Berufung und Beruf
Rektoratsrede
gehalten an der Jahresfeier der Universität Basel
am 24. November 1961
von
Edgar Salin
Verlag Helbing & Lichtenhahn Basel 1961
© Copyright 1961 by Helbing &Lichtenhahn, Verlag, Basel
Druck: Friedrich Reinhardt AG., Basel
Hochansehnliche Festversammlung!
Die Philosophie arbeitet wie jede Wissenschaft seit Aristoteles
und dem Peripatos mit Begriffen. Diese Begriffe
scheinen oft fest, scheinen unwandelbar zu sein, und gerade
die Oekonomen und Soziologen haben manchen
fruchtlosen Streit um Begriffe geführt, weil verkannt
wurde, daß der Inhalt der Begriffe nicht nur mit den
Autoren, sondern auch mit den Zeiten wechselt. Wie interessant
es sein kann, gerade dem Wandel des Begriffsinhalts
nachzugehen, wie aufschlußreich dies für die Geschichte,
besonders die Wirtschaftsgeschichte, aber auch
für die Philosophie und sogar für die Theologie sein kann,
habe ich früher an dem Begriff des Kapitals gezeigt 1.
Heute, in einer Zeit, da die universitas, welche den Universitäten
ihren Namen gab, sich in handwerkliches Spezialistentum
aufzulösen droht, möchte ich bitten, mit mir
in einem kurzen Überblick den Wandel zweier Begriffe
zu betrachten, die jeden Dozenten und jeden Studenten
gleichviel welchen Faches und, wie ich hoffe, noch jeden
Menschen deutscher Sprache angehen:
Berufung und Beruf
Es genügt nicht, die einfache Wortgeschichte zu betrachten,
obwohl, wie wir noch sehen werden, zumindest
das Wort «Beruf» nicht zufällig in einem bestimmten
Geschichtsaugenblick geprägt ist. Alle Sprache schöpft
aus einem tiefen geistigen Born, und ungewußt weben oft
Mythen und Sagen der Vorzeit mit an der gegenwärtigen
Schöpfung und gehen geistige oder religiöse Elemente ein
in das zum Begriff erstarrende Gebilde. Bis heute hat
alle abendländische Kultur zwei geistige Wurzeln, die
griechisch-römische und die jüdisch-christliche, und so
stellt sich die Frage, ob beide oder nur eine von beiden
in «Berufung» und «Beruf» beteiligt und wirksam sind,
wobei die Wirksamkeit bald sich in der Bestimmung des
Inhalts, bald in der Schaffung einer Aura, einer Atmosphäre
äußern kann.
In diesem sehr besonderen Fall fehlt jede Verbindung
zur klassischen Antike. Begreiflicherweise besteht eine
Scheu vor einer solch eindeutigen Aussage. Aber man
versuche eine Übertragung in klassisches Griechisch oder
Lateinisch —sie wird nicht gelingen. Oder man gehe den
umgekehrten Weg und frage sich: fühlt sich etwa der
Dichter oder schlechthin der schöpferische Mensch der
Antike oder fühlt sich der Priester eines antiken Gottes
von Gott berufen? Es läßt sich kein Anzeichen dafür
finden 2. Der griechische Dichter ruft die Musen an, oder
die Muse spricht aus ihm 3 — ein andermal, bei Hesiod,
lehrt die Muse den Gesang. Der Schöpfer leitet vielleicht
seinen Ursprung von den Göttern her, und es ist die
Kraft des Gottes, die nach Platons Wissen den Dichter
spornt und niederzwingt, die ihn anhaucht und ihn in
heiligen Wahn versetzt, bis er selbst des Gottes voll
ist. Es ist die dritte Form der Besessenheit und des Wahnes,
so kündet der Phaidros 4, die von den Musen kommt;
«wenn sie eine zarte, schlummernde Seele ergreift, weckt
sie sie auf und begeistert sie zu Liedern und zu anderer
Dichtung und so, durch Verherrlichung zahlloser Taten
der Vordem, erzieht und bildet sie die späteren Geschlechter».
Es ist gut, diese Worte im Gedächtnis zu behalten;
denn sie sind nicht nur schönstes Zeugnis für die antike
Auffassung von Begnadung und Bildung, sondern es wird
sich am Ende unsrer Betrachtung zeigen, daß sich in
manchen Gebieten der Kreis schließt und modernes
Empfinden dem antiken näher gerückt ist als dem Glauben
und der Lehre der dazwischenliegenden christlichen
Zeit. Dem christlichen Aion aber gehören Berufung und
Beruf von Anbeginn an.
Bei Lukas wird erzählt 5, wie Jesus in der Synagoge
von Nazareth das Buch Jesaja aufschlägt und die Worte
des Propheten liest: «Der Geist des Herrn ist bei mir,
Darum daß er mich gesalbt hat; Er hat mich gesandt, Zu
verkündigen das Evangelium den Armen...» Und Jesus
sagt zu den Andächtigen: «Heute ist diese Schrift erfüllet
vor euren Ohren.» In dieser Erzählung und in diesen
Worten ist zugleich der jüdische Ursprung der Berufung
und der Keim der Tragödie des Christus zu fassen. Denn
zweierlei steht in diesen wenigen Worten: Der Herr hat
mich gesandt, das heißt: ich bin durch den Herrn berufen.
Und: Der Geist des Herrn ist bei mir, darum daß
er mich gesalbet hat, das heißt: ich bin der Gesalbte, ich
bin der Christus. Gewiß, es braucht die Erkenntnis und
das Bekenntnis des Petrus, damit Jesus den Jüngern
offenbart: ich bin es. Aber die Stelle aus Jesaja zeigt die
besondere Heiligkeit der Luft, in der sich unter den Juden
schon durch Jahrhunderte Überlieferung und Erwartung
begegnen. Gesalbt wird der König, berufen wird der
Prophet 6. In dem erwarteten Messias sollen sich Königtum
und Prophetie vereinigen, und nach dem Bewußtsein
von Jesus, den Aposteln und den Gläubigen tun sie
es in seiner Person.
Aus der altchristlichen Terminologie stammt der Begriff
des «Charisma», der in der Soziologie von Max
Weber zur Kennzeichnung eines Typs legitimer Herrschaft
verwandt wird und den nach dem Mißbrauch
durch Demagogen und Verführte heute zu gebrauchen
man sich fast scheuen muß 7. Indessen kann der Berufene
nicht besser gekennzeichnet werden als durch die
Charakterisierung: er ist «Träger eines Charisma». Das
gilt nicht nur für Jesus. Schon unter den Peripatetikern
war eines der vielumstrittenen Probleme die Frage nach
dem Unterschied zwischen Alexander dem Großen und
dem Seeräuber-Häuptling. Wir können sie dahin beantworten,
daß Alexander der Träger eines Charisma, der
Seeräuber Erschleicher oder Täuscher oder Usurpator gewesen
ist 8.
Aber bei Jesus ist das Folgenschwere, daß er nicht nur
gesandt, nicht nur berufen, sondern daß er auch «gesalbt»
ist — daher nicht nur Träger des Charisma, sondern
auch Träger des Königsamtes ist. Daß hierin der
Keim seines Untergangs liegt, war ihm selbst bewußt.
Immer wieder muß er auch den nächsten Jüngern wehren,
daß sie in ihm eine Art von weltlichem Herrscher
sehen. «Weiche von mir, Satan», muß er dem Petrus als
ihrem Stellvertreter zurufen; denn Menschen, die sie
sind, und Zeloten, Guerillakämpfer, die zumindest Petrus
und die Donnersöhne vermutlich waren 9, vielleicht auch
Judas Ischariot, verstehen sie nur langsam und mit Mühe,
daß er, der Messiaskönig, nicht durch Macht und Gewalt,
sondern kraft seiner Berufung, also einzig durch
die Macht des Gottesgeistes, herrscht und daß er den
neuen Aion nicht mit Waffen, sondern durch innere Umkehr,
durch Dulden und Leiden heraufführt.
Aber was er ihnen vorlebt und was er ihnen einpflanzt
— wie sollen die hauptstädtischen Massen den entscheidenden
Unterschied erfassen! Als der Messias in Jerusalem
einzieht, grüßen sie den Davidsprossen als König —
und durch diese Acclamatio wird er nach römischem
Recht, unabhängig von seinem gegenteiligen Willen, zum
König 10. In Judaea aber herrscht ein Herodaeer von Roms
Gnaden, und also ist durch den Zuruf des Volkes der
Messias ein Usurpator.
Als «König der Juden», Rex Judaeorum, wird Jesus
gekreuzigt. Aber in und nach seinem Tod erweist sich
die Echtheit seiner Berufung in ihrer vollen Kraft. Die
Jünger, die er erwählt hat, geben seinen Ruf weiter, und
hierdurch wird sein Charisma zur Grundlage der charismatischen
Herrschaft der Apostel und des Lebens der
Gemeinde der Heiligen in Jerusalem, dem Ur- und Vorbild
alles christlichen Kommunismus.
