Forschung und Lehre in der Chemie
Rektoratsrede
von Prof. Dr. Walter Feitknecht
VERLAG PAUL HAUPT BERN 1963
Printed in Switzerland
Copyright © 1963 by Paul Haupt Berne
Alle Rechte vorbehalten
Druck Paul Haupt Bern
Forschung und Lehre in der Chemie
Rektoratsrede 1962
1.
Es ist eine alte Tradition, daß an der Gründungsfeier unserer
Universität der neu ernannte Rektor vor Vertretern der Behörden,
vor Freunden und Gönnern, Kollegen und Studierenden
über sein Fachgebiet spricht. Für den Vertreter des Faches Chemie
ist dies ein schwieriges Unterfangen. Wohl ist er sich bewußt,
wieviel sein Fach zum naturwissenschaftlichen Weltbild
beigetragen hat und daß es zugleich einer der Grundpfeiler des
modernen technischen Zeitalters ist. Die Chemie hat sich aber
stets einer Sprache bedient, die nur dem Eingeweihten verständlich
ist, und es deshalb schwer fällt, letzte chemische Erkenntnisse
einem größeren Hörerkreis näher zu bringen. Es sei deshalb
vom Standpunkt eines Einzelfaches ein Problem beleuchtet,
das heute weiteste Kreise beschäftigt.
Durch Gesetz ist uns aufgetragen, im Dienste der Allgemeinheit
durch Forschung und Lehre die wissenschaftliche Erkenntnis
zu fördern und der Ausbildung in den akademischen Berufen
zu dienen.
Letztes Jahr hat der abtretende Rektor in seinem Bericht der
tiefen Sorge darüber Ausdruck gegeben, ob im Zeitalter der unaufhörlichen
Spezialisierung der Wissenschaften die Universität
diese Aufgabe noch erfüllen kann. Besonders gefährdet erscheint
die experimentelle Grundlagenforschung, ist doch zu befürchten,
dass sie im Wettstreit mit grossen Forschungsinstituten
unterliege 1.
Die Notwendigkeit, daß beim starken Anwachsen der Zahl
der Hochschulstudenten und der enormen Entwicklung vor allem
der Naturwissenschaften unsere kantonalen Hochschulen
ausgebaut werden sollten, ist heute in weiten Kreisen anerkannt.
Es mehren sich auch die Stimmen, die nach einer Reform unseres
Hochschulwesens rufen.
Die Probleme, die bei einem solchen Ausbau und einer Reform
unserer Hochschulen auftreten, sind von Fakultät zu Fakultät,
von Fach zu Fach verschieden. Es mag deshalb von Interesse
und für folgende Diskussionen förderlich sein, wenn der
Vertreter des Faches Chemie, anorganische und physikalische
Chemie im besonderen, die Lage wie er sie für sein Fach sieht
darlegt.
Werfen wir zuerst einen kurzen Blick auf die Entwicklung
der Forschung in der Chemie.
2.
Autodidakten haben im 17. und 18. Jahrhundert den Übergang
von der Alchemie zur Chemie vollzogen. Die meisten schufen
sich ihre Arbeitsstätten, ihre Laboratorien selbst, um forschen
zu können. Vereinzelte nur lehrten an Universitäten.
Mit dem 19. Jahrhundert wird die Universität zur wichtigsten
Forschungsstätte in der Chemie. Beiträge haben die meisten
europäischen Länder und auch Nordamerika geliefert. Zu Beginn
des Jahrhunderts war Paris Zentrum der chemischen Forschung
mit Gay-Lussac als führendem Geist. Eine starke Befruchtung
erhielt die Chemie durch den Schweden Berzelius.
Aus England kamen bedeutende Impulse von Davy und Faraday,
die beide an der Royal Institution wirkten, dem ersten wissenschaftlichen,
mit keiner Universität verbundenem Forschungsinstitut.
Allmählich verlagerte sich das Schwergewicht
der chemischen Forschung nach Deutschland.
Die Entwicklung in unserem Jahrhundert sei etwas näher betrachtet.
Als Grundlage sei die Liste der Nobelpreisträger für
Chemie gewählt. Man kann Bedenken haben aus rund siebzig
Namen, von einem kleinen Ausschuss aus der Vielzahl von Forschern
als besonders hervorragend ausgewählt, zu gültigen
Schlüssen zu kommen. Über die früheren Jahre zurückblickend,
zeigt sich, dass zwar mancher bedeutende Forscher auf der Liste
fehlt, daß sich aber in den Namen der Erkorenen die Entwicklung
der Chemie recht gut widerspiegelt. Wir unterteilen den
betrachteten Zeitraum in drei gleiche Perioden.
