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Das Recht als soziale Ordnungsmacht

Rektoratsrede von

Prof. Dr. Hans Merz
Verlag Paul Haupt Bern 1964

Printed in Switzerland
Copyright © 1964 by Paul Haupt Berne
Alle Rechte vorbehalten
Druck: Paul Haupt AG Bern

Das Recht als soziale Ordnungsmacht

Rektoratsrede 1963 von Prof. Dr. Hans Merz I.

Fast von allen menschlichen Berufen können wir uns ein recht klares Bild machen, auch wenn wir sie nicht selber ausüben. Wir kennen zwar vielleicht das Tagewerk des Bauern nicht im einzelnen, nicht die Handgriffe des Uhrenarbeiters, die Tätigkeit des Bankangestellten. Wir wissen aber um die Bedeutung dieser Arbeit und um ihr Ergebnis. Wir schätzen und achten sie um dieses Ergebnisses willen, das uns lebensnotwendig ist, wie die tägliche Nahrung, oder zum mindesten nützlich, wie die Uhr und das Sparheft.

Dieser Wertschätzung erfreuen sich auch die meisten akademischen Berufe, vorweg die technischen und naturwissenschaftlichen und die Heilkunde, deren Unentbehrlichkeit im Erlebnis des Arztes am Krankenbett für jeden von uns einen früh geprägten unauslöschlichen Ausdruck findet. Und sollte etwa die seelsorgerische Aufgabe des Pfarrers und die pädagogische Tätigkeit des Lehrers in ihrer Bedeutung für Mensch und Gesellschaft nicht so augenfällig sein, so ist doch das Bild dieser Berufe im Volksempfinden fest und positiv verankert. Man vergegenwärtige sich nur die Rolle, die Pfarrer, Arzt und auch Lehrer im Werke Gotthelfs spielen.

Und nun der Jurist! Beim gleichen Gotthelf ein verächtlicher Rechtsverdreher, von altersher ein Paragraphenreiter, heute wie immer der Verwalter eines Ordnungsgefüges, das im besten Falle

als notwendiges Übel, häufig auch als Übel schlechthin angesehen wird, wahrer Gerechtigkeit und Billigkeit nur im Wege stehend. Zwar tönt es selten so unverblümt wie beim Rebellen Dick the butcher in Shakespeares Heinrich VI.: «The first we do, let's kill all the lawyers». Immerhin erklärte auch Hitler, «nicht eher ruhen» zu wollen, «bis jeder Deutsche einsieht, dass es eine Schande ist, Jurist zu sein» 1. Sehen wir aber ab von poetischer Lizenz und von verbrecherischer Hysterie, so können wir nüchtern feststellen, daß die Ausschaltung des Juristen von wirklicher Einflußnahme erstrebtes Ziel vieler ist. «Ich brauche keinen Juristen», meinte der amerikanische Multimillionär Morgan, «der mir sagt, was ich zu tun habe; ich brauche einen Juristen, der mir sagt, wie ich das tun soll, was ich zu tun beabsichtige» 2. In der Tat: Dem politische und wirtschaftliche Macht Suchenden ist der Jurist herzlich unerwünscht, will er mehr sein als blosses Instrument des Vollzuges von Entscheidungen, die ohne ihn getroffen werden. Und das im Gesetz kundgegebene Recht selber wird oft genug in geringschätzigen Gegensatz zum gesunden Menschenverstand gestellt, der die allenfalls erforderlichen Ordnungsprinzipien unmittelbar zu erzeugen vermöge.

Eine derart von skeptischer Zurückhaltung getragene Einstellung gibt dem Juristen allen Anlass, der Umwelt und insbesondere auch sich selber Rechenschaft abzulegen über seine Aufgabe in der Gesellschaft, über das Eigentliche und das Spezifische juristischer Tätigkeit.

II.

Juristische Arbeit kreist um das Recht. Wo und wie begegnet der Mensch dem Recht? Welche Ordnungsaufgabe kommt dem Recht im sozialen Leben zu? Die Beantwortung dieser Fragen

sollte ein anschauliches Bild vom Wesen des Rechts und vom Besonderen juristischer Bemühung um das Recht vermitteln.

Wir kommen mit dem Recht viel häufiger in Berührung als gemeinhin angenommen wird. Wir verlassen uns darauf, daß öffentliche Transportmittel nach festem Fahrplan und Preis zu unserer Verfügung stehen. Wir halten es für selbstverständlich, daß unseren Wohnungen Wasser, Gas und Elektrizität zugeführt wird, daß unsere Briefe befördert und unsere Telefonverbindungen hergestellt (und nicht abgehört) werden. Wer die Straße benützt, hat sich der Verkehrsregelung zu unterziehen, die ihm vorschreibt, wo und wann er als Fußgänger die Fahrbahn betreten darf, wie er als Fahrzeugführer zu kreuzen und zu überholen habe, wo und wie lange ihm das Abstellen seines Fahrzeuges erlaubt ist. Die ganze berufliche Arbeit ist durch ein dichtes Netz von Rechten und Pflichten geregelt —bald von den Beteiligten frei vereinbart, bald obrigkeitlich verfügt —, die sich mit Arbeitszeit und Entlöhnung, mit den Ansprüchen bei Krankheit oder Militärdienst, mit Freizeit und Ferien befassen, für die Arbeit Jugendlicher Besonderes vorschreiben, Schutzmassnahmen im industriellen Betrieb verfügen.

Werfen wir einen Blick auf den Lebenslauf des Menschen. Schon bei der Geburt stellt sich die Frage nach dem Namen. Den Familiennamen bestimmt zwingend die Abstammung. Sollen Änderungen zugelassen werden, etwa für den Träger der gutbernischen Namen Ochsenbein oder Dumermuth, der in Basel oder in der Ostschweiz schlecht verhehltem Spott begegnet, oder aus familiären Gründen, weil nach einer Scheidung das Kind und die Mutter, der es zugeteilt worden ist, nicht den gleichen Namen tragen? Wie steht es mit der Schulpflicht der Kinder, wie mit der Schuldisziplin? Kann die Schule den Mädchen verbieten, in Skihosen zu erscheinen, Schmuck zu tragen, den Lippenstift

zu gebrauchen? Sind die Hausdienstwochen obligatorisch? Wie ist die Militärdienstpflicht geregelt? Gewährleistet die Gemeinschaft Berufswahlfreiheit? Sind Fähigkeitsausweise für bestimmte Berufe erforderlich? Darf ein numerus clausus verfügt werden? Aus polizeilichen Gründen — etwa für Wirtschaften —oder lediglich zu dem Zwecke, die bereits in diesem Erwerbszweig Tätigen vor unerwünschter Konkurrenz zu bewahren? Ist dem Erfinder durch Schutz vor Nachahmungen ein Monopol an seiner Erfindung zu gewähren oder verlangen die Interessen der Allgemeinheit möglichst rasche und durch Monopolgebühren nicht belastete Verbreitung des technischen Fortschritts? Ehe- und familienrechtliche Vorschriften befassen sich mit der Ehefähigkeit und mit den Ehehindernissen, mit den persönlichen Wirkungen der Ehe —darf die Frau nur mit Einwilligung des Mannes einen Beruf ausüben? —, mit der vermögensrechtlichen Stellung der Gatten. Wie sind die geselligen, wie die wirtschaftlichen Zusammenschlüsse der Menschen zu behandeln? Wie erfolgt ihre Willensbildung? Wer tritt für sie auf? Darf die Mehrheit den ursprünglichen Zweck des Zusammenschlusses ändern, darf sie Mitglieder ausschliessen? Die Sorge für den Lebensabend führt zu Pension und Versicherung auf privater und staatlicher Grundlage. Der Tod schliesslich stellt die Frage nach dem weiteren Schicksal der irdischen Güter des Dahingegangenen.