Von den berufenen Aposteln sind die beiden, welche
schon um die Wende des ersten Jahrhunderts als die
«Säulen» gepriesen wurden, Petrus und Paulus, nicht nur
die kirchen- wie weltpolitisch wichtigsten Figuren, sondern
auch die ersten faßbaren Träger und Künder von
«Berufung» und «Beruf». Der Ruf an Simon Barjona, die
Benennung Kepha, der Fels, die Verheißung, daß auf diesem
Fels der Herr seine Gemeinde errichten, das Gottesvolk
bauen wird, haben dem Zeloten die Kraft gegeben,
in Jerusalem die Gemeinde der Heiligen in der Kommunion
des Gebets und der Liebe aufzubauen und anfänglich
zu regieren. Und sie haben auch das Wort vom Menschenfischer
wahr werden lassen und haben es vermocht,
daß der Apostel, ungebildet, des Lateinischen nicht kundig,
den Markus als Dolmetscher mit sich führend, die
Mission bis in die Hauptstadt des Tieres, nach Rom, trägt.
Und Paulus, der den lebenden Jesus nicht gekannt hat
und durch die Vision Christi berufen wird — das Gemälde
des Michelangelo in der Cappella Paolina, das die
Bekehrung Sauli genannt ist, zeigt die Bekehrung des
Saulus und die Berufung des Paulus in eins —, Paulus
prägt in griechischer Sprache die Worte, die Luther später
sprach- und sinngemäß ins Deutsche übertragen hat.
In einem vielzitierten Satz des ersten Korintherbriefes 11
heißt es: In Luthers
Deutsch: «Ein Jeder bleibe in dem Beruf, darinnen er
berufen ist.» Was hat das zu bedeuten?
Die Briefe des Paulus sind wie theologische, so auch
eminent politische Dokumente, die nur verstanden werden,
wenn man sich bewußt bleibt, daß Paulus nicht nur
an einem bestimmten Punkt der Heilsgeschichte, sondern
auch in einem bestimmten Augenblick der Weltgeschichte
schreibt. Das ist zu beachten bei dem viel mißbrauchten
Satz des Römerbriefs über den Gehorsam gegenüber der
Obrigkeit — sie ist nach Pauli jüdischem Glauben stets
von Gott, aber sie ist nach Pauli christlichem Glauben
bald am Ende ihrer Teufelsmacht angelangt, «sintemal
unser Heil jetzt näher ist, denn da wir gläubig wurden» 12.
Und das ist genau so zu beachten gegenüber dem Satz,
der im Kernpunkt unsrer Betrachtung steht. Es bleibe
ein Jeder, ist gesagt; aber im Hintergrund steht auch
hier: was zählt ihr die Tage, die Jahre — das Heil ist
nahe, das Gottesreich steht vor der Tür.
Doch dies ist nicht alles. Paulus hat das Wort «Klesis»,
das Luther mit Beruf übersetzt, selbst geprägt oder es aus
einer uns nicht bekannten Umgangssprache entnommen
13. Das erste halte ich für wahrscheinlicher. Paulus,
der im gleichen Brief die Gemeinde der Christen von
Korinth eine Klesis nennt, einen Stand der Berufenen,
wendet das Wort in unserem Satz ins Weltliche. So erhält
es die Bedeutung Beruf oder richtiger «Stand». Also: es
bleibe jeder in dem Berufsstand, in dem ihn Christi Ruf
getroffen hat.
Aber — müssen wir fragen — warum wird dies gesagt
und warum wird es so gesagt? Der Satz wäre völlig sinnlos
in einer Zeit festgefügter ständischer Ordnung, in der
niemand daran denken kann, außer in Ausnahmefällen
den Stand zu wechseln. Er hat Sinn, er ist nötig in einer
Zeit sozialer Unrast, wie sie kennzeichnend ist für Wirtschaft
und Gesellschaft der römischen Kaiserzeit, als
nicht mehr durch erfolgreiche Kriege neue Sklavenmassen
geliefert werden und als darum das instrumentum
vocale, das «sprechende Werkzeug» der republikanischen
Zeit, nicht nur pfleglich behandelt werden muß,
sondern häufig, freigelassen, das Gewerbe des Gebieters
führt und seinen Namen annimmt. Vermutlich hat in
diese Gärung hinein dann die neue Verkündigung weiter
aufputschend gewirkt, vermutlich gab es in den jungen
Christengemeinden genau so wie in Jerusalem Zeloten,
die das Evangelium als Aufruf oder Rechtfertigung einer
gewaltsamen, diesseitigen Sozialrevolution mißverstanden.
Darum fährt Paulus fort 14: «Als Sklave würdest du
berufen? Laß dich's nicht kümmern! Wenn du frei werden
kannst, bleibe vielmehr dabei.» Der Grund ist klar:
das Sein in Christo macht frei — am Stand im alten Aion
ist nichts mehr zu ändern, da der neue Aion nahe ist, in
dem es weder Herren noch Sklaven gibt.
Es ist aber nicht nur soziologisch, sondern auch ökonomisch
von Bedeutung, daß die Klesis Stand und nicht
Beruf im modernen Sinn bedeutet; denn der Beruf meint
der Regel nach die Tätigkeit, mit der man sich den
Lebensunterhalt verdient. Aber nicht die Klesis, sondern
die Arbeit ist ihres Lohnes wert, und man muß daher
ganz streng scheiden zwischen Berufung, (Berufs-)Stand
und Erwerb. Gerade wer berufen ist, hat sich dadurch
auszuweisen, daß er sich durch seiner Hände Arbeit ernährt.
Der gleiche Paulus, der durch seine Kollekten die
Aufrechterhaltung des Liebeskommunismus der Urgemeinde
in Jerusalem ermöglicht, verdient in Korinth sein
Geld als Teppichwirker und wird nicht müde, einzuschärfen,
so wie es später die Didache, die Lehre der
zwölf Apostel, bis ins Einzelne tut 15: daß man den echten
Apostel, den echten Propheten, den echten Gläubigen
dadurch erkennen kann, daß er nicht auf Kosten Anderer
lebt, sondern sein Handwerk beherrscht und verwendet.
Es ist Paulus vorgeworfen worden, daß er sich nicht in
Christi Geist gegen die Sklaverei aufgelehnt habe 16. Dieser
Vorwurf verkennt völlig die Mentalität von Menschen,
die in der Erwartung der nahen Endzeit leben,
und erst recht die Haltung des Paulus, der als Jude ein
Eiferer vor dem Herrn war und als Christ ein Eiferer vor
dem Herrn ist. Aber er hat die unermeßliche Tiefe von
Jesu Revolution in Herz und Geist aufgenommen, und
aus ihr heraus verkündet er den zum Christus Berufenen,
was ihre christliche Aufgabe und wie unwichtig ihr Stand
für Jeden ist, der da weiß, daß die Nacht des alten Aion
vorgerückt und der Tag des neuen nahe herbeigekommen
ist 17. Die Richtigkeit dieser Deutung wird, wie mir
scheint, durch das Verhalten beider Seiten, der Christen
wie der Heiden, geschichtlich bezeugt. Vor der Einschließung
Jerusalems durch die Römer entweicht die Urgemeinde
nach Pella im Ostjordanland — sie weiß nun,
daß der nationale Kampf der Zeloten nicht christliche
Sache ist. Und auf der anderen Seite haben die Römer die
Christen nur als Götterleugner, als Verweigerer des
Opfers im Kaiserkult verfolgt, dagegen nach Jesu Tod
niemals mehr als politische oder als soziale Revolutionäre
18.
Nachdem aber die Wiederkunft des Herrn ausblieb
und nachdem die Kirchen mit den Ämtern der Bischöfe
und der Priester an die Stelle der berufenen Apostel und
der mit Gnadengaben bedachten Frühgemeinden traten,
dann allerdings konnte, ja mußte der Satz des Paulus verhängnisvoll
wirken. Denn nachdem nicht mehr der revolutionäre
Hintergrund, sondern nur noch die vordergründliche
quietistische Aussage verstanden wurde, hat
er durch zwei Jahrtausende dazu geholfen, die Autorität
der Teufelsmächte und aller reaktionären Gewalten zu
stützen, die Gewissen einzuschläfern und allen Lauen die
Rechtfertigung für ihren Schwachmut zu geben. Beispiele
dafür finden sich vom 3. Jahrhundert an bis in die
allerjüngste Zeit in nur allzu großer Zahl. Was aber ist in
dieser Zeit aus Berufung und Beruf geworden?
Es würde hier zu weit führen, wollten wir bei den einzelnen
Kirchenvätern betrachten, wie ihre Gedanken je
nach Person und Ort und Zeit verschieden sind, anders
bei Tertullian als bei Origenes, anders bei Cyprian als bei
den großen Kappadokiern. Drei große Linien aber kann
man doch, mit aller Vorsicht, als Signum der Folgezeit
feststellen.