Der Wirkungsort der Preisgekrönten war in der ersten Periode
bei allen die Universität. In der zweiten Periode waren rund 1/5
und in der dritten etwas mehr als 1/4 in reinen Forschungslaboratorien
tätig. Es zeigt sich also deutlich, daß eine allmähliche
Verlagerung der Grundlagenforschung in der Chemie in Forschungslaboratorien
erfolgt, daß aber heute immer noch die
Universitäten die bedeutendsten Beiträge leisten.
Über die nationale Verteilung der Forscher ergibt sich folgendes
Bild. In der ersten Periode haben von 18 fast die Hälfte der
Preisträger, d. h. 8 in Deutschland, 4 in Frankreich, 2 in England
und je einer in USA, Holland, Schweden und der Schweiz
gewirkt. In der nächsten Periode ist Deutschland mit 8 von 22,
d. h. etwa 40 % der Preisträger immer noch weit an der Spitze.
Drei Preise gingen nach England, je zwei nach Frankreich,
USA, Schweden und die Schweiz, und einer nach Österreich. In
der letzten Periode treten Amerika mit 12 von 28, d. h. etwas
mehr als 40 % und England mit 8, rund 30 % Geehrten an die
Spitze, während Deutschland mit 4 (etwa 15 %), Schweden mit
2, Rußland und die Tschechoslowakei mit je einem vertreten
sind. Die Schweiz fehlt in der Liste dieser Periode. Aber es ging
der Nobelpreis für Medizin an zwei Schweizer Chemiker.
Die Zusammenstellung zeigt deutlich, dass sich in der Nachkriegszeit
der Schwerpunkt der chemischen Forschung nach
den Vereinigten Staaten und nach England verschoben hat.
Trotz viel stärkerer Belastung durch einen langen, mörderischen
Krieg und ungeachtet einer viel kleineren Bevölkerungszahl,
teilt sich England in der Führungsstellung mit Amerika.
Aus unserer Zusammenstellung lässt sich auch eine Verschiebung
der Bedeutung der einzelnen Fächer, in die die Chemie
sich aufgeteilt hat, ablesen, nämlich in physikalische und anorganische
Chemie, organische Chemie, Biochemie und Kernchemie.
Allerdings lassen sich die Arbeiten, die preisgekrönt
wurden, nicht immer eindeutig einem dieser Fächer zuordnen.
In der ersten Periode überwiegt die physikalische und anorganische
Chemie. Wir finden in der Liste der Preisträger die
Namen der Forscher, denen die physikalische Chemie ihre Entstehung
verdankt. Etwas kleiner ist die Zahl der ausgezeichneten
organischen Chemiker und nur für eine biochemische Arbeit
wurde der Preis erteilt.
In der 2. und in der 3. Periode gehen immer noch rund ein
Drittel der Preise an die physikalische Chemie. Es wurden vor
allem Arbeiten über die Entwicklung physikalisch-chemischer
Methoden ausgezeichnet, die alle übrigen chemischen Fächer
stark förderten.
In diese 2. Periode fällt die Blütezeit der Erforschung biologisch
wichtiger Naturstoffe und die Zahl der ausgezeichneten
organisch-chemischen Arbeiten ist sogar etwas grösser als die
der physikalisch-chemischen.
In den Preiszuteilungen der Nachkriegszeit spiegelt sich deutlich
die Entwicklung der biochemischen Forschung. Die Biochemie
(mit rund 1/3 der Preise) tritt das Erbe der organischen
Chemie (mit weniger als 1/5 der Preise) an.
Die ausgezeichneten kernchemischen Arbeiten verteilen sich
ungefähr gleichmäßig über alle drei Perioden und machen mir
rund 10 % aus.
3.
Die Chemie taucht erst recht spät, uni die Mitte des 18. Jahrhunderts,
als besonderes Fach im Lehrplan der Universität auf.
In diesen frühen Zeiten waren es Mediziner, Apotheker, Naturwissenschafter,
Physiker oder Mineralogen, denen dieses Fach
anvertraut wurde. Der Unterricht bestand im wesentlichen aus
Vorlesungen. Laboratorien wurden höchstens zu Forschungszwecken
eingerichtet. Für einen Studierenden bedeutete es eine
besondere Gunst hier zugelassen zu werden.
