegenere Versuche
unternahm, die gesamte sichtbare Welt als das Ergebnis des Zusammenwirkens
weniger einfacher Materialien und Kräfte zu erklären. Ihre
Grundhaltung war dogmatisch, die Beweisführung rudimentär, die Absicht
überwiegend aufklärerisch, sofern die Götter Homers und Hesiods
aus der Kosmologie vollständig ausgeschlossen waren. Doch was
da bei einem Anaxagoras oder Demokrit als Gesamtbild entstand, war
auf seine Weise imponierend.
Gegeben war auch der Ansatz der philosophischen Ethik bei den Sophisten,
weiterentwickelt durch Sokrates und seine frühesten Schüler.
Da überwog das rücksichtslose in Frage Stellen. Das Gut und Gerecht
rein relative Begriffe seien und dass alle traditionellen Werte auf blosser,
beliebiger Konvention beruhten, diese These wurde schonungslos bis
zu den äußersten Konsequenzen getrieben. Was verblieb, war lediglich
ein als Paradoxon formulierter Rückzug auf eine schwer zu fassende
Innerlichkeit. Der wahre Philosoph liebt die Hässlichkeit, die Armut, das
Verachtetwerden, um zu zeigen, daß auf Schönheit, Reichtum und Ehre
nicht das geringste ankomme. Zuweilen wird versucht, der in uferlose
Relativismen zerfallenden Ethik ein neues Fundament zu geben. Man
beobachtet das Verhalten des Säuglings und des Tieres, weil man da
die unverdorbene Natur zu finden hofft. Was sich ergibt, sind Ansätze
zu einer Ethik der Lust oder einer Ethik des Willens zur Macht.
So war die Zeit, in der Platon zu philosophieren begann, eine Zeit des
ausschweifendsten Experimentierens mit allen herkömmlichen Anschauungen.
Aber Platon selbst sah nun seine Aufgabe darin, diesem,
wie er es empfand, verantwortungslosen Spiele mit aller Kraft entgegenzutreten.
Er tat es, indem er den Begriff des Guten an denjenigen des Seins band,
die Ethik also gewissermaßen zur Ontologie umformte. In seinen späteren
Jahren nahm er noch die Mathematik dazu und identifizierte tiefsinnig
das Gute mit dem Einen und desgleichen das Andere, das Nichtgute
mit der unbestimmten Zweiheit. Platon ist der erste in der langen
Reihe der Philosophen, die sich durch die Mathematik, die Exaktheit
ihrer Ergebnisse und die Schlüssigkeit ihrer Beweismethoden haben
überwältigen lassen.
Die Undiszipliniertheit des Denkens der vorangegangenen Generation
hat er damit in der Tat überwunden. Was er dafür in Kauf nehmen
musste, war ein strenger Formalismus, der die partikularen Erfahrungen
nur schlecht zu bewältigen vermochte. Denn was nützte die Bestimmung
des Guten als des unwandelbaren Einen «noch jenseits des
Seins» demjenigen, der sich darüber orientieren wollte, wie er hier und
jetzt zu handeln hätte?
Wir geraten damit auf eine recht merkwürdige Tatsache, auf die erst die
neueste Forschung nachdrücklich und mit Recht aufmerksam gemacht
hat. Platon hat, wie bekannt, Dialoge geschrieben. Seine Absicht dabei
war, dem Wirken des Sokrates als des vollkommenen Philosophen ein
Denkmal zu setzen, sodann den Weg zu zeigen, auf dem jeder beliebige
Mensch zur Philosophie sollte geführt werden können, und endlich den
Prozeß des philosophischen Denkens schlechthin darzustellen. Man
möchte vermuten, dass demnach Platons Philosophieren wesenhaft undogmatisch
gewesen sei. In der Tat haben seine Dialoge immer wieder
so gewirkt. Sie haben oft genug dazu beigetragen, naive Dogmatismen
aufzulösen und pedantische Systeme in offene Fragen zurückzuverwandeln.
Aber dies ist nicht alles, und wir sind heute keineswegs
mehr sicher, dass für Platon selbst diese Aporetik die Hauptsache gewesen
ist. Schon die frühesten Dialoge lassen den aufmerksamen Leser
ahnen, das Platon viel mehr weiss, als er in den Dialogen zu sagen
für gut und zweckmässig hält. Und wenn wir noch einen Schritt weitergehen,
so entdecken wir, das schon hinter den ersten Dialogen die Umrisse
eines Systems, einer Wissenschaft vom Guten stehen. Dieses System
wird in keinem Dialog ausdrücklich vorgetragen. Dennoch lässt
sich verfolgen, wie es Schritt um Schritt ausgebaut wird und immer entschiedener
zu der Sache wird, auf die die Dialoge hinführen wollen. Ein
einziges Mal hat Platon sein System des Einen Guten und der unbestimmten
Zweiheit des Nichtguten als solches vorgetragen, in einer Vorlesung,
von der die Schüler Nachschriften angefertigt und publiziert haben;
Zitate aus diesen Nachschriften sind uns erhalten. Es ist denn auch
dieses tiefsinnig geheimnisreiche System, das Platons Schule als Erbe
übernommen und weiterentwickelt hat. Heute glauben wir begriffen zu
haben, dass Platon jenseits des aporetischen Spiels der Dialoge der entschlossenste
Dogmatiker gewesen ist.
Und Aristoteles? In das Bewußtsein späterer Jahrhunderte ist er als der
Systematiker par excellence eingegangen. Es ist in der Tat nicht zu bestreiten,
dass es seine Intention war, die gesamte Philosophie in ein weitverzweigtes
System von Disziplinen aufzugliedern, von denen jede mit
den andern fest verbunden war und doch ihren eigenen streng abgegrenzten
Aufgabenbereich besaß. Ebenso hat er die Syllogistik als Instrument
philosophischer Beweisführung geschaffen, desgleichen jenes
System der Seinsweisen, das er die zehn Kategorien nennt und auf
das er augenscheinlich besonders stolz gewesen ist.
Aber der Gesamteindruck, der sich daraus ergibt, täuscht. Die Syllogistik
hat Aristoteles zwar geschaffen, doch davon, dass seine Naturphilosophie
und Ethik syllogistisch entwickelt würden, ist gar keine Rede.
Erst der späte Neuplatonismus ist auf den Gedanken gekommen, mit
der Syllogistik sozusagen Ernst zu machen und eine Philosophie more
logico zu konstruieren. In dieser neuplatonischen Interpretation ist Aristoteles
ins Mittelalter übernommen worden. Und als die Renaissance
wie die Reformation gegen Aristoteles kämpfte, hatte sie den neuplatonischen
Aristoteles der unabsehbaren Syllogismenreihen im Auge und
keinen anderen.
