Das Menschenbild im Lichte der Heilkunde
(Ein Beitrag zu einer ärztlichen Anthropologie)
Das Menschenbild der Heilkunde tritt uns in jeder Epoche,
welche sich über die Natur des Menschen Rechenschaft gibt, als
mehr oder weniger typische, mit allen Einseitigkeiten ärztlichen
Denkens behaftete «Gestalt» entgegen. Sie bildet Frucht und
Summe ärztlichen Nachdenkens auf Grund oft jahrzehntelanger
ärztlicher Sorge und Hilfeleistung am kranken und gesunden
Menschen. Denn dies, krank und gesund, sind die Kategorien,
sind die Wertmaßstäbe des Arztes, die sein ganzes Interesse erfüllen;
es sind die Kategorien, um die sich sein ganzes Beobachten,
Denken und Handeln dreht. Das Menschenbild des Arztes kann
deshalb niemals ein statisches, es muß ein dynamisches sein, wie
Werden und Vergehen der Menschen überhaupt, die unter seinen
Schutz gestellt sind, wie der Ablauf der Krankheit, wie das Leben
selbst nur als dynamisches, als ein ständig in der Zeit und im
Raum fortschreitendes erfaßt werden kann, das eines Tages mit
dem Tode enden wird. Dann tritt jenes statische Moment ein,
der Kampf gegen die Entropie hat aufgehört, es herrscht Grabesruhe,
die schöne Form zerfällt, der Sinn des Lebens verliert sich,
die Aufgabe des Arztes als Helfer des Lebens hat ihr Ende
erreicht. So wächst das Menschenbild des Arztes ganz unmittelbar
aus dem Erlebnis des kranken und gesunden Menschen hervor.
Darum ist es weitgehend beeinflußt durch die Vorstellungen,
die sich der Arzt als ein in diesem Bereich besonders Erfahrener
vom Leben überhaupt, vom Krankheitsgeschehen und vom
Heilprozeß macht, als einer, der über leibliche und seelische
Gesundheit und Krankheit Bescheid weiß, der über die Krankheit
als einem dem Menschen immanenten und für ihn unausweichlichen,
schicksalshaften Geschehen nachgedacht hat.
Für das Wirken des Arztes ist es von grundlegender Bedeutung,
zu wissen, wie der Mensch den zerstörenden, abbauenden Kräften
der Krankheit widersteht. Aus dieser Erkenntnis wird sich ihm
ein ganz bestimmtes Bild von der Natur des Menschen ergeben.
Der Arzt wird auf Grund seiner vielfältigen Erfahrung zu der
Einsicht gelangen: Der Mensch verfügt über ein wunderbares
System von Abwehrkräften und von Kräften der Erneuerung,
von der wir uns einen kleinen Begriff machen, wenn wir feststellen,
daß wir unser gesamtes Blut in unserm vielleicht siebzigjährigen
Leben etwa 250mal erneuern. Und ähnliches geschieht
mit allen Geweben, mit Ausnahme der Gehirnzellen. In den
Gehirnzellen wird unsere Geschichte aufbewahrt, die Geschichte
der erlebten Welt, die Geschichte unseres Daseins, die uns zur
Person macht, zur Gestalt, die sich erinnert. Gehirnzellen werden
alt; sie tragen den ganzen Erfahrungsschatz unseres Daseins in
sich. Dabei wird ihr physischer Inhalt fortgesetzt verbraucht,
ihr Biochemismus erneuert sich ständig. Aber ihre Bildungsfähigkeit
ist abgeschlossen, sie haben nicht die Fähigkeit,
sich zu vermehren. Und doch: wenn Gehirnzellen ausfallen, geschädigt,
vernichtet werden, zeigen die gesundbleibenden die
Fähigkeit der Plastizität, der Vertretbarkeit, der Übernahme der
Funktionen kranker Zellen durch gesunde. Das Leben erweist
gerade hier auf wunderbare Weise seine Anpassungsfähigkeit,
sein Vermögen, dem Untergang mit natürlichen Kräften zu
widerstehen.
Der Mensch ist nicht nur der Regeneration, der leiblichen und
geistigen Erneuerung fähig, er wandelt sich ständig. Seine Wandlungsfähigkeit
im Physischen und im Psychischen ist sein Wesen.
Dabei aber, welche Konstanz in der Form, im Leiblichen, im
Ausdruck, welche Konstanz im Geistigen, welche Erinnerungsfähigkeit!
— Der Arzt sieht das alles, erkennt das. Er sieht aber
auch das Versagen der Organe, erkennt die das Leben bedrohenden
Gefahren. Aber er weiß, wer seine besten Helfer sind; denn
mit diesen Kräften, mit den Abwehr- und Erneuerungskräften
rechnet er, wie uns jeder banale Knochenbruch lehrt. Das ist die
dynamische, formbildende Substanz des Menschen, auf die er
seine Hilfe, seine Therapie, aufbaut.
Der Mensch ist der größte Verwandlungskünstler und gleichzeitig
das sich selber ständig gleichbleibende Wesen, das seine
eigene Geschichte und die Geschichte der Welt im Umkreis seines
Vermögens treuen Sinnes in sich aufnimmt, bewahrt. Auch Tiere
und Pflanzen haben Wandlung und Konstanz in sich, aber keine
ihnen selbst bewußte Geschichte. Der Mensch aber wird zum
Meister der Geschichte auch für Tier und Pflanze.
In das Menschenbild des Arztes geht die aus seiner Erfahrenheit
herauswachsende Lebensphilosophie als Quintessenz seines
Wissens vom Menschen ein. Sie mag materialistisch oder naturalistisch,
metaphysisch oder religiös gerichtet sein: sie wird in
ihrem Grund von dem Bild beherrscht, welches sich der Arzt
vom Werden, Sein und Vergehen des Menschen in der Ausübung
seines Berufes gemacht hat. Die Lehre, die er in seiner Jugend
an hohen Schulen in sich aufnimmt, wird für die Gestaltung
seines in der ärztlichen Erfahrung erlebten Menschenbildes oft
bestimmend sein.
Der Arzt ist derjenige, welcher mit dem werdenden Leben, mit
der Geburt, ebenso zu tun hat wie mit dem Tod. Der Arzt ist
vertraut mit dem Tod: er geht mit ihm um; er weiß ihn zu
behandeln. Er nimmt ihm von seinem Schrecken und seiner Qual.
Er schiebt ihn hinaus, gebietet ihm Halt für eine Weile.
Er sieht über den Tod hinaus: er erkennt das Seelenschicksal,
das irgendwie ewig ist., auch wenn das irdische Leben sich auslöscht.
Er durchmißt den Leichnam mit seinen Maßen — er will
erkennen, was es war, das den Tod in dieser und in jener Form
herbeiführte. Der Arzt kennt viele Tode und erkennt zum voraus
diejenigen, die im Physischen gleichen Todes sterben werden.
Wie aber der einzelne dem Tode begegnet, darüber macht er sich
seine Gedanken. Denn vor dem Tod eröffnet sich ihm vieles, was
tief in der menschlichen Natur verhüllt ist und durch die Stunde
des Todes offenbar wird.
Das Menschenbild des Arztes ist durch die Erfahrungen seines
Berufes geprägt. Es ist nicht so sehr entscheidend, ob er durch
seinen Beruf zum Skeptiker oder Zyniker wird, oder ob er die
große Hoffnung dauernd mit sich trägt, die er allem Lebendigen
entgegenbringt, dem stets gefährdeten Leben gegenüber, zu
dessen Schutz, Erhaltung und Heilung er aufgeboten ist.
Der Arzt ist der Helfer in Gefahr. Er wird aufgerufen, gegen
Schmerzen das Wirksame zu tun.
Welchen Aufgaben stellt ihn dies gegenüber! Schmerz als Ruf
der Kreatur. Leiden als Schicksal. Welche Perspektiven über
menschliches Verhalten in der Not des physischen und seelischen
Schmerzes tun sich ihm auf!
Ärztliches Denken, ärztliches Nachdenken über den Menschen
umfaßt also nicht nur eine besondere Beobachtungs- und Wertwelt
psychophysischen Charakters, sondern es ist auch durch das
Ziel des Arztseins, durch das Helfen, gekennzeichnet und bestimmt.
Was unterscheidet das medizinische Denken von anderen
Denkrichtungen, Denkweisen, die sich wie die Medizin mit dem
Menschen befassen? Was ist das Spezifische am medizinischen
Denken?
Es ist zunächst die Auffassung von der Wirklichkeit Mensch
als Natur, als biologisches Objekt, von welcher der Arzt ausgeht.
Zweifellos steht das natürliche Sein des Menschen im Denken des
Arztes völlig im Vordergrund. Seine Erziehung, seine Schulung,
seine Aufgabe weisen ihn mit Notwendigkeit darauf hin.
Wir werden uns aber darüber Rechenschaft geben, daß die
naturhaft-biologische Auffassung vom Menschen nur einen Teil
von dem umfaßt, was wir unter dem ärztlichen Menschenbild
verstehen.