Im Laboratorium von Gay-Lussac in Paris empfing der junge
Justus Liebig seine entscheidenden Eindrücke. Es ist bekannt,
wie dieser, 21jährig an die kleine Universität Gießen gerufen,
den Unterricht in der Chemie in neue Bahnen lenkte. Sein Gedanke
ist einfach. Der Schüler hat von anfang an selbst Hand
anzulegen, zum Unterricht im Hörsaal kommt die Arbeit im
Laboratorium. Hier holt er sich, der Schüler, das Rüstzeug um
bald selber forschend weiterzulernen. Der Lehrer gewinnt im
Schüler den Helfer, der ihn in der Forschung unterstützt. Die
Idee zündet und Liebigs Unterrichtsmethode findet allgemein
Eingang in den höhern Unterricht in Chemie und hat den Wechsel
der Zeiten mehr als ein Jahrhundert überdauert. Sie ist auch
andern Fächern zum Vorbild geworden.
Es ist schon oft gesagt worden wie durch diese Verbindung
von Forschung und Lehre die rasche Entwicklung der chemischen
Wissenschaft bestimmt wurde und wie durch sie die Chemiker
geschult wurden, die den Aufstieg der chemischen Technik
bewirkten, andere Wissenschaften förderten und andere
Zweige der Technik entscheidend beeinflußten.
Die chemische Unterrichtsweise bewirkte einen wesentlichen
Eingriff in das ganze Universitätsleben. Sie hat zur Entstehung
der Fachinstitute geführt, die als große äußere Provinzen ihr
Eigenleben fristen, und von Kollegen der Geisteswissenschaften
mit Mißtrauen betrachtet werden. V. Kohlschütter hat vor
35 Jahren in seiner Rektoratsrede die Besonderheiten dieser Institution
mit treffenden Worten geschildert 2:
«Dem Außenstehenden lässt sich nicht leicht der rechte Begriff
von diesem eigentümlichen Gebilde geben, dessen Wesen
sich so ganz und gar nicht darin erschöpft, der Ort zu sein, wo
chemisch gearbeitet wird. — Für den Professor ist es gleichzeitig
das Organ seiner Forschertätigkeit und das Mittel seiner Objektivierung
als Lehrer. In ihm eine Gemeinschaft zu bilden, die
seine Bestrebungen hinaushebt über die persönliche Begrenztheit
und als seine Schule selbständig lebt, ist sein ersehntes Ziel.
Sein Laboratorium lässt seinen Forschernamen vor der Welt zurücktreten,
weil vor allem die Institutsleitung gilt; es macht seinen
Unterricht langsam überflüssig, weil das, was er geben kann,
nach und nach auf Einrichtungen und Helfer übergeht; und
doch ist es auch wieder das Feld, wo sein Beispiel verantwortungsvoll
wirkt und das Vorbild zur Geltung kommt. —Für den
Studenten wird es etwas wie ein Stück Heimat mit ihren unwägbaren
Bindungen; es gibt ihm die dauernde Prägung und ist
eine Pflanzstätte innerer und äusserer Zusammenhänge, die
meist ein Leben aushalten.»
Seit den zwanziger Jahren hat sich in der Chemie eine große
Umwälzung vollzogen. Damals bediente sich der Chemiker im
wesentlichen chemischer Methoden wie sie im Prinzip schon
zur Zeit Liebigs entstanden waren. Wohl war um die Jahrhundertwende
die physikalische Chemie zu einem besonderen Fach
geworden, waren die theoretischen Grundlagen der Chemie ausgebaut
und neue Verfahren gefunden worden, die immer weitere
Bezirke des chemischen Geschehens quantitativ zu erfassen
gestatteten. Aber nur langsam fanden diese Methoden Eingang
in die Chemie, vorerst in die anorganische und nur zögernd in
die organische.
Inzwischen ist durch die Zusammenarbeit der Physiker und
Chemiker die Struktur der Atome, soweit sie das chemische Geschehen
bestimmt, geklärt worden. Man kennt für alle der rund
hundert Elemente den Aufbau der Elektronenhülle bis in Einzelheiten
und weiss, daß das chemische Verhalten der Elemente
im wesentlichen durch die äussersten Elektronen bestimmt ist.