Der wirkliche Aristoteles ist jedoch ein anderer. Sein Ziel war, die nach
Ordnung verlangende Vernunft walten zu lassen und zugleich den Erscheinungen
gerecht zu werden, also eine Naturphilosophie auszuarbeiten,
die kohärent blieb ohne den zu beobachtenden Tatsachen Gewalt
anzutun, und eine Ethik zu schaffen, die nicht bloss philosophisch begründbar,
sondern vor allem auch brauchbar war. Zutiefst verhasst waren
ihm pathetische Paradoxien und überflüssige Radikalismen. Was er
aber auch zu überwinden strebte, war der Formalismus der platonischen
«Wissenschaft vom Guten». Er suchte ein Gutes, das der Mensch zu
erlangen und zu verwirklichen vermochte, nicht eines, das unerreichbar
in der Welt des Unvergänglichen zuhause war.
Von entscheidender Wichtigkeit ist aber nun, dass Aristoteles sich vor
keinem Problem bei einer einmal gefundenen Formel beruhigt hat. Gerade
die modernste Aristotelesforschung hat sich eingestehen müssen,
dass die oftmals befremdliche Unübersichtlichkeit der uns vorliegenden
Texte nur damit erklärt werden kann, das Aristoteles zu den Problemen,
die ihm begegneten, immer und immer wieder neue Lösungen gesucht
und durchexperimentiert hat. Bald treten diese, bald jene Tatbestände
und Erfordernisse in den Vordergrund; das gegebene Problem wird
bald in diesen, bald in einen andern Zusammenhang eingeordnet. Jede
Lösung schlägt sich in einer Formel, einem Schema nieder, und der uns
überlieferte Text erweist sich als der oft überaus prekäre Versuch, die
verschiedenen Schemata zu koordinieren. Natürlich treten gewisse
Theoreme hervor, an denen Aristoteles zeitlebens und mit einem gewissen
Nachdruck festgehalten hat; doch selbst da verlässt ihn nicht eine
sehr bezeichnende Behutsamkeit. Seine Ethik will — gegen Platon —
dem realen Leben dienen und dem Menschen zur richtigen Führung des
Lebens verhelfen. Doch nur selten erhöht er den Ton zu Ermahnung und
Tadel. Von einem Dogmatismus, der unerschütterlich weiß, was richtig
und falsch ist, ist bei ihm keine Rede. Auch seine zuweilen grimmigen
Polemiken dürfen nicht dogmatisch verstanden werden.
Es ergibt sich aus alledem ein überraschendes Resultat. Die Forschungen
der letzten Jahrzehnte haben gezeigt, dass Platon gegen allen Anschein
ein Dogmatiker und das Aristoteles wiederum gegen allen Anschein
kein Dogmatiker gewesen ist.
Dies erlaubt auch schon einen Ausblick auf unser besonderes Problem.
Denn als die Schwäche des klassischen Platonismus hat sich sein starrer
abseitiger Dogmatismus erwiesen, und als die Schwäche der aristotelischen
Lehre umgekehrt ihr konsequent experimentierender Charakter;
sie befindet sich dauernd in Bewegung, was die Ausbildung endgültiger
Doktrinen, an die man sich hätte halten können, unmöglich gemacht
hat.
In den Spielraum, der sich damit eröffnet, vermögen Epikur und Zenon
einzutreten. Gegen Aristoteles sind sie beide Dogmatiker und formulieren
ihre Philosophie in Lehrsätzen, die sich der Leser als festen Besitz
soll aneignen können. Gegen Platon ist es ihr Ziel, dem einzelnen Menschen
in seinen Bedrängnissen, Zweifeln und Anfechtungen zu helfen
und ihm mit kräftigem Zuspruch Trost und Zuversicht zu spenden. Das
dann innerhalb dieses gemeinsamen Charakters Epikur und Zenon völlig
entgegengesetzte Wege gegangen sind, bleibt überaus bemerkenswert.
Beide greifen für ihre Zwecke über Platon und Aristoteles hinweg
auf die Vorsokratiker und ältesten Sokratiker zurück und übernehmen
von den einen kosmologische Konstruktionen, von den andern ethische
Radikalismen. Dabei hält sich Epikur an die Atomistik Demokrits und an
die Lustethik des Sokratikers Aristippos, Zenon dagegen beruft sich auf
Heraklit und versteht sich ausdrücklich als Erbe der vom Sokratiker
Antisthenes ausgehenden kynischen Observanz. Gelernt haben freilich
beide von den Klassikern, Epikur vor allem von Aristoteles (Platon hat
er leidenschaftlich bekämpft), Zenon von Platon; dass der Stoiker die
harten Paradoxien des platonischen Gorgias und der Politeia als Vorahnungen
seiner eigenen Paradoxa geschätzt hat, wird man gerne vermuten.
Doch halten wir uns nun nicht weiter bei Allgemeinheiten auf. Es soll
versucht werden, am Einzelnen zu zeigen, wie sich der Übergang von
der klassischen zur hellenistischen Philosophie vollzogen hat. Ich greife
drei Probleme heraus, die sachlich und methodisch von besonderem
Interesse sind. Das dritte wird uns an den Anfang unserer Darlegungen
zurückführen.
An der Spitze stehe die Frage nach dem letzten Zweck und Ziel des
menschlichen Handelns, jenem Zwecke also, der sich selbst genug und
nicht mehr bloss ein Mittel zur Erreichung noch höherer Zwecke ist.
Systematisch gestellt wird die Frage zuerst in der Sophistik. Eine erste,
scheinbar befriedigende Antwort liefert die Sokratik, indem sie mit dem
Begriff der Eudaimonia einsetzt. Er bezeichnet aber nicht mehr als die
Fülle des Glückes, führt also nicht weiter als bis zu einer Formel, die
ebenso evident wie inhaltsleer ist. Das wir glücklich sein wollen, wissen
wir und brauchen uns darüber nicht von der Philosophie belehren zu
lassen. Was wir nicht wissen, ist, worin das Glück besteht.
Platon äußert sich über diesen Punkt selten und meist nur andeutend.
Zuweilen bindet er die Glückseligkeit an die Gerechtigkeit und scheut
nicht vor dem Paradoxon zurück, dass der Gerechte auf der Folter
seliger sei als der Ungerechte auf dem Fürstenthrone. Doch seiner
eigentlichen Überzeugung kommt wohl die Formel näher, die Glückseligkeit
bestehe im Besitz der Wissenschaft vom Guten als dem Einen,
von dem her alles ist und gut ist. Dagegen wendet Aristoteles ein, die
Praxis des menschlichen Lebens könne mit einer solchen Bestimmung
der Eudaimonie nichts anfangen. Er selbst sucht nach einem Ziel des
Handelns, das erreichbar und angemessen begründbar ist.
Da zeigt es sich allerdings, nao verschiedene Perspektiven gewissermaßen
zur Auswahl stehen.
So kann etwa ausgegangen werden von der Totalität dessen, was sich
dem Menschen als Komponenten des überhaupt erreichbaren Glückes
erweist. Systematisiert wird dies zu drei Klassen von Gütern, seelischen,
körperlichen und äusseren; die seelischen können weiter aufgegliedert
werden in die vier Kardinaltugenden, die körperlichen in entsprechende
vier Vorzüge (Gesundheit, Kraft, Schönheit, Schärfe der Sinnesorgane),
und zu den äußeren Gütern zählen Reichtum, Ansehen, Freunde und
dergleichen.