Denn der Arzt wird nicht nur das physisch-physikalisch Faßbare
in seine Anthropologie aufnehmen, sondern auch die psychisch-affektive
Welt des von Krankheit Betroffenen in Rechnung
setzen — dies nicht nur durch Beobachtung psychisch-affektiver
Krankheitssymptome, sondern auch durch Registrierung entsprechender
Reaktionen des Patienten auf die Krankheit, seine
unbewußte und seine bewußte, willensmäßige Einstellung der
Krankheit, dem Arzt, der Familie, der Umwelt gegenüber. Der
Arzt erkennt die Hilfsbedürftigkeit des Kranken — das ist ein
ganz wesentliches Phänomen ärztlicher Erfahrung, welchem der
Arzt, im Sinne eines Heilprinzips, entgegenkommt: der akut
kranke Mensch schließt sich von der Umwelt ab und wird gleichzeitig
in hohem Grade hilfsbedürftig.
Der Arzt beschränkt die Umwelt des Kranken, fesselt ihn ans
Bett, verbietet ihm Besuche, eigene Tätigkeit. Er vereinfacht die
Lebensbezüge, macht sein Dasein klösterlich, weist ihn auf sich
selbst zurück, entzieht ihn den vielseitigen Beanspruchungen des
Lebensgetriebes.
Dies gehört zur Voraussicht des Arztes im Hinblick auf den
Heilungsprozeß, zur Psychophysik der Behandlung, zur Diätetik
des Leibes und der Seele, zur Schonung.
Die Hilflosigkeit des Kranken erfordert Schutz durch Absonderung.
Ein anderes Phänomen im Dasein des Kranken tritt dem Arzt
entgegen: die Angst. Alle Abstufungen von übertriebener Ängstlichkeit
bis zur schweren, dem Befund entsprechenden Todesangst
erlebt der Arzt. In seltenen Fällen aber tritt ihm die erlösende
Freiheit der Seele in der Furchtlosigkeit vor dem Tod in
leuchtender Klarheit entgegen. Er erlebt die metaphysische
Überwindung des Leids und der Todesfurcht durch den innerlich
freien Menschen, der sich durch höchste geistige Werte gesichert
oder in Gott geborgen fühlt.
Der Arzt sieht, wie der Tod als Freund naht, ein sanfter
Anhauch, und die Seele geht hinüber. Der Tod als Feind: der
Arzt steht hoffnungslosen Situationen gegenüber, verbunden mit
qualvollsten Leiden — und das Letzte, Bitterste, Härteste, fast
Unerträgliche vermag er dem Kranken nicht zu ersparen. Der
grausame Tod — der bei den Angehörigen eine furchtbare Erschütterung
hinterläßt.
Natur ist grausam bis in den Tod. Dieses Erleben einer menschenvernichtenden
Grausamkeit abwegig gewordener Natur,
etwa bei einem Krebsleiden, löst auch im Arzt tiefste Erschütterung
aus. Er denkt vielleicht: so grausam verfährt die Natur mit
dem Menschen, schicksalshaft, blind. Liegt darin die Wurzel der
unerhörten Grausamkeit von Mensch zu Mensch, nicht nur in
Kriegen und Revolutionen —vielleicht noch mehr im «normalen»
Leben, in der gestörten Ehe, jene tiefe Grausamkeit im Haß der
Geschlechter, die keine Grenze kennt, und die der Arzt oft qualvoll
miterleben muß. Oder jene Grausamkeit und Härte im
Wirtschaftskampf, die den Menschen allem Menschlichen entfremdet.
Soziale Revolutionen erzählen von der Grausamkeit des
Menschen, gestern wie heute. Und der Arzt sucht im Verstehen
solcher Massenausbrüche des Hasses und der Grausamkeit vergeblich
nach dem Heilmittel. Aber er erkennt auch in diesen
Phänomenen den Aufschrei des hilfsbedürftigen Menschen.
Soweit das nur in einigen Umrißlinien erlebnismäßig angedeutete
Menschenbild des Arztes, in das die ganze, umfassende
Wirklichkeit «Mensch» nur zu einem Teil eingeht.
Versuchen wir in aphoristischer Kürze einen begrenzten Vergleich
mit anderen typischen Menschenbildern. Wie sieht der
Mensch in der Anthropologie des Juristen aus: der Mensch in der
Wirklichkeit des Rechtslebens? Hier wird gefragt, wie verhält sich
der Mensch subjektiv und objektiv dem Recht, dem Unrecht
gegenüber, wie zu den Rechtsgrundlagen unseres sozialen Daseins,
im Staat, in der Gesellschaft, wie dem Recht der Person, der
Sache gegenüber?
Vor die Wirklichkeit des Rechts, die Kategorie der Gerechtigkeit,
ist auch der Arzt gestellt: subjektiv bei Kunstfehlern, die
ihm im Zuge seiner Berufsausübung allenfalls zur Last gelegt
werden, objektiv im Bereich der gerichtlichen und sozialen
Medizin überall dort, wo ärztliches Handeln in die Rechtssphäre
eingreift. Der Arzt steht in seinem Beruf Leben und Tod gegenüber;
sein Handeln ist im tiefsten Sinn verantwortungsvoll. Auf
diese tiefe Verantwortung des Arztes eindringlich und durch
eigenes Beispiel immer wieder hingewiesen zu haben, ist das
große Verdienst meines verehrten Lehrers Heinrich Zangger.
Wieder anders stellt sich der Mensch der religiösen Wirklichkeit,
das heißt Gott und dem Menschen als von Gott geschaffenem
Wesen gegenüber. Für den religiösen Menschen wird die Anthropologie
zur Theologie. Das theologische Denken geht vom religiös
bestimmten Seinsgehalt des Menschen aus und fragt nach dessen
irdischer Verwirklichung. Der Mensch ist für Theologen christlicher
Prägung a priori ein Sünder, der ohne den Weg der verzeihenden
Gnade nicht entsündigt und der erlösenden Wirklichkeit
nicht ohne den Weg des Leidens und der Buße zugeführt
werden kann. Viele Ärzte sind in ihrem Ethos religiös bestimmt.
Und wieder anders, wenn wir fragen: wie verhält sich der
Mensch der geistig-seelischen Wirklichkeit seines Selbst und der
Umwelt, dem Kosmos, gegenüber? Diese Frage nach dem Sein
und nach dem Sinn gehört der Philosophie an. Der Kampf um
eine philosophische Anthropologie, um ein Verstehen der Aufgabe
des Menschen in der Welt hat mit Nietzsche machtvoll eingesetzt
und über den Dynamismus Max Schelers heutige Wertsetzungen
vorbereitet, wie sie uns vor allem in Martin Heidegger,
Karl Jaspers und in den Versuchen mancher Existenzialisten
entgegentreten. Dem denkenden Arzt liegen solche Probleme
nicht fern; für viele Ärzte bedeutet philosophisches Denken eine
Notwendigkeit, eine Denkgrundlage ihres ärztlichen Handelns.
Das Menschenbild des Arztes in heutiger Sicht
Wenn wir nach diesen einführenden, mehr subjektiv, erlebnismäßig
gehaltenen Bemerkungen zur ärztlichen Anthropologie
nach dem objektiven Menschenbild der heutigen Medizin fragen,
so können wir von folgenden Gesichtspunkten ausgehen.
Die Medizin und damit die ärztliche Auffassung vom Menschen
hat in den letzten 50 Jahren große Wandlungen durchgemacht.
Wenn wir unser heutiges ärztliches Denken mit demjenigen
vor etwa 50 Jahren vergleichen, so werden wir als wichtige
Momente, welche unser medizinisches Denken umgestaltet und
zu neuen Konzeptionen unserer Auffassung vom Menschen geführt
haben, etwa folgende in den Vordergrund stellen:
1. Die moderne Physik, insbesondere die Atomphysik, die
Quantenphysik.
2. Die moderne Genetik und Vererbungsforschung und die
moderne Evolutionslehre mit Einschluß der physischen Anthropologie.
3. Die erweiterte Kenntnis von den Ordnungsprinzipien des
menschlichen Organismus in physiologischer und psychologischer
Hinsicht.
4. Die psychosomatische Richtung in der Medizin.
5. Die Psychoanalyse.
6. Die Seinsphilosophie und den Existentialismus.
1. Atomphysik, Quantenphysik
Die Befruchtung der Medizin durch die Physik und damit ihre
Einflußnahme auf das ärztliche Menschenbild liegt zunächst im
experimentellen Nachweis einer durchgängig atomistisch geordneten
Welt, welche die Lebewesen ebenso betrifft wie die
anorganische Natur. Dabei ergab die seit Rutherford und Niels
Bohr experimentell und gedanklich weiter entwickelte atomphysikalische
Forschung ein überraschend einheitliches mikrophysikalisches
Ordnungsschema, dem als Einheit des mikrophysikalischen
Kräftesystems das Plank'sche Elementarquantum
h. r zugrunde liegt.