Die Quantenmechanik hat die alte Frage nach den Ursachen
der chemischen Affinität gelöst.
Heute erlaubt die physikalische Atomtheorie im Prinzip die
chemischen Eigenschaften der Stoffe zu berechnen. Die Rechenverfahren
sind aber äusserst langwierig. Der Arbeitsaufwand
steigert sich mit zunehmender Komplexität der Atome und Moleküle
ins Unermeßliche. Die Eigenschaften des Wasserstoffatoms
lassen sich leicht berechnen. Für die Wasserstoffmolekel
wird die theoretische Behandlung schon sehr viel schwieriger,
kann aber noch bewältigt werden. Für Atome und Moleküle mit
zunehmender Zahl der Elektronen wird die Berechnung so
rasch schwieriger, daß es fraglich erscheint ob je ein weiteres
Beispiel genau berechnet werden kann 3.
Der weitere Fortschritt in der Chemie ist demnach immer
noch im wesentlichen von der experimentellen Forschung zu
erwarten. An die Stelle der chemischen Methoden treten aber
mehr und mehr physikalische. Die Theorie wird zum Wegweiser
der Entwicklung neuer Methoden, der Anlage und Durchführung
der Experimente und deren Auswertung nach Mass und
Zahl. Die Chemie wird immer betonter eine exakte Wissenschaft
in allen ihren Teilgebieten. Damit hat die Atomtheorie die Einheit
der Chemie neu bestärkt. Sie ist das Band, das die verschiedenen
Fächer in die sie sich aufgespalten hat miteinander verknüpft.
Sie ist es auch, die die Chemie mit den übrigen Disziplinen
der Naturwissenschaften verbindet. Die Chemie ist zur
Mittlerin geworden zwischen der Physik und den Wissenschaften
der unbelebten und der belebten Natur.
Vereinzelte Forscher fördern diese Einheit. Sie suchen die
riesige Mannigfaltigkeit der chemischen Erscheinungen auf einfache
Prinzipien zurückzuführen. Zu ihnen gehört zum Beispiel
Linus Pauling, der sich mit scheinbar so weit auseinanderliegenden
Problemen befaßt wie die Anordnung der Atome und die
Natur der bindenden Kräfte in Metallen einerseits, in Proteinen
andererseits.
Aus der atomistischien Deutung physikalischer und chemischer
Phänomene sind viele der Methoden entstanden, die zum
Fortschritt in den verschiedensten Fächern geführt haben und
die Grenzen zwischen ihnen verschwinden lassen.
Diese neuen Methoden gestatten alte Probleme wieder aufzunehmen,
die als unlösbar liegen blieben und dem Interesse
entschwanden. Bestimmte Gebiete erleben wieder einen Aufschwung,
werden wieder Mode. Erfolge in einem Fach greifen
häufig auf andere über.
Zwei Beispiele mögen das beleuchten.
Uni die Jahrhundertwende ist ALFRED WERNER in Zürich zu
neuen Anschauungen über den Bau der komplizierteren anorganischen
Verbindungen gelangt und zum Begründer der Komplex-
oder Koordinationschemie geworden. Nach einer ersten
Blütezeit schwand das Interesse an diesem Gebiet, weil die Möglichkeiten
der herkömmlichen Arbeitstechniken erschöpft waren.
Dann lieferte die Elektrochemie Methoden, die gestatteten
die Beständigkeit solcher Verbindungen in wässeriger Lösung zu
ermitteln. An einfacheren anorganischen Beispielen erpropt,
wurden sie übertragen auf die Untersuchung der Komplexe von
Metallionen mit organischen Verbindungen, neuerdings vor
allem biochemisch wichtiger.
Die neuen Erkenntnisse haben die analytische Chemie und
die Biochemie stark befruchtet. Sie tragen wesentliches bei zum
Verständnis der Wirkungsweise der Spurenelemente in der Biologie.
Eine anorganische Biochemie ist im Entstehen.
Zur Abklärung anderer Eigenschaften dieser Verbindungen,
d. h. um ein umfassendes Bild vom Wesen einer solchen Verbindung
zu gewinnen, braucht es weitere Methoden, so dient zum
Beispiel die Messung der Lichtabsorption dem Studium der Natur
der Kräfte, die das Metallatom an den organischen Rest binden.