Alle diese Vorschriften, die besagen, was der Mensch tun könne und was er zu unterlassen habe, sind Rechtsnormen. Ihre regulierende Funktion wird besonders deutlich in ausserordentlichen Situationen, in welchen die Interessen aufeinanderprallen Darf der Arbeitnehmer, der blauen Montag macht, fristlos entlassen werden? Muß sich der Kino- oder Theaterkritiker gefallen lassen, daß ihm — und nur ihm —keine Eintrittskarte verkauft und der Zutritt verweigert wird? Soll die als Lebensgemeinschaft

gedachte Ehe aufgelöst werden können, weil die Partner sich nicht mehr vertragen?

Und — wenn schon Vorschriften über das Leben in der Gemeinschaft erforderlich sind — wer stellt sie auf und wer wendet sie an? Wie ist der Widerspenstige zu behandeln, der seine Schulden nicht zahlt, den Militärdienst verweigert, einen Mord begeht?

Schließlich: Sind auch die Staaten selber in ihrem gegenseitigen Verhältnis solchen Rechtsvorschriften unterworfen? Gelten sie gleicherweise für große und kleine Länder, für Amerika und für Liechtenstein?

III.

1. Dieser bunte Ausschnitt aus einem fast unübersehbaren Wirrwarr von Fragen und Hinweisen soll die Ubiquität des Rechts im menschlichen Leben deutlich machen. Kaum ein Schritt, kaum eine Handlung, an der nicht Sollensvorschriften beteiligt sind, die auf eine besondere Ordnung, die Rechtsordnung, zurückgehen. In dieser Hinsicht läßt sich mit Savigny sagen: «Das Recht hat kein Dasein für sich, sein Wesen vielmehr ist das Leben der Menschen selbst, von einer besonderen Seite angesehen» 3.

Sehen wir näher zu, so stellen wir an Hand unserer kleinen Blütenlese von Beispielen fest, daß sie alle es mit dem Menschen als sozialem Wesen zu tun haben, mit dem Menschen in der kleinen natürlichen Gemeinschaft der Familie, in den Zweckzusammenschlüssen von Vertrag und Verband, in Gemeinde, Kanton und Bund. Das Recht erscheint derart als soziale Ordnungsmacht. Es will das Zusammenleben der Menschen ordnen, den

menschlichen Willen so lenken, dass die Gemeinschaft nicht Schaden leidet.

Wenn wir dem Recht Ordnungsfunktion zuweisen, setzen wir voraus, daß seine Vorschriften nötigenfalls erzwungen werden können. Vermag unmittelbarer Zwang die Rechtsverletzung nicht zu verhindern, wird durch Androhung von Bestrafung mittelbarer Zwang ausgeübt und der Rechtsbrecher angehalten, den angerichteten Schaden zu ersetzen. Die Rechtsordnung ist notwendigerweise eine Zwangsordnung.

Gebote und Verbote einer Zwangsordnung sollten eindeutig erkennbar sein, für jedermann gleichlautend. Wie könnte anders verlangt werden, daß jederman sie befolgt? Das Recht bedarf somit der Positivierung. Im Gesetz vor allem ist dem Bürger in möglichst unmißverständlicher Formulierung kund zu tun, was von ihm verlangt wird, mit was er zu rechnen hat.

2. Das Recht ist eine Zwangsordnung. Es ist jedoch nicht nur Zwangsordnung. «La justice sans force est impuissante» sagt Pascal; «la force sans justice est tyrannique. La justice sans force est contredite, parce qu'il y a toujours des méchants; la force sans la justice est accusée. Il faut donc mettre ensemble la justice et la force et pour cela faire que ce qui est juste soit fort ou que ce qui est fort soit juste» 4. Im Recht liegt die Idee der Gerechtigkeit. Es muß, seinem Wesen nach, den Anspruch erheben, «richtig» zu sein.

Den gleichen Anspruch auf «Richtigkeit» erhebt auch eine andere Kraft, die Einfluß auf den menschlichen Willen und auf das menschliche Verhalten verlangt. Ich denke an das Sittengesetz, an die Forderungen der Moral. Welches ist das Verhältnis von Recht und Moral? Wie verhalten sich Rechtsgebot und Sittengesetz zueinander? Es gilt zu unterscheiden.

In gewissen Fällen ist eine völlige Beziehungslosigkeit der bei. den Ordnungskräfte festzustellen. Ob auf der Straße rechts oder

links gefahren werden soll, entzieht sich moralischer Beurteilung. Umgekehrt verzichtet das Recht als soziale Verhaltensordnung weitgehend darauf, das bloße Denken, Fühlen und Wollen zu erfassen. Vor der Moral haben sich auch die Gedanken, vor dem Recht hat sich nur das äußere, eben das soziale Verhalten zu verantworten.

Es ist allerdings bereits eine Frage der «Richtigkeit» — also eines nach ethischen Prinzipien wertenden Maßstabes —, ob das Recht auf den Zugriff in die ureigene Sphäre des Gewissens verzichten soll. Wir bejahen grundsätzlich diesen Verzicht. Der moderne Rechtsstaat abendländischer Prägung schreibt nicht rechtlich ein bestimmtes Glaubensbekenntnis vor, auch dann nicht, wenn er sich ausdrücklich als christlichen Staat bezeichnet. Totalitäre Auffassungen gingen und gehen weiter. Sie wollen den ganzen Menschen, auch seine Gesinnung, rechtlich erfassen.

Kehren wir zum Recht als der Ordnung des äußeren Verhaltens zurück, so stellen wir fest, daß die überwiegende Mehrzahl seiner Regeln materiell vom gleichen Richtigkeitsanspruch geprägt sind wie das Sittengesetz. Mord und Totschlag, Diebstahl und Betrug widersprechen der Moral und der Gerechtigkeit. Es entspricht sittlicher Forderung, daß jedermann rechtsfähig ist, daß einem elternlosen Kind ein Vormund bestellt werden muß. Es ist eine Frage ethisch-rechtlicher Wertung, ob das Stimm- und Wahlrecht in der Demokratie allen Erwachsenen oder nur den Männern zusteht, in welchem Maße die Privatsphäre gegen die immer hemmungslosere Zudringlichkeit moderner Publizität in Wort, Bild und Ton zu schützen sei, ob zu Schadenersatz auch verpflichtet werden könne, wer trotz umsichtigen Verhaltens und ohne jedes Verschulden einen andern geschädigt hat.