Hat auch das atomare Ordnungsschema in den letzten 40
Jahren viele Wandlungen durchgemacht, und erleben wir heute
mit der Entdeckung der Antiprotonen eine wesentliche Umgestaltung
des bisherigen atomphysikalischen Ordnungsschemas —
nicht zu reden von den jeder Ordnung sich bisher widersetzenden
Mesonen —, so hat die unbestreitbare Tatsache von der durchgängig
atomistisch aufgebauten Natur auf das ärztliche Denken
einen großen Einfluß ausgeübt.
Die große Bedeutung der Atomphysik für die ärztliche Anthropologie
liegt aber vielleicht nicht einmal in erster Linie im
rein Tatsächlichen des durchgängig atomistischen Weltbildes,
sondern vielleicht noch mehr auf gedanklich-theoretischem Gebiet
und hat ihren Ursprung in der sogenannten Unbestimmtheitsrelation
Heisenbergs. Die durch sie herbeigeführte Auflockerung
des Kausalitätsbegriffes hat auf das medizinische
Denken im Sinne einer Erweiterung der dem Menschen von
Natur gegebenen Möglichkeiten, insbesondere der Auffassung
von der freien Willensbestimmung, anregend gewirkt. Die für
Vorgänge im mikrophysikalischen Raum postulierte Unbestimmtheitsrelation
kann mit derjenigen Unbestimmtheit im biochemischen
Feld des menschlichen Organismus (per analogiam)
zum Vorbild genommen werden, wenn wir etwa feststellen, daß
der Organismus im mikrozellulären Raum sowohl auf aerobem
wie auf anaerobem Weg zum gleichen Ziel der synthetischen
Leistung oder Energiegewinnung zu gelangen vermag, wobei eine
sichere Voraussage, ob das eine oder andere eintreten wird, nicht
gemacht werden kann.
Mit etwas mehr Phantasie könnten wir aber zu noch viel
tiefergreifenden Analogien zwischen physikalisch-totem und biologisch-lebendem
Vorgang vordringen, wenn wir auf Leibnizsche
Monadenvorstellungen zurückgehend, im Quantenvorgang den
Einfluß eines entelechialen Wirkens sehen, das sozusagen willensmäßig
im mikrophysikalischen Raum von Kernkräften ausgeht,
so etwa wie die grundlegenden Zellvorgänge mit Einschluß der
Reproduktion vom Zellkern aus gesteuert werden.
Auch wenn solche und ähnliche, von Physikern vom Range
Arthur Comptons, Erwin Schrödingers und Pascual Jordans gezogene
und bildhaft entwickelte Analogien im Hinblick auf die
medizinische Anthropologie nicht ohne Bedeutung sind, so liegt
das doch viel konkretere Interesse des Arztes an der Atomphysik
— ganz abgesehen von der vielfältigen Indienststellung
atomphysikalischer Vorgänge in die experimentelle und praktische
Medizin — in der Erkenntnis der durchgängig atomphysikalischen
Struktur des menschlichen Organismus. Die ganzen
Stoffwechselvorgänge lassen sich heute als Elektronenprozesse,
als Elektronenwanderungen von einem Molekül zum andern
deuten. Dabei handelt es sich um Vorgänge, die sich in der
äußersten Elektronenschale der Atome abspielen, während kernphysikalische
Prozesse dem menschlichen Organismus nur mit
Hilfe enormer Kräfte, der sogenannten Kernenergie, aufgedrängt
werden können.
Die im Laufe der letzten 50 Jahre eingetretene Entwicklung
atomphysikalischer Vorstellungen bildet nicht nur ein festes
Fundament jeder medizinischen Anthropologie (im Sinne einer
Synthesis des Menschen) auf naturwissenschaftlicher Grundlage,
sondern ist als physikalisches Weltbild tief in das ärztliche Denken
überhaupt eingedrungen.
Wenn im mikrophysikalischen Raum des Physikers die sogenannte
Akausalität mikrophysikalischer Elementarereignisse
Geltung besitzt, muß dies auch im menschlichen Organismus der
Fall sein.
Relativitätstheorie und medizinische Anthropologie
Ich muß es mir versagen, auf den Einfluß näher einzutreten,
den die allgemeine Relativitätstheorie auf die Auffassung vom
Menschen ausgeübt hat.
Hermann Weyl, der früher an unserer Universität tätig gewesene,
vor kurzem verstorbene weltbekannte theoretische Physiker
und bedeutende Denker hat dieser Tatsache Ausdruck gegeben,
wenn er feststellt: «So ermöglicht die allgemeine Relativitätstheorie
in überraschender Weise die Leibnizsche Agenstheorie
der Materie durchzuführen. Danach ist ein Materienteilchen
selber nicht einmal ein Punkt im Feldraume, sondern
überhaupt nichts Räumliches (Extensives), aber es steckt in einer
räumlichen Umgebung drin, von welcher seine Feldwirkungen
ihren Ausgangspunkt nehmen. Es ist darin analog dem Ich,
dessen Wirkungen, trotzdem es selbst unräumlicher Art ist,
durch seinen Leib hindurch jeweils an einer bestimmten Stelle
des Weltkontinuums entspringen.»
Biologisch und psychologisch könnte man auf solcher Grundlage
einen (durchgängigen) neuen Materialismus begründen, einen
Weg, den manche Physiker, besonders aber englische und amerikanische
Biologen wie J. B. S. Haldane, Julian Huxley, Ch. D.
Leake u. a., beschritten haben.
Wenn wir uns damit etwas auf den Weg der Spekulation
begeben haben, um uns den Zusammenhang oder die grundsätzliche
Identität zwischen physikalischem und biologischem
Geschehen im Interesse einer modernen medizinischen Anthropologie
gedanklich plausibel zu machen, so mußten wir diesen
Schritt doch wagen, selbst wenn es ein teilweiser Irrweg wäre, weil
wir als Ärzte verpflichtet sind, uns einen Einblick in das universale
Geschehen, in die Beziehungen zwischen Welt und Ich
vom empirisch-physikalischen Standpunkt aus zu verschaffen.
2. Die moderne Genetik und die Vererbungslehre
Weismann erklärte das Keimplasma nicht mit Unrecht für
ewig. Das Bewußtsein genetischer Kontinuität führte zur Vorstellung
von der Erbkonstanz und schicksalsmäßigen Abhängigkeit
von den Vorfahren. Dieses Bewußtsein verstärkte sich mit
der Wiederentdeckung der Erbgesetze Gregor Mendels (1886)
durch Correns, Tschermak und de Vries um die Jahrhundertwende.
In entscheidender Weise wurde das Gefühl des Determinismus
im Menschen mit der Entwicklung der Genetik, der Gen- und
Mutationsforschung geweckt. Auf das Menschenbild des Arztes
hat die Entwicklung der Genetik einen ganz gewaltigen Einfluß
ausgeübt. War ihm schon früher an den Beispielen der Bluterkrankheit,
der Rotgrünblindheit usw. die gesetzmäßige Vererbbarkeit
bestimmter pathologischer Merkmale aufgefallen, so hat
ihn die moderne Gen-Forschung davon überzeugt, wie weitgehend
das Spiel der in den Chromosomen der Geschlechtszellen
gelagerten Gene als Eigenschafts- und Merkmalsträger am Auftreten
bestimmter vererbbarer Anomalien beteiligt ist.
Der Mensch als Produkt der Gene, mit allen Gefährdungsmöglichkeiten,
die durch mutative Änderungen, Letalfaktoren
usw., wie sie von Ernst Hadorn in hervorragender Weise erforscht
werden, bedingt sind, zeigen aufs neue sowohl Konstanz wie
genetische Unsicherheit des Menschenlebens. Der Mensch ist vom
ersten Augenblick seiner Existenz, vom Zusammentreffen einer
männlichen mit einer weiblichen Keimzelle an in seinen Eigenschaften
bestimmt und gleichzeitig durch unvorhergesehene
genetische Ereignisse im Sinne mutativer Letalfaktoren gefährdet.
War das Schicksal des Menschen früher in die Sterne geschrieben
und begegnen wir auch heute noch dem magisch-astrologischen
Kult des Horoskopes (selbst in ärztlichen, namentlich
psychoanalytischen Kreisen), so scheint das Schicksal des Menschen
in körperlicher und psychischer Hinsicht weitgehend von
der vorausbestimmenden Wirkung der Gene abzuhängen. Zwingt
uns das, den Menschen einem durchgängigen Determinismus ausgeliefert
zu glauben? — Die Atomphysik hat uns einige Freiheitsgrade
versprochen, die wir auch in der Genetik nicht missen
möchten. Vielleicht liegt die genetische Freiheit des Menschen in
der Tatsache, daß, wie namentlich die Drosophila-Experimente
gezeigt haben, die Variabilität des Phänotypus so ungeheuer
groß ist, daß die Wahrscheinlichkeit, daß es einmal zwei genau
gleiche Menschen geben wird, praktisch null ist. Der Biologe
könnte auf Grund dieser Tatsache behaupten, die Plastizität der
Gene wie die Plastizität des Phänotypus (seine erbindeterminierte
Anpassungsfähigkeit an die Umwelt) enthalte den primitiven
Urkern einer Eigenschaft, aus welcher sich die menschliche
Willensfreiheit, im Laufe großer Zeiträume, entwickelt habe.