Radioaktive Isotope werden verwendet zur Bestimmung der
Geschwindigkeit mit der verschiedene Verbindungen miteinander
reagieren und schliesslich die Röntgenstrukturanalyse zur
Aufklärung der Struktur, der Anordnung der Atome im Molekül.
Ein anderes Gebiet, das lange Zeit vernachlässigt wurde, weil
die Untersuchungsmethoden fehlten, ist die Chemie der Festkörper,
jener Verbindungen die nur im festen Zustand existieren.
Probleme aus diesem Gebiet werden seit vielen Jahren an
unserem Institut bearbeitet. Forschungsziel ist das Studium der
Entstehung, des chemischen Verhaltens und der Beziehung des
Ablaufs chemischer Vorgänge zur Struktur fester Verbindungen.
Die Mineralien, aus denen sich die Erdkruste aufbaut, gehören
zu dieser Verbindungsklasse und so ergeben sich enge Beziehungen
dieser Arbeitsrichtung zur Mineralogie. Zu dieser
Verbindungsklasse gehören aber auch die Produkte, die bei der
Zerstörung der Metalle und der Metallegierungen durch atmosphärische
Einflüsse oder chemische Agenzien, d. h. durch Korrosion
entstehen. So sind diese Untersuchungen auch für die
Werkstoffkunde, also der angewandten Chemie, von grundlegender
Bedeutung.
Neben den früher erwähnten Apparaten werden hier unter
anderem zusätzlich benötigt das Elektronenmikroskop und die
Ultrazentrifuge. Das sind nun aber Apparate, die wesentlich
zum Fortschritt der Biochemie, Biologie und Medizin beigetragen
haben.
Die modernen Forschungsmethoden und Forschungsapparate
erfordern grosse Spezialkenntnisse für ihre Handhabung und
Bedienung. Die Auswertung der Resultate und deren theoretische
Deutung bis in alle Einzelheiten stellt meistens beträchtliche
mathematische Anforderungen.
So ist die andere Seite der neuen Entwicklung die Förderung
des Spezialistentums.
Zur Darstellung seiner letzten Erkenntnisse muss der Spezialist
sich vielfach seine eigene Symbolik und Formelsprache entwickeln,
die nur dem Eingeweihten verständlich ist. Nicht selten
fehlt ihm die Fähigkeit das Allgemeingültige aus den Einzelergebnissen
herauszuschälen und seine Ergebnisse werden
in einer Form veröffentlicht, dass sie nur dem Spezialisten verständlich
sind. So braucht es Mittelmänner, die die wesentlichen
neuen Erkenntnisse solcher Spezialuntersuchungen herausschälen
und in eine allgemeingültige Terminologie übersetzen. Nicht
allein die Spitzenkönner, sondern Spezialisten mit breiter Grundlage
oder die Zusammenarbeit von Spezialisten mit Forschern,
die das ganze Fach im Auge behalten, führen zum Fortschritt
der Wissenschaft.
Aus dieser Entwicklung ergeben sich verschiedene Konsequenzen
für Forschung und Unterricht an der Universität.
Früher beherrschte ein Professor der Chemie die Arbeitstechnik
um mit Doktoranden Forschung zu treiben und ein Problem
im Rahmen des Möglichen zu bearbeiten. Will er dies
heute tun, braucht er moderne Einrichtungen, aber auch Assistenten
mit den nötigen Spezialkenntnissen, die diese Einrichtungen
bedienen können, die ihn unterstützen seine Doktoranden
mit den speziellen Arbeitstechniken vertraut zu machen.
Die meisten Apparate sind teuer und belasten das Budget
eines einzelnen Institutes stark. Häufig werden deshalb kostspielige
Apparate, die von der einen Gruppe nicht voll benötigt werden,
auch andern zur Verfügung gestellt und besonders wertvolle
Apparate sind in eigenen Laboratorien zentralisiert. Beispiele
solcher Zentrallaboratorien an unserer Universität sind
das Kocher-Institut, das Laboratorium für Elektronenmikroskopie
und das Rechenzentrum am Institut für angewandte Mathematik.