Zwischen ausschließlich ethisch geprägtem und rechtlich orientiertem Richtigkeitsdenken ergeben sich freilich recht oft

wesentliche inhaltliche Unterschiede. Das sittliche Prinzip der Einehe entspricht der abendländisch-christlichen Moral und ist in der abendländischen Welt auch ein Rechtsprinzip geworden. Aus dem Wesen der Einehe ergibt sich das Postulat der lebenslänglichen Dauer und damit der Unauflösbarkeit. Der Blick in die Wirklichkeit zeigt, daß die der wahren Ehe zugrundeliegende Gemeinschaft zerbrechen kann, daß die Beteiligten und manchmal auch die Kinder unter der Weiterführung einer inhaltlosen Ehe mehr leiden als unter ihrer Auflösung. Daraus erklärt sich, daß die meisten Rechtsordnungen die Scheidung zerrütteter Ehen zulassen. Selbst die katholische Auffassung, die am Stabilitätsprinzip nicht nur für die Ehe als soziale Institution, sondern für jede konkrete Ehe festhält, trägt den Lebensverhältnissen durch ein ausgebautes System von Nichtigkeitsgründen und durch die Anerkennung einer das Band der Ehe nicht berührenden faktischen Trennung der Ehegatten Rechnung; sie muss zudem in Kauf nehmen, daß das Konkubinat als Dauergemeinschaft von Partnern, die nicht scheiden können, stärker in Erscheinung tritt.

Ein zweites Beispiel aus einem ganz andern Lebensgebiet zum Unterschied rechtlicher und moralischer Wertung: Alle Rechtsordnungen kennen Verjährungs- und Verwirkungsvorschriften. Der Anspruch auf Rückzahlung eines Darlehens, auf Bezahlung von Schadenersatz für eine Körperverletzung, auf Anfechtung der Ehelichkeit eines Kindes kann nach Ablauf bestimmter Fristen rechtlich nicht mehr durchgesetzt werden. Der Gesetzgeber lässt sich von der Erwägung leiten, daß langdauernde Untätigkeit des Berechtigten darauf schließen lasse, mit seinem Anspruch sei etwas nicht in Ordnung. Deshalb wird ein lediglich an den Zeitablauf geknüpfter formaler Untergangsgrund der Erzwingbarkeit geschaffen, welcher den Schuldner weiterer Beweise enthebt und der Rechtsprechung die nötige Sicherheit

gibt. Im Einzelfall kann es höchst stoßend wirken, daß ein Schuldner sich durch bloße Berufung auf die gestern eingetretene Verjährung seiner Verpflichtung zu entziehen vermag. Der Grundsatz ist aber für die Überblickbarkeit und Klarheit der rechtlich geregelten sozialen Beziehungen, für das, was wir als Praktikabilität des Rechts bezeichnen, so bedeutsam, dass keine Rechtsordnung auf ihn verzichten könnte. Mit einem militärischen Bild verdeutlicht: Der Gläubiger, der zufolge solcher Fristversäumnis seine begründete Forderung verliert, ist ein Vorposten, der zum Schutz der Hauptstellung sein Leben opfert, zum Schutze der Vielen nämlich, welche der Fristablauf vor Behelligung mit zweifelhaften Ansprüchen bewahrt.

Die Hinweise zeigen, daß der Maßstab der Moral strenger und höher ist, daß er ins Unbedingte zielt. Der Masstab des Rechts ist auf Verwirklichung im Diesseitigen und Irdischen gerichtet. Er zieht menschliche Unvollkommenheiten in Betracht und will, wenn das Beste und Höchste doch nicht erreichbar ist, wenigstens eine erträgliche Ordnung schaffen. Als man Solon fragte, ob er seinen Bürgern die besten Gesetze gegeben habe, antwortete er: Die besten schlechterdings nun freilich nicht, aber doch die besten, deren sie fähig waren 5.

Die Antwort auf die alte Frage, ob dem Recht oder dem Gewissen der Vorrang zustehe, kann — zum mindesten im Grundsätzlichen —keine Schwierigkeiten bereiten. Schon die Einsicht in die unausweichliche Subjektivität jeder menschlichen Wertung führt zum Vorrang der Rechtsregel. Sie beruht zwar auch auf subjektiver Grundlage, strebt jedoch eine überindividuelle zwischenmenschliche Regelung an, die preisgegeben würde, fiele der Vorrang des Rechts dahin. Die positive Ordnung des Rechts muß ihrem Wesen nach trotz inhaltlicher Unvollkommenheit verbindlich sein. Exemplarisch das sokratische Beispiel! Sokrates lehnt die von Kriton vorbereitete Flucht ab, weil

die Vereinbarung zwischen den personifizierten Gesetzen der Stadt und ihm, dem Bürger, dahin geht, «sich zu fügen, welche Urteile das Gericht der Stadt auch immer fällen mag». Der unschuldig Verurteilte geht in den Tod, «auf daß die ewige Macht des Rechts von ihm bestätigt, nicht von ihm angetastet werde» 6.

Daß es allerdings eine Grenze des Vorrangs ungerechter Ordnung gibt, hat uns das 20. Jahrhundert erneut vor Augen geführt. Der Staat, der das Verbrechen sanktioniert, kann den Vorrang der Verbindlichkeit seiner Gesetze mit Fug nicht beanspruchen.

3. Eine weitere Besonderheit des Rechts, das wir als soziale Ordnungsmacht erkannt haben, liegt darin, dass rechtliche Regelung des Gemeinschaftslebens und Durchsetzbarkeit dieser Regelung eine gewisse Schematisierung verlangen. Die Rechtsordnung muß überblickbar sein. Dieses Erfordernis der Rechts- und Verkehrssicherheit kann in Gegensatz treten zum Gerechtigkeitsgehalt einer Ordnung. Die Auseinandersetzung zwischen Richtigkeit und Rechtssicherheit ist jedoch — wie die ihr verwandte zwischen dem Recht als Zwangsordnung und als gerechte Ordnung — dem Wesen des Rechts immanent.

«Les lois ne doivent point être subtiles», sagt Montesquieu 7. Dieser Mangel an «Subtilität», dieser Hang und dieser Zwang zur Bildung durchsetzbarer Regeln gibt dem juristischen Denken seine besondere Prägung und liegt wohl auch zu einem guten Teil dem an die Adresse der Juristen gerichteten Vorwurf zugrunde, wahrer Gerechtigkeit und Billigkeit nur im Wege zu stehen.