Es kann aber auch ausgegangen werden von der Frage, was den Menschen
als Menschen vor Pflanze und Tier spezifisch auszeichnet. Es ist
die Vernunft, und in ihrer Betätigung wird der Mensch die ihm gemäße
Eudaimonia finden. Diese Vernunft hat zwei Aspekte. Sie strebt nach
Wissen, und von da her wird die Betrachtung der Wahrheit zur höchsten
möglichen Aufgabe und zugleich zum Inbegriff der Glückseligkeit. Sie
lenkt aber auch das Handeln, eine Tätigkeit, die bei Aristoteles im allgemeinen
der Theoria nachgeordnet ist, obwohl sich bei ihm schon Ansätze
einer spätem Anschauung zeigen, für die die Erforschung der
ewigen Wahrheit und das Lenken der irdischen Dinge ebenbürtig einander
zur Seite stehen.
Die erste Bestimmung des Lebenszieles mag man maximalistisch nennen:
sie umfaßt sämtliche Güter, die sich der Mensch vernünftigerweise
wünschen kann. Die zweite wird man dann als minimalistisch bezeichnen:
sie konzentriert sich auf das Eine Gut, das der Mensch zu verwirklichen
berufen ist, weil er allein unter allen irdischen Wesen es zu verwirklichen
vermag.
Dass beide Bestimmungen auf Schwierigkeiten stoßen, ist Aristoteles
nicht verborgen geblieben. Im ersten Falle ist die Schwierigkeit die, das
es in keiner Weise in der Macht des Menschen liegt, sich die Totalität
jener Güter zu verschaffen und zu bewahren. Für die körperlichen wie
für die äußeren Güter ist er weitgehend auf die Gunst des Zufalls, die
Tyche angewiesen. Die wahre Eudaimonia sollte aber doch ein Gut sein,
das der Mensch aus eigener Kraft zu erwerben vermag.
Die zweite Bestimmung genügt im Prinzip diesem Postulat. Doch ihr
gegenüber erhebt sich die Frage, ob die Theoria, die Erforschung der
Wahrheit, ernsthaft als das Lebensziel für alle Menschen in Betracht
kommen kann. Ist sie nicht nur für Wenige erreichbar? Wird sie nicht
von der überwältigenden Mehrheit der Leute (und vielleicht mit Recht)
als ein Paradoxon empfunden werden? Dies, obschon sie den Anspruch
erhebt, aus dem eigentlichsten Wesen des Menschen abgeleitet zu sein.
Es begegnet hier ein Problem, das bei Aristoteles selbst noch kaum
zutage tritt, im Hellenismus dagegen mit voller Deutlichkeit vorliegt. Ich
skizziere es in wenigen Sätzen. Es ist ein Grundproblem jeder Ethik.
Die Ethik hat zu allen Zeiten, in vorphilosophischen wie in philosophischen
Zeiten, vom Menschen gerade das gefordert, was er von sich
aus zu leisten nicht bereit ist. Insofern steckt in jeder ethischen Forderung
ein Stück Paradoxon. Das Paradoxon kann aber in Willkür abgleiten;
und eine als bloße Willkür aufgefasste Ethik taugt nichts mehr. So
wird es ein Bemühen der philosophischen Ethik, die ethischen Forderungen
im Wesen des Menschen zu verankern. Der Mensch soll nur tun
müssen, was er eigentlich und im Grunde seiner Natur selber tun will.
Dann entsteht freilich die andere Gefahr, das das Gute, das der Mensch
tun soll, sich verwandelt in das Nützliche, das er ohnehin tun möchte;
und um dem Menschen zu sagen, er möge tun, was er zu tun wünscht,
bedarf es keiner Ethik. Die ethische Forderung wird ebenso denaturiert,
wenn sie sich auf Selbstverständlichkeiten zurückzieht wie wenn sie
ins Willkürliche und Beliebige ausbricht. Dasselbe lässt sich wohl auch
etwas positiver formulieren. Es ist das Problem der ethischen Forderung,
wie sie begründet werden kann, ohne das das Paradoxon dabei
verloren geht.
Wenn etwas an Ciceros vielgeschmähtem Traktat De finibus bonorum
et malorum eindrucksvoll ist, so ist es die Klarheit, mit der eben dieses
Problem zur Diskussion gestellt wird. Wir sehen, wie die epikureische,
die stoische und die peripatetische Ethik (wohl Theophrast) versucht
haben, mit den Schwierigkeiten dieses Problems fertig zu werden. Sie
gehen alle von der Natur des Menschen aus. Im Kindesalter scheint sie
sich am reinsten zu manifestieren. Aus Beobachtungen am Kinde erschließt
Epikur, das das ursprünglichste Begehren des Menschen auf
Lust gehe. Denselben Beobachtungen entnehmen die Stoa und der Peripatos,
daß nicht die Lust, sondern die Bewahrung und Förderung der
eigenen Natur erstrebt werde. Was aber weiterhin gefolgert wird, ist
durchaus nicht, was man zunächst erwarten könnte. Epikur betont, das
die Lust, die er meint, kein Sich-Ausleben sei, sondern eine anspruchsvolle
und mühselige Kunst des Sich-Bescheidens mit dem Verfügbaren,
Notwendigen und Zuträglichen. Die Stoa wiederum gelangt vom Streben
nach Selbsterhaltung über halsbrecherische Folgerungen zum Paradoxon,
dass das einzige und sich selbst genügende Gute die Tugend sei.
Und auch dem Peripatos gelingt es mehr oder weniger, aus dem Streben
nach Selbsterhaltung das Verlangen nach Wissen und Erkenntnis,
also die Erforschung der Wahrheit als Ziel des menschlichen Handelns
abzuleiten. Alle drei Observanzen sind also sichtbar bemüht, die Begründung
der Ethik auf der Natur des Menschen mit dem paradoxen Charakter
der höchsten ethischen Forderung zu vereinigen. In der Stoa stossen
Natur und Paradoxon am schroffsten zusammen; aber implicite ist die
Problemlage auch bei Epikur und im Peripatos dieselbe. Sie muss dieselbe
sein, weil sie in der Sache, im Wesen der Ethik selbst begründet
ist. Man kann sie schon bei Aristoteles finden, nur eben in bloßen Andeutungen
und Ansätzen.
An was ihm (den erhaltenen Texten nach) mehr liegt, ist, die beiden Bestimmungen
der Eudaimonia, die maximalistische und die minimallstische,
in behutsamer Nuancierung miteinander auszugleichen. Seine
Ethik steuert auf die Theoria als das Vollkommenste unter den seelischen
Gütern hin, ohne doch die körperlichen und äußeren Güter
preisgeben zu wollen. Sie betont umgekehrt, das nur der Vollbesitz aller
drei Güterklassen eine umfassende Glückseligkeit herzustellen vermöge,
räumt aber ohne Zögern ein, daß äußere Zufälle und Katastrophen
diese Glückseligkeit aufs schwerste gefährden, ja sogar völlig zerstören
können.