Ich muß es mir versagen, in diesem Zusammenhang auf moderne
Evolutionstheorien näher einzugehen. Den Biologen und
physischen Anthropologen hat es von jeher gelockt, an die Stelle
des Weltenschöpfers zu treten und die sechstägige mythische
Schöpfung der Genesis über einen unermeßlichen und doch
irgendwie meßbaren Zeitraum auszudehnen, um für den Ablauf
des Evolutionsprozesses die nötigen raum/zeitlichen Voraussetzungen
zu schaffen.
Doch eines ist sicher: die Deszendenztheorie ist aus dem Bilde
einer modernen ärztlichen Anthropologie nicht wegzudenken.
3. Die Ordnungsprinzipien des menschlichen Organismus
Die Vitalität, das Reich des «Vegetativen», dieses eigenartige
und weitgehend selbständige, dem animalen und psychischen
Geschehen aber doch irgendwie untergeordnete Zwischenreich,
von Novalis als «Naht zwischen Körper und Seele» bezeichnet,
dieses Reich der vegetativ gesteuerten, autonomen, in ihrer Selbsttätigkeit
vom Willen fast unabhängigen Prozesse bildet als Übergang
zwischen Körper und Seele eine durch einen eigenen Rhythmus
gesteuerte Lebenstätigkeit.
Die Erkenntnis dieser neurovegetativen Ordnungsprinzipien
und Steuerungsvorgänge, nicht weniger bedeutsam unterstützt
durch ein System mannigfaltig tätiger hormonaler Steuerungsstoffe,
hat in den letzten Dezennien große Fortschritte gemacht.
Wir sind heute von der durchgängigen neurovegetativen und
hormonalen Doppelsteuerung aller im Organismus sich abspielenden
Vorgänge so sehr überzeugt, daß uns dieses neuro/humorale
Zusammenspiel erkenntnismäßig sehr viel weniger Schwierigkeiten
bietet als die ebenfalls machtvoll in Angriff genommene
anatomisch-funktionelle Analyse des Zentralnervensystems.
Wir verdanken Sir Charles Sherrington, L. R. Müller, W. R. Heß
u. a. den durch ihre Forschungen in sehr weitem Ausmaß eröffneten
Einblick in vegetative Steuerungsvorgänge und ihre
koordinative Bedeutung (als «Naht zwischen Körper und Seele»)
im funktionellen Aufbau des Zentralnervensystems und im Zusammenspiel
und Antagonismus mit den höheren Gehirnleistungen.
W. R. Heß hat den großangelegten Versuch unternommen,
Koordination und Integration psychophysischer Leistung in
seiner experimentellen Lebensarbeit zu klären und eine gedankliche
Deutung des von ihm aufgedeckten Ordnungsschemas gegeben.
Alle Lebensvorgänge werden nach W. R. ließ als eine auf
Erfolg ausgerichtete Ordnung betrachtet, die auf zwei Funktionssystemen
mit verschiedenen Aufgaben aufgebaut ist. Das eine
(animale) System ist auf die Selbstbehauptung des Organismus
und seiner Umwelt gerichtet. Das andere (vegetative) System
steht im Dienste der Sicherung des inneren Milieus des Organismus,
der Zelle. Die beiden Funktionssysteme stehen in gegenseitiger
Abhängigkeit und bilden zusammen die Einheit des Organismus.
Vegetative und animale Funktionen folgen dem Leistungsprinzip:
als Erfolg gilt für den Organismus die Erhaltung und
Förderung des Lebens, sowohl für das Individuum wie für die
Nachkommenschaft.
Auch die psychischen Funktionen werden unter diesem Gesichtspunkt
betrachtet: das Psychische ist in das Gesamtverhalten
eingebaut, wobei mit Hilfe sämtlicher Organsysteme eine
dem Organismus als Ganzem zugute kommende Leistung verwirklicht
wird, welche die auf weiteste Ziele ausgerichtete Lebensführung
ermöglicht.
Heß vermittelt uns, wie wenig andere, ein ganz intensives
Bewußtsein vom Leistungszusammenhang aller Körperfunktionen
und damit von dem auf optimale Leistung eingestellten
durchgängigen, stufenweise aufgebauten Ordnungsprinzip, an
welchem auch das Psychische teilhat.
Machen wir solche Auffassungen zur Grundlage unserer medizinischen
Anthropologie, wird bei aller notwendigen Begründung
derselben vom körperlichen Ordnungsgefüge aus doch klar, daß
die rein mechanistisch orientierte ärztliche Anthropologie der
Jahrhundertwende (etwa eines Ernst Mach), welche Lebendes
dem Leblosen seiner Struktur und Energetik nach gleichsetzte,
als überwunden betrachtet werden kann, wenn auch heute noch
in einseitig biologisch orientierten Anthropologien dem Psychischen
vielfach eine mehr untergeordnete Hilfsfunktion zugesprochen
wird.
Aus der Erkenntnis vom Aufbau des menschlichen Ordnungsgefüges
haben sich praktische Ergebnisse für den Arzt herausgebildet
in der Beurteilung von Krankheiten, welche wie vielfach
Migräne, Asthma, Magengeschwür auf Fehlsteuerungen im
vegetativen Nervensystem zurückgeführt werden können. Den
größten Aufschwung aber in der einheitlichen Bewertung bestimmter
Krankheitsbilder, die früher isoliert und in ihrem
ätiologischen Werden schwer deutbar geblieben waren, hat der
Forscher Hans Selye mit seiner Theorie vom allgemeinen Adaptationssyndrom
und den Adaptationskrankheiten gebracht.
Wir haben festgestellt, daß der Mensch das wandlungsfähigste,
verwandlungsfähigste höhere Lebewesen bei aller Konstanz
seiner inneren Struktur und äußeren Textur sei.
Seine psychophysische Wandlungs- oder Anpassungsfähigkeit
hat dort eine Grenze, wo die Überbeanspruchung, sei sie
einmalig oder dauernd, beginnt. Die Lehre Hans Selyes von der
Einwirkung des Streß, der über die Kräfte gehenden traumatisierenden
Beanspruchung, bedeutet nichts anderes, als daß die
Anpaßungsfähigkeit des Menschen an hohe Beanspruchung ihre
Grenzen hat und daß es dann nach Selye entweder zur Ausbildung
des allgemeinen Adaptationssyndroms kommt — wodurch
der Streß ohne Störung des Gesamtzustandes überwunden
wird, oder die adaptative psychophysische Anpassungsreaktion
versagt, und es kommt zur Ausbildung von sogenannten Adaptationskrankheiten,
die bei übermäßiger Beanspruchung des
Kreislaufes Kollaps, bei psychischer Überanstrengung nervöser
Zusammenbruch oder bei chronisch einwirkendem Streß Managerkrankheit,
chronischer Gelenkrheumatismus, chronische Nierenentzündung
usw. heißen können.
Selye hat den Zusammenhang solcher weit auseinanderliegender
Krankheitsbilder dadurch klargelegt, daß er (nicht ohne eine
gewisse Einseitigkeit) den Nachweis leisten konnte, daß die
Adaptation an den Streß hauptsächlich über das Hirnanhang-Nebennierensystem
(Hypophysenadrenalsystem) geht und daß
das Versagen der Anpassung an den Streß auf die mangelhafte
Ausschüttung bestimmter Hypophysen- und Nebennierenrindenhormons,
in erster Linie des adrenokortikotropen Hormones der
Hypophyse und des Kortisons der Nebennierenrinde, zurückzuführen
ist. Die Richtigkeit seiner Auffassung geht daraus hervor,
daß durch Verabreichung des einen oder andern Hormons ein
schwerster chronischer Gelenkrheumatismus, ein praktisch unheilbares
Asthma zum Verschwinden gebracht werden kann.
Daraus ergibt sich jedenfalls die überragende Bedeutung hormonaler
Steuerung für die Erhaltung des inneren Gleichgewichtes
der Organleistungen. Es besteht ja auch gar keine Frage mehr,
daß körperliche Konstitution (Körperbau und Körpergröße) von
der Hormonproduktion und -Steuerung ebenso abhängig sind wie
das seelische Temperament des Menschen. In diesem Sinn hat
die Temperamentenlehre, wie wir sie etwa Ernst Kretschmer verdanken,
große Wandlungen durchgemacht.
Das Suchen nach Überblick und Zusammenhang
zwischen Physischem und Psychischem
Die ärztliche Anthropologie hat den Versuch erfolgreich unternommen,
tiefer in das Gesetzmäßige und in den Zusammenhang
körperlicher und psychischer Funktionen einzudringen, die in
ihrer Ganzheit das menschliche Leben ausmachen.