Man kann die Notwendigkeit rechtlicher Regelbildung vorerst rein praktisch begründen. Zweifellos haben die Automobilisten, die zwischen Bahnhof und Bärengraben einen Parkplatz suchen, Gründe sehr verschiedenen Gewichts, dies zu tun. Der möchte einen Schoppen trinken, jener Zigaretten kaufen, der dritte Geld auf die Bank tragen, der vierte schließlich ist zu einer für sein

weiteres Fortkommen entscheidenden Besprechung eingeladen. Gleichwohl gelten für sie alle die gleichen Beschränkungen. Differenzierungen lassen sich nur sparsam und wiederum schematisierend vornehmen — etwa zugunsten der Ärzte schlechthin, gleichgültig ob das Fahrzeug zu einem Krankenbesuch oder zu einem andern Zweck verwendet wird —, soll nicht die Kontrolle unmöglich, der Mißbrauch zur Gewohnheit werden und deshalb die täglich mühsam zu erkämpfende Verkehrsordnung in ein Verkehrschaos münden. — Es ist eine schematische Regel, welche das Mündigkeitsalter auf zwanzig Jahre festlegt und dem nur einen Tag vor dem zwanzigsten Geburtstag abgeschlossenen Vertrag die verpflichtende Wirkung versagt, die ihm einen Tag später zugekommen wäre, obwohl niemand behaupten will, gerade dieser Tag habe dem Zwanzigjährigen das Mass an Einsicht und Erfahrung verschafft, das seine Verpflichtungsfähigkeit, sein Wahl- und Stimmrecht in öffentlichen Angelegenheiten zu bejahen gestattet. Würde aber auf diese formale Schematisierung verzichtet, so müßte im Einzelfall an Hand materieller Kriterien untersucht werden, ob Verpflichtungsfähigkeit und Stimmrecht zuerkannt werden dürfen. Das erforderte nicht nur zeitraubende und kostspielige Vorkehrungen — etwa staatsbürgerliche Prüfungen —, sondern leistete auch zweifelhaften Manövern Vorschub. Die staatsbürgerliche Prüfung kann in den Dienst der Ausschaltung gewisser Teile der Bevölkerung gestellt werden, wie etwa die Handhabung des illiteracy-test in den amerikanischen Südstaaten zeigt; auf die eigene mangelnde Einsicht würde sich berufen, wer erkennt, daß sich ein abgeschlossener Vertrag ungünstig auswirkt. Wir sehen, zu weit gehende Differenzierung beeinträchtigt den Ordnungsgehalt einer Regelung und vermag schließlich auch ihren angestrebten Gerechtigkeitsgehalt auszuhöhlen. So ist das oft zitierte und fast erschreckend klingende Goethewort zu verstehen: «Es liegt nun einmal in

meiner Natur: ich will lieber eine Ungerechtigkeit begehen als Unordnung ertragen» 8.

4. In zunehmendem Masse wird in neuerer Zeit das Erfordernis der Praktikabilität des Rechts missachtet 9. Das ist einerseits darauf zurückzuführen, dass die zu ordnenden Lebensverhältnisse in der sich entwickelnden Massengesellschaft unübersichtlicher geworden sind, dass Menschen und Interessen häufiger aufeinanderprallen. Vor allem ist aber auch der Einfluss der in Gruppen zusammengeschlossenen Interessenten auf Gesetzgebung und Rechtsanwendung gestiegen. Der unmittelbar Interessierte und Betroffene sieht vorwiegend und oft ausschließlich nur noch sein Anliegen und seinen Sonderfall. Sie will er geregelt und berücksichtigt wissen, in kasuistisch umschriebenen Sonderbestimmungen, die oft genug mit der großzügiger konzipierten bestehenden allgemeinen Regelung kaum mehr in Einklang gebracht werden können. Und gelingt es nicht, die Sonderbegehren durchzusetzen, wird umgekehrt auf eine faßbare Wertung verzichtet und im unverbindlich gemeinten Hinweis auf behördliches Ermessen, auf die Billigkeit, auf das allgemeine Wohl versucht, die normative Regelung zu hintertreiben 10.

5. Daß eine durchsetzbare Rechtsordnung einem gewissen Schematismus ruft, einer Regelung somit, die generelle und abstraktive Formulierungen verwendet, will keineswegs heissen, die Anwendung derart aufgestellter Rechtssätze auf Lebenssachverhalte erfolge in formaler, ausschließlich axiomatisch-deduktiver Methode. Die Photographie der Filmdiva, des Sportmannes oder des Politikers ist ungefragt zu Reklamezwecken verwendet worden. Ob der Verantwortliche das Reklamematerial zu vernichten und Schadenersatz zu bezahlen habe, ist auf Grund von Art. 28 des Zivilgesetzbuches zu beurteilen, der lautet: Wer in seinen persönlichen Verhältnissen unbefugterweise verletzt wird, kann auf Beseitigung der Störung und im Falle

des Verschuldens auf Schadenersatz klagen. Die hier und bei jeder Rechtsanwendung zu vollziehende logische Abteilung vom abstrakten Obersatz (Art. 28 ZGB) zum konkret vollziehbaren Untersatz (Vernichtung bestimmter Prospekte, Verurteilung zu 20000 Franken Schadenersatz) hat so viel wertenden Gehalt, dass das rein Deduktive in den Hintergrund tritt. Eindeutigkeit und Selbstverständlichkeit sind in aller Regel erst Ergebnisse der Auslegung. Auch der nächstliegende Sinn bedarf —wie August Egger feststellt 11 —der Überprüfung.

So steht im Mittelpunkt juristischer Tätigkeit die Interpretation. Sie befaßt sich —wie die theologische und die literarische Interpretation —mit dem Verstehen eines Textes, mit dem Erfassen der geistigen Bedeutung seines Sinnes. Auf die Lehren der allgemeinen Hermeneutik, auf ihre weitgehende Übereinstimmung mit der juristischen Auslegungslehre kann an dieser Stelle nicht eingegangen werden 12. Zu betonen ist dagegen das Besondere juristischer Interpretation, das in ihrem normativen Charakter zu erblicken ist. Sie hat eine Ordnung auszulegen und sie tut dies einzig und allein zu dem Zweck, gerechte Entscheidungen des Einzelfalls in der Praxis der Rechtsanwendung vorzubereiten. Damit gewinnen von den verschiedenen Auslegungsgesichtspunkten der Canon der Einheit und derjenige des inneren Sachzusammenhanges eine besondere Bedeutung. Der einzelne Rechtssatz läßt sich nicht isoliert betrachten. Er steht in einem Gefüge von Ordnungsvorstellungen, Zwecken und Wertungen. Diese sind zum Teil im Gesetz oder in der übergeordneten Verfassung kundgegeben. Sie ergeben sich zu einem andern Teil aus außerrechtlichen sozialen Ordnungen, auf welche die Rechtsnorm allenfalls verweist, wie gute Sitte, Treu und Glauben, Verkehrssitte und Handelsbräuche. Sie müssen schließlich in manchen Fällen von der Rechtsanwendung unter Berücksichtigung dieser Zusammenhänge neu entwickelt werden, um die

vom Leben in unüberblickbarer Fülle aufgeworfenen neuen Probleme zu meistern.