Die Stoa hat, wie wir soeben bemerkten, viele Mühe darauf verwandt,
ihre Ethik aus der Natur des Menschen herzuleiten. Auf was es ihr aber
ankam, war keineswegs diese Herleitung, sondern das Paradoxon der
ethischen Forderung als solcher. Sie hat die Möglichkeiten des Paradoxons
bis zum äussersten ausgeschöpft, und sie wusste, was sie tat. Ihre
Ethik kümmerte sich nicht um erreichbare Ziele, wie dies die Ethik des
Aristoteles getan hatte. Was sie dem Menschen vor Augen stellte, war
ein Höchstes an ethischer Vollkommenheit, von dem sie selber zugab,
dass es in der Geschichte bisher nur ein- bis zweimal erreicht worden
sei. An Charakteristika dieses Radikalismus, der bis heute seine appellierende
Wirkung nicht verloren hat, seien drei genannt. Das erste wurde
soeben angedeutet. Es ist das unerschrockene Bekenntnis zum Paradoxon
als Form aller ethischen Forderung. Für Aristoteles waren die
Paradoxa der frühsokratischen Ethik ein leeres Gerede. Die Stoa hat sie
ausdrücklich erneuert und weiter ausgebaut. Eine der interessantesten
kleinen Schriften Ciceros handelt thematisch von diesen «Paradoxa der
Stoiker».
Das zweite ist der stoische Begriff des Guten als solchen. Er ist zweifellos
angeregt durch die platonische Idee des Guten, verbleibt allerdings
im Felde der Ethik ohne sich wie bei Platon in Ontologie zu verwandeln.
Für Aristoteles ist das Gute, die ethische Vollkommenheit und
die Eudaimonia der geschichtlichen Erfahrung gemäss breit ausdifferenziert.
Der Mensch eignet sich die Vollkommenheit nur allmählich und
schrittweise an; er kann sie überhaupt ganz oder nur teilweise besitzen;
er kann sie auch für kürzere oder längere Dauer besitzen. Für die Stoa
ist umgekehrt das Gute ein unteilbar Eines. Wer das Gute, also die Tugend
besitzt, besitzt sie ganz — oder er besitzt sie überhaupt nicht.
Man kann sie auch nicht in höherem oder geringerem Grade besitzen
und sich zu ihr hin entwickeln, sondern tritt wie mit einem Schlage in
sie ein. Die Zeitdauer ist gleichgültig; wer einen Tag lang vollkommen
gut ist, ist genau so glückselig wie Zeus, der es dauernd ist. Das stoische
Denken über diese Dinge vollzieht sich auf einer ganz anderen Ebene
als dasjenige des Aristoteles.
Das dritte ist das, was ich die Dramatisierung des ethischen Lebens
durch die Stoa nennen möchte. Aristoteles weiss durchaus, daß die in
die drei Güterklassen gesammelte Glückseligkeit ständig von äusseren
Zufällen und Katastrophen bedroht ist; er weiss auch, das die Tätigkeit der
Vernunft durch den Ungehorsam des Vernunftlosen im Menschen selbst,
also durch die Leidenschaften empfindlich gestört werden kann. Aber
er vermeidet jede Dramatisierung dieser Situationen. Er spricht nicht
selten von der Tyche. Aber er begnügt sich damit, ihr Wesen zu analysieren
und das Ausmaß ihres Einflusses auf das menschliche Leben
ruhig abzuschätzen. Und genau so behandelt er die Leidenschaften.
Die Stoa jedoch greift zur Metaphorik von Kampf und Sieg. Die Tyche
wird zum tückischen Feinde, der den Menschen unsicher zu machen, zu
verblenden und zu demütigen sucht; doch der vollkommene Mensch
wird alle seine Angriffe abschlagen und ihn besiegen, und zum Schlusse
wird er für die Tyche nur noch stolze Verachtung übrig haben. Nicht
anders wird er sich der Leidenschaften erwehren, wachsam und unerbittlich,
bis sie völlig ausgetilgt sind. Nicht selten hat in diesen Dingen
die Stoa etwas gar zu laut agiert und grobe Effekte nicht verschmäht;
aber sie hat natürlich damit ihren Schülern jene kräftige Führung angeboten,
die bei Aristoteles nicht zu finden war.
Die aristotelische Eudaimonia blieb bewußt im Bezirk der ethischen
Traditionen und des für den philosophisch Gesinnten Erreichbaren. Die
stoische Eudaimonia ist ein Grenzbegriff, der fasziniert und gewissermaßen
die Frage überspielt, ob sie überhaupt realisierbar sei. Die frühsokratische
und noch platonische These, der vollkommene Mensch sei
sogar auf der Folterbank glückselig, hat Aristoteles als unverantwortliches
Geschwätz abgewiesen. Die Stoa hat sie aufgenommen und Aristoteles
vorgeworfen, seine Ethik sei eine Ethik für Weichlinge.
Wieder anders steht es bei Epikur. Er bestimmt die Glückseligkeit als
Lust und übernimmt damit zunächst eine ältere sophistisch-sokratische
Lehre von provozierend aufklärerischem Charakter. Das Provozierende
besteht darin, dass sie die ethische Forderung unbekümmert mit der
eigenen Interessiertheit des Menschen zu identifizieren scheint, also
als das Gute ansetzt, was jedermann ohnehin zu tun wünscht. Doch so
einfach ist es nun auch wieder nicht, und Epikur hat sich redlich Mühe
gegeben, diesen ersten, fatalen Eindruck, den seine Ethik macht, zu
neutralisieren. Und zwar nimmt er dabei aristotelische Gedanken auf
und bildet sie für seine Zwecke um. Aristoteles unterscheidet in seiner
Analyse zwei Begriffe der Lust. Die eine Form der Lust bestimmt er als
die Empfindung, die die Herstellung eines naturgemäßen Zustandes
begleitet; es ist die Lust, die man beim Stillen des Hungers und Durstes
und dergleichen verspürt; sie ist, wie Aristoteles es ausdrückt, mit
Heilungsprozessen verbunden. Die andere Form dagegen stellt sich bei
der naturgemäßen Tätigkeit selber ein. Es ist die Freude, die man beim
Sehen und Hören, aber auch beim Sport und vor allem in der Betätigung
der Vernunft, also in der Übung der Tugenden und in der Erforschung
der Wahrheit empfindet. Diese Lust gehört denn auch wesensmäßig
zur Glückseligkeit. Epikur übernimmt diese Struktur und verknüpft
sie mit den älteren Theorien des Aristippos. Auch er unterscheidet
demnach zwei Arten der Lust. Das eine ist die gewöhnliche Lust,
die angenehme Bewegung, der man sich bei Sinnesgenüssen jeder Art
hingibt. Das andere ist die höhere und eigentliche Lust; sie besteht in
der Ruhe der vollkommenen Schmerzlosigkeit. Mit ihr kommen wir in
die Nähe des Paradoxons. Denn diese Lust besteht genauer in der Freiheit
von Angst und Begierde und in der Übung der Tugend derart, dass
weder die Lust ohne Tugend noch die Tugend ohne Lust zu sein vermag.