Die Ansprüche an die Ausbildung des Chemikers haben sich
ganz wesentlich erhöht. Der Studierende der Chemie muss sich
zwar nach wie vor vom ersten Tage an mit der Materie abmühen
und in einfachen Versuchen Augen und Hände üben um
zum Verständnis der chemischen Vorgänge zu gelangen und
muss mit den Stoffen vertraut werden, mit denen er in Zukunft
immer wieder in Berührung kommen wird. Er braucht aber
heute eine gründlichere Ausbildung in Mathematik und Physik
als früher, um die neuen Methoden verstehen und die Resultate
theoretisch auswerten zu können. Eine Grundausbildung
mit der Beschränkung auf das Allgemeingültige, das Wesentliche
ist aber nach wie vor das erstrebenswerte Ziel. Spezialausbildung
in einzelnen Teilgebieten kann die Forschungsarbeit
während der Disseration und nach der Dissertation vermitteln.
Die Neuorientierung des Unterrichts, verbunden mit der steigenden
Zahl der Studenten, stellt aber auch stark erhöhte Anforderungen
an Dozenten und Assistenten.
Der Student braucht vermehrte Unterstützung im Praktikum.
In zahlreichen Besprechungen in kleinerem Kreise muß er sich
unter Anleitung üben können seine Kenntnisse verwerten zu
lernen.
Der rasche Fortschritt des Faches verlangt intensives Literaturstudium,
Gedankenaustausch mit auswärtigen Fachgelehrten,
Mitarbeit bei nationalen und internationalen wissenschaftlichen
Gesellschaften und Kommissionen. Auf dem Institutsleiter
lasten zudem die immer zeitraubender werdenden administrativen
Arbeiten.
Diese Umstände führen dazu, daß wie der abtretende Rektor
im letzten Jahr betont hat, unter den derzeitigen Bedingungen
«die Verschmelzung von Lehre und experimenteller Forschung
zur Folge hat, dass entweder auf beiden Gebieten nur mittelmässige
Leistungen erzielt werden, oder mindestens das eine Gebiet
zugunsten des andern vernachläßigt wird» 1.
6.
Für die Forschung weit günstigere Bedingungen als an der Universität
bestehen vielfach in den Forschungslaboratorien und
-instituten, die mit verschiedener Zweckbestimmung an Zahl
und Ausdehnung wachsen.
Am idealsten sind die Verhältnisse in den rein wissenschaftlichen
Institutionen, wie etwa den Instituten der Max-Planck-Gesellschaft,
die zu Beginn des Jahrhunderts auf Initiative von
Friedrich Althoff entstanden sind. Dieser war um die Jahrhundertwende
der führende Geist des Preussischen Kultus-Ministeriums
und förderte mit unermüdlicher Energie alle Fakultäten
der preußischen Universitäten, damit sie Lehre und Forschung
unter modernen Bedingungen realisieren und weiterentwickeln
konnten. Er erkannte aber, daß bei hochbegabten Forschern die
Belastung durch Unterricht und Administration zur Verschleuderung
der Kräfte führen kann. So plante er eine Reihe von Instituten,
in denen sich die fruchtbarsten Geister ganz der Forschung
widmen können. Diese Institute haben aber mit der
Zeit ihren ursprünglich begrenzten Rahmen gesprengt. Jungen,
ideenreichen Forschern ist die Möglichkeit gegeben selbständig,
auch unbelastet durch Unterricht und Administration,
ihre eigenen Probleme zu verfolgen, ihrerseits eine Arbeitsgruppe
um sich zu sammeln und eine neue Abteilung zu entwickeln
Ihr Aufstieg ist einzig durch die wissenschaftlichen Erfolge
bestimmt und ist nicht begrenzt durch eine festgelegte
Zahl verfügbarer Lehrstühle, wie dies bei Universitäten im allgemeinen
der Fall ist. Die Erfolge stellen sich denn auch häufig
rascher ein und die Chancen für eine Berufung an eine Universität
sind günstiger als für Universitätsdozenten. Das Forschungsinstitut
bietet aber gleiche materielle Sicherheit wie die Universität.
Es ist verständlich, dass die deutschen Universitäten diesen
Forschungsinstituten eher feindlich gegenüberstehen und glauben,
daß sie den Universitätsinteressen abträglich sind.
Auch in Laboratorien, deren Hauptaufgabe die angewandte
Forschung ist, sind häufig die Bedingungen für Grundlagenforschung
viel günstiger als an der Universität. Auch hier können
öfters begabte Wissenschafter unbelastet durch Unterricht und
Administration sich selbst gewählten wissenschaftlichen Problemen
widmen.