Dieses Ordnungsgefüge leitet den Richter und zwingt ihn zur Regelbildung und zum Verzicht auf den blossen Billigkeitsentscheid im Sinn des hier und jetzt gerade Angemessenen. Es leitet ihn insbesondere auch dort, wo das positive Gesetzesrecht Lücken aufweist. Die Formulierung des Art. 1 des schweizerischen Zivilgesetzbuches, der Richter habe, wo ihn Gesetz und Gewohnheitsrecht im Stiche lassen, nach der Regel zu entscheiden, die er als Gesetzgeber aufstellen würde, hat Epoche gemacht. Ihre eigentliche Bedeutung liegt in der Verweisung auf eine Regel, in der Ablehnung des Billigkeitsentscheides, der sich nicht als Ausdruck eines Grundsatzes zu rechtfertigen vermag.

6. Man möchte versucht sein, diesem Postulat der Schematisierung und Regelbildung entgegenzuhalten, daß ja keine Lebenssituation der andern gleiche und daß somit die unverlierbare Individualität des Einzelfalles auch einer Individualität der Entscheidung rufe. Der Richter habe somit nur die Fülle der Einzelumstände zu würdigen und nicht im Hinblick auf eine typisierende Norm bestimmte Tatbestandsmerkmale als rechtserheblich zu bezeichnen, andere nicht zu beachten.

Das könnte in der Tat höchste Gerechtigkeit sein —aber nicht in irdischer Hand und nicht nach dem Wesen irdischer Gerechtigkeit. Die wissenschaftliche Lehre des Dezisionismus war bezeichnenderweise Begleiterscheinung des dritten Reichs. Max Weber skizziert in seiner Rechtssoziologie die Geschichte und das Wesen der Kadijustiz, von den attischen Volksgerichten und den salomonischen Urteilen über Sancho Pansa als Statthalter und die Kabinettsjustiz des Absolutismus bis zur modernen Strafrechtspflege durch die Geschworenengerichte 13. Diese Justiz ist nicht notwendig inhuman. Sie vermag, wie das Beispiel Harun al Raschids zeigt, souverän den Guten zu belohnen und

den Bösen zu bestrafen. Sie gibt jedoch noch in dieser eher die Ausnahme bildenden Ausgestaltung dem ihr Unterworfenen das Gefühl völliger Ohnmacht und Unsicherheit. Sie kennt — wie die «sozialistische Gesetzlichkeit» marxistisch-leninistischer Prägung — keine Gleichheit vor dem Gesetz, sondern führt zur Differenzierung und Diskriminierung großer Teile der Bevölkerung 14, Der Richter, der auf Regelbildung verzichtet und einen blossen Billigkeitsentscheid fällt, betritt einen abschüssigen Weg, der in gradueller Abstufung bis zu nackter Willkür führen kann. «Dans les états despotiques» —sagt Montesquieu — «il n'y a point de loi: le juge est lui même sa règle» 15.

Wenn mit erneutem Nachdruck auf die Notwendigkeit der Regelbildung und damit der Systematisierung hingewiesen wird, ist gleicherweise daran zu erinnern, daß nicht ein deduktives System gedacht ist, dessen Ableitungszusammenhang formelmäßig darstellbar wäre. Gemeint ist ein weiterer Systembegriff, eine Stoffgruppierung nach Ordnungsgesichtspunkten, die häufig nicht in ein eindeutiges Verhältnis der Über- und Unterordnung zu bringen sind, die aber doch auf erkennbaren und somit vergleich- und wägbaren Wertungen beruhen. Diesen Systemgedanken «eines inneren Begründungszusammenhangs der Rechtssätze» kann die Jurisprudenz nie preisgeben. Sie gäbe anders ihren Wissenschaftscharakter und — was schwerer wiegt — das Wesen des Rechts preis, weil es Grundhypothese aller Wissenschaft ist, daß eine «dem Denken erfaßbare Struktur die geistige und die materielle Welt beherrsche», und weil das Wesen der Gerechtigkeit verlangt, im Hinblick auf eine jeweilige bestimmte Form des sozialen Lebens «in einer Summe rationaler Prinzipien» erfaßt zu werden 16.

Ob göttliche Gerechtigkeit der Regelbildung entraten kann 17, das zu beurteilen kann nicht Sache des Juristen sein. Es darf vielleicht an Schillers Feststellung erinnert werden 18, dass der

eigentümliche Charakterzug des Christentums, der es von allen übrigen monotheistischen Religionen unterscheide, «in nichts anderem als in der Aufhebung des Gesetzes oder des Kantischen Imperativs» beruhe, an dessen Stelle es «eine freie Neigung» gesetzt haben wolle, und so mag christliches Rechtsdenken der Einzelfallgerechtigkeit näher stehen als der Normgerechtigkeit des Regeldenkens 19. Ist aber diese freie Neigung nicht die Liebe, die der Römerbrief als «des Gesetzes Erfüllung» bezeichnet 20 ? Ist sie nicht ein Akt, der Willkür und Gnade vereinigt und der sich mit irdischer Gerechtigkeit überhaupt nicht vergleichen läßt? Wird diese Frage bejaht, so kann sich auch christliches Rechtsdenken für die diesseitige Ordnung, die allein den Juristen als Juristen angeht, mit der Gesetzmäßigkeit irdischer Gerechtigkeit abfinden 21 22.

7. Wer bisher geglaubt hätte, Rechtssetzung und Rechtsanwendung seien eine Sache gesunden Billigkeitsdenkens, am besten aufgehoben beim Nichtjuristen, der unverbildet den konkreten Einzelfall würdigt und entscheidet, sollte — so möchte ich hoffen — nachdenklich geworden sein. Das Wissen um die soeben gekennzeichneten System- und Wertungszusammenhänge, um den geschichtlichen Ursprung, das Wachsen und den Bedeutungswandel der Begriffe und Institute, die Kontrolle in der Rechtsvergleichung, die Rücksichtnahme auf Stabilität, auf Rechtssicherheit und auf Praktikabilität, das alles läßt sich nur auf der Grundlage solider wissenschaftlich-fachlicher Schulung erreichen. Der Radioapparat, der Kühlschrank werden vom Fachmann konstruiert und unterhalten. Was für Radio und Kühlschrank gilt, sollte wohl auch für die Rechtsordnung billig sein 23, wobei der Jurist, wie der Radio- und Kühlschranktechniker, dem genialen Bastler gern auch einen Platz freihält. Über die fruchtbare Zusammenarbeit zwischen dem Juristen und dem

besonderen Kenner bestimmter Lebensgebiete wird noch ein Wort anzubringen sein.