Epikur hat sich also sehr stark von Aristoteles anregen lassen. Worin
liegt der Unterschied? Wenn wir von Differenzen in Einzelheiten absehen,
doch wohl vor allem darin, dass Epikur mit grösster Entschiedenheit
Einen Begriff, eben den der Lust, in den Mittelpunkt seiner Ethik
gestellt hat. Seiner Erklärung, Begründung und Entfaltung dient alles.
Die epikureische Seelenführung hat keinen anderen Zweck als den, den
Menschen dazu anzuleiten, sich so viel Lust als möglich (in dem richtig
verstandenen Sinne) zu verschaffen. Das bedeutet zugleich, dass Epikur
dort Dogmatiker ist, wo Aristoteles nach seiner Weise experimentiert.
Was bei diesem ein immer noch vorläufiges Ergebnis behutsamer
Untersuchung ethischer Tatbestände darstellt, ist bei Epikur in die Form
einer scharf profilierten, mit unbeirrbarer Selbstsicherheit auftretenden
Doktrin gebracht.
Doch wenden wir uns nun einer zweiten Problemlinie zu. Staatsbewußte
Historiker des 19. Jahrhunderts haben nicht selten gemeint, die Griechen
der klassischen Zeit hätten ihr Leben als Bürger völlig in den
Dienst des Staates gestellt; der Mensch sei schlechthin Staatsbürger
gewesen und nichts anderes. Erst nach Alexander dem Großen sei diese
Bindung des Einzelnen an den Staat zerstört worden.
Die Wirklichkeit sieht indessen wesentlich anders aus. In Athen dürfte
das, was wir heutzutage etwa Staatsverdrossenheit zu nennen pflegen,
schon im 5. Jahrhundert v. Chr. weit verbreitet gewesen sein. Schon damals
erscheint vielen Athenern die Politik als ein ebenso schmutziges
wie riskantes Geschäft, dem man sich am besten fernhält. Und dass im
4. Jahrhundert das Interesse an den Aufgaben des Staates unaufhörlich
zurückging, zeigen die Reste der damaligen Komödie zur Genüge.
Auf dem Hintergrund dieser Situation erhalten die Staatsschriften Platons
und des Aristoteles ihre besondere Bedeutung. Dass sie einerseits
den zeitgenössischen Leser zum Staate zurückführen und ihm seine
Verantwortung als Bürger in Erinnerung rufen wollen, ist evident. Andererseits
können sie an der Tatsache nicht vorübergehen, dass es Formen
und Ziele des Lebens gibt, die sich in das Gefüge des Staates nicht
einordnen lassen. Eine Antinomie taucht auf, die Platon in seinem berühmten
Höhlengleichnis weniger zu überwinden als zu verwischen
sucht, die aber bei Aristoteles in voller Klarheit zutage tritt.
Vom Ziel des Handelns und von der Eudaimonia haben wir soeben gesprochen
und hervorgehoben, dass Aristoteles die Erkenntnis der Wahrheit
als die vollkommenste, weil dem Wesen des Menschen eigentümlichste
Tätigkeit bezeichnet hat. Diese Erkenntnis der Wahrheit, genauer
die Erkenntnis der göttlichen Dinge durch das, was am Menschen selbst
göttlich ist, ist etwas, was schlechterdings nur dem einzelnen Menschen
zukommen kann. Nur der Einzelne hat Geist als seinen Anteil am Göttlichen
und darf erwarten, dass dieser Geist von der Vergänglichkeit des
Körpers unberührt bleibe. Die staatliche Gemeinschaft hat keinen eigenen
Geist, den man unsterblich nennen und dem man eine besondere
Aufgabe zuerkennen dürfte. So tritt denn unter dem Aspekt der Theoria
und der theoretischen Lebensform der einzelne Mensch aus dem vom
Staate verwalteten Bereich hinaus in eine Zone, die an Rang grundsätzlich
über aller Staatlichkeit liegt. Dass der Philosoph, der nach den ewigen
Dingen forscht, alles Recht hat, sich nicht mehr um die Geschäfte
des Staates zu kümmern, das hat schon Platon in berühmten Sätzen des
Gorgias und Theaitetos ausgesprochen; und Aristoteles wird in dieser
Hinsicht nicht anders gedacht haben als Platon.
Nun ist aber der Mensch in der Realität des Daseins unfähig, als Einzelner
für sich zu leben. Er ist auf den anderen angewiesen, wie immer
man dieses Angewiesensein auffaßt. Nur zusammen mit dem Anderen
und im Verband einer größeren Gemeinschaft kann er überleben, sich
ein menschenwürdiges Dasein verschaffen und schließlich in der Übung
der Tugend sich selbst entfalten. Aristoteles zögert auch nicht, den
Menschen unter biologischem Aspekt als ein auf die Staatlichkeit hin
angelegtes Lebewesen zu bezeichnen, und zwar weit ausgeprägter, wie
er sagt, als etwa Bienen oder Herdentiere. Da wird also der Mensch
ein Teil eines Ganzen. Wenn nach einer im griechischen Denken weit
verbreiteten Anschauung die Selbstgenügsamkeit, die Autarkie, einer
der Wesenszüge der Vollkommenheit ist, so zeigt es sich, dass eine
solche Autarkie nicht beim Einzelnen, sondern erst auf der Ebene des
Staates verwirklicht werden kann. Zugleich werden bei Platon wie bei
Aristoteles sehr alte Gleichnisse lebendig. Der Staat wird beschrieben
wie ein lebender Organismus, dessen Seele die Gesetze und dessen
Glieder die einzelnen Menschen sind; abgetrennt vom Ganzen vermögen
diese Glieder gar nicht zu leben.
Die Antinomie ist evident. Auf die Theoria hin angelegt stand der Einzelne
über dem Staate; nun erweist er sich als ein bloßer Teil eines größeren
Ganzen, dem er zu dienen hat.
Aristoteles wäre nicht der gewesen, der er war, wenn er diese Antinomie
nicht bemerkt, und versucht hätte, sie zu überwinden. Dies geschieht
dort, wo er das Ziel des Staates zu bestimmen unternimmt; denn
auf ein höchstes Ziel hin handelt nicht nur der Einzelne, sondern auch
die politische Gemeinschaft. Als dieses Ziel wird nun die Ermöglichung
des Lebens in der Theoria für jeden Staatsbürger bezeichnet. Der Staat
soll die Bürger auf jene Musse hin erziehen, die die Voraussetzung eines
Lebens in der Erforschung der Wahrheit darstellt. Der Begriff der Musse
(Schole) erscheint bei Aristoteles nirgends so oft wie in den zwei letzten
Büchern seiner staatsphilosophischen Untersuchungen.