Erstens zwingt die Tatsache, daß die Christen genötigt
sind, sich nun für länger in dieser Welt einzurichten, fast
allerorts zur Frage: welcher Beruf im modernen Sinn —
der Einfachheit halber und zum besseren Verständnis
möchte ich zu dessen Bezeichnung von jetzt an das schon
von Tertullian gebrauchte Wort wählen: welche Profession,
welche Tätigkeit sich überhaupt mit dem christlichen
Glauben verträgt. Meist wird die Frage in der
Form gestellt, welche Profession dem Christen verboten
ist 19. Keine Arbeit, keine Tätigkeit, kein Handel und
kein Handwerk, die in irgendeiner Verbindung zum Götzendienst
stehen, ist erlaubt — aller Handel als solcher
ist fragwürdig.
Zweitens wird die Berufung aus einem dauernd sich
erneuernden gegenwärtigen Geschehen allmählich zu
einem historischen Vorgang. Dies wiederum von zwei
Seiten aus, von unten und von oben, von den Gliedern
und vom Haupte her. In der Urchristenheit stehen neben
den berufenen Aposteln alle, die den Ruf vernahmen —
alle, welche die Klesis in der Ek-Klesia zusammenführt.
Wenn aber die Glieder der Gemeinde sich nicht mehr
daran erkannten, daß sie den Ruf vernommen hatten und
ihm gefolgt waren, sondern wenn man in die Gemeinde
geboren wurde, dann fiel die persönliche Berufung und
die persönliche Entscheidung dahin. Die Kindertaufe
bezeichnet das Ende der evangelischen Berufung.
Ungefähr gleichzeitig vollzieht sich die Wandlung an
der Spitze. Wieder ist es Tertullian, der mit der prägnanten
Schärfe des großen Juristen das Wesentliche sagt. In
einer seiner montanistischen Streitschriften 20. ruft er dem
römischen Bischof zu, daß nur die Geistkirche durch
einen pneumatischen Menschen Sünden vergeben konnte,
nicht die Kirche «als eine Zahl von Bischöfen». Gleichviel
wie man die Notwendigkeit der Entwicklung zur
Papstkirche beurteilt, —soziologisch war sie gewiß der
einzige Weg, um das Charisma der Urgemeinde in einen
Amtsverband zu wandeln und so in veränderter Form zu
tradieren —, die Erkenntnis Tertullians ist unumstößlich
richtig: mit der Kirche nimmt die apostolische Berufung
ihr Ende.
Drittens aber entsteht hierdurch eine Lücke, in welcher
grade wieder der Beruf zu seinem Recht kommt,
und zwar ein neuer Beruf. Wenn mit der Kindertaufe
und mit dem Kirchenchristentum das Gefühl einer besonderen
Berufung aller Christen sich abschwächte und
schließlich, außer in seltenen Zeiten besonderen Hochschwungs,
sich ganz verlor, so mußte es doch wenigstens
einen Stand geben, der sich berufen weiß und als berufen
lebt, der nicht nur nach Jesu hartem Wort 21 «Vater,
Mutter, Weib, Kinder, Brüder, Schwestern, auch dazu
sein eigen Leben» hasset, sondern der in Armut und
Keuschheit, in Gebet und Arbeit sein Leben verbringt.
Parallel der Rationalisierung des Charisma in der Kirche
geht daher die Entstehung der Mönchsorden, geht die
Geburt dieser neuen, dieser jetzt einzigen Klesis, dieses
jetzt einzigen Berufs der Mönche 22. »
Nur der Mönch hat also jetzt noch eine «vocatio», was
Klesis im doppelten Sinn von Berufung und Beruf bedeutet.
Sogar eine «Profession» wird das Mönchtum genannt,
wobei allerdings dies Wort dann nicht Gewerbe,
nicht Erwerbsberuf bedeutet, sondern den Beruf, in
dem man ein Gelübde ablegt —ich erinnere an das Wort
Professor, das ja auch einstmals einen «Bekenner» bezeichnet
hat.
Wenn man sich diese Bedeutung des Mönchstandes als
des Berufs vor Augen hält, so ist es von vornherein unwahrscheinlich,
daß das Mönchtum einen Sprung von der
«außerweltlichen» zur «innerweltlichen» Askese gemacht
und derart den religiös-asketischen Begriff der «industria»
auch auf die wirtschaftliche Tätigkeit übertragen
und so eine neue Schätzung des weltlichen Berufs inauguriert
hätte 23. Ich finde keinen einzigen Beleg, der diese
These stützen könnte. Ganz im Gegenteil. Sobald ein
Orden die wirtschaftliche Tätigkeit in den Vordergrund
rückt, ist dies ein Zeichen des Verfalls, und es entstehen
neue Orden, so die Franziskaner, welche wieder das heilige
Leben in Armut der sündigen Welt entgegenhalten. Nein
—hier ist eine «materialistische» Interpretation der Entwicklung
die einzig mögliche. Daß die weltliche Arbeit
gegen Ausgang des Mittelalters höher gewertet wird und
daß die weltlichen Stände sich allmählich dem mönchischen
Stand als ebenbürtig empfinden, das kommt
nicht vom Geist und nicht von der Kirche her, sondern
das wird im katholischen Europa durch die offenbare
Macht und den gewaltigen Reichtum des neuen, städtischen
Patriziats gegen die Kirche und in der Kirche erzwungen.
Und wenn die Scholastik sich mit den neuen
Problemen der neuen kapitalistischen Wirtschaft auseinandersetzt,
so tut sie es nicht in immanenter Weiterbildung
der überkommenen Problematik, sondern in Auseinandersetzung
mit der neuen Wirklichkeit.
Das ist noch nicht bei Thomas der Fall, in den heute
ganz zu Unrecht moderne ökonomische und soziologische
Auffassungen hineininterpretiert werden 24. Die 183. Frage
der Summa ist überschrieben: De officiis et statibus hominum
in generali; zu deutsch: Über die Ämter und
Stände der Menschen im allgemeinen; und die Gesamtheit
der Fragen 183-189 behandelt «Stände und Standespflichten»
25. Mit der bei ihm üblichen Exaktheit definiert
der Aquinate gleich eingangs seine Begriffe: Von
«Amt» spricht man in Beziehung auf die Tätigkeit, von
«Rang» auf Grund der höheren oder niederen Stellung;
doch zum «Stand» gehört die Beständigkeit in dem, was
die Gesamtlage der Person ausmacht (conditio).
Vom Beruf oder Berufung ist hier also nicht die Rede.
Verschiedene Stände bestehen, religiosi et saeculares,
geistliche und weltliche. Das ist eine Folge der Arbeitsteilung,
welche darum unausweichlich ist, weil niemand
alle Arbeiten verrichten kann. Aber die Religiosi, die mit
geistlichem Werk befaßt sind, haben als Sorgwalter nicht
nur für das Seelenheil, sondern für Bestand und Wohl
der Gesellschaft den Vorrang, und es kommt den weltlichen
Ständen zu, durch die Arbeit ihrer Hände für sie
zu sorgen und ihnen zu dienen 26.
Ich glaube mich nicht zu täuschen, daß noch die großen
Prediger der Frührenaissance, S. Bernardin von
Siena und S. Antonin von Florenz 27, in diesem Punkt die
gleiche Auffassung vertraten. Sie haben zwar die Tatsachen
des Frühkapitalismus ganz genau analysiert und
haben in subtiler Kasuistik auseinandergesetzt, daß das
Verbot des Leihzinses die Möglichkeit der Rechtfertigung
des Profits offenläßt; sie haben ferner die «industria»,
den Eifer, den Fleiß, die schöpferische Arbeit der neuen
Unternehmer positiv bewertet und als Preisbestandteil
der Ware anerkannt 28. Aber ich finde kein Zeugnis, daß
sie darum nun den geistlichen die weltlichen Stände
gleichgeordnet hätten, wenn auch Antonin ihnen offenbar
eine eigene vocatio, eine eigene Berufung zuerkennt 29.
Man möchte wohl gerne wissen, was im Kloster von San
Marco besprochen wurde, wenn sich dort der Gründer
der Mediceer-Dynastie und der Erzbischof von Florenz
und der Maler-Mönch von Fiesole, wenn sich Cosimo und
S. Antonin und Fra Angelico trafen; aber schon daß es
im Kloster geschah, zwingt zu dem Schluß, daß auch der
Herrscher von Florenz die Religiosi noch als den höheren
Stand empfunden und anerkannt hat.
Wenn dies so ist, —ich spreche mit aller Vorsicht, da
bei dem Überreichtum der Quellenschriften mir manches
entgangen sein mag —, dann liegt die Deutung nahe,
daß die Scholastik als Summe der mittelalterlichen Philosophie
stark genug gewesen ist, um noch alle neuen
Elemente in sich aufzunehmen, daß aber Dante's Rangordnung
auch noch die ihre gewesen ist und daß daher
trotz aller Condottieri und Capitani auch die hierarchische
Ständeordnung noch unangetastest in Geltung stand.