Aber auch heute stehen der Einsicht in diesen Zusammenhang
große Hindernisse entgegen, und man kann geradezu sagen: eines
der ungelösten Wunder im menschlichen Ordnungsgefüge ist das
Zusammenspiel von Körper und Geist, Körper und Seele, Körper
und Gemüt.
Neurologen und Psychiater haben, ausgehend von nervösen
und psychischen Fehlleistungen, Neuroanatomen und Neurophysiologen
von den normalen Gehirnstrukturen und -leistungen
aus versucht, sich ein Bild vom Zusammenwirken zwischen Körper
und Psyche zu machen.
Die Aufklärung dieses Zusammenhangs würde zweifellos die
Krönung jeder ärztlichen Anthropologie, ja jeder Anthropologie
überhaupt bedeuten, und es ist nur begreiflich, daß viele Forscher
an der Aufklärung dieses Problems im Theoretisch-Hypothetischen
oder im Praktisch-Experimentellen gescheitert sind.
Darf man den heutigen Neurophysiologen die Anerkennung
aussprechen, daß sie das Problem in weitem Umfang und in
seiner zentralen anthropologischen Bedeutung erkannt haben, so
ist es doch verständlich, daß, auch wenn sie die Probleme in
physiologisch-anatomischer Hinsicht in geradezu vollendeter
Weise und mit einem großen Aufwand an Scharfsinn zu lösen
versuchen, die psychische Seite in der Regel zu kurz kommt.
Sir Charles Sherrington, der wohl bedeutendste Neurophysiologe
unserer Tage, geht zunächst von rein mechanistischen Vorstellungen
aus: der Mensch ist wie alle andern Lebewesen ein
Produkt unseres Planeten. Leben beruht für ihn nicht auf einem
spezifischen Prozeß, sondern stellt lediglich ein Beispiel dafür
dar, daß ein energetisches System, welches in Wechselwirkung
mit andern energetischen Systemen steht, sich für eine gewisse
beschränkte Zeit als selbständige Einheit zu erhalten vermag.
Was wir als «Leben» bezeichnen, ist ein physikalisch-chemisches
Geschehen, das sich in jeder einzelnen Zelle als Oxydo-Reduktionsprozeß,
als fermentativer Vorgang usw. abspielt.
Damit sind aber Einheit, Einheitsstreben und Ordnungsschema
des menschlichen Organismus nicht erklärt, so daß
Sherrington schließlich zu der Auffassung gelangt (Zitat von
Punnet): «Wir können einen Organismus nur verstehen, wenn wir
uns vorstellen, er sei unter Führung zielbewußten Denkens geschaffen
worden.» 1
Das Gehirn ist für Sherrington zunächst nur das Organ für
die Koordination der Motorik. Als aber die motorischen Reaktionsmöglichkeiten
immer bedeutender wurden, da entwickelte
sich die Psyche. Also: Geburt der Psyche aus der komplizierten
Integration der Motorik, als Grundlage einer medizinischen
Seelenlehre! — Aber denken wir an den Anfang menschlichen
Daseins: das neugeborene Kind, ist es in seinen «psychischen»
Lebensäußerungen nicht fast allein durch Reflex und Motorik
charakterisiert, also noch ganz unpsychisch — vielleicht bis auf
das Lächeln, das den allerersten und zartesten Anfang eines
Seelenlebens ankündigt?
Psyche ist aber auch für Sherrington neben der energetischen
Auffassung der Lebensvorgänge eine durchaus andere Kategorie
von «Natur», die aus dem physischen Leben nicht erklärbar ist.
Sherrington sieht im Menschen das höchstentwickelte Wesen
unseres Planeten, er sieht es —und Sherrington war nicht nur ein
Gelehrter von Weltruf, sondern auch ein Mensch von höchster
humanistischer Kultur — in seiner tragischen Einsamkeit und in
seiner geistigen Überlegenheit, die ihn nach den höchsten Werten
suchen läßt.
Erweitert wurde unser Blick für den psychophysischen Zusammenhang
der Funktionen durch die Lehre von den bedingten
Reflexen von J. P. Pawlow, durch die Konstitutionsforschung,
die auf dem Gebiet der Geisteskrankheiten in Beziehung mit
hormonalen Störungen durch Manfred Bleuler wesentlich gefördert
worden ist.
Aber welche Beziehungen bestehen zwischen Körper und Geist,
zwischen Gehirn und Seele? Russel Brain, ein führender englischer
Neurologe, gelangt nach eingehender Beschäftigung mit
dem Wahrnehmungsproblem zu dem Schluß: es gibt keinen
Mechanismus, der von der Psyche zum Körper führt oder vom
Körper zur Psyche, sondern wir haben es mit zwei verschiedenen
Sprachen zu tun, die ineinander unübersetzbar, aber doch aneinander
gebunden sind. Damit sind wir bei dem berühmten psychophysischen
Parallelismus angelangt, der uns nicht weiterführt.
Gibt es keinen Weg, das psychophysische Leistungsparadoxon
nicht doch besser zu verstehen?
4. Psychosomatik
Bildete den Ausgangspunkt neurophysiologischer Einsicht in
den Funktionszusammenhang die Forschung am anatomisch-physiologischen
Substrat, so sind in den letzten Jahren Lehren
und Meinungen aufgetaucht, welche dem psychischen Geschehen
den Primat über die Körperfunktionen, in ihren Ansprüchen
überbordend, verkündeten: ich meine die Wiederbelebung der
sogenannten Psychosomatik.
Die Psychosomatik hat eine alte, sehr alte Geschichte. Man
darf ruhig sagen, daß sie so alt ist wie die Heilkunde überhaupt.
Magische Medizin primitiver Völker und längst vergangener
Epochen ist animistisch orientierte, vom Tabu beherrschte vorwissenschaftliche
Psychosomatik. Heute bedeutet Psychosomatik
im wesentlichen die Betonung der alten Erfahrung vom psychischen
Einfluß auf Entstehung und Lokalisation somatischer
Krankheiten, die in ihrer Überbetonung bereits bis zur psychisch
bedingten Entstehung des Krebses geht. —Umgekehrt ist auch
die alte Vorstellung und Erfahrung von der Beeinflussung des
Seelischen durch die physische Krankheit wieder aktualisiert
worden.
Man kann diese Lehre füglich erweitern durch die ebenso alte
und früheren Zeiten stärker bewußte und bewußter gehandhabte
Auffassung vom psychischen Einfluß des Arztes und der ärztlichen
Therapie auf das physische Leiden des Kranken, die zuzeiten
der magisch-animistischen Systeme der vorwissenschaftlichen
Medizin ebenso Geltung besaß wie zur Zeit Franz Anton
Mesmers und des tierischen Magnetismus, des Brownianismus
und anderer Blüten der romantischen Medizin.
Ähnlichen Einseitigkeiten in der Wertung des Einflusses der
Psyche auf die Physis stehen wir auch heute gegenüber, die das
zweifellos Gute, ja fast Selbstverständliche und für den praktischen
Arzt Notwendige der Psychosomatik, wie sie durch Walter
von Wyß seit vielen Jahren vertreten wurde, bevor die Psychosomatik
zum Modebegriff wurde (der gute Arzt war immer
Psychosomatiker) zu diskreditieren Gefahr laufen.
Was wir als gesicherte Erfahrung feststellen dürfen, ist, daß
der abendländische Mensch, vielfach die engen Beziehungen und
Einflußnahmen von Körper und Seele aufeinander nicht nur
wissenschaftlich, sondern praktisch (im Leben) vernachlässigt.
Anders der orientalische Mensch mit den jahrhundertealten
Erfahrungen des Jogas, der Methoden von unglaublicher Kraft
und Wirksamkeit besitzt, um somatische Prozesse psychisch zu
beeinflussen. Daraus versteht sich auch das hohe Interesse der
Psychoanalyse an den Jogamethoden, die in letzter Zeit auch
beim Laien starke Verbreitung gefunden haben. Ob die psychische
Disposition des abendländischen Menschen dieser Art
Seelengymnastik weitgehend zugänglich sei, ist eine andere
Frage. Im allgemeinen dürfte elle Feststellung richtig sein, daß
nach der Erfahrung abendländischer Ärzte der psychische Einfluß
auf somatische Krankheiten beim Europäer nicht sehr
groß ist.
Es ist nicht von ungefähr, daß der Psychogeniebegriff, der den
Einfluß des Psychischen auf das Somatische, der Seele auf den
Körper, ausdrücken soll, seit seiner Einführung in die romantische
Medizin vor etwa 150 Jahren, neue Beachtung und Bedeutung
erlangt hat. Aber wie gelangen wir zu einer rationalen
Erklärung der psychophysischen Phänomene?