Die These ist begreiflich. Doch in Wirklichkeit macht sie die Lage nur
noch schwieriger. Denn wie soll das zugehen, dass alle Staatsbürger auf
die philosophische Musse hingeführt werden? Schließlich erschöpft sich
die Aufgabe des Staates keineswegs in der höheren Erziehung der Bürger,
sondern besteht auch und sogar primär in der zweckmäßigen Organisation
des materiellen Daseins. Er hat dafür zu sorgen, dass dem
Bürger Nahrung, Kleidung und Behausung zur Verfügung stehen und
dass er vor Naturgewalten wie vor menschlichen Feinden geschützt ist.
Aber wer soll all die bäuerlichen, handwerklichen und militärischen Arbeiten,
die dies leisten, ausführen? Die Alternative ist klar: Wenn dies
Bürger sein sollen, so bedeutet dies zwangsläufig, dass es im Staate
eine außerordentlich große Zahl von Bürgern geben wird, deren Zeit mit
bäuerlicher, handwerklicher oder militärischer Tätigkeit so ausgefüllt
ist, dass sie zu einem Leben philosophischer Muße gar nicht zu gelangen
vermögen. Wenn umgekehrt an dem Prinzip festgehalten werden soll,
dass der Staat alle Staatsbürger zur Theoria als dem Inbegriff menschlicher
Glückseligkeit zu führen hat, so bleibt nur der Ausweg, die gesamten
bäuerlichen, handwerklichen und sogar militärischen Aufgaben
Leuten zu übertragen, die nicht Bürger sind, also Ausländern oder Sklaven.
Die Gesamtgemeinschaft wird also aus einer kleinen Bürgerschaft
bestehen, die dem Philosophieren zustrebt, und einer ausserordentlich
großen Zahl von Nichtbürgern, die für das materielle Gedeihen des
Ganzen zu sorgen haben.
Als Experiment war der Gedanke nicht uninteressant. Aber Aristoteles
hat selber gewusst, wie unrealistisch er war. Gerade die athenische Demokratie
seiner Zeit hat sich bemüht, die Bürgerrechte so weit als möglich
auszudehnen. Die Tendenz ging mindestens vorübergehend dahin,
alle ständigen Bewohner des Staatsgebietes Vollbürger werden zu lassen.
Dann muss jedoch offensichtlich die Theoria als Ziel des Staates
fallen gelassen werden. Tauglich ist dann nur eine Zielsetzung, die
wirklich allen Bürgern erreichbar ist und deren Sinn auch von allen Bürgern
eingesehen und anerkannt werden kann. Als ein solches Ziel bietet
sich, wie Aristoteles ausdrücklich bemerkt, die Freiheit dar, die Freiheit
für jeden Einzelnen, im Rahmen der Gesetze, also des Volkswillens, zu
tun, was er will. An dieser Zielsetzung werden alle Bewohner des Staatsgebietes
mitwirken können. Allerdings wird dann auch darauf verzichtet,
die spezifische Bestimmung des Menschen als Vernunftwesen in
den Staat einzubauen; die Theoria ist dann nur noch eine der möglichen
Lebensformen, zu denen sich der Bürger entschließen kann, je nachdem
er Lust dazu hat. Eine organische Verbindung zwischen dem philosophischen
Leben und den Bürgerpflichten besteht in diesem Falle
nicht.
Für Aristoteles sind alle diese Probleme gegenwärtig. Es liesse sich sehr
schön zeigen, wie er bald in der einen, bald in der anderen Richtung
weiterzugehen sucht und zu guter Letzt in jeder Richtung in einen Engpass
gerät. Denn der Mensch kann weder ohne den Staat noch ohne den
Blick auf die ihm eigentümliche Eudaimonia leben; doch beides miteinander
zu verknüpfen erweist sich immer wieder als unmöglich. Kein
Wunder also, dass unter seinen Schülern sich sowohl diejenigen auf ihn
beriefen, die an der reinen Theoria festhielten, wie auch andere, die die
praktische Tätigkeit im Staate als die höchste Form menschlichen Handelns
bezeichneten.
Epikur hält sich in gewisser Weise an die Theoria, nicht so sehr im Sinne
des Umgangs mit den ewigen Dingen als vielmehr im Sinne heiter beschaulicher
Abgeschiedenheit, fern vom Lärm und Schmutz des politischen
Betriebes. Er ist da völlig strikte und eindeutig. Der Philosoph
soll sich nicht mit Politik befassen, außer es zwängen ihn ganz ungewöhnliche
Umstände dazu. Alle Argumente gegen die politische Tätigkeit,
die sich in Athen während zwei Jahrhunderten gesammelt hatten,
hat er aufgenommen: Unberechenbarkeit und Undankbarkeit des Volkes,
Brutalität und Gewissenlosigkeit der Politiker usw. usw. Kein Zweifel,
dass er mit seiner leidenschaftlichen Ablehnung all dieser Dinge den
Gebildeten seiner Zeit, aber auch noch der ausgehenden römischen Republik
aus dem Herzen gesprochen hat.
Bei der Stoa verhält es sich anders. Sie sucht den Schwierigkeiten dadurch
zu entgehen, das sie die gesamte Diskussion auf eine andere
Ebene verschiebt. Um die geschichtlichen Staaten und deren Nöte kümmert
sie sich wenig. Was sie im Auge hat, ist der vollkommene Staat,
ein Gebilde, das in seiner Konstruiertheit viel weltfremder ist, als es die
Staatstheorien Platons und gar des Aristoteles je gewesen waren. Es
ist der unsichtbare Weltstaat, der aus den Göttern und den vollkommenen
Menschen besteht. Der Mensch wird Bürger dieses Staates, wenn
er tugendhaft wird. Einmal tugendhaft und weise geworden, bildet er
zusammen mit den anderen Weisen die wahre Bürgerschaft des wahren
Staates. Die Probleme, die Aristoteles so sehr bedrängt hatten, werden
auf diesem Wege gegenstandslos. Denn in einem solchen Staate, dem
auch die Götter angehören, verliert der Gegensatz zwischen dem Leben
der Theoria und der Bewältigung des materiellen Daseins seinen
Sinn. Jenes ist ersetzt durch das Bewußtsein des Einklangs mit den
Göttern und diese ist für den Stoiker im Grunde uninteressant.