Katholisch-christlich wie Europa gewesen ist, konnten
nur Revolutionäre, die durch den Panzer der Scholastik
hindurch auf das Evangelium selbst zurückgriffen, einen
geistigen Umsturz der Werte und der Ordnungen herbeiführen.
Das tat die Mystik, taten die Reformationen und
tat politische Reaktion auf politische Revolution.
Es ist nahezu unmöglich, einzelne Elemente dieser Bewegungen
und Gegenbewegungen zu isolieren. Aber mir
scheint doch die generelle Aussage möglich, daß sie samt
und sonders sich zwar noch im europäischen Raum bewegen,
indessen von zentrifugalen Kräften getrieben sind.
Innerhalb der Christenheit regen sich die «nationes», so
wie sie es einstmals schon zur Sprengung des römischen
Imperiums getan hatten — die nationes, repräsentiert
bald durch machthungrige Fürsten, bald durch aufständische
Bauern oder Werker, bald durch gottselige Mystiker,
bald durch kirchenfeindliche Gläubige, bald durch
reformatorische Individualisten. Dies ist der Grund, aus
dem sich nun auch unsre Betrachtung einengen muß auf
den Raum der deutschen Sprache. Die Klesis war universal,
die vocatio war europäisch gerichtet. Nachdem das
Evangelium in die verschiedenen Sprachen und ihren
«dolce stil nuovo» übertragen wird, kann die innere
Spannung, welche in dem grundlegenden Satz des Korintherbriefes
liegt, nur dort weiterwirken, wo in der nationalen
Sprache der gleiche Gehalt zum Ausdruck kommt.
Das ist weder in der englischen 30, noch in der französischen,
noch in der italienischen Sprache der Fall, sondern
nur in der deutschen —eben: Berufung und Beruf.
Zunächst ein Wort über die deutsche Mystik. Ich vermag
nicht zu beurteilen, welche Breitenwirkung die Predigten
und Schriften von Eckart, Tauler, Seuse hatten;
aber daß zumindest Tauler viel gelesen wurde und auf
mehrere Generationen seines Ordens, der Dominikaner,
einen starken Einfluß hatte, scheint gewiß, und also
dürfte es bedeutungsvoll gewesen sein, daß er lehrte: Jegliche
«Kunst oder Werk», worin einer wirkt, jedes Amt
ist eine Gnade, und wer es recht ausübt, der folgt der
«Ladung», folgt dem «Ruf». Die Schätzung der weltlichen
Arbeit, die hierin zum Ausdruck kommt, geht so
weit, daß Tauler von sich selbst sagt: wäre er nicht
Priester, so hielte er es für eine große Sache, Schuhe zu
machen und sich mit eigenen Händen sein Brot zu verdienen.
So eisern an dem Vorzug der vita contemplativa
vor der vita activa festgehalten wird, so selbstverständlich
noch innerhalb der «Rufe» der Vorzug des Mönchtums
ist — es dürfte doch so sein, daß die wachsende Schätzung
der weltlichen Berufe die hieratische Gesellschaftslehre
der Hochscholastik langsam auflockerte 31. Wenn
zur Zeit des Reichstags von Worms in der Umgangssprache
allgemein bereits das Wort «Ruf», im Sinn von
«Stand» gebraucht wurde 32, dann lag hierin unbewußt
doch wohl schon ein Ersatz eines harten statischen Wortes
durch ein andres, das grade kraft seines religiösen Ursprungs
dynamische Möglichkeiten in sich trug.
Es ist eine erschütternde Tragödie, wie das katholische
Europa, das in der italienischen Wiederbelebung der
Antike sich menschlich, geistig, künstlerisch zur schönsten
Vollendung rüstet, nun im Namen Christi zerstört,
wie es durch Staaten- und Klassen-Kämpfe, durch Eiferer
und durch Fanatiker so durcheinandergewirbelt wird,
daß heute nur noch Trümmer von Europa übrig sind und
der Glanz des Abendlandes am Horizont versunken ist.
Zwei revolutionäre Formen des Rückgriffs auf das Evangelium
sind in diesem Zusammenhang von schicksalsschwerer
Bedeutung für ganze Jahrhunderte. Zunächst
der Rückgriff auf die Apostelgeschichte. Überall dort, wo
der neue Reichtum des Frühkapitalismus aufreizend auf
Handwerker, Taglöhner, Bauern wirkte, fand man eine
Stütze im Leben der Urgemeinde: die Jacquerie in Frankreich,
John Ball in England, die Wiedertäufer in Münster
und die aufständischen deutschen Bauern des 16. Jahrhunderts,
sie alle haben von dorther das Eigentum zu
befehden und Gemeineigentum aller in allem zu fordern
gelernt. Und im deutschen Raum, wo nach Nietzsches
Wort oftmals ein großes «Umsonst» Werk und Wirkung
ist 33, geschah das Verhängnisvolle, daß diesen Bauern ein
anderer Revolutionär entgegentrat, der die Ordnung von
Papsttum, Bischofskirche, Scholastik zerbrach, aber zur
Begründung seiner weltlichen Ordnung auf den Römerbrief
zurückgriff und dadurch die Reaktion der «Stände»
gegen die revolutionären Klassen christlich rechtfertigte
34.
Luther hat offenbar nur allmählich sich zu seiner Erkenntnis
durchgerungen, daß die Mönche, daß die Religiosi
nach keiner Richtung hin einen höheren Stand besitzen.
Aber schon in der Vorlesung über den Römerbrief
betont er, daß die Pflichten jedes Amts ein «Ruf» sind
und daß sie zu erfüllen ein Gottesdienst ist, der nicht um
des Gebetes willen vernachlässigt werden darf. Und in
dem berühmten Sendschreiben von 1520 «An den christlichen
Adel deutscher Nation von des christlichen Standes
Besserung» wird schon, in scharfer Wendung gegen
die «Romanisten», mit allem Nachdruck erklärt: es sei
eine römische Erfindung, zwischen einem geistlichen
Stand, der Papst, Bischof, Priester, Klostervolk umfasse,
und einem weltlichen Stand der Fürsten, Herren, Handwerker
und Ackerleute zu unterscheiden. «Dan alle Christen
sein wahrhafftig geystlichs stands und ist unter yhn
kein unterscheyd denn des ampts halben allein» 35. Und
an anderer Stelle heißt es, es gebe keinen anderen Unterschied
als «den des ampts odder wercks halben» 36. Dieser
neuen anti-hierarchischen Ordnung entspricht es, wenn
Luther 1522 das Wort «Beruf» in seiner neuen Bedeutung
von Amt oder Stand prägt und wenn von hier an
zwischen Berufung und Beruf geschieden werden kann.
Während Luther in der Bibelübersetzung noch die Klesis
in «Befehl und Ruf» übertragen hatte, erhält daher jetzt,
erst jetzt, der Korintherbrief seine bleibende deutsche
Prägung: ein Jeglicher bleibe in dem Beruf, darinnen er
berufen ist.
Es dauert nur drei Jahre, da begibt sich das Grauenerregende,
daß dieser Satz des Paulus, der in der Erwartung
der baldigen Wiederkehr des Herrn geschrieben ist,
dazu dienen muß, um die zeitlichen Mißstände und die
ständischen Mißbräuche zwar nicht zu rechtfertigen,
doch gegen die menschliche Gegenwehr zu verteidigen.
Es ist in den bald 4 1/2 Jahrhunderten, die seitdem verflossen
sind, so viel über den Bauernkrieg und über Luthers
Stellung zu Adel und Bauern geschrieben worden,
daß hier nur das in unserm Zusammenhang Wesentliche
hervorgehoben sei. Schon in der «Ermahnung zum Frieden
auf die zwölf Artikel der Bauernschaft in Schwaben»
steht als Erwiderung auf den dritten Artikel der Bauern
der Satz 27: «Es soll keyne leybeygene seyn, weyl uns
Christus hat alle befreyet? Was ist das? das heyßt Christliche
Freyheyt ganz fleyschlich machen... leset S. Paulen,
was er von den knechten, wilche zu der zeyt alle
leybeygen waren, leret.» Und schon vorher 38: «... wie
Paulus sagt. Eyn ijgliche Seele solle der oberkeyt untertan
seyn mit furcht und ehren.» Und weiter 39: «Denn
weltlich reich kan nicht stehen, wo nicht ungleicheyt ist
ynn Personen, das etliche frey seyn, etliche gefangen, etliche
herren, etliche unterthan etc. Wie S. Paulus sagt,
Gala. u. das ynn Christo herr und knecht eyn ding sey.»
Etwas Rätselhaftes wird immer in Luthers Verhalten
bleiben. Am wahrscheinlichsten ist doch wohl, daß er
wirklich die Empfindung hatte 40: der Teufel, der ihn
bisher nicht durch den Papst habe umbringen können,
versuche nun, ihn durch «die blutdürstigen mordpropheten
und rotten geyster» zu vertilgen und aufzufressen.