Denken und Sekretion, so nahe sie im Zentralnervensystem
beieinanderwohnen, sind doch Vorgänge, die erkenntnismäßig
durchaus verschiedenen, wenn auch irgendwie miteinander verbundenen
Ordnungen angehören. Die Art ihrer Wechselbeziehungen
und ihre Deutung bilden eine der tiefsten Fragen, mit
denen sich die Psychologie aller Zeiten beschäftigte und es heute
wieder tut. Wir stehen dem Grundproblem ärztlicher Anthropologie
gegenüber: Menschsein bedeutet: es gibt nur einen
beseelten Körper oder eine körperhafte Seele. Leben ist anders
nicht denkbar.
5. Psychoanalyse
Der ärztliche «Naturalismus» vor 70 Jahren sah im Menschen
in erster Linie das naturhaft Physische, das biologisch Faßbare,
das pathologisch-anatomisch Nachweisbare. Sein Menschenbild
war das «naturwissenschaftliche» in der eingeschränkten Form
jener Zeit, nicht unähnlich dem durch Georg Büchner im «Woyzeck»
in drastischer Weise an den Pranger gestellten. Vielleicht,
daß die naturalistische Epoche vor der Jahrhundertwende —
ähnlich wie im Schauspiel — dem Menschen auch Instinkte und
Triebe zubilligte, deren Funktion den Arzt manchmal etwas
anging. Geisteskrankheiten standen damals noch am Rande jedes
tieferen Verständnisses, jedenfalls solange man nur anatomische
Grundlagen von Geisteskrankheiten suchte und «Psychismen»
mit «Mechanismen» identifizierte.
Der Wiener Hirnanatom und Psychiater Theodor Meynert
verwarf in den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts den Ausdruck
«Geisteskrankheiten» völlig und wollte ihn durch «Vorderhirnkrankheiten»
ersetzt wissen, so sehr beherrscht war er
vom «anatomischen Denken», daß für ihn, als Psychiater, jede
ätiologische Forschung auf dem Gebiet der Geisteskrankheiten
nur anatomisch denkbar war, eine psychologische Erforschung
der Geisteskrankheiten hielt er geradezu für unmöglich.
Noch Emil Kraepelin, der Begründer der modernen Psychiatrie,
lehnte um 1900 die von Wien aus sich ausbreitende Psychoanalyse
leidenschaftlich ab. Eugen Bleuler in seiner «Naturgeschichte
der Seele» dem damaligen Naturalismus huldigend,
war aber wohl der erste Anstaltspsychiater, der für die Psychoanalyse
Freuds eintrat. Konstantin von Monakow, der große Erforscher
der feineren Gehirnanatomie, versuchte in seiner Horme-Lehre
auf eigene Weise dem psychophysischen Problem auf
anatomisch-physiologischer Grundlage nahezukommen.
Der Tag mußte aber kommen, an welchem sich der Arzt mit
dieser anatomisch ausgerichteten Psychiatrie nicht mehr für
befriedigt erklären konnte. Wohl hatte man eine etwas lebensferne
Experimentalpsychologie Wundtscher Prägung geschaffen,
durch welche man gewisse Reflexvorgänge dem ärztlich-psychologischen
Verständnis näherbrachte, aber die Psychologie als
Seelenlehre nicht um einen Schritt förderte. Welches Unverständnis
in den Grundfragen der Psychologie vor 50 Jahren, verglichen
mit den hervorragenden Leistungen des Goethe-Freundes
Carl Gustav Carus vor 150 Jahren auf psychologischem Gebiet!
Sigmund Freud, der Befreier der Triebe, wagte einen entscheidenden
Schritt. Freud sagte einmal, daß er der Welt nicht habe
zeigen müssen, daß sie Geist habe — das wußte sie schon —, sondern,
daß sie auch Triebe habe. Woher der Geist komme, darauf
blieb auch dieser geistvolle Mann die Antwort schuldig.
C. G. Jung schuf eine Tiefenpsychologie besonderer Prägung,
eine Art mythologisierender Psychologie, welche den Symbolcharakter
des «Unbewußten» und der Äußerungen der Triebwelt
betont, und in der Lehre von den Archetypen zu einer historisierenden
Anthropologie gelangte, im Bestreben, die Trieb- und
Instinktlehre im antiken Naturmythus zu verankern — Bachofenschen
Gedankengängen nicht fern stehend.
Wieweit die Deutung des Seelenlebens im Sinne dieser auch
in Laienkreisen heute beliebten tiefenpsychologischen Forschung
Jungscher und anderer Richtung der wirklichen Seelenerkenntnis
dient, darüber gehen die Meinungen weit auseinander. Daß sie
anregend wirkt, ist unbestreitbar; daß sie fruchtbar wurde,
zeigen psychoanalytische Heilresultate.
Jedenfalls haben wir heute mit dieser analytisch-symbolischen
Psychologie, die eine ärztliche ist, soweit sie seelische Konflikte
und Neurosen erfolgreich zu behandeln vermag, als einer Methode
und Lehre von weittragender Bedeutung zu rechnen. Es bleibt
abzuwarten, was für Blüten ihre Weiterentwicklung, insbesondere
in der neuen Welt, noch treiben wird.
Es besteht keine Frage, daß die Entwicklung der Psychologie
des Unbewußten, wie sie vor allem Breuer, Freud und Jung zu
verdanken ist, für die Psychiatrie von großer Bedeutung wurde
und sie aus einer Sackgasse befreite, in welche sie durch die rein
anatomisch orientierte Gehirnforschung hineingedrängt worden
war.
Gleichzeitig wurde sie aus dem therapeutischen Nihilismus
herausgerissen, der sie lange Jahrzehnte, das heißt bis zum Aufkommen
physischer Heilmethoden Geisteskranker, in erster Linie
durch die Einführung der Schlafkur durch J. Klaesi (1920), der
Insulinkur durch Sackel (1935), des Kardiazolschocks durch
Meduna (1934) und des von Bini und Cerletti (1937) eingeführten
Elektroschocks, heute weitgehend abgelöst durch die Largactil- und
Serpasilkur, mehr oder weniger beherrscht hatte.
Die Psychopharmakologie steht heute geradezu im Mittelpunkt
des Interesses psychiatrischer Therapie und hat in glücklicher
Weise den Nachweis geleistet, daß auf pharmakologischstofflichem
Wege die Welt der dienzephalen Funktionen der
Therapie ebenso zugänglich ist, wie durch Psycho- und Traumanalyse.
Diese Feststellung scheint mir im Hinblick auf die weitere
Ausgestaltung der ärztlichen Anthropologie sehr bedeutsam,
weil sie auf die innige Verflechtung körperlicher mit psychischen
Phänomenen an zentraler Stelle der Gehirnleistung hinweist.
Freuds Traumdeutungslehre war aber in vieler Hinsicht entscheidend.
Hier eröffnete sich eine Möglichkeit, gestörten Vorstellungs-
und Denkgrundlagen auf einem bisher kaum beachteten
Wege beizukommen, indem man über den erkannten
Symbolcharakter der Träume zu einer Deutung analoger Psychismen
Geistesgestörter gelangte. Traumdeutung beim Neurotiker
bildet irgendwie eine Parallele zum Heilschlaf der antiken
Medizin.
Eine weitere theoretische Grundlegung erhielt die ärztliche
Anthropologie durch Ludwig Binswangers daseinsanalytische
Psychologie.
Charakteristisch für die neue psychoanalytische Lehre ist die
Tatsache, daß sie ihren esoterischen Charakter nie ganz verloren
hat und nur in beschränktem Umfang zu einer allgemeinen
Grundlage des medizinischen, insbesondere des psychiatrischen
Denkens geworden ist. Dafür ist auch der Abstand zur neurophysiologischen
und neuropathologischen Richtung der Psychiatrie
noch zu groß. Elektroenzephalogramm und Psychoanalyse
haben sich noch nicht gefunden. Von der Neurophysiologie und
Neuroanatomie gingen aber in den letzten 20 Jahren so mächtige
Impulse aus, daß sie weder von der Psychiatrie noch vom allgemeinen
ärztlichen Denken übersehen werden konnten. Es würde
aber in diesem Rahmen zu weit führen, ihre Verdienste an der
Ausbildung einer modernen ärztlichen Anthropologie klarzulegen.
Ich habe die Horizonterweiterung, welche wir den machtvollen
Impulsen verdanken, die von der modernen ärztlichen Psychologie,
Psychoanalyse, psychiatrischen Psychotherapie und Psychopharmakologie
ausgegangen sind, in den Vordergrund gerückt,
um zu bekunden, daß eine ärztliche Anthropologie sich heute
nicht mehr auf den Boden des Naturalismus der letzten Jahrhundertwende
stellen kann, ohne Gefahr zu laufen, den modernen
Ansprüchen nicht nur einer theoretischen Grundlegung des ärztlichen
Denkens nicht mehr Genüge zu leisten, sondern auch den
Anforderungen der praktischen Medizin nicht gewachsen zu sein.
