KRISIS DER GEMEINSCHAFT
IN ISRAEL
Rektoratsrede
gehalten an der Jahresfeier der Universität Basel
am 27. November 1953
von
Prof. Dr. Walther Eichrodt
Verlag Helbing &Lichtenhahn —Basel 1953
Druck von Friedrich Reinhardt AG. Basel
Hochansehnliche Versammlung!
Daß die Krisis des Gemeinschaftslebens in den heutigen
Kulturvölkern eines der ernstesten Probleme ist, durch
das ihre Selbstbehauptung in Freiheit und Eigenständigkeit
in Frage gestellt wird, das liegt heute vor aller Augen.
Daß sie auch schon den jungen Menschen vor schwere
Fragen stellt und die meist als glücklichste Lebensperiode
angesehene Zeit des Studiums überschatten kann, ist erst
kürzlich von einem Vertreter der Lehrerschaft unserer
Gymnasien und von einem Professor der Medizin in eindringender
Analyse der Bildungsaufgabe von Mittel- und
Hochschule allen Lehrenden ins Gedächtnis gerufen
worden (G. Bally in «Gymnasium Helveticum», Bd. 7,
Nr. 2, S. 57 ff. und Hans Fischer in «Schweizerische Hochschulzeitung»,
26. Jg., Nr. 3 und 4, S. 125 ff. u. 187 ff.).
Aber auch in den Basler Universitätsreden des letzten
Jahrzehnts wird dieses Problem der Krisis des Gemeinschaftslebens
von ganz verschiedenem Standort aus bald
unter dem einen, bald unter dem anderen Gesichtspunkt
gestreift, sei es, daß der Philologe ein Bild vom
Leben der alten Athener entrollt oder der Psychiater die
gegenwärtige Krise ins Auge faßt oder der Jurist die Bedeutung
der Sühne im Strafrecht entwickelt. Für den Vertreter
der alttestamentlichen Wissenschaft liegt es besonders
nahe, diesen Problemkreis ins Auge zu fassen, da er
im israelitischen Gottesglauben diejenige Glaubensform
vor sich hat, der es von Anfang an nicht auf «Religion» im
antiken Sinn, sondern auf das menschliche Zusammenleben,
das Volk, das «Für einander Dasein» ankommt.
Und es ist keine Frage, daß sich dieser Sachverhalt noch
im Leben des heutigen Judentums spiegelt.
Diese eigentümliche Kraft des Gemeinschaftsgedankens
in Israel hat sich aber nicht in einem von der Gunst der
Verhältnisse geförderten Aufblühen der israelitischen
Volksgemeinschaft geäußert, so wie Athen seine eigentümliche
Lebensgestaltung in einem wundervollen Sonnentag
seiner Geschichte zur Reife bringen konnte; vielmehr
haben mannigfache geschichtliche Katastrophen das israelitische
Gemeinschaftsdenken auf die Probe gestellt und
es in immer neuen Wandlungen umgeschmiedet, bis es die
ihm gemäße Ausdrucksform erreichte. Auf die tiefgreifendste
dieser Wandlungen, die aus einem völligen
Bankrott des bisherigen Gemeinschaftsideals zu neuer
Grundlegung des Gemeinschaftslebens führte, sei es mir
erlaubt, in dieser Stunde den Blick zu richten.
Die geschichtliche Erfassung dessen, was nach dem Zusammenbruch
von Volk und Staat im Jahre 587 in Israel
geschah, ist freilich nicht möglich, ohne daß man sich
einer der umstrittensten Gestalten der israelitischen Geistesgeschichte
zuwendet: dem Propheten Hesekiel. Als ob
schon sein Name auf die Rätselhaftigkeit seiner Person
hindeuten sollte, ist die Uneinigkeit über die Wiedergabe
der hebräischen Form Jecheskel durch das sprachlich bedenkliche
Ezechiel (so die Vulgata) oder durch das von
Luther gebrauchte Hesekiel (dem griechischen
folgend) bis heute noch nicht überwunden worden. Die
Rätsel, die von der textlichen und literarischen Form
seines Buches aufgegeben werden, fangen erst in den letzten
Jahren an, sich zu lichten; die Beurteilung des Mannes
selbst aber schwankt noch zwischen völlig entgegengesetzten
Auffassungen: Während ihn die einen nüchtern und
pedantisch nennen und ihn als kühlen Verstandesmenschen
betrachten, der seine Prophetien am Schreibtisch
konstruiert, sehen die anderen in ihm den fanatischen
Priester von engem Horizont, dem es nur um die beschränkten
Ziele seines Gesetzes geht. Wieder anderen erscheint
er als leidenschaftlicher Dichter und zugleich als
origineller Prophet, den nur der Unverstand der Epigonen
in ein ihm fremdes Gewand gepreßt hat. Und alle diese
Ansichten werden durch seine Deutung als ekstatischer
Paranoiker aufgehoben, für den die gewöhnlichen Maßstäbe
überhaupt ungeeignet sind.