Aber es bleibt, was schon die Zeitgenossen empfanden,
zumindest befremdend, in welche teutonische Berserkerwut
er sich dann in seiner Schrift «Wider die Rotten
der Bauern» hineinsteigert. Alle uns nun bekannten
Schriftstellen müssen die Verdammung der Bauern begründen.
Ihre Sünde ist, daß sie der Obrigkeit den Gehorsam
verweigern 41: damit haben sie «verwirckt leyb
und seel». Ihre Sünde ist ferner, daß sie sich aufs Evangelium
für ihre Forderung berufen, daß «alle ding frey
und gemeyne geschaffen» sind und darum wieder werden
müssen; denn das Evangelium mache ausschließlich
die Güter derer gemein, welche «solchs williglich von
Yhn selbst tun wollen» 42. Der Fürst und Herr muß hierbei
bedenken, daß er «Gottes amptman und seyns zorns
diener ist»; daher ist ihm «das schwerd yber solche buben
befohlen» 43. «Sölch wunderliche zeytten sind itzt, das
eyn Fürst den hymel mit blutvergissen verdienen kann,
bas denn andere mit beten» 44. «Menschenopfer unerhört» 45
hatte die Verbreitung des christlichen Glaubens
schon gekostet. Aber seit der Apokalypse ist wohl kein
solch blutrünstiger Aufruf in die Welt gegangen wie hier,
wo dem Fürsten als sein Amt, als sein Beruf gewiesen
wird: Steche, schlage, würge... 45.
Angesichts solcher Worte scheut man sich fast vor der
Behauptung, daß die Entwicklung einer Berufsethik eine
der großen Leistungen aller Protestantismen gewesen ist.
Dennoch besteht zu Recht, was vor allem Max Weber,
aber auch Sombart und Troeltsch über die Soziallehren
der christlichen Kirchen und Sekten, über die religiösen
Grundlagen der innerweltlichen Askese und über die Bedeutung
der asketischen Rationalisierung des gesamten
Berufslebens für den «Geist» des Kapitalismus als Soziologen,
als Wirtschafts- und als Religionshistoriker gelehrt
haben. Und die erwähnte Haltung von Luther beleuchtet
nur den tiefen Grund, aus dem von Calvin und dem Puritanismus
her der stärkere Antrieb kam als vom Luthertum.
Luthers gleichzeitige Absage an das Täufertum, an
die Bauern und an den Humanismus war wie seine Ehe
wohl ein Zeichen, daß nicht nur seine revolutionäre Epoche
abgeschlossen war, sondern daß er bewußt nun im
Religiösen eine tunlichst 47 traditionalistische, im Politischen
eine tunlichst konservativ-reaktionäre Stellung bezog.
Mit Begriffen einer späteren Zeit läßt sich sagen:
der ordre positif, die geltende Ordnung, erschien ihm
nicht nur als ordre naturel, als natürliche, sondern
als gottgewollte Ordnung, und infolgedessen war es die
religiöse Pflicht jedes Menschen, seinen weltlichen Beruf
so gut als möglich auszufüllen und in dem Stand,
in den er hineingeboren war, ergeben auszuharren. Es
kam hinzu die nicht bezweifelte Auslegung des Römerbriefs
als Gebot, sich in jede weltliche Obrigkeit, weil
von Gott, gehorsam zu fügen. So legte der kirchliche Revolutionär
die Grundlage für die wirtschaftliche und politische
Ethik des getreuen Bürgertums der deutschen
Duodezstaaten.
Die Impulse der frühkapitalistischen Unternehmer-Wirtschaft
waren, gepaart mit der Wirkung der aus den
neuentdeckten Kontinenten einströmenden Edelmetalle
und sonstigen Reichtümer, so außerordentlich stark, daß
begreiflicherweise immer wieder die Frage gestellt wird,
ob es wirklich der protestantischen Berufsethik zum Aufschwung
des Kapitalismus bedurfte 48. Ein Blick auf Spanien,
scheint mir, nötigt zu einem uneingeschränkten Ja.
Die Menschen von damals brauchten noch das jetzt weitgehend
verlorene «gute Gewissen» — nicht als spätbürgerliches
sanftes Ruhekissen, sondern um gewiß zu sein,
daß sie nicht dem Teufel verfallen waren. Und also war
es nicht gleichgültig, daß Jesu Verdammung des Mammons
in den fernen Rang einer erbaulichen Parabel
rückte, daß der Reichtum nur für Zwecke der Fleischeslust
noch als Sünde galt, daß es aber erlaubt und geboten
ist, für Gott zu arbeiten, um reich zu sein 49.
Daß Luthers neues Wort «Beruf» eine sehr glückliche
Prägung gewesen ist, haben offenbar seine theologischen
Freunde sofort erkannt. Melanchthon hat das Wort an
drei wichtigen Stellen der Confessio Augustana gebraucht
50, und ihre weite Verbreitung hat gewiß dazu
beigetragen, daß sich das Wort im deutschen Sprachgebrauch
einbürgerte. Aber wenn festgestellt wird 51, daß
durch Luther der hohe Klang des Wortes auch in der heutigen
Schriftsprache unverbraucht fortwirkt, so möchte
der Soziologe gern wissen: wie haben denn abseits des
kapitalistischen Bürgertums die Menschen, deren Gewerbe
nun als Beruf anerkannt war, empfunden und
reagiert?
Kein Zeugnis ist darüber zu finden. Es mag manches
Mal so gewesen sein, daß Menschen, die aus dem bergenden
Kosmos des Mittelalters herausgestürzt waren, sich
nur schwer auf einer Erde zurechtfänden, auf der sie
nun als Person, als individuelle Person sich behaupten
sollten. Vielleicht hatten die frommen Handwerker, welche
die kleinen und großen Figuren der gotischen Dome
schufen, ein beseligendes Gefühl der Gottgefälligkeit ihres
Werks, das nun in protestantischen Landen verlorenging.
Vielleicht hatten die arti in Italien und die «Corporations
des arts et métiers» in Frankreich eine stärkere
Verbindung zu Kunst und Kultur als die Zünfte der puritanischen
Länder. (Schon das Wort «Zunft» bedeutet ja
nur das «Ziemliche», die für eine Genossenschaft sich
«ziemende» Ordnung.) Aber das sind nur Vermutungen.
Auf der andern Seite ist gewiß, daß Luther und Calvin
dem Handwerker ein ganz neues Selbstbewußtsein vermittelten,
das sie zumindest der Geistlichkeit gegenüber
nun mit dem Anspruch der Gleichberechtigung auftreten
ließ.
Von Hans Sachs gibt es schon aus dem Jahre 1524
eine «Disputation zwischen einem Chorherren und Schuhmacher»
52, bei der der Schuster mit erstaunlicher Sicherheit
«das Wort Gottes und ein recht christlich Wesen»
gegen den Geistlichen verficht. Das Wort «Beruf» kennt
Sachs noch nicht. Aber im Eingang der «eigentlichen Beschreibung
aller Stände auf Erden» von 1565 wird das
Wort «Stand» durchaus im Sinn von «Beruf» verwendet 53:
darbei man ihn erkennen kann,
ob er seim Stand hab recht getan.
Und vielleicht hat doch der «kapitalistische Geist»
schon Einzug gehalten, wenn der Buchbinder also charakterisiert
wird:
Ich bind mancherlei Bücher ein,
geistlich und weltlich, groß und klein,
Etlich verguld ich auf dem Schnitt,
da verdien ich viel Geldes mit.
Die «Stände auf Erden» des Hans Sachs sind nun auch
darum interessant, weil ihre Aufzählung einen dem Wirtschaftshistoriker
bekannten Tatbestand beleuchtet, der
den Theologen beider Konfessionen entgehen mußte.
Gleichviel ob man in der Verschiedenheit der Ämter
und Stände wie die Thomistik einen Ausfluß der «natürlichen»
Ordnung und Arbeitsteilung sah oder wie die
Protestantismen das Naturrecht strich, —immer bestand
die Neigung, das jeweils Bestehende für das dauernd
Bleibende zu halten, es fehlt der Sinn für den Wandel
der Berufe. So kennt Hans Sachs einen besonderen Stand
der «Reißer» und der «Furmenschneider», ferner einen
Stand der Papierer, welche «Hadern zu der Mühl» sammeln
— alles Berufe, von denen heute wie von unzähligen
anderen zu sagen ist, daß sie ausgestorben sind. Allgemein
gesprochen: die Zünfte, welche als Gewerbsverbände
weit ins Mittelalter zurückreichen, nehmen die
verschiedensten Berufe in sich auf; aber sie können den
Beruf nicht perennieren, sondern keine, wo auch immer
hergeleitete und wie auch immer gestaltete Ordnung kann
ihn am Leben erhalten, wenn er durch die technische
Entwicklung, die oft noch durch eine Änderung des Geschmacks
in ihrer Wirkung verstärkt wird, seinen Arbeitsansatz
verliert. Die verschiedenen industriellen Revolutionen
haben mit den alten Berufen mörderisch aufgeräumt 54
und im Vergleich dazu wenig neue geschaffen.