Nachdem wir von der Erweiterung des ärztlichen Menschenbildes,
wie es sich in unsern Tagen entwickelte, Kenntnis genommen
haben, können wir den Versuch einer Gegenüberstellung
mit einem ärztlichen Menschenbild wagen, das 400 Jahre zurückliegend,
in umfassender Schau und Gestaltung durch den
Einsiedler Arzt Theophrastus Paracelsus aufgestellt wurde. Wir
können dem Versuch, zu einer modernen medizinischen Anthropologie
zu gelangen, denjenigen gegenüberstellen, welchen Paracelsus
als die vier Säulen der Medizin zusammengefaßt und als
die unerläßlichen Grundlagen für das Wirken des wahren Arztes
betrachtet hat.
Eine solche Gegenüberstellung läßt uns vielleicht erkennen,
wie weit die Schwerpunkte im Menschenbild des Arztes sich seit
Paracelsus verschoben haben. Vielleicht ergeben sich auch Anhaltspunkte
dafür, welches Menschenbild dem wahren Sein (und
Sein-Sollen) des Menschen besser entspricht, ob das moderne
anthropologische Weltbild mehr im Zentrum des «Menschseins»
steht oder ob es nach gewissen Seiten verzerrt ist, ob es in eine
Gesamtanthropologie eingeordnet werden kann, oder ob sich
unüberbrückbare Widersprüche ergeben mit anders gerichteten
modernen Anthropologien usw.
Die Anthropologie des Paracelsus als Grundlage
seiner Medizin
Wenn Paracelsus den Menschen in einen Erde und Himmel
umfassenden naturhaften, kosmisch-christlichen Rahmen eingespannt
hat, so ist die tiefste Wurzel seines anthropologischen
Denkens nicht auf die Harmonie des Endlichen mit dem Unendlichen,
nicht auf den harmonischen Einklang zwischen Gott
und Kreatur in letzter Absicht eingestellt — wie es in der Philosophie
der Renaissance, etwa Picos von Mirandola, der Fall war —,
sondern — und das unterscheidet ihn grundsätzlich von seinen
philosophierenden Zeitgenossen —auf den kranken Menschen gerichtet,
welchem Gott im Arzt den Helfer gegeben hat.
Mittelpunkt seiner kosmologischen Anthropologie ist die dem
Genesisgedanken entspringende Idee vom Menschen: der aus
Limus terrae, aus Lehm geschaffene Mensch ist Mittelpunkt der
Schöpfung, weil er mit dem Limus terrae die Substanz der ganzen
Schöpfung in sich aufgenommen hat und weil er einzig der Einsicht
in die besonderen, von Gott gewollten Verhältnisse der
Schöpfung teilhaftig geworden ist. Zu dieser Erkenntnis befähigt
ihn seine mit dem Makrokosmos in Wechselwirkung stehende
Mikrokosmosnatur: er ist selbst nicht nur Mensch, sondern auch
Tier, Pflanze, Mineral, das heißt ein Auszug der ganzen Natur,
die Quintessenz, welche aus den vier Elementen als höchste Blüte
hervorgegangen ist:
«aus diesem limo hat der schöpfer der welt die kleine welt
gemacht, den microcosmum, das ist den menschen, also ist der
mensch die kleine welt, das ist, alle eigenschaft der weit hat der
mensch in ime. darumb ist er microcosmus, darumb ist er das
fünft wesen der element und des gestirns oder firmaments in der
oberen sphaera und in der unteren globul.»
Die Einsicht in die Verhältnisse von Mensch und Natur ist
ihm von Gott geschenkt, weil er nicht nur den Limus terrae,
sondern auch den «limus coelorum», die himmlische Ursubstanz,
in sich enthält.
Die schöpferische Grundstruktur des Menschen bildet auch
die tiefste Quelle seines Arzttums: helfend vollenden, was in der
Unvollkommenheit der Krankheit steht, und helfend bewahren
vor der Krankheit. Seine Anthropologie stellt deshalb nicht nur
den Kernpunkt seiner Naturphilosophie, sondern in tieferem Ausmaß
seiner ärztlichen Erfahrung dar. Wohl kein anderer Denker
hat mit der Gottebenbildlichkeit des Menschen im Natürlichen
wie im Geistigen so sehr ernst gemacht, wie Paracelsus. Dies
bewahrt ihn vor ärztlicher Skepsis und vor Zynismus. Denn der
Grundgedanke der paracelsischen Anthropologie, daß der Mensch
Mikrokosmos und Ebenbild Gottes ist, geformt aus dem Limus
terrae und dem Limus coelorum, gibt dem Menschen einen unerhörten
Adel.
Die vier Säulen der Heilkunst
Nur derjenige ist nach Paracelsus wahrer Arzt und beherrscht
die «monarchei» menschlicher Angelegenheiten, welcher die gesamte
Natur als Arznei Gottes in ihrem Wirken «spezifiziert» und
ihre Heilkraft erkennt. Die Natur in ihrer ganzen majestätischen
Größe, das ganze «Firmament» wird ihm zum Werkzeug des
Arztes. Nach Paracelsus ist keine ärztliche Einsicht in die Natur
des Menschen, der ja ein Spiegelbild des Makrokosmos ist,
möglich, wenn allein auf den «corpus» des Menschen als Erkenntnisquelle
abgestellt wird. Ohne Wissen um das «firmament»,
ohne gründliche Kenntnis der Natur gibt es keine Heilkunst.
Darum ist Philosophia, die Kenntnis der Natur, die erste Säule
der Heilkunst. Aufgabe des Arztes ist es, mit Hilfe der «Philosophie»,
das heißt der erfahrenden Beobachtung und «experienz»
die für den Laien unsichtbare Heilkraft der makrokosmischen
«Geschöpfe» sichtbar und der Heilung dienstbar zu machen.
Diese Erkenntnis ist dem Erfahrenen möglich, weil zwischen
Makrokosmos und Mikrokosmos eine geheimnisvolle natürliche
Korrespondenz besteht, welche den Menschen zum Träger und
Mit-Leider des Makrokosmos macht. Der Mensch ist aus gleichem
Stoff gemacht wie die Natur, wovon wir uns heute täglich in
tausend Einzeldingen sowohl, wie hinsichtlich seiner Grundstruktur
mehr und mehr überzeugen können. Die «anatomia
mundi» des Makrokosmos steht für Paracelsus mit der «anatomia
minor» des Mikrokosmos in vollständiger Korrespondenz. So
gelangt Paracelsus zu einer kosmologischen Anthropologie:
Menschenbeschreibung ist nicht allein Sektion des toten Körpers
auf dem Leichentisch, sondern kosmologische Beschreibung des
Abbildes der Natur im Menschen.
Die zweite Säule der Heilkunst, neben der äußern Natur, ist
die Alchemia microcosmi et macrocosmi. Alchemie ist die Lehre
von den im Mikro- und Makrokosmos wirkenden Kräften. Im
menschlichen Körper sind chemische Kräfte tätig, welche ihn in
ständiger Wandlung halten und durch Auf- und Abbau seine
Erhaltung bedingen. Die innere Verwandtschaft, die geheime
Affinität zwischen Wirkstoff der Arznei und Körperorgan bildet
die Voraussetzung für die Heilkraft einer Pflanze usw. Die Heilkraft
der Arznei liegt nun nicht offen zutage, sondern ist unter
der «schlacken», der rohen Zubereitung der Natur, versteckt.
Höchste Kunst des Arztes als Vollender der sichtbaren (und der
siderischen) Welt liegt nun gerade darin, daß er durch die Kunst
der «alchimei» den reinen Wirkstoff aus der ersten rohen Form
in ihre «vollendung» bringt.
Astronomia, die unsichtbare siderische Welt, ist die dritte
Säule der Heilkunst. Die paracelsische «Astronomie» ist die Fortsetzung
der physischen Welt nach der Seite der siderischen,
oberen, spiritualen Welt.
Paracelsus hat mit intuitiver Kraft und Hellsichtigkeit die
Einflüsse physischer und psychischer Art, welche als «commotiones»
die geistig-seelische Sphäre des Menschen beeinflussen,
beobachtet und sie unter die siderischen Einflüsse eingeordnet, wie
er sie bei den Geisteskranken, Fallsüchtigen usw. beobachtet hat.
Jedes Ding physischer oder psychischer Natur hat nach Paracelsus
sein eigenes Licht, in welchem es durch den Arzt erkannt
wird. Das höchste Licht der Welt aber ist Christus.
«Christus war ein liecht der welt aber unsichtbar, dan er war
ein mensch, seine werk beweisen das, die seine werk bei seinem
liecht erkannten, die wandelten heiterer dan alle sternen am
firmament scheinen möchten.»
So gelangen wir im Gesamtaufbau der paracelsischen Anthropologie
aus der Welt des elementar Irdischen, «corporalischen»
bis in die höchste spirituale Sphäre des Übersinnlichen, in die
hohe und reine Welt des christlichen Glaubens. Am Beispiel des
Dionysius Areopagita, dem sich Paracelsus durch sein mystisches
Christentum verwandt fühlte, ermahnt er uns, nach dieser
höchsten Sphäre zu streben und nicht im Alltagswerk zu «ersaufen».