Dilettierende Amateure waren die Begründer der Chemie. Der
Universität war ursprünglich die Aufgabe gestellt zu lehren und
zu erziehen. Als sie mehr und mehr Ausbildungsstätte für einen
Beruf wurde und sich zeigte, daß die Forschung in hohem Masse
der Ausbildung diente, konnte sich der Universitätsprofessor in
der Forschung immer noch als Amateur fühlen. Nur Berufene
waren zugleich Lehrer und Forscher. Durch die riesige Bedeutung
der Wissenschaft in Wirtschaft und Politik ist heute Forschen
zum Beruf geworden. Auch dadurch ergibt sich eine neue
Situation für die Forschung an der Universität.
7.
Damit kommen wir zurück zu der Frage ob unsere Universität
in der jetzigen Form ihre Aufgabe in der heutigen Zeit noch erfüllen
kann. «Unterhält man sich heute mit Schweizer Naturwissenschaftern
und Medizinern der jüngeren Generation über
die Probleme unserer Hochschulen, so dauert es meist keine
fünf Minuten ehe das Wort Amerika fällt» 4.
Nun sind aber die amerikanischen Universitäten sehr mannigfaltig
und unterschiedlich und bei einer sachlichen Diskussion
über die Reform unserer Universitäten kann wohl kaum allein
auf Erfahrungen an Spezialinstituten einiger führenden amerikanischen
Universitäten abgestellt werden.
Die Konzeption der amerikanischen Universität ist eine andere
als die der unsrigen. Die Colleges, denen der höhere Mittelschulunterricht
übertragen ist, sind meistens den Universitäten
angeschlossen. Höhere Bildung vermitteln nur die Graduate
Schools.
Die kontinentaleuropäischen und die amerikanischen Systeme
des höheren Erziehungswesens basieren auf verschiedenen
Annahmen und Philosophien 5. Doch es ist unmöglich, hier
auf diese prinzipiellen Unterschiede der beiden Systeme auch
nur andeutungsweise einzugehen.
Beschränken wir uns deshalb auf einige Bemerkungen über
den Unterschied im Fache Chemie besonders der Stellung der
Professoren im «amerikanischen» und «deutschen» System,
welch letzterem auch das unsrige einigermaßen entspricht 6.
Die riesige Zahl von Studierenden in den Colleges erfordert
eine entsprechende Zahl von Lehrkräften. Das Fach Chemie
wird von vielen Professoren unterrichtet, je nach Alter und Erfolg
abgestuft in Assistant-, Associate- und Full Professor. Die
Professoren am College haben die Möglichkeit, häufig auch die
Verpflichtung, an der Graduate School zu forschen. In früheren
Jahren waren die Lehrverpflichtungen an den meisten Universitäten
so gross, daß die Forschung in den Hintergrund treten
musste und so kommt es, dass der Beitrag zum Fortschritt der
Chemie, gemessen an der Vielzahl der Universitäten, früher eher
bescheiden war. Besonders seit dem letzten Krieg haben mehr
und mehr Universitäten ihre Graduate Schools ausgebaut, die
Lehrkräfte stark vermehrt und die wissenschaftlich besonders
begabten Professoren von Lehrverpflichtungen entlastet.
Der Vorsteher der chemischen Abteilung hat häufig wenig
Einfluss auf Unterricht und Forschung. Der junge Assistant Professor,
der dem Alter nach im «deutschen System» einem Assistenten
der mit der Habilitationsarbeit beschäftigt ist entspricht,
hat fast gleiche Unterrichtsverpflichtungen und Forschungsmöglichkeiten
wie die älteren Professoren seiner Abteilung.
Er ist frei in der Wahl seines Arbeitsgebietes und kann
sich unter Umständen schon früh durch unabhängige Forschung
einen Namen machen. Er kommt aber meistens von einer anderen
Universität, ist nur kurzfristig angestellt und diejenigen,
die entscheiden ob seine Anstellung erneuert werden soll oder
nicht, kennen ihn nur wenig. Er steht deshalb unter Druck rasch
publizieren zu müssen, und wählt ein Untersuchungsobjekt das
sicheren Erfolg verspricht und dieses ist oft langweilig.
Auch beim älteren Professor sind im allgemeinen die Arbeitsgruppen
nur klein, die Ausrüstung begrenzt, es ist ihm deshalb
nicht so leicht möglich ein Problem erschöpfend zu behandeln.
Die erfolgreichen Forschergruppen, die prinzipiell Neues hervorgebracht,
arbeiten unter Bedingungen, die denen in europäischen
Instituten häufig recht ähnlich sind.