Befriedigend ist diese Lösung nicht. Die Antike selbst hat auf den Widerspruch
hingewiesen, das die Stoiker zwar theoretisch die politische
Verantwortung des Philosophen betonen, in der Praxis aber wenig oder
nichts zu bieten hatten, —abgesehen von gelegentlicher Ermahnung an
Fürsten und Könige, sie möchten im Geiste der Stoa ihr Reich so verwalten,
wie der Götterkönig Zeus den Weltstaat verwalte. Wir haben
denn auch den Eindruck, dass im Felde der Staatsphilosophie die Werke
Platons, des Aristoteles und seiner Schüler gewissermaßen unentbehrlich
geblieben sind. Wer nicht Epikureer war und nach philosophischen
Grundsätzen Politik treiben wollte, fand bei Zenon, Kleanthes und Chrysippos
keinerlei Hilfe. Er musste auf die Klassiker zurückgreifen. Ein
endgültiges System philosophischer Staatsführung hatte keiner von
ihnen zu bieten; doch der Gegenstand ihrer Bemühungen war immerhin
der reale Staat und nicht eine dünne Konstruktion.
Damit stehen wir an der Schwelle des letzten Problemes, das uns zum
Anfang unserer Darlegungen zurückführt, zur Frage nach dem gegenseitigen
Verhältnis von Geisteswissenschaften und Naturwissenschaften.
Diese Frage ist nämlich schon vom 5. Jahrhundert v. Chr. an gestellt
und durchdiskutiert worden. Wir müssen lediglich den (ohnehin sehr
modernen) Begriff der Geisteswissenschaften durch den Begriff der
Ethik ersetzen und unter Ethik die Gesamtheit jener Probleme verstehen,
die sich auf das verantwortliche Handeln des Menschen im persönlichen,
sozialen, politischen und kulturellen Bereich beziehen.
Die frühen Naturphilosophen, die es unternahmen, den Gesamtbau des
Kosmos zu beschreiben, haben schwerlich das Bedürfnis empfunden,
ihre Arbeit zu rechtfertigen; die evidente Bedeutung des Gegenstandes,
dem sie sich widmeten, war Rechtfertigung genug. Wenn sie auf der
andern Seite sich mit schwierigen und beunruhigenden Einzelproblemen
befassten, so konnten sie darauf hinweisen, dass es nützlich war, in
dergleichen Dingen Bescheid zu wissen. Wer wusste. wie eine Sonnenfinsternis
zustande kam, brauchte nicht mehr Angst vor ihr zu haben,
und wer ein bevorstehendes Unwetter an bestimmten Anzeichen vorauszusehen
vermochte, war in der Lage, sich beizeiten darauf einzurichten.
Aber die Naturphilosophie wandelte sich im Laufe der Zeit.
Ihre Gegenstände spezialisierten sich und ihre Überlegungen wurden
komplizierter. Die Meteorologie begann sich als selbständige Wissenschaft
zu konstituieren, desgleichen etwa die Hydrologie oder besonders
die Physiologie des Menschen, wobei vor allem die Vorgänge der
Zeugung, der Ernährung, der Wahrnehmung zu hochspezialisierten Untersuchungen
Anlaß boten.
Mit der Sophistik und Sokratik beginnt die philosophische Ethik und damit
nicht bloss die Frage, worin die Vollkommenheit des Menschen bestehe,
sondern auch, wie sie zustande käme. Daraus. wiederum entwickelt
sich die letzte folgenreiche Frage: Was vermag das naturphilosophische
Forschen letzten Endes zur ethischen Vervollkommnung des
Menschen beizutragen? Es scheint die frühe Sokratik gewesen zu sein,
die diese Frage zuerst mit aller Schärfe gestellt und verneinend beantwortet
hat. Die Naturphilosophie leistet ethisch nicht nur nichts, sie ist
sogar hinderlich; denn wer über die Himmelserscheinungen nachgrübelt,
hat keine Zeit, an seine eigene Seele zu denken. Nach einem vielzitierten
Text soll Sokrates erklärt haben, nur darnach dürfe man forschen,
was sich in unseren Häusern Gutes und Schlechtes befinde.
Und anderswo heisst es, die Naturphilosophie sei in doppelter Hinsicht
unnütze: Entweder jage sie Problemen nach, die der Mensch doch nicht
zu lösen imstande sei, oder sie befasse sich mit Dingen, deren Kenntnis
uns nicht besser mache.
Der Druck dieser Frage lastet auf der Naturphilosophie aller späteren
Jahrhunderte der Antike. Platon hat sich bemüht, eine differenziertere
Haltung einzunehmen als die andern Sokratiker. In der Apologie äußert
er sich über das Verhältnis des Sokrates zur Naturphilosophie mit wohlberechneter
Zurückhaltung. Seine Wissenschaft vom Guten geht zwar
von der Ethik aus, wird aber mehr und mehr zur reinen Ontologie, vor
allem nachdem er im Quadrivium der mathematischen Disziplinen (Geometrie,
Astronomie, Arithmetik, Harmonik) eine Vorstufe und Vorschule
zu jener höchsten Wissenschaft erkannt hatte. Seine Wissenschaft vom
Guten steht schließlich hinter der Naturphilosophie, die er im Timaios
vorträgt und in der sich wissenschaftliche Theoreme und Absichten
tiefsinniger Erbauung so seltsam vermischen. Diese Vermischung beantwortet
zwar nicht die sokratische Frage, aber last sie irgendwie inadaequat
erscheinen.
Instruktiver ist die Lage bei Aristoteles, der ja ganz anders als Platon
ein wirklicher Naturforscher gewesen ist. Vergessen wir nicht, dass in
den hellenistischen Jahrhunderten sein Ruhm weder auf der Ethik noch
auf der Metaphysik oder gar auf der Logik, sondern in erster Linie auf
seinen umfangreichen biologischen Schriften beruhte.
Er versuchte die Schwierigkeit auf drei Wegen zu überwinden. Fürs
erste fällt es schwer ins Gewicht, dass in der Rangfolge der naturphilosophischen
Disziplinen die Theologie den obersten Platz einnimmt. Und
diese Disziplin kann von der sokratischen Frage ernstlich nicht tangiert
werden. Denn Gott ist sowohl der erste unbewegte Beweger des physischen
Kosmos wie auch der sich selbst denkende Geist, mit dem der
menschliche Geist (in welchem Sinne auch immer) verwandt zu sein
scheint; und darum darf man auch annehmen, das Gott für den Menschen
sorgt und sich an dessen Vervollkommnung freut. So fragmentarisch
auch die Bemerkungen des Aristoteles über diesen Gegenstand
sind, so kann doch über ihren Sinn und ihre Tragweite kein Zweifel bestehen.
In einer andern Richtung ist der Begriff des Zweckes wichtig.
Das Gute als den Zweck verfolgt nicht nur das menschliche Handeln,
sondern auch die Natur. Dabei versteht Aristoteles unter dem Guten
nicht wie Platon das unfaßbar Eine, sondern das jeweilige Gute —im Bereich
des Biologischen wie in demjenigen der Ethik die ungefährdete
Verwirklichung der als Anlagen vorhandenen Möglichkeiten. Die teleologische
Naturbetrachtung ist also von der Grundstruktur der Ethik nicht
ablösbar und umgekehrt.
Der dritte Gesichtspunkt endlich geht vom forschenden Menschen aus.