Trotz dieser weit auseinandergehenden Urteile ist doch
von allen, die diesen Propheten für eine geschichtliche
Gestalt des 6. Jahrhunderts a. Chr. halten, eines zugegeben
worden, nämlich daß die neue Lebensgestalt, in der uns
Israel nach dem Exil entgegentritt, ohne die entscheidende
Mitwirkung dieses Mannes undenkbar ist. Es dürfte darum
verheißungsvoll sein, die Stellung Hesekiels zur Volksgemeinschaft
an Hand der am wenigsten umstrittenen
Stücke seines Buches in möglichst genauer Beobachtung
nachzuzeichnen und in ihrer Eigenart gegenüber den vorausgehenden
wie den nachfolgenden geistigen Strömungen
zu erfassen, ohne sich durch die Vorurteile, unter denen
die Gesamterscheinung des Propheten leidet, beirren zu
lassen. Dann könnte sich herausstellen, daß die Konzentration
auf diesen entscheidend wichtigen Komplex der
prophetischen Gedankenwelt auch auf andere Streitfragen,
die sich an diese merkwürdige Gestalt knüpfen,
neues Licht zu werfen imstande ist.
I.
Das erste, was hier in seinem vollen Gewicht erkannt
werden muß, ist die radikale Vernichtungsansage, mit der
Hesekiel der bisherigen Volksgemeinschaft entgegentritt.
Die erste Phase der prophetischen Tätigkeit, wie sie in der
ersten Hälfte seines Buches ihren Niederschlag gefunden
hat, verkündet den Untergang von Volk und Staat und
wirkt ganz bewußt durch die Verknüpfung des Wortes mit
der symbolischen Handlung nach dem Glauben der Zeitgenossen
auf die Entfesselung der Verderbensmächte hin.
Dabei ist gegenüber den früheren Propheten, die ja auch
auf die kommende Katastrophe hinwiesen, eine lückenlose
Konsequenz und erbarmungslose Härte zu beobachten,
die jeden Fluchtweg abschneidet. Ihren bezeichnendsten
Ausdruck finden sie in der völligen Ablehnung, ja ironischen
Verkehrung jeder Hoffnung auf Rettung eines
Restes. Hatten die früheren Propheten die Verschonung
eines Volksrestes in der allgemeinen Vernichtung immer
noch als möglich, ja als Ansatzpunkt für eine neue Hoffnung
gelten lassen, auch wo das nur mit einem «vielleicht»
geschah, so wird diese letzte Hoffnungsstütze von Hesekiel
beseitigt. Was aus der belagerten Hauptstadt entkommt,
soll in alle Winde zerstreut und dem Verderben
preisgegeben werden. Ja, in furchtbarer Widerlegung der
Hoffnung, daß doch noch ein schonenswerter Volksteil
übrigbleiben werde, macht der Prophet einmal in scheinbarer
Nachgiebigkeit das Zugeständnis, daß doch ein Rest
bewahrt bleiben werde, um dann diesen Rest gerade als
den Abschaum des Volkes zu charakterisieren, dessen Erhaltung
nur den Sinn hat, ein anschauliches Beweismittel
für die Gerechtigkeit des ergangenen Gerichts zu gewinnen
(14.21-23).
Diese Verkündigung, die zunächst mit keinem Wort auf
die besondere Lage der Exulanten eingeht, sondern sozusagen
an ihnen vorbei, als ob sie gar nicht vorhanden
wären, auf die damals noch bestehende Stadt Jerusalem
gerichtet ist, bekommt ihre unheimliche Wucht vor allem
durch das innere Müssen, den psychischen Zwang, aus dem
sie geboren ist. Die Gewißheit der kommenden Vernichtung
setzt sich beim Propheten gegen ein starkes inneres
Widerstreben durch, das zwar durch die anerzogene
Selbstdisziplin des Priesters gedämpft ist, aber da und
dort in einem entsetzten Aufschrei kund wird (4. 14; 9. 8;
11. 13) und nur durch ekstatische oder halbekstatische
Zwangshandlungen, die sich bis zu eigentlicher körperlicher
Lähmung steigern können (4. 1-11; 5. 1-4; 12.