Sein erstes und letztes Anliegen ist Paracelsus der leidende,
kranke, hilfsbedürftige Mensch. Deshalb wird ihm alles, die ganze
irdische und kosmische Natur zur Anthropologie, zur Wissenschaft
vom Menschen, dem er als Arzt dienen will. Nur diese
Erkenntnis (scientia) gibt dem Arzt Sicherheit im ärztlichen
Handeln. Aber Wissen ist nicht das letzte Element seiner Naturphilosophie
und Anthropologie, das Letzte und Höchste und
damit clic vierte Säule der Heilkunst ist Virtus, ist Tugend in
der Form der Menschenliebe. Liebe ist die eigentliche «virtus»,
die Haupttugend des Arztes.
Beurteilung der heutigen medizinischen Anthropologie
im Lichte der paracelsischen
Sind wir, nach diesem paracelsischen Exkurs nicht gewillt,
ihm in allen grundsätzlichen Punkten zuzustimmen? Und hat
sich unsere moderne ärztliche Anthropologie nicht auch zu einer
Anthropologie erweitert, welche auf vier Säulen aufgebaut ist:
auf der Kenntnis der «Natur» des Menschen und ihrer mit der
«großen Natur» grundsätzlich gleichartigen Beschaffenheit, auf
der Kenntnis des Funktionsgefüges und der biochemischen und
biophysikalischen Energetik des Organismus, bei Paracelsus genannt
«Alchimei». Auf der Einsicht in die Beschaffenheit des
Menschen als eines planetarischen Wesens, das mit dem «siderischen»,
geistigen Kosmos ebenso zu tun hat wie mit dem erdhaft
körperlichen. Die vierte Säule aber des Paracelsus ist die
Virtus, ist die Tugend im Gewande der helfenden Nächstenliebe.
Und hierin begegnen wir dem schwerst zu erfüllenden Postulat,
erschwert durch die Strukturwandlung der modernen Menschenwelt.
Das Wirken des Arztes tritt uns heute in vieler Hinsicht als
«soziale Funktion» entgegen: der Arzt erfüllt die Aufgabe der
Krankheitsvorbeugung und Krankenheilung in einer seit der
industriellen Revolution des ausgehenden 18. Jahrhunderts völlig
gewandelten Menschenwelt, die ihn zu sozialer ärztlicher Leistung
verpflichtet. Aber trotzdem es für den vielbeschäftigten Kassenarzt
schon fast unmöglich geworden ist, dem Kranken menschlich
— mit der von Paracelsus geforderten «Tugend» —entgegenzutreten,
bedarf das Wirken des Arztes der ethischen Grundhaltung
in seiner Einstellung dem kranken Menschen gegenüber,
damit aus dem sozialen Wirken des Arztes eine humane Ordnung
hervorgeht.
Und hier geraten wir in Widerspruch mit dem Existenzialismus,
der keine gegebene Wertordnung anerkennt, sondern im
individuellen Erlebnis selbst das nur subjektiv gültige Wertmaß
bestimmen will, — was zu unauflöslichen Widersprüchen im
sozialen Leben notgedrungen führen muß, wenn es um die Beziehungen
von Mensch zu Mensch, vom Kranken zum Arzt geht.
Es ist etwas anderes, ob der Arzt an keine höheren Ordnungskräfte,
die dem geistig-ethischen Bereich angehören, glaubt und
auf jede Werttafel verzichtet und dementsprechend sich auch
dem Patienten gegenüber nicht «menschlich» in einem tieferen
Sinn verhält, oder ob der überbeschäftigte Kassenarzt mit
50 Kranken im Sprechzimmer, die auf ihn warten, nicht mehr
anders kann, als jedem Patienten in einem Minimum von Zeit —
und deshalb ohne menschlichen Bezug — das für ihn Notwendige
zu tun.
Die Philosophie Martin Heideggers, wie sie in seinem grundlegenden
Werk «Sein und Zeit» (1931) zur Darstellung gelangte,
bietet Möglichkeiten, den oberflächlichen Existenzialismus unserer
Zeit in tiefere Schichten zu verlagern.
Heideggers Denken ist auch in die medizinische Anthropologie,
hauptsächlich über eine Reihe namhafter Psychiater eingedrungen.
«Statt der Spaltung in Subjekt-Objekt, Person-Ich, Gegenstand-Umwelt»,
sagt Ludwig Binswanger, «tritt die in der Transzendenz
verbürgte Einheit von Dasein und Welt.» 1
Die psychischen Symptome sollen nach diesen Autoren anthropologisch
als besondere Weisen des Daseins, des In-der-Welt-Seins,
der Existenz oder des «Menschseins » interpretiert werden.
Die Zukunft wird zeigen müssen, was mit dieser Auffassung für die
Deutung des kranken und gesunden Menschen erkenntnismäßig
gewonnen ist.
Versuchen wir, das Gesagte zusammenzufassen.
Die ärztliche Anthropologie ist eine unendliche Aufgabe, und
jede lebendige Zeit wird eine neue Synthese versuchen.
Jedes menschliche Phänomen muß durch die medizinisch
orientierte Anthropologie naturwissenschaftlich-kausal erklärt,
in seiner biologischen Zweckhaftigkeit durchschaut und in seiner
psychologischen und seelischen Sinnhaftigkeit verstanden werden.
Das ist die Wirklichkeit, mit der sich der Arzt zu befassen
hat, wenn er dem kranken Menschen gegenübersteht. Kranksein
ist nicht nur physische Funktionsstörung, die mit rein physischen
Mitteln zu bekämpfen ist, sondern immer auch Schicksal. Dies
wird besonders eindrücklich bei den unheilbaren Krankheiten,
den sicher zum Tode führenden Krankheiten, den Krankheiten,
die bleibende Organdefekte bedingen (chron. Nephritis, chron.
Arthritis, Diabetes usw.), die im besten Fall zu «Defektheilungen»
führen oder mit der Vita minor eines Organs enden; oder
bei Verstümmelungen aus Unfall, bei Silikose, bei Mißbildungen
angeborener Art, die sich auch auf geistige Defekte oder solche
von Sinnesorganen erstrecken können.
In diesem ärztlich-sozialen, eigentlich menschlichen Sinn tätig
zu sein, bildet heute die wichtigste Aufgabe des Arztes, unterstützt,
aber nicht dominiert von den sozialen Sicherungen der
Krankenkassen, der Unfallversicherung usw.
Dies alles gehört zum praktischen Bereich der medizinischen
Anthropologie. Denn heute untersucht die medizinische Wissenschaft
die Krankheitserscheinungen nicht nur als «Naturtatsachen»
an einem belebten System, sondern sie sucht sie als
Äußerungen der individuellen Existenz eines kranken Menschen
zu verstehen.
Im Begriff Existenz ist all das mit eingeschlossen, was wir mit
dem geschichtlichen (raum/zeitlichen) Ablauf des menschlichen
Lebens und mit der Verwirklichung seines Daseins meinen.
Ansätze, zu einer geistigeren Erfassung des Lebens zu gelangen,
dem Tod und Krankheit immanent sind, als jederzeit mögliche
Bedrohungen des Lebensgefühls, der Lebensfunktionen, des Lebens
selbst, gehen durch alle Zeiten. Ich erinnere etwa an die
Krankheitsauffassung Friedrich von Hardenbergs (Novalis) und
an seine tiefsinnigen Auseinandersetzungen mit dem Todesproblem
(im «Blütenstaub» und andern Aphorismen, in den
Hymnen an die Nacht, in den Briefen nach dem Tode Sophies).
Hüten wir uns als Ärzte, neben der naturwissenschaftlichen
Kausalität die ethische Aufgabe, welche dem Verantwortungsbewußtsein
und damit der menschlichen Freiheit entspringt, zu
vernachlässigen oder geringzuachten. Mannigfach sind die Versuche,
eine Entwicklungsgeschichte der Ethik aus rein naturwissenschaftlichen
Gegebenheiten heraus zu konstruieren, in der
Auffassung, die «natürliche Entwicklung» schaffe «von selbst»
die dem Menschen gemäße Ethik. So etwa Ch. Leake in seinen
«Ethiogenetics». Wir sind nach den ungeheuren Menschenopfern
der Weltkriege und Revolutionen der ersten Jahrhunderthälfte
nicht in der Lage, diesen selektionistischen, neodarwinistischen
Optimismus zu teilen.
Ich schließe meine Ausführungen mit dem Worte des Paracelsus:
«So nun aus der natur der arzt wachsen soll, was ist die natur
anders, denn die philosophie? Was ist die philosophie anderes, denn
die unsichtige Natur?»... «der höchste grunt der arznei ist die
liebe; dann in welchem maß die liebe ist, dermaßen wird auch das
wetter über uns gehen... dann die liebe ist die, die kunst leret,
außerhalb derselbigen wird kein arzet geboren.»