Was ist nun das Wesen dieser Berufe, die nicht mehr
von einer göttlichen Ordnung her, sondern im Rahmen
der menschlichen Aufteilung der Arbeit bestehen und
vergehen? Vermutlich ist die Zahl nicht groß, in denen
ein Gefühl der Berufung nachhaltig wirkt — der Beruf
des Königs, des Fürsten, des Geistlichen, des Mönchs ist
noch häufig, doch durchaus nicht immer aus der Masse
der anderen Berufe hierdurch herausgehoben. Für die
anderen Berufe besteht die Notwendigkeit, sich in einer
bestimmten Fertigkeit auszuweisen, die durch Lehr- und
Gesellenzeit erworben wird, wobei es leicht vorkommen
kann, daß man einen Beruf lernt, ohne in die Zunft aufgenommen
zu werden, die einer immer enger umgrenzten
Zahl von Meistern vorbehalten bleibt. Anders gesagt: je
mehr der Beruf seinen Charakter als Berufung verliert,
um so mehr wird er zur «Profession» — um so mehr
wird er zum bloßen Erwerbs- oder sogar zum Profitberuf.
Beruf — daran sei erinnert — ist keineswegs gleichbedeutend
mit Erwerb 55. Die Klesis, die Paulus, und der
Beruf, den Luther im Auge hatte, war dazu da, den Menschen
ihre Nahrung, ihren Unterhalt zu verschaffen. Erst
der Kapitalismus hat die Sucht nach Mehr, nach mehr
«Verdienst», nach mehr Profit von den Unternehmern
ausgehend allmählich auf alle Stände und Klassen verbreitet.
Aber es gab und gibt noch immer «brotlose Berufe»,
und der Beamte früherer Zeit, der sein Gehalt,
oder der Offizier, der seinen Sold bezog, hat zumeist
mehr in der Ehre als im Einkommen seine Vergütung
erhalten —sein Beruf war und ist manchmal auch heute
noch kein eigentlicher Erwerbsberuf. Daneben gibt es
dann umgekehrt reine Profitberufe wie den des Agioteurs
oder den des Spekulanten, um nur einige besonders
sinnfällige zu nennen.
Grade bei den Berufen, die nicht Erwerbsberufe sind,
wird man bis in dieses Jahrhundert hinein eine eigene
Berufsethik feststellen können. Gewiß keine lutherische
und keine calvinistische Berufsethik mehr; denn daß der
Berufserfolg Zeichen der Heilsgnade ist — dieses dogmatische
Bewußtsein ist längst verblaßt. Aber was man
früher den «Kodex» des Beamtentums oder den «Kodex»
des Offiziersstandes nannte — dieser Ehrenkodex war,
solch äußerliche, bis ans Lächerliche grenzende Formen
er manchmal angenommen hat, doch der letzte Nachglanz
der hohen Berufsethik des Beginnes.
Ein verwandter Nachglanz zeigte und zeigt sich im
Gewerbe. Auch dort gab und gibt es Berufsehre; sie
äußert sich vor allem darin, daß kein Angehöriger des
Berufs gegen den überkommenen Maßstab der Qualität
verstoßen darf. Darüber hinaus kann, zumal dort, wo
eine Sektenbindung vorliegt, die Aufrechterhaltung der
Kreditwürdigkeit zur Berufsehre gehören.
Überall verbindet sich mit der Berufsehre ein spezifischer
Berufsstolz, der aus den verschiedensten Elementen
sich zusammensetzen kann. Er kann sich auf die
individuelle Leistung gründen, er kann aus der besonderen
Bedeutung eines Berufs im augenblicklichen Wirtschafts-
oder Gesellschaftsgefüge herrühren, er kann
völlig irrationale, historische 56 oder sogar magische Ursprünge
haben. Aber er besitzt bis in die Gegenwart eine
solche Kraft, daß er innerhalb von einheitlichen Klassen
oder Gewerkschaften plötzliche Rangkämpfe hervorrufen
kann.
Je mehr aber der Beruf im Zeitalter des Kapitalismus
der Berufung fernrückt, um so mehr wird er Kennzeichen
einer Vielzahl von Menschen. Die Berufung kann
einem Einzelnen zuteil werden —ja in vor- und außerchristlicher
Welt trifft sie immer nur einen Einzelnen.
Wo dagegen heute nur Einzelne oder nur Wenige einen
Beruf bekleiden — etwa den Beruf des Monarchen oder
des Präsidenten —, liegt es entweder so, daß es sich um
einen letzten Beruf handelt, in den man hineingeboren
wird, oder um ein einzelnes Amt, dessen Bekleidung zum
Beruf wird. Der Regel nach aber ist «Beruf» Kennzeichen
und Bezeichnung einer Menschen-Gruppe,
welche die gleiche Tätigkeit ausübt und hierdurch eine
bestimmte Funktion innerhalb von Wirtschaftsordnung
und Wirtschaftstechnik ausübt. Mit dieser Funktion kann
ihre Stellung innerhalb der Sozialordnung zusammenfallen.
Daß sie es nicht notwendig tut, ist eine der Unterlagen
für jenen Vorgang, den Hegel, und mit größerem
Gewicht Marx, als die Entfremdung des Menschen bezeichnet
hat.
Selbst wenn man nicht mit Marx die Auffassung teilt,
daß das verlorene Eigentum an den Produktionsmitteln
die Schuld daran trägt, daß dem Arbeiter die Freude an
der Produktion und dem Genuß des Produktes geraubt
wird 57, so bleibt doch Schillers Aussage unantastbar,
daß die getrennte Ausbildung der menschlichen Kräfte,
welche für das Ganze der Welt notwendig sein mag, die
Individuen, die sie trifft, unter dem Fluch dieses Weltzwecks
leiden macht 58. Für unseren Zusammenhang enthält
dies die Erkenntnis Indem der Beruf seine ethische
Bedeutung verliert und das Wort im Gefolge der industriellen
Revolution nur noch die Zugehörigkeit zu einer
Gruppe gleicher Tätigkeit bedeutet, wird der Mensch,
der aus dem Kosmos des Mittelalters herausgeschleudert
war, nun auch noch aus dem ethischen Gehäuse vertrieben,
das ihm zwei bis drei Jahrhunderte lang Stand und
Schutz geboten hatte. Wenn die Philosophie des Idealismus
dem Beruf dadurch neuen, tragenden Inhalt zu
geben sucht, daß sie in ihm den Raum sieht, in dem der
Mensch seine Persönlichkeit und seine Menschlichkeit
entfalten kann, so hat sich dies als Rettungsversuch mit
sehr untauglichen Mitteln erwiesen; denn der so gefaßte
Beruf hat sich als eine der Formen gezeigt, in denen
Grillparzers düstere Voraussicht sich erfüllte: Von der
Humanität zur Bestialität... 59
Aber auch wenn die Völker innerlich verarmen und
wenn der Glaube der Vordem schwach wird, so hat die
Gottheit noch immer einen Menschen gefunden, der ihr
Gefäß und Stimme war — wie in Israel die Propheten,
so im deutschen Sprachraum die Dichter. In der gleichen
Zeit, in der im weltlichen Bereich der Beruf seinen geistigen
Charakter verliert, schreibt Schiller in dem als Gedicht
so schwachen, aber als Bilderbuch seiner Welt so
aufschlußreichen «Lied von der Glocke» die Verse:
Und dies sei fortan ihr Beruf,
Wozu der Meister sie erschuf!
Nicht mehr der Mensch, sondern die Glocke hat nun den
Beruf, «selbst herzlos, ohne Mitgefühl», dem Schicksal
die Zunge zu leihen 60.
Im gleichen Jahr 1799, in dem die «Glocke» entstand,
veröffentlicht Schiller in seinem Musenalmanach das
hymnische Gedicht eines jungen schwäbischen Landsmanns
«An unsre großen Dichter» 61 — einen Aufruf an
die Dichter, vom Schlummer die Völker zu wecken, die
jetzt noch schlafen. Als Hölderlin aus dem Keim dieser
zweistrophigen die weitausladende Blüte einer sechzehnstrophigen
Ode entwickelt, trägt diese den Titel: Dichterberuf
62. In Worten, in denen das Alte wie das Neue
Testament durchschimmert, wird der Dichterberuf umschrieben.
Zu Sorg und Dienst ist den Dichtenden anvertraut,
daß sie, die dem Höchsten zu eigen sind, ihn immer
neu besingen und in befreundeter Brust vernehmen. Der
Gott ergreift die Locken und der schöpferische, göttliche
Genius nimmt Besitz von dem Berufenen. Aber
Zu lang ist alles Göttliche dienstbar schon,
Und alle Himmelskräfte verscherzt, verbraucht...