Vorerst ist beizufügen, daß am Prozess der Neubildung, Fortbildung und Anwendung des Rechts, der als ein innerlich zusammenhängendes Ganzes anzusehen ist, alle juristischen Berufe teilhaben, in erster Linie der Richter, ferner der Verwaltungsjurist, der Anwalt und insbesondere auch die Wissenschaft. Es ist in der Tat, wie Karl Engisch in seiner «Einführung in das juristische Denken» bemerkt 24, «der fast einzigartige Vorzug der Rechtswissenschaft unter den Kulturwissenschaften, nicht neben oder hinter dem Recht einherzugehen, sondern das Recht selbst und das Leben im und unter dem Recht mitgestalten zu dürfen». Der schon von Savigny im Zusammenhang mit der Ablehnung des Kodifikationsprogramms Thibauts entwickelte Gedanke, die Rechtswissenschaft als Gemeingut der Juristen mache den Juristenstand zu einem «Subjekt für lebendiges Gewohnheitsrecht, also für wahren Fortschritt», ist auch unter der Herrschaft der Gesamtkodifikationen lebendig geblieben 25.

8. Das Gesagte bedarf der Präzisierung im Hinblick auf das Gesetzgebungsverfahren. Die Gesetzgebung ist nicht den Juristen, sondern den Räten und (mit dem Instrument von Referendum und Initiative) dem Volk vorbehalten. Das will, wie ein Blick auf die Entstehungsgeschichte aller Gesetze zeigt, nicht heissen, dass Vorbereitung und Ausarbeitung durch das Parlament als solches oder gar durch das Volk stattfinden. Hat sich die Einsicht in die Regelungsbedürftigkeit eines bestimmten Gebietes durchgesetzt oder liegt ein parlamentarischer Auftrag vor, so werden die Entwürfe durch die Verwaltung, regelmässig im Zusammenwirken mit Expertenkommissionen, aufgestellt. In wichtigen Bereichen sind sodann die Kantone und die Wirtschaftsverbände anzuhören. In diesem Vorbereitungsverfahren wäre eine andere Arbeitsteilung als die heute häufig übliche angezeigt,

derart nämlich, dass die in den Kommissionen sitzenden Vertreter von Interessengruppen als Experten hinsichtlich der tatsächlichen Verhältnisse und der im Streite liegenden Interessen anzusehen wären. Die vorläufige Würdigung dieser Interessen, die Prüfung der Vereinbarkeit vorgeschlagener Lösungen mit der bestehenden Ordnung dagegen sollte Sache von Juristen sein, die nicht als Gruppenvertreter anzusehen sind 26. Dem Parlament und schließlich dem Volk bleibt es vorbehalten, die zugrundeliegenden Wertungen zu bestimmen, wobei das Parlament sicher gut beraten ist, wenn es zur Wahrung des Gesamtzusammenhangs auf die Stimme seiner eigenen und der aussenstehenden sachkundigen und unabhängigen Juristen hört 27.

9. Die Ubiquität des Rechts, sein normatives Wesen, beides macht den Juristen —nach römischem Vorbild, wie der Romanist Puchta sagt — zum «Unterhändler zwischen dem Buchstaben des Gesetzes und dem Leben» 28. Weil diese Aufgabe nicht eine bloss deduktive, sondern eine wertende ist, setzt sie ausreichende Kenntnis aller Lebensverhältnisse voraus. Nicht dass der Jurist sich nun zum dilettierenden Alleswisser aufzuwerfen hätte. Er wird sich nicht selten die reale Kenntnis der Dinge und der Zusammenhänge vom Fachmann darlegen lassen. Der Arzt ist es, der ihm sagt, ob sich ein neu entdeckter Blutfaktor mit Sicherheit dominant von den Eltern auf die Kinder vererbt, was gestattet, die Vaterschaft eines Mannes auszuschließen, welcher den beim Kind vorhandenen, der Mutter aber fehlenden Faktor auch nicht aufweist. Der Automobilexperte rekonstruiert das technische Geschehen eines Unfalls. Der Psychiater untersucht den Geisteszustand eines Verbrechers im Hinblick auf seine Zurechnungsfähigkeit, eines zu Bevormundenden bezüglich Bestehens einer Geisteskrankheit.

Das sind aber immer nur einzelne Etappen des Prozesses der Rechtsanwendung 29. Die meisten erkennenden und alle wertenden Schritte hat der Jurist selber zu tun. Er muss sie selber tun, weil, die in der Rechtsanwendung liegende Subsumtion von Rechtsfällen unter Rechtssätzen eine begriffliche Vorformung der Lebensvorgänge verlangt. Sie geht, entsprechend der sozialen Aufgabe des Rechts, von einem «natürlich-sozialen» Weltbild aus. «Die natürliche Welt, in der sich die rechtserheblichen Vorgänge abspielen und auf die darum die juristischen Begriffe hinführen und abzielen, ist... nicht grundsätzlich die naturwissenschaftlich gesehene Welt der Atome, Protonen, Elektronen, elektromagnetischen Felder und Schwingungen, auch nicht die Welt physiologischer und biologischer Prozesse, nicht einmal die Welt der einfachen «Empfindungen» im Sinne der wissenschaftlichen Psychologie,... sondern sie ist die Welt des modernen Kulturmenschen, wie er sie im Alltag erlebt und versteht» 30. Es ist eine wertbezogene Welt, in welcher wir den Nachbarn mit Einwirkungen durch «lästige Dünste» zu verschonen haben — nicht mit den Auswirkungen näher umschriebener chemischer Vorgänge —, in welcher der Begriff der Sache nicht von einer bestimmten physikalischen Beschaffenheit abhängt, sondern von der Möglichkeit, unter Ausschluss anderer dem menschlichen Gebrauch zu dienen, was auch etwas so Unkörperliches wie die Elektrizität zur Sache macht. Dieser Rückbezug der Lebensvorgänge auf eine im Recht kundgegebene Wertordnung erklärt und verlangt juristische Formung des Sachverhalts durch Bestimmung der «rechtserheblichen» Tatsachen im Hinblick auf die möglicherweise anwendbaren Rechtssätze; er verlangt zugleich juristische Interpretation der Rechtssätze durch Bestimmung ihres Wert- und Sinngehaltes im Hinblick auf die allenfalls unter sie fallenden Tatbestände.

So erfährt etwa die lapidare Feststellung des Zivilgesetzbuches «Geisteskranke sind in keinem Falle ehefähig» durch den Zweckgedanken die erforderliche Einschränkung. Wo keine ausgeprägte Gefährdung der ehelichen Gemeinschaft und auch keine Wahrscheinlichkeit der Vererbung besteht, wird die Eheschließung gestattet, obwohl im medizinischen Sinn zweifellos eine Geisteskrankheit vorliegt.

10. Das bisher entworfene Bild vom Wesen des Rechts und von der Aufgabe des Juristen hat den Ordnungsgehalt in den Vordergrund gestellt und damit vielleicht der Auffassung Vorschub geleistet, das Recht sei nichts anderes als Zwangsreglementierung, freilich orientiert an der Idee der Gerechtigkeit, aber doch obrigkeitlich zumessend, was dem Einzelnen und der Gesamtheit fromme. Das war die Meinung des polizeistaatlichen Absolutismus, das ist die Meinung totalitärer Staaten. Es kann nicht unsere Meinung sein, weil es dem Wesen des Menschen widerspricht. Das oft mit naivem Pathos und nicht selten zu unverhüllt egoistischen Zwecken vorgetragene Bekenntnis zur Selbstbestimmung des Menschen bedarf allerdings der Begründung und näheren Umschreibung, die hier nur gerade angedeutet werden kann.

Ausgangspunkt ist dasjenige, was heute von Soziologen und Naturwissenschaftern, von Psychologen und Philosophen als «Umweltfreiheit» und «Weltoffenheit» des Menschen bezeichnet wird, keine neue Erkenntnis, aber eine Erkenntnis, die immer wieder neu bewältigt werden muß. Der Zoologe hebt hervor, dass durch die Erbsubstanz nicht fertige Merkmale festgelegt sind. «Vererbt wird vielmehr ein meist reiches Repertoire an offenen Reaktionsmöglichkeiten» 31. Ob Schillers Behauptung, daß bei dem Tier und der Pflanze die Natur nicht bloss die Bestimmung angibt, sondern sie auch allein ausführt, in dieser kategorischen Formulierung zutrifft, mag vielleicht bezweifelt werden. Der Fortführung des Gedankens wird auch die moderne Forschung

zustimmen: «Dem Menschen aber gibt sie (die Natur) bloss die Bestimmung und überläßt ihm selbst die Erfüllung derselben. Dies allein macht ihn zum Menschen. Der Mensch allein hat als Person unter allen bekannten Wesen das Vorrecht, in den Ring der Notwendigkeit, der für bloße Naturwesen unzerreißbar ist, durch seinen Willen zu greifen und eine ganz frische Reihe von Erscheinungen in sich selbst anzufangen» 32.

Ein Blick in Geschichte und Gegenwart zeigt, wohin die Umweltoffenheit den Menschen zu führen vermag, im Guten und im Bösen. Völlige Verleugnung mitmenschlichen Empfindens und aufopfernde Hingabe stehen im Schrecken von Auschwitz Seite an Seite. Im Hinblick auf das Recht lässt sich zu solchen äußersten Beispielen nur feststellen, daß es in seiner jeweiligen geschichtlichen Positivierung als Menschenwerk vor menschlichem Versagen nicht bewahrt ist. Nicht das Recht versagt, sondern der Mensch. Es gibt, ist man versucht zu sagen, über die Feststellung der offenen Natur des Menschen hinaus kein einheitliches Menschenbild 33.

Es steht ausser Zweifel, daß das Recht dem Verstoß gegen elementare Forderungen der Sittlichkeit entgegenzutreten hat. Eine andere Frage ist aber, ob Regeln höherer Sittlichkeit zu Rechtsregeln gemacht werden sollen. Daß schon die Rücksichtnahme auf die Wirkungsgrenzen rechtlichen Zugriffs solches ausschließt, ist am Beispiel des Ehe- und Scheidungsrechts sichtbar geworden. Weder kann das Recht «eheliche Bindungen in der sozialen Wirklichkeit unmittelbar gestalten, noch ihre Existenz gewährleisten» 34. Aber auch dort, wo die Zwangsregelung durchsetzbar wäre, lässt die Rechtsordnung um der Selbstbestimmung des Menschen willen einen Raum eigener sittlicher Verantwortung. Der Einzelne kann nach unserer Rechtsauffassung in erheblichem Ausmaß seine Rechte und Pflichten selber gestalten und seine natürliche Freiheit nach eigenem Ermessen

benützen 35. Diese Freiheit für die Einzelnen besteht nicht nur —wie gelegentlich behauptet wurde, vor allem im Zusammenhang mit totalitären Staatsauffassungen — um der Gemeinschaft willen, in deren Plan sie läge. Hinter ihr steht vielmehr das mit der Natur des Menschen zusammenhängende und jedem Menschen elementar innewohnende «Interesse, selbständig zu werden, zu sich selber, zu seinem eigenen Wesen zu kommen» 36.

Wer diese Selbstgestaltung des Lebens bejaht, muss auch den Mißbrauch und das Mißlingen in Kauf nehmen. Dem Mißbrauch tritt das Recht entgegen, indem es Schranken aufrichtet gegen leichtfertige Selbstpreisgabe, gegen Schädigung und Ausbeutung anderer, gegen gemeinschaftswidriges Verhalten. Jeden Mißbrauch und auch das Mißlingen ausschalten zu wollen, hiesse nicht nur die Möglichkeiten des Rechts verkennen. Es müsste im bloßen Versuch —dessen Aussichten ja in einer technisierten Welt mit all ihren Zwangs- und Kontrollmitteln in skrupelloser Hand ständig wachsen — zu einer für den Menschen als autonomes Wesen unerträglichen Reglementierung führen.

Wo die Grenze zwischen Zwang und Freiheit zu ziehen ist, bedarf im Einzelfall sorgfältiger Prüfung. Einerseits ist davor zu warnen, schematisch das vielberufene Subsidiaritätsprinzip anzuwenden. Wie Hans Ryffel in seinem nüchtern differenzierenden Aufsatz «Staat und Gesellschaft im Zeichen des Pluralismus» 37 ausführt: «Man darf nicht unbesehen vom Grundsatz ausgehen, daß das, was vor- und außerstaatliche Gruppen selber zu regeln in der Lage sind, diesen deshalb unter Fernhaltung des Staates auch wirklich zu überlassen sei. Entscheidend bleibt immer, ob die erforderliche kollektive Ordnung bestimmter Tatbestände im Blick auf die freie und menschenwürdige Entfaltung des Einzelnen und die selbstverantwortliche Gestaltung des Daseins der wirklich-maßgeblichen Ausgestaltung, das heisst

der Konturierung in rechtlich-staatlichen Formen bedarf. Dieser leitende Gedanke wird ein nicht zu unterschätzender Kornpaß sein, sofern davon nur wirklich Gebrauch gemacht wird. Unter der Annahme eines geordneten demokratischen Rechtsstaates wird die Freiheit des Einzelnen beim Staat immer noch besser aufgehoben sein als bei privaten, namentlich kollektiven Machtinstanzen, die keiner ausreichenden und öffentlichen Kontrolle unterstehen».

Ergänzend ist zu unterstreichen, daß Autonomie organisierter Gruppen der Privatautonomie als Selbstbestimmung des Einzelnen unmittelbar zuwiderlaufen kann, was häufig —bewußt oder unbewusst — verwischt wird, indem unterscheidungslos die Selbstgestaltung der staatlichen Ordnung gegenübergestellt wird. Wo Gruppenautonomie nicht nur zur freiwillig und ohne Zwang angenommenen Selbstbestimmung der Gruppenangehörigen führt, sondern zu Fremdbestimmung, das heisst zur Unterwerfung Dritter unter die Gruppenordnung, muß sie sich gefallen lassen, in wertendem Vergleich der gefährdeten echten Privatautonomie und der staatlichen Regelung gegenübergestellt zu werden. Dabei ist die in den Gruppenordnungen liegende Gefahr der Rechtszersplitterung und der Einbusse an Richtigkeitsgehalt besonders zu würdigen. In viel größerem Maße als der Unkundige ahnt, sind die von der Gerechtigkeitsidee mitgeprägten Regelungen des staatlichen nichtzwingenden Rechts durch allgemeine Geschäftsbedingungen, private «Marktordnungen» und dergleichen ausgeschaltet worden, eine echte und große Sorge der Zeit.

Ferner ist bei der Bestimmung des privatautonomen Bereichs nicht zu übersehen, daß Bevölkerungszunahrne, technische und wirtschaftliche Entwicklung, kurz alles, was unter dem Schlagwort der Wandlung zur Maßengesellschaft verstanden wird, vermehrte obrigkeitliche gesetzliche Regelung verlangt, ganz einfach

deshalb, weil Menschen und Dinge sich im Raum zunehmend drängen. Man denke etwa an die Verkehrsgesetzgebung, bis zum Aufkommen der modernen Transportmittel praktisch inexistent, heute Bände füllend, an den Schutz vor Luftverunreinigung, Gewässerverschmutzung und störender Lärmerzeugung. Es mag auch sein, dass zunehmende Rücksichtslosigkeit, wie wir sie auf Bahnhöfen, vor Kinotüren und an Garderoben beobachten, die Reglementierung von Lebensvorgängen verlangt, welche bisher und anderorts — wie etwa das englische Beispiel des Queue-Stehens zeigt —dem Anstandsgefühl allein unterstanden.

Anderseits ist zu bedenken, dass eine übertriebene Moralisierung des Rechts die Selbstbestimmung des Einzelnen beeinträchtigen kann. Sie berücksichtigt zu wenig das Subjektive und Ungewisse ethischer Gewissensentscheidung. Sie erhebt solche Entscheidung, die dem Einzelnen gemäss sein mag, zur höheren öffentlichen Moral. Sie vermehrt damit die Gefahr von Gewissenskonflikten. «Je mehr das Gesetz versucht, eine bestimmte Weltanschauung durch sein Sanktionssystem durchzusetzen, um so stärker wird es mit dem Gewissen des einzelnen in Konflikt geraten» 38.

Gesetzgebung und Rechtsanwendung müssen deshalb von Gedanken der Toleranz mitbestimmt sein, besonders in Rechtsgebieten, die unmittelbar im Weltanschaulichen gründen. Gesetz und Recht dürfen und sollen sich darauf beschränken, in diesem Sinn «ethisches Minimum» zu sein. Diese von Georg Jellinek 39 geprägte und gelegentlich angefeindete Formel hat ihre volle Berechtigung. Sie faßt plastisch zusammen, daß das Recht zwar eine elementare Regelung des Gemeinschaftslebens entschieden und unbedingt durchzusetzen hat, dass es sich aber seiner praktischen Wirkungsgrenzen bewußt bleiben muß und daß es zudem um der Selbstverwirklichung des Menschen willen diesem einen Raum freier Entscheidung ausspart.

Fassen wir rückblickend zusammen, so vermögen wir am Wesen des Rechts das Besondere juristischer Tätigkeit zu erkennen, können aber auch ermessen, inwiefern das Recht unser aller Anliegen sein muß.

Die Arbeit des Juristen wird getragen von einem leidenschaftlichen, aber sachorientierten Willen zur Schaffung und Durchsetzung einer gerechten Regelung, zugleich aber auch von nüchternem Verständnis für die Möglichkeiten und die Grenzen einer diesseitigen und gegenwärtigen Ordnung. Der Jurist weiss um die extremen Verhaltensmöglichkeiten des Menschen, — «ni ange ni bête», nicht weil er des absolut Guten und des extrem Bösen nicht fähig wäre, aber weil es Höheres bedeutet, Gutes zu tun, verwerflicher ist, Böses zu vollbringen, wenn Entscheidungsfreiheit besteht, und nicht gottähnliches Wesen oder tierischer Instinkt gar keine Wahl offen lassen 40. Der Jurist weiss aber auch um die Natur des Durchschnittsmenschen, wie sie etwa in der Formulierung Fontanes 41 umrissen wird: «Bah, es wird gewesen sein, wie es immer war und immer ist, ein bißchen gut, ein bißchen böse, arme kleine Menschennatur!»

So sieht er das Recht als das, was es in seiner Funktion für den Menschen letztlich ist: Eine Friedensordnung menschlicher Gemeinschaften, die im Ausgleich unter den Einzelnen in den engen und weiten Bereichen der Familie und der Verwandtschaft, der wirtschaftlichen und der geselligen Zusammenschlüsse, des Staates und schließlich der Völkergemeinschaft die Stabilität von Staat und Gesellschaft zu gründen sucht. Eine Friedensordnung —ich zitiere den theologischen Kollegen, der in seinem schönen Aufsatz «Von göttlicher und menschlicher Gerechtigkeit» 42 dem Juristen völlig zu Recht Bescheidenheit und Bescheidung empfiehlt —, die in der Tat nicht viel mehr

vermag, als «durch Pflege des Rechts in einer ... hochfiebernden Gesellschaft ein wenig Sicherheit und Geborgenheit» aufzubauen und zu bewahren, die aber damit ein Höchstes anstrebt 43 und — was vielleicht im gleichen Aufsatz übersehen wird — erst eine wesentliche Voraussetzung dafür schafft, dass auch menschliche Liebe erwiesen, menschliche Gnade geübt wird. Eine Friedensordnung, die der Macht und des Zwanges nicht entbehren kann, die aber — mit oder ohne Jenseitshoffnung — von der Vorstellung eines Reiches der Gerechtigkeit mitgeprägt wird, jener irdischen Gerechtigkeit, ohne deren Bestand es nach einem Kant-Wort keinen Wert mehr hätte, dass Menschen auf Erden leben 44. Eine Friedensordnung schließlich, die der tätigen Anteilnahme aller bedarf, damit sich nach Möglichkeit und in immer weiteren Bereichen die Berufung des Menschen erfülle, in Freiheit und Gleichheit zu leben.

ANMERKUNGEN

Rechtswissenschaft die so betitelte Rektoratsrede von HELMUT COING, Frankfurter Universitätsreden, Heft 17, 26 ff., bes. 41.

seien von der Anwendung dieses Gesetzes möglichst fernzuhalten Vgl. OTTO FISCHER: Bundesgesetz über Kartelle und ähnliche Organisationen vom 20. Dezember 1962, Verlag Schweizerischer Gewerbeverband, Bern 1963, 31/2.