3-7, 17 f.; 21. 13-22; 24. 3-5, 10-12), völlig ausgeschaltet
wird. Ein nur scheinbarer Gegensatz zu dieser
Überwältigung durch eine fürchterliche Gewißheit, die
alle dagegen errichteten Dämme durchbricht, ist die Übersteigerung
seiner Polemik, die sich selbst überschlägt und
zum verkrampften Wühlen im Häßlichen und Abstoßenden
wird (16 und 23). Sie auf innere Herzenskälte zurückzuführen
statt auf das Wüten eines tief verzweifelten
Menschen gegen das ihm bisher Unantastbare, ist nur bei
völliger Verkennung der ganzen Lage des Propheten möglich.
Muß doch für ihn, der aus der Priesteraristokratie
des Zionstempels stammt, das Zusammenbrechen dieses
Bollwerks, an das sich alle Hoffnungen der Verbannten
auf baldige Rückkehr klammerten, das unerbittliche Ende
nicht nur aller natürlichen Lebenshoffnung, sondern auch
der Rechtfertigung seiner eigenen Existenz bedeutet
haben. Denn mit dem Tempel in Jerusalem war für den
Priester die Gewißheit der göttlichen Erwählung und die
Vergewisserung um die Gottesherrschaft auf Erden, d. h.
aber die Grundlage seiner ganzen Lebensorientierung unauflöslich
verknüpft. Es braucht die große Tempelvision
in Kap. 8 und 9, um ihn von der Unvermeidbarkeit der
Tempelkatastrophe zu überzeugen.
Um so wichtiger ist die Wahrnehmung, daß das, was ihn,
den Priester, allen seinen Wünschen zum Trotz zum Verkünder
dieses Gerichts machte, schließlich doch von ihm
geistig angeeignet und in seinen Willen aufgenommen
wurde. Trotzdem das Prophetisch-Zwangsmäßige seiner
Erlebnisse ihn manchmal bis zur Fühllosigkeit eines toten
Werkzeugs erstarren zu lassen scheint, ist es kein blindes
Fatum, dem er sich unterwirft, sondern ein höherer Wille,
dessen Entscheidung ihn nicht in passiver Stumpfheit
stehen läßt, sondern ihn zu persönlicher Stellungnahme
und damit zu neuen Einsichten in eine letzte Planmäßigkeit
auch des Unbegreiflichen weiterführt. So wird die
Verkündigung von der über Jerusalem hereinbrechenden
äußeren Zerstörung zum Ausdruck einer geistigen Entscheidung,
in der sich Hesekiel von der ihm bisher unantastbaren
heiligen Tradition seines Volkes lossagt. Was da
geschieht, ist nicht weniger als die Preisgabe der inneren
Struktur der Volksgemeinschaft, wie sie bisher in Geltung
gestanden war und den Stolz jedes Israeliten gebildet
hatte. Die beiden Brennpunkte der israelitischen Existenz,
Königtum und Tempel, die bisher dem Leben des Einzelnen
seine Bindungen und Sicherungen und damit
das mystische Fundament seines Daseins gaben, wurden
ausgelöscht. Konnte es bei den früheren Propheten bisweilen
scheinen, als handle es sich bei dem göttlichen
Gericht um eine vorübergehende Züchtigung, ein pädagogisches
Mittel, so ist nun der völlige Bruch mit der
Vergangenheit vollzogen. Die ganze bisherige Daseinsform
Israels fällt der Vernichtung anheim, und das bedeutet
auch für die Exulanten, obwohl sie zunächst gar nicht angeredet
zu sein scheinen, daß ihnen der Boden unter den
Füßen weggezogen und jeder Rückhalt an der Vergangenheit
genommen wird. Indem das völlige Versagen aller
Stände ihrer großen Aufgabe gegenüber durch die Predigt
des Propheten im einzelnen ans Licht gestellt wird, ist die
bisherige Lebensform des Volkes Israel als grandiose
Selbsttäuschung erwiesen.