Wo immer Hölderlin von den Dichtern spricht oder von
sich selbst — das Wort «Dichterberuf» könnte stets darüber
stehen. Ich muß es mir versagen, die schöne Hymne
«Wie wenn am Feiertage.. .» 63 ganz vorzulesen; doch
mögen einige Verse der letzten Strophe von jener hohen
Auffassung zeugen, die den Dichter der Zukunft mit den
Propheten der Vorzeit verbindet:
Doch uns gebührt es, unter Gottes Gewittern,
Ihr Dichter! mit entblößtem Haupte zu stehen,
Des Vaters Strahl, ihn selbst, mit eigner Hand
Zu fassen und dem Volk ins Lied
Gehüllt die himmlische Gabe zu reichen.
Hier ist wieder Berufung und ist Beruf, und in diesem
seltsamen 19. Jahrhundert, in dem allerorts zugunsten
des Fortschrittglaubens so viel vom positiven Glauben
und vom geistigen Erbe der Vergangenheit verschleudert
und vertan wurde, ist das Bewußtsein der besonderen
Berufung der hohen Dichter, bisweilen eines Berufenseins
bis zur Verdammnis, in ganz Europa wach und
mächtig 64. Es wäre eine sehr lohnende Aufgabe, dies im
einzelnen zu verfolgen — bei Heine wie bei Nietzsche,
bei Baudelaire wie bei Gotthelf, dem Mann der dreifachen
Berufung zum Dichter, zum Prediger und zum
Politiker, bei Albert Verwey 65 in Holland und bei Waclaw
Lieder in Polen, und schließlich am stärksten bei dem
größten deutschen Dichter des neuen Jahrhunderts, bei
Stefan George.
Doch um den Rahmen unserer Betrachtung nicht zu
sprengen, sei nur eine Tatsache hervorgehoben: gleichviel
worin der deutsche Dichter ein Neubeginn ist, für
die hier geschilderte Entwicklung bedeutet er ein Ende.
Denn von Luther an war das Wort «Beruf» ein Wort der
protestantischen Sphäre, und dies ist es geblieben, auch
wenn es von katholischen Schriftstellern und Gelehrten
übernommen wurde. Rätselhafterweise ist während drei
Jahrhunderten der katholische Volksteil ohne schöpferische
Sprache —zwischen Balde und George gibt es keinen
katholischen Dichter deutscher Sprache von Rang.
Aber indem nun in George das Katholische wieder Sprache,
Ausdruck, Form gewinnt, tut es dies in seinen urchristlichen
und in seinen vorchristlichen Elementen.
Das ließe sich durch Nebeneinanderreihung aller Stellen
zeigen, in denen Berufene (oder Unberufene) genannt
werden — manchmal der von der Gottheit Erwählte,
manchmal der vom Gründer Erkorene —, das ist der neue
Sinn von «Kür und Sende».
Während derart die Berufung und der Beruf in der
Dichtung wieder in einem zwar nicht geistlichen, doch
geistigen, nicht religiös-konfessionellen, doch religiös-meta-physischen
Kreis zu den Ursprüngen zurückkehren,
verliert der weltliche Beruf die letzten Reste der ethischen
Färbung, die ihn auch in der Spätzeit der Protestantismen
noch ausgezeichnet hatten. Schon Nietzsche
hat ein fast regelmäßiges «Mißverhältnis zwischen dem
sogenannten Lebensberufe und der Disposition dazu»
festgestellt, «dem ersichtlichen Nichtberufensein» 66. Und
noch kurz vor der Umnachtung schreibt er in der «Götzendämmerung»
im gleichen Abschnitt, in dem er Jakob
Burckhardts gedenkt — «ihm zuerst verdankt Basel seinen
Vorrang von Humanität» 67 —, daß eine höhere Art
von Menschen nicht «Berufe» liebt, «genau deshalb, weil
sie sich berufen weiß...».
Das ist geschrieben in einer Zeit, in der der Aufschwung
des Hochkapitalismus mit fortschreitender Arbeitsteilung
und verstärkter Maschinisierung bereits eine
Spezialisierung der alten Professionen im Gefolge hatte.
Ein Vierteljahrhundert später, als diese Tendenzen sich
überstürzen und überdies durch die Verbreitung der
Elektrizität und aller mechanischen Fortbewegungsmittel
fast Jahr für Jahr neue Professionen entstehen, gibt Max
Weber für den «Beruf» die neue, «wertfreie» Definition
des Soziologen 68: «Beruf soll jene Spezifizierung, Spezialisierung
und Kombination von Leistungen einer Person
heißen, welche für sie Grundlage einer kontinuierlichen
Versorgungs- oder Erwerbschance ist.» Es kümmert
uns hier nicht, ob diese Definition richtig, das heißt
in Max Webers Sinn: brauchbar ist. Sondern sie ist uns
als solche wichtig, weil sie mit schonungsloser Nüchternheit
zeigt, wie wenig in diesem 20. Jahrhundert noch von
der alten Berufsauffassung übriggeblieben ist — nichts
von Berufung, nichts von Stand, nichts von Qualifikation
—, keine vocatio, nur occupatio, nur Tätigkeit und
Erwerb.
Es ist daher erstaunlich, daß 1908 noch ein solch
scharfsichtiger Beobachter der Gesellschaft wie Georg
Simmel meinen konnte 69: damit es überhaupt einen Beruf
gebe, müsse eine, «wie auch immer entstandene, Harmonie
zwischen dem Bau und dem Lebensprozeß der
Gesellschaft auf der einen» und «den individuellen Beschaffenheiten
und Impulsen auf der anderen» Seite
vorhanden sein. Nein — eine «harmonische» Lebensordnung,
das war vielleicht eine Wirklichkeit des Mittelalters
und war ein Traum des klassischen Liberalismus
und der klassischen Nationalökonomie. Aber je mehr sich
die industrielle Gesellschaft entwickelte, um so mehr
blieb nur das sehr brüchige Gerippe eines Zweckzusammenhangs
übrig, von und für tausend und aber tausend
«Berufe», das heißt Professionen. Darum fing jetzt eine
herrliche Zeit für die Statistik an. Schon die deutsche
Berufszählung von 1907 unterschied über 14000 Berufsbezeichnungen;
1925 wurde ein Schema entwickelt, nach
dem die Berufe in 7 Wirtschaftsabteilungen, diese in 27
Wirtschaftsgruppen und diese in 166 Wirtschaftszweige
aufgegliedert wurden, innerhalb deren dann die verschiedenen
Stellungen der Arbeitenden zu unterscheiden waren
Man sieht leicht, wie viel lohnende Arbeit hier nicht
nur für den Statistiker sich anbietet, sondern ebenso für
den Soziologen und den Oekonomen, der Freude an sauberen
Scheidungen hat und der diese Voraussetzung jeder
Wissenschaft schon für ihr Wesen oder mindestens für
seinen «Beruf» hält 70a. Jetzt gibt es außerdem im Sprachgebrauch
den Berufsanwärter wie den Berufsverbrecher
71, nun gibt es Berufsberater und Berufsschulen, Berufsgruppen
und Berufsverbände, wobei die statistische
Gruppe durchaus nicht immer mit der soziologischen
oder der gewerkschaftlichen zusammenfällt. Je weiter die
Spezialisierung fortschreitet, um so mehr findet eine
Aufteilung alter Berufe statt. An die Stelle des einzigen
Schlosser-Berufes treten z. B. die Berufe des Kunstschlossers,
des Autoschlossers, des Bauschlossers, des Maschinenschlossers
uw. — Berufes die in manchen Ländern
noch eine einheitliche Grundausbildung haben, in anderen
von der Lehre an voneinander getrennt sind.
Indessen ist die Entwicklung auch über diesen Punkt
schon hinausgeschritten. Wenn man vor 30 Jahren von
einem Bauschlosser sprach, so war das ein Mann, der
seine Lehre als Bauschlosser durchgemacht und die Gesellenprüfung
bestanden hatte und der nun «in seinem
Beruf» tätig war — aber heute arbeitet er vielleicht als
Hilfsarbeiter in der Chemie. Wenn man von einem Friseur
oder einem Bäcker sprach, so galt in der Vergangen.
heit Entsprechendes — aber heute arbeitet der eine wie
der andere vielleicht als Handlanger im Baugewerbe.
Was haben diese Leute nun für einen «Beruf»? Das ist
sehr schwer zu sagen; denn sie selbst wissen oft keine
Antwort. Auch wenn die Berufszählung sie als Hilfsarbeiter
oder Handlanger qualifiziert, so nennen sie auf
die Frage nach ihrem Beruf meist denjenigen, den sie gelernt
haben. Ein Arbeiter, dem in einer durchautomatisierten
Fabrik die wichtige Beobachtung der Schaltlampen
übertragen ist und der diese Funktion schon jahrelang
ausübt, antwortete auf die Frage nach seinem Beruf:
Bäcker — ein anderer: Eisenbahner. Was hat das zu bedeuten?