Wir sprachen schon davon, da8 der Mensch seinem eigentümlichsten
Wesen nach zur Erkenntnis und zum Forschen bestimmt sei. Die Tätigkeit
des Forschens bringt also nicht nur die Naturphilosophie hervor,
sondern ist zugleich auch das Beste, dessen der Mensch fähig ist.
Wir werden allerdings nicht übersehen, das mit alledem die sokratische
Frage nur teilweise beantwortet ist. Ein Aspekt bleibt im Dunkeln. Inwiefern
ist nämlich die theologische und teleologische Forschung in
der Lage, dem Menschen konkret dazu zu verhelfen, gerecht, beherrscht,
tapfer, großzügig oder nachsichtig zu handeln? Lässt sich behaupten,
dass der kenntnisreiche Naturphilosoph notwendigerweise
auch ein besserer Mensch sei? Dies nachzuweisen hat Aristoteles nicht
unternommen. In diesem Punkt bleibt die sokratische Frage offen.
Epikur wie die Stoa haben sich bemüht, gerade darin über Aristoteles
hinauszugelangen.
Bei Epikur genügt es, einen Lehrsatz aus seinem philosophischen Katechismus
zu zitieren: «Wenn wir nicht beunruhigt würden durch die Besorgnis,
es möchten uns die Himmelserscheinungen und der Tod etwas
angehen, ferner durch die Tatsache, dass wir die Grenzen von Schmerz
und Begierde nicht kennen, bedürften wir der Naturwissenschaften
nicht». Der Text ist eindeutig. Die naturwissenschaftliche Forschung ist
der ethischen Zielsetzung subordiniert. Sie dient ausschließlich dazu,
dem Menschen die Ruhe der Schmerzlosigkeit, also jene Freiheit von
Angst und Begierden zu verschaffen, in der seine Glückseligkeit liegt.
In der Stoa ist der denkerische Aufwand etwas grösser, das Schlussergebnis
aber von der epikureischen These nur wenig verschieden.
Zwei Gedankenlinien lassen sich erkennen. Einmal hat nun die gesamte
Naturbetrachtung der Erbauung zu dienen, weit über die Ansätze im
platonischen Timaios hinaus. Das entscheidende Moment ist dasjenige
der Vorsehung, deren Walten durch eine Universalteleologie nachgewiesen
wird. Es gibt nichts im Kosmos, was nicht von der alles durchdringenden
göttlichen Vernunft auf das zweckmäßigste, schönste und
beste eingerichtet worden wäre, von der Sonnenbahn bis hinab zur
Form der menschlichen Nase. Auch Aristoteles hatte schon teleologische
Gesichtspunkte verfolgt, und die Stoa hat von seinem Material
reichlichen Gebrauch gemacht; doch die Teleologie hat bei ihr einen
ganz anderen Charakter. Sie soll nicht bestimmte Phänomene erklären,
sondern den Menschen zu frommem Gottvertrauen erziehen. In anderer
Richtung bringt die Stoa jenes Weltgesetz ins Spiel, das sie von Heraklit
übernommen hat. Es ist Ein Gesetz, das den Kosmos wie den Menschen
lenkt, und eine einzige Kette von Ursachen determiniert das Leben
des Kosmos wie das Handeln des Menschen. Von da her erhält die
Betrachtung des Kosmos ihre Relevanz. Sie lehrt den Menschen, sich
als Glied in der Kette zu verstehen, und dies in dem zweifachen Sinne,
dass er aus der Kette nicht auszubrechen vermag, dass er sich aber auch
gerade als Glied in der Kette, die von der höchsten Gottheit ausgeht,
geborgen fühlen darf. Ohne Murren sich einzuordnen und sich im Einklang
mit den Absichten der Vorsehung und des Schicksals zu wissen,
dies wird für die Stoa derjenige Teil der Glückseligkeit, den die Naturphilosophie
zu verschaffen vermag und verschaffen soll.
Auch da also ist die Naturphilosophie dazu bestimmt, die ethische Vollkommenheit
aufbauen zu helfen.
Eine ausreichende Antwort auf die sokratische Frage ist auch dies freilich
nicht. Sollen wir sagen, das es eine überzeugende und allseitig
befriedigende Antwort überhaupt nicht gibt? Und das weder die dogmatische
Selbstsicherheit Epikurs und der Stoa noch die behutsamen
Versuche des Aristoteles weiterzuführen vermögen? Vielleicht könnte
heute jemand versucht sein zu behaupten, den Geisteswissenschaften
stünde die sokratische Frage immer noch als Waffe gegen die Übermacht
der Naturwissenschaften zur Verfügung. Doch sollte man nicht
übersehen, dass gerade heute die Frage genau so sehr auch an die Geisteswissenschaften
selbst gerichtet ist; auch sie müßten darüber Rechenschaft
ablegen, was sie zur ethischen Vervollkommnung des Menschen
beizutragen vermögen. Ein Unterschied besteht höchstens darin,
dass die Geisteswissenschaften zuweilen brutaler dazu gezwungen werden,
über den Zweck ihres Tuns nachzudenken, — wogegen es Naturwissenschaftler
geben dürfte, die meinen, der Hinweis auf die Technik
enthebe sie der Notwendigkeit, auf die sokratische Frage überhaupt zu
antworten. Wie dem auch sei, nachdenkenswert bleibt es doch wohl,
dass ein am Ende des 5. Jahrhundert v. Chr. zuerst formuliertes Problem
auch heute seine Ernsthaftigkeit nicht verloren hat.
Dasselbe gilt, wie ich glaube, von den beiden andern Problemen, die
skizziert wurden, und gilt schliesslich auch von dem allgemeinen Problem,
das in diesem dritten Teil meiner Darlegungen zur Sprache kam.
Vom Verhältnis der nachklassischen zur klassischen Philosophie war die
Rede. Es zeigte sich, das immer wieder zwei charakteristisch verschiedene
Typen des Philosophierens einander gegenüber standen. Der klassischen,
vor allem durch Aristoteles repräsentierten Philosophie war es
um die Sachen zu tun; in immer neuen Anläufen versuchte sie, in den
Gegebenheiten der Erfahrung Ordnungen und Zusammenhänge zu entdecken
so, dass weder der Vernunft noch den Erscheinungen Gewalt
angetan wurde. Der nachklassischen Philosophie dagegen lag es am
Menschen; ihm galt es Direktiven zu geben, an die er sich halten konnte,
die also im Ganzen übersichtlich, im Einzelnen klar und in den Grundlagen
unerschütterlich zu sein hatten. Mit dem aristotelischen Experimentieren
war dem Menschen, der nach Trost und Rat verlangte, nicht
gedient. Der hellenistische Dogmatismus andererseits stand dauernd in
Gefahr, sich die Sachen viel zu einfach zu machen.
Es wird wohl so sein, dass es diese beiden Typen auch heute noch
nebeneinander gibt. Geschichtlich sichtbar geworden sind sie aber
zum ersten Malin der griechischen Antike.