In dieser Loslösung von der Tradition, die einzig unter
der Gewalt einer neu erkannten Wirklichkeit geschieht,
stoßen wir also auf ein echt prophetisches Element in
Hesekiels Verkündigung, das ihn mit seinen Vorgängern
aufs engste verbindet: unbeschadet der besonderen Ausdrucksformen
seiner Botschaft, in denen sich seine priesterliche
Abkunft und seine Anfälligkeit für psychische
Störungen verrät, wird jenes blitzgleiche Niederfahren,
des alle geregelte Ordnung durchbrechenden Gotteswortes
sichtbar, das auch sonst bei den Propheten Gott als den
Unerfaßbaren und Selbstherrlichen bezeugt. Nicht als
Tempelgott Jerusalems oder als Gott der besonderen Heilsgeschichte
Israels, sondern als der Gott übermächtiger
Erhabenheit über den Erdkreis, der unabhängig ist vom
Geschick Israels oder Jerusalems, steht Jahve vor dem
geistigen Auge Hesekiels und läßt ihn den Sinn der geschichtlichen
Stunde erkennen. Die Berufungsvision, die
für Hesekiel ebenso wie bei anderen Propheten grundlegende
Bedeutung für sein Gottesbild gewann, spricht das
denn auch mit voller Klarheit aus. Auch das fremde Beiwerk,
das sich hier wie anderswo eingenistet hat, kann nicht
verhüllen, daß es die keinem Menschen verpflichtete,
souveräne Erhabenheit des Weltgottes ist, die hier die
beherrschende Stellung im prophetischen Denken einnehmen
will. Daß sie in farbenfunkelnder Pracht und Vielgestalt
sich darstellt, lenkt den Blick auf die kosmische
Fülle und den Reichtum ihrer Auswirkung und macht sie
aus einem blassen Gedanken zu lebensvoller Wirklichkeit.
Je stärker die natürliche Bindung des Priesters Hesekiel
an die heilige Tradition war, um so bedeutungsvoller traf
ihn die universale Weite dieser Gottesschau und erschloß
ihm die Möglichkeit zum Beschreiten neuer Wege.
II.
Mit der gleichen Entschlossenheit, mit der sich der Prophet
von dem bisherigen Gemeinschaftsideal Israels abwendet,
sehen wir ihn nun auch 'neue Wege zur Gemeinschaft
beschreiten. Wie bei seinen Vorgängern, so ist auch
bei ihm die unendliche Macht seines Gottes mit der unzerstörbaren
Treue zu seinen einmal gesetzten Zielen verbunden,
die durch kein menschliches Versagen in Frage
gestellt werden können. Aber während die früheren Propheten
über den Weg zu diesen Zielen nichts auszusagen
wußten, sieht Hesekiel eine klare Aufgabe vor sich, die es
jetzt anzupacken gilt, trotzdem das von der Katastrophe
zurückgelassene Trümmerfeld keine Möglichkeiten des
Handelns zü bieten scheint. Nicht als ob Menschen nun
einen Neubau an Stelle des alten aufrichten könnten. Das
bleibt das alleinige Vorrecht dessen, der über die Kräfte
des Todes wie des Lebens verfügt. Aber bis Gottes Zeit
gekommen ist, will er den Menschen nicht der ziel- und
zwecklosen Untätigkeit überlassen. Und das Neue ist, daß
er jetzt, wo kein Volk ihm mehr dienen kann, die Einzelnen,
die als wertlose Volkssplitter in der Fremde ihr Leben
fristen, in seinen Dienst ruft.
An zwei Stellen seines Buches, Kap. 3 und 33, spricht
Hesekiel von einem ihm speziell übertragenen Amt, das
ihn als Warner und Seelsorger unter die Verbannten in
Babylonien stellt. Es ist möglich, daß die erstgenannte Erwähnung
dieses Amtes erst einer späteren Verschiebung
des Textes ihre jetzige Stelle verdankt. Dann wäre dem
Propheten seine neue Verpflichtung erst nach dem Untergang
Jerusalems anvertraut worden, was mit seiner eigentümlichen
Frontstellung in. der ersten Periode seines
Wirkens gut zusammenstimmen würde.
Es sind völlig gebrochene und am Sinn des Lebens verzweifelte
Menschen, an denen der Prophet seine Aufgabe
zugewiesen bekommt. Der restlose Sieg der babylonischen
Heere hatte die zähe Hoffnung der Exulanten, daß Jerusalems
Schicksal sich in letzter Minute durch irgendeine
freundliche Fügung noch zum Guten wenden werde, völlig
vernichtet. Nun ihnen der Rückhalt an der Heimat genommen
war, schien den Verbannten jede andere Möglichkeit
des Weiterlebens als die eines dumpfen Hinvegetierens
in den fremden Verhältnissen des heidnischen
Landes genommen. Mit dem Namen Israel jedenfalls
schien keine sinnvolle Lebensmöglichkeit mehr verbunden
zu sein. «Fürwahr, unsere Abtrünnigkeiten und unsere
Sünden lasten auf uns, und durch sie schwinden wir dahin,
und wie könnten wir mit dem Leben davonkommen»,
«unsere Gebeine sind verdorrt, unsere Hoffnung ist geschwunden,
es ist aus mit uns», das ist nach Hesekiel 33. 10
und 37. 11 die herrschende Stimmung in den Kreisen der
Verbannten. Vom Standpunkt des nationalen Bewußtseins
ist diese Schlußfolgerung unwiderlegbar. Denn mochte
auch die babylonische Gefangenschaft verhältnismäßig
milde Formen annehmen, indem sie die Deportierten in
eigenen dörflichen Niederlassungen ansiedelte und ihnen
die Möglichkeit sowohl einer begrenzten Selbstverwaltung
wie der Gründung von Familien offenließ, so war doch
der Lebensnerv des Volkslebens durchschnitten. Auch ein
begrenztes Eigenleben konnte nicht darüber wegtäuschen,
daß im Schmelztiegel des zwangsweisen Kolonistendaseins
im fremden Lande die israelitischen Volkstrümmer allmählich
ihren Leidensgenossen aus anderen Völkern angeglichen
und in der traditionslosen Masse der staatshörigen
Fellachen und Fronknechte Babyloniens versinken
würden. Auch wenn man in Rechnung stellt, daß das hochentwickelte
geschichtliche Selbstbewußtsein der Verbannten
und der Besitz einer nationalen Literatur ihnen eine
bevorzugte Stellung unter den babylonischen Kolonisten
gaben, so war daraus nicht viel mehr als eine innere Auflehnung
gegen die erlebte Enttäuschung und ein fanatisches
Anklammern an den bisherigen Besitz zu gewinnen,
die für sich allein keinen neuen Weg in die Zukunft
bahnen konnten.
In diese Hoffnungs- und Ziellosigkeit einer tödlich verwundeten
Gemeinschaft klingt nun das Wort des prophetischen
Mahners und Warners. Ihm ist der Auftrag zuteil
geworden, an jeden Einzelnen dieser zukunftslosen Kolonisten
mit dem Aufruf zu verantwortungsvoller Tat heranzutreten.
Bei der Zerstörung aller natürlichen Bindungen
in Staat und Kult ist doch eines als unbedingt gültig stehen
geblieben: die Forderung des guten, lebenschaffenden
Handelns nach der Norm des ewigen Gotteswillens. Je
nach der Einstellung dazu gibt es darum auch jetzt noch
Gerechte und Gottlose und Leben oder Tod als die göttliche
Antwort auf das menschliche Handeln.
Es scheint, hier werde nur das alte Volksgesetz verkündet
und damit die neue Situation völlig mißverstanden. In
Wirklichkeit ist aus diesem Volksgesetz etwas Neues geworden,
nämlich der unmittelbare Appell an das Gewissen
und an die freiwillige Entscheidung des Einzelnen für
eine neue Solidarität mit seinen Mitmenschen. Keine geschlossene
und staatlich garantierte Rechtsordnung steht
mehr vor dem einzelnen Volksglied, aber er ist deshalb
nicht in die absolute Ungebundenheit der Willkür entlassen.
Unter Wegfall aller an Palästinas Erde und Jerusalems
Tempel gebundenen Satzungen erhebt sich aus dem
alten Bundesrecht eine sittliche und soziale Lebensnorm,
die eine konkrete Gestaltung der Beziehungen zum Nächsten
verlangt und ordnen will, ohne einen anderen Rückhalt
zu haben als Verheißung oder Gericht des göttlichen
Gesetzgebers. Das heißt aber, hier muß es zu einer Gemeinschaft
des Glaubens und Handelns kommen, die es
wagt, aus einer tiefen Überzeugung und Entscheidung des
Einzelnen sich um ein gemeinsames Banner zu scharen
und gegen die demoralisierende und zerrüttende Macht
der Heimatlosigkeit und Entwurzelung anzugehen.
Kein Zweifel, sie braucht den Seelsorger und Berater,
den Lehrer, der in schwierigen Fällen den Weg zeigt. Aber
alle Fragen der technischen Möglichkeit und Ordnungskunst
bleiben hier nebensächlich, es geht um die Weckung
eines ursprünglichen und spontanen sittlichen Wollens,
durch das eine neue Gemeinsamkeit des Handelns möglich
wird, die mit dem nationalen Gemeinschaftsideal nichts
mehr zu tun hat. Und der drängende Ernst dieses Aufbruchs
in eine neue Haltung zur Gemeinschaft erhält sein
schärfstes Mahnzeichen in der Bedrohung des prophetischen
Lehrers und Seelsorgers selbst mit dem Tode, falls
er die neue Verpflichtung dem gesetzlos Gewordenen oder
dem von der allgemeinen Demoralisation bedrohten Gesetzestreuen
vorenthält.
III.
Zu dieser neuen Deutung und Anwendung des alten
Volksgesetzes als Aufruf zu einem Gemeinschaftshandeln
in total veränderter Lage, in der die Grundtendenz auch
der früheren prophetischen Verkündigung zum Ziel
kommt, tritt aber ein ebenso kühnes Durchschneiden des
Bandes, das die Verbannten an die Vergangenheit fesseln
will, nämlich die Lösung von dem Bann der Erbschuld,
von der das berühmte Kapitel 18 seines Buches handelt.
In einem spöttischen Schlagwort, das damals in den
Kreisen der Skeptiker umlief und die Sinnlosigkeit des Verbanntenschicksals
brandmarken sollte, tritt dem Propheten
der gefährliche Gegner in den Weg, der seiner Mahnung
zum Aufbruch Kraft und Glaubwürdigkeit zu nehmen
drohte: «Die Väter haben saure Trauben gegessen, aber
den Kindern sind die Zähne stumpf geworden!» (18.2). In
diesem Wort nahm der Protest des selbstbewußten Einzelmenschen
gegen den alten Gedanken der Erbschuld, der
Israel schon in den Erläuterungen zum Dekalog eingeprägt
worden war, seine schärfste Form an. Daß es eine Volksschuld
gebe, die schließlich alle Volksglieder ins Verderben
reiße, weil sie nicht als isolierte Einzelne, sondern als
solidarisch für einander Haftbare in unlöslicher Verbindung
miteinander stehen, diese auch von den Propheten
und so auch von Hesekiel selber vertretene Überzeugung
soll hier dadurch ad absurdum geführt werden, daß sie als
ungerechte Bestrafung der Unschuldigen für die Schuldigen
charakterisiert wird. Aus dem persönlichen Handeln
des göttlichen Richters, das bei aller grundsätzlichen
Strenge die innere Bewegtheit lebendiger Gemeinschaftsbeziehung
behält und dem Recht seinen menschlichen
Charakter gibt, ist ein unpersönlicher Mechanismus geworden,
der den Einzelnen erdrückt und die von ihm Erfaßten
der hoffnungslosen Verzweiflung ausliefert. Unter
dem furchtbaren Erlebnis einer zermalmenden Katastrophe
ist hier dem alten Vergeltungsglauben eine Auslegung
und Fortbildung gegeben, die ihn zur lähmenden
Fessel macht.
Was Hesekiel dieser Bedrohung entgegenstellt, ist nicht
die lehrhafte Widerlegung eines priesterlichen Theoretikers,
sondern die prophetische Schau einer neuen Wirklichkeit.
Freilich bewegt sie sich in der schweren Rüstung
der priesterlichen Tora, der am Heiligtum erteilten kultischen
Belehrung des Laien: «Wenn einer Recht und Gerechtigkeit
übt, nicht Fleisch samt dem Blut ißt und seine
Augen nicht zu den Götzen des Hauses Israel erhebt, das
Weib seines Nächsten nicht schändet und nicht dem unrein
gewordenen Weibe naht, niemand bedrückt, das Gepfändete
dem Schuldner zurückgibt, keine Erpressung
verübt, sein Brot dem Hungrigen reicht und den Nackenden
mit einem Gewand bedeckt, nicht auf Wucher ausleiht
und keinen Zins nimmt, von Unrecht seine Hand
fernhält und ehrlichen Rechtsspruch zwischen Streitenden
fällt, in meinen Satzungen wandelt und meine Rechte
beobachtet, indem er treulich danach tut, der ist ein Gerechter
und soll bestimmt am Leben bleiben, spricht
Jahve.» In derselben umständlichen Weise wird dann der
gewalttätige Sohn dieses Gerechten charakterisiert, der
von allen oben aufgezählten Werken das Gegenteil tut:
ihm wird der Tod angesagt. Und noch einmal wird fast
wörtlich gleich der Enkel beschrieben, der sich von den
Verfehlungen seines Vaters abwendet und das Gesetz erfüllt:
er wird von jeder Verbindung mit der Schuld des
Vaters losgesprochen und als Erbe des Lebens erklärt.
Dann aber wird das Gesagte noch nach einer neuen Richtung
ausgeführt, indem die willentliche Entscheidung für
oder gegen das Gebot, durch die im Leben des Einzelnen
eine ganz neue Wendung zum Guten oder Schlimmen eintreten
kann, als bestimmend für das Urteil des göttlichen
Richters erklärt wird. Der Auflösung des Erbfluchs im
Leben der Generationen tritt damit die Ausschließung
jedes schicksalsmäßigen Zwangs im Leben des einzelnen
Volksgliedes an die Seite und macht sowohl das verächtliche
Aburteilen über den verlorenen Sohn wie die selbstgerechte
Beruhigung bei der eigenen Vortrefflichkeit
unmöglich.
Was ist der eigentliche Sinn dieser Ausführungen Hesekiels?
Gibt er eine wirklichkeitsfremde Theorie, die vergißt,
daß einerseits die harte Tatsache der Vererbung ein
Grundgesetz des Lebens ist, daß andererseits die sittliche
Erkenntnis sich in allmählichem innerem Wachstum
entfaltet? Soll statt dessen eine an recht äußerlichen
Maßstäben erkennbare, dürftige Werkgerechtigkeit die
beherrschende Stellung einnehmen? Zwei Beobachtungen
lassen diese bisher verbreitete Auffassung als Irrtum erscheinen:
Einmal die formgeschichtliche Erforschung der
liturgischen Sprache, die uns in der schwerfälligen Darlegung
des Propheten die Neuverwendung und Verschmelzung
zweier altüberkommener kultischer Redeformen
erkennen läßt, nämlich des Beichtspiegels, der an Hand
einiger beispielhaft herausgegriffener gesetzlicher Forderungen
die Bedingungen der Zulassung zum Kultus einprägt,
und der die Kultfeier abschließenden Segens- und
Fluchformel, die Leben und Tod zur Wahl stellt. Hier
bedeutet der Gerechte, wie auch sonst im AT, nicht den
Sündlosen oder den virtuosen Beherrscher eines lückenlosen
gesetzlichen Systems, sondern einfach das willige
Glied der Kultgemeinschaft, das sich den Ordnungen des
Gemeinschaftslebens einfügt. In ihnen geht es um die
religiöse und ethische Bindung, die auch im heidnischen
Lande sinnhaft ist und die für Israel eigentümliche geistige
Haltung zusammenfaßt. Das levitisch-rituelle Moment
wird nicht verleugnet; es bildet den zeit- und geschichtsbedingten
Einschlag im Gewebe, ohne doch den sittlichsozialen
Grundcharakter der hier visierten Gemeinschaft
in Frage zu stellen. Und entsprechend ist der Gottlose der
egoistische Störer dieses Gemeinschaftslebens in willkürlichem
Ausleben seiner Triebe. Indem aber der kultlosen
Exilsgemeinde in dieser kultischen Sprachform Leben und
Tod vorgelegt wird, wird ihr zugleich der Eingang in eine
neue Existenzmöglichkeit geöffnet: Die alte Kultgemeinde
ist zerbrochen, aber eine neue Gemeinde ist im Entstehen,
der die gleichen Verheißungen gelten wie der alten, nur
daß sie in der Entschränkung von alten Bindungen eine
ganz und gar auf die jetzige Entscheidung für oder gegen
das Prophetenwort gegründete Gemeinschaft aufbauen
darf.
So geht es also nicht um die lehrmäßige Entfaltung
einer Theorie, sondern um ein ganz konkretes Angebot,
das hier und jetzt verwirklicht werden und so über das
Vakuum der Volksexistenz hinweghelfen soll. Und diese
aus den formalen Kennzeichen gewonnene Folgerung
wird durch ein inhaltliches Moment zur vollen Gewißheit
erhoben: es ist der am Schluß des ersten und des zweiten
Gedankenganges betont auftretende Hinweis auf ein hier
angebotenes göttliches Gnadengeschenk. «Habe ich denn
Wohlgefallen am Tode des Gottlosen, spricht Jahve, und
nicht vielmehr daran, daß er sich von seinen Wegen abwende
und am Leben bleibe?» Hier geht es offenbar nicht
um den Versuch einer theoretischen Widerlegung der Gegner,
sondern um eine prophetische Heilsverkündigung,
die den Spöttern wie den Verzweifelten eine neue Möglichkeit
zeigt, aus ihrer ausweglosen Lage herauszufinden.
Das geschieht nicht durch einfache Leugnung des Zusammenhangs
zwischen dem Schicksal der Exulanten und der
Schuld der Väter, noch auch durch Bestreitung der in
manchen Geschichtsentscheidungen hervortretenden Gesamthaftung
und Gesamtverantwortlichkeit des Volkes;
beides hat Hesekiel in seinen Gerichtsreden unbedenklich
als Wirklichkeit zugegeben (16; 20; 21. 3. 8 f.; 22. 17-22;
23). Aber daß damit das letzte Wort gesprochen und
die Kausalität des Geschichtslaufes endgültig festgelegt
sei, das wird mit prophetischer Vollmacht rundweg abgelehnt.
Es gibt für den Einzelnen Raum und Freiheit,
über den Schuldzusammenhang der Geschlechter hinauszuschreiten
zur persönlichen Entscheidung im Dienst
einer neuen Gemeinschaft, weil über allem Geschehen der
Wille dessen steht, der dem Menschen einen Neuanfang
ermöglicht, ihn zu einem personhaften Dienst- und Treueverhältnis
bestimmt und diese Bestimmung auch im
furchtbaren Umsturz aller Verhältnisse aufrechterhält.
Hier wird also zwar in priesterlicher Sprachform, aber
in der Kraft prophetischer Um- und Neugestaltung der
Wirklichkeit die Bahn freigelegt, auf der der Einzelne
nach dem Zerbrechen der alten Lebensgemeinschaft, aus
der er bisher seine Daseinsberechtigung erhielt, zu einer
neuen Verbindung mit seinen Mitmenschen geführt wird;
alle dinglichen Garantien wie Tempel und Königtum sind
hier abgestreift, es bleibt die in jeder Lage zu verwirklichende
Gemeinschaftsnorm des Gesetzes, die kraft ihrer
jenseitigen Verankerung im Gemeinschaftswillen der
Gottheit nicht äußerliche Satzung, sondern Ausdruck
eines geschichtsgestaltenden sittlichen Willens ist, der
Leben und Zukunft verbürgt.
Es ist deutlich, daß an diesem entscheidenden Punkt
der israelitischen Geistesgeschichte von einem Sieg des
Individualismus zu reden fehl am Platze ist. Die hier
visierte Gemeinschaft steht über dem Gegensatz von Individualismus
und Kollektivismus. Ihre Keimzelle ist gewiß
das individuelle Selbst in seiner Begegnung mit Gott
als Person, aber diese Begegnung ist identisch mit der Aufnahme
in eine neue Gemeinschaft mit dem Mitmenschen.
Nicht umsonst redet Hesekiel die im Exil versprengten
Einzelnen immer wieder mit dem bedeutungsschweren
Namen «Bêt Jisrael», Haus Israel, an und bezeichnet damit
als ihre Bestimmung, die alte Bundesgemeinschaft, die
einst Israel das Gepräge gab, in einer neuen Form zu verwirklichen.
Wenn man schon nach einem kurzen Wort
zur Verdeutlichung des Gemeinten sucht, so kann man nur
von Personalismus sprechen. Die ihm entsprechende soziologische
Kategorie ist nicht die der Sekte, sondern die
der Gemeinde.
Ein Blick auf Israels Umwelt mag die Eigenart des hier
Erreichten verdeutlichen. Unter den apolitischen Gemeinschaftsformen,
die die antike Kulturwelt dem Einzelnen
nach dem-Zusammenbruch von Volk und Staat zu bieten
hatte, war eine der wichtigsten das Gemeinschaftserlebnis
des Mysteriums, dessen esoterischer Kult die Eingeweihten
in einem neuen Heilserlebnis zusammenschloß. Es ist
ohne weiteres einleuchtend, daß die im Exil entstehende
Gemeinde damit nichts zu tun hat. Hier gibt es keine Arkandisziplin,
die die Eingeweihten von den Draußenstehenden
scheidet. Nicht durch magisch-mystische Riten
wird das Leben vermittelt, sondern durch eine Botschaft,
die nicht eine Auswahl, sondern alle beansprucht und
dem Willen bestimmte Ziele zeigt. Näher scheint die Verwandtschaft
zu der anderen wichtigen Gemeinschaftsform,
die im Griechentum nach dem Zusammenbruch der
Polis dem Einzelnen Rückhalt im Zusammenschluß mit
Gleichgesinnten vermittelte, dem um einen Lehrer sich
sammelnden Schülerkreis. Diese Gemeinschaft von Lehrenden
und Lernenden, über der die strahlendsten Namen
der Geistesgeschichte stehen, besitzt in der Tat gewisse
Spiegelungen in den um die Propheten sich sammelnden
Jüngerkreisen. Auch an die im Hause Hesekiels sich einfindenden,
ratsuchenden Ältesten mag man denken. Aber
diese sehr lockeren Kreise gehen immer wieder im Ganzen
der Gemeinde auf: Es fehlt ihnen die ausschließliche Bindung
an Wort und Lehre des Meisters. So beruft sich auch
kein Prophet auf einen ihm auch noch so nahestehenden
Zeitgenossen oder Vorgänger, und das für die ganze
Geistesgeschichte maßgebende Werk des Mose hat nie zur
Verehrung seiner Person Anlaß gegeben. Die ganze
Schwierigkeit der Aufgabe, zu dem der großen
geistigen Führer Israels vorzudringen