In solchen Tatsachen und Antworten zeigt sich ein
neuer Gefahrenpunkt der Gesellschaft der alten Industriestaaten
Europas. Vermutlich existiert er dort nicht,
wo keine mittelalterliche Berufstradition vorhanden ist;
in den Vereinigten Staaten, wo ein Arbeiter beliebig oft
seinen «job» wechselt, dürfte es anders sein und wohl
auch in Sowjetrußland. In unseren Zonen aber tritt das
Auseinanderklaffen von Berufslehre, Berufsbewußtsein
und Erwerbstätigkeit, die sich nun kaum mehr als Berufstätigkeit
charakterisieren läßt, uns als sehr bedenklich
entgegen. Zwar läßt sich sagen, daß schon bei den
unendlich vielen Teilverrichtungen in einer Fabrik die
Herausbildung eines Berufsbewußtseins ausgeschlossen
war. Aber ein Mädchen, das in einer modernen Strumpffabrik
arbeitet, ist endgültig nicht mehr Strumpfmacherin,
sondern Fabrikarbeiterin. Und wer am Fließband
z. B. einer Automobilfabrik tätig ist, ist ebenso Fabrikarbeiter
und nicht Nieter oder Dreher oder Schweißer,
selbst wenn er in seiner Arbeitsgruppe zufällig oder dauernd
diese Tätigkeit ausübt. Indessen ist der Bruch in
diesem letzten Beispiel dann besonders beachtlich und
gefährlich, wenn —gleichviel ob am Fließband oder an
der automatischen Steuerung oder wo auch immer —ein
gelernter Arbeiter, das heißt: ein Arbeiter, der einen
handwerklichen oder sonstigen «Beruf» gelernt hat, eine
Tätigkeit übernimmt, für die seine frühere Lehre gleichgültig
ist und die meistens überhaupt keine Lehre, sondern
nur einige Gelehrigkeit voraussetzt. Dann wird,
wenn ein altes Berufsbewußtsein vorhanden war, dieses
kaltgelegt, und jedenfalls: es wird kein neues Berufsbewußtsein
geschaffen. Ohne dieses aber kann es auch
keinen Berufsstolz geben. Ein Berufsstolz des Fließbandarbeiters
ist eine contradictio in adiecto. Stolz ist für ihn
allenfalls noch möglich auf die Geschwindigkeit oder das
Quantum der Leistung seines Arbeitskollektivs 72.
Seien wir uns ganz klar, daß hier nicht eine technische
Neuerung vorliegt, die sich an frühere bruchlos anschließt,
sondern daß hier eine menschliche und gesellschaftliche
Wandlung von noch nicht absehbarer Bedeutung
und von noch nicht absehbaren Folgen anhebt. Was
ist noch vom Korintherbrief geblieben? Er ist weit in die
Vergangenheit gerückt, versunken wie der christliche
Aion, den er heraufzuführen half. Wer ist nun noch
berufen? in einen Beruf berufen? wer bleibt in seinem
Beruf? Im alten jüdisch-christlichen Sinn niemand von
uns, und gewiß auch sonst nicht mehr viele Menschen der
Alten Welt. Aber soziologisch vielleicht noch bedeutsamer
ist die Tatsache, daß auch im bürgerlichen Sinn
der Protestantismen eine positive Antwort schwer und
selten sein dürfte. Die übergroße Mehrzahl der Menschen
hat eine Tätigkeit, hat eine Profession, hat eine bestimmte
Stellung im Büro oder in der Fabrik, in der
Werkstatt oder in der Verwaltung, der angestellte Generaldirektor
wie der angestellte Kassierer, der Handlanger
auf dem Bau sowie die Sekretärin an der Maschine, der
Pedell in der Universität wie der Beamte in einem Ministerium.
Aber keiner hat hierdurch einen Stand oder gar
ein Standesbewußtsein, keiner einen sicheren Rang in
einer fest gegliederten Gesellschaft. Selbst wir Professoren,
die wir noch dankbar und oft allzu stolz darauf sind,
einen echten Beruf auszufüllen —wir müssen nur einen
Blick nach USA richten, um zu sehen, wie wenig soziales
Ansehen dort unsre Profession besitzt. Und es genügt ein
kurzer Blick auf die kurze Zeit des Tausendjährigen
Reichs, um zu bescheidener Stille zu mahnen; denn
außerhalb von Holland und Skandinavien — wie klein
ist die Zahl der Charaktere gewesen, die sich mannhaft als
professores erwiesen haben! 73 Nein — es ist schlicht und
ehrlich zuzugeben: die bürgerlich-kapitalistische Zeit hat
ganz generell die Begabung, das Charisma jeder Form zurückgedrängt
und hat mit ihrer «Entzauberung der Welt»,
mit ihrer Entwicklung zur rationalen «Sachlichkeit» das
«Berufsmenschentum», das «Fachmenschentum» herangebildet,
das Max Weber 74 als unentziehbares Endziel erschien,
das die Bürokratisierung aller Herrschaft und
schließlich auch der Wirtschaft selbst erleichterte und
förderte und das jedenfalls der bürgerlichen Erwerbsarbeit
mit Reichtumshäufung auf der einen und Armenpflege
auf der anderen Seite aufs beste entsprach. Aber
so wie diese bürgerlich-kapitalistische Zeit die letzten
Reste des Feudalismus aus den letzten Schlupfwinkeln
vertrieben hat, so kündet sich nun gerade in der Wandlung
von Beruf und Berufsarbeit (und von Arbeit und
Freizeit überhaupt) ein neues Zeitalter an, das nicht
schonsamer umgehen wird mit den Zielen und Werten
der jüngsten Vergangenheit als vordem diese nach rückwärts.
Liegt hierin eine Begründung für jenen Kulturpessimismus 75,
wie er in Resteuropa aus den verschiedensten
Quellen gespeist wird? Eine Begründung wohl. Aber an
ihrer Stichhaltigkeit ist zu zweifeln. Auch wenn wir ganz
gewiß zum «Abschied von der bisherigen Geschichte» 76
genötigt sind, so bedeutet das, wenn nicht Atombomben
die Menschheit vernichten oder gar die Erde zerstören,
in keiner Weise das Ende aller Geschichte. Und es ist
durchaus nicht einzusehen, warum nicht der Berufsmensch
mit seiner Arbeitsverbissenheit bis zum Herzinfarkt
abgelöst werden sollte durch ein menschliches
Wesen, das wieder seine Freude hat an der Schönheit der
Welt und — am Müßiggang. Noch ist nicht zu wissen,
wie es sich eines Tages auswirken wird, daß im Gefolge
der Automation und der Verkürzung der Arbeitszeit die
Menschen nicht mehr unter dem jüdisch-christlichen Gebote
stehen, im Schweiß ihres Angesichts ihr Brot zu verdienen 77.
Noch hat die sogenannte Freizeit — die Zeit,
die frei von Arbeit ist —keinen positiven Inhalt und besteht
die Gefahr, daß sie reglementiert, bürokratisiert,
terrorisiert wird. Noch hat «müßig sein» den Hintersinn,
daß man eigentlich beschäftigt sein sollte. Noch wirkt in
uns allen die puritanische Berufsethik insoweit nach, daß
wir unbesehen an die Wahrheit des Sprichworts glauben:
Müßiggang ist aller Laster Anfang. Aber hat nicht
Nietzsche Recht gehabt, wenn er der Gesellschaft seiner
Zeit die «Unfähigkeit zum otium» 78, zur Muße, vorwarf
und wenn er in der Fähigkeit zur Muße eines der
auszeichnenden Merkmale wahrhafter Vornehmheit erblickte?"
Die Zukunft zu wissen ist heute niemandem gegeben.
Aber noch niemals hat die Losurne nur schwarze Lose
enthalten. Und selbst wer ein schwarzes zieht, hat nach
Platons religiösem Wissen die Möglichkeit und die Aufgabe,
sich im Leben auf dieser Erde zu bewähren. Ob er
sich «berufen» fühlt, das vermag ihm nicht mehr der
Glauben des alten Aions zu sichern. Indessen auch in dem
ungeheuren Weltkreis mit der Milliardenzahl seiner Bewohner
wird das Volk der Christen, selbst zum kleinen
Häuflein geworden, das Wissen um seine besondere Klesis
weitertragen. Und gleichviel in welcher Stärke und in
welcher Form in den übrigen Teilen der Welt die «Berufenen»
vor den «Gleichen» zusammenschmelzen, immer
wird es Unterschiede der Anlage geben, immer wird
die göttliche Mania sich ihre Träger erküren, und immer
wird in wechselnder Gestalt die ewige Wahrheit 80 sich
neu verleiben:
Thyrsosträger sind viele, doch wenige Bakchen.
So war es, so ist es und so wird es bleiben. Und also
mag der Begriff des Berufs seinen Inhalt weiter ändern
und seinen alten Gehalt gänzlich verlieren; doch immer
wird es, von wechselnder Herkunft und zu wechselnder
Aufgabe, einen Ruf und Gerufene, die Auserlesenen
neuer Berufung geben.