An den meisten deutschen und schweizerischen Universitäten
gibt es zwei bis vier Institute im Gebiet der reinen Chemie: anorganische,
physikalische, organische und Biochemie.
Der Ordinarius als Vorstand des Instituts trägt die volle Verantwortung
für die Organisation von Unterricht und Forschung
und die Verwendung der Mittel. Ihm unterstehen Assistenten
und technisches Hilfspersonal. Traditionsgemäß hält er die Anfängervorlesungen
und dazu vereinzelte Vorlesungen für Vorgerücktere.
Er zieht eine grosse Zahl von Doktoranden an, die
zum Teil unter Leitung von Assistenten an seinem Foschungsprogramm
arbeiten. So kann er ein Gebiet erschöpfender behandeln
als ein amerikanischer Professor.
Die Extraordinarien sind verpflichtet, mit dem Ordinarius zusammenzuarbeiten
und sind mit der Leitung von Abteilungen
von Fachgebieten betraut, über die sie auch Vorlesungen halten.
In ihrem Forschungsprogramm sind sie frei.
In der akademischen Karriere ist im «deutschen System» und
so auch bei uns bekanntlich die Habilitation ein Markstein. Die
Habilitationsarbeit, eine selbständige Forschung über ein Problem
von größerer Bedeutung, vielfach aus dem Gebiet des Ordinarius,
hat häufig mehr Gewicht als die Arbeiten seines jungen
amerikanischen Kollegen. Die Ausbildung eines Professors
spielt sich meistens, abgesehen von kürzeren Auslandsaufenthalten,
in einem einzigen Institut ab und bis zur Beförderung
dauert es vielfach lange. Das lange Abhängigkeitsverhältnis vom
Ordinarius wird oft als drückend empfunden.
Der gute, aber nicht hervorragende Wissenschafter ist im amerikanischen
System angenehmer versorgt als im deutschen.
Welches System ist besser, das demokratische «amerikanische»
oder das autokratische «deutsche»? frägt unser amerikanischer
Gewährsmann und kommt zum Schluss: «Beide sind erfolgreich,
wie die Erfahrung zeigt. Keines ist vollkommen. Für
beide gilt: Einrichtungen, die ausgezeichnete Leistungen bei
einem Manne zeitigen, führen zu Mittelmäßigkeit in der Arbeit
bei einem andern. Jedes akademische System widerspiegelt und
ist ein integrierender Teil nationaler Tradition. Vielleicht
würde keines wirksam sein außerhalb der Gesellschaft in der es
sich entwickelt hat. Aber die Chemiker jeder Nation haben die
Möglichkeit von der Erfahrung der andern zu lernen.»
Der Sprechende war stets bestrebt von den andern zu lernen
und bemühte sich ein demokratisches Regiment zu führen,
junge Mitarbeiter zu fördern und sich frei entwickeln zu lassen.
Es wurden ihm auch von Kanton und Eidgenossenschaft die nötigen
Mittel zur Verfügung gestellt zur Beschaffung der Einrichtungen,
die moderne Forschung in seinem Fach gestattet. Es gelang
ihm aber im Rahmen der bestehenden Ordnung nicht,
tüchtige Mitarbeiter in genügender Zahl für Forschung und Unterricht
zu gewinnen und zum Bleiben zu bewegen, weil die gebotenen
Stellen für die Gegenwart zu wenig einträglich, für die
Zukunft zu wenig sicher erschienen. Unsere, bis dahin wenig
Aussichten versprechende, allzu starre Ordnung dürfte einer
der Hauptgründe für den Mangel an akademischem Nachwuchs
sein.
Hier müßte dringend und rasch Abhilfe geschaffen werden.
Es fehlt nicht an jungen Leuten, die die Fähigkeiten, die Begeisterung
und den Idealismus besitzen, wie sie der Beruf des
akademischen Lehrers stets erfordert hat.
Behörden und Volk haben heute einen offenen Sinn für die
Bedürfnisse unserer Hochschulen, so ist zu hoffen, dass einiges,
was in der Vergangenheit versäumt wurde, nachgeholt werden
kann. Man wird zuerst da eingreifen müssen, wo die Notlage am
grössten ist. Es kann so Zeit gewonnen werden zu einer sachlichen
Diskussion über die Fragen einer Reform des gesamten
höhern Bildungswesens.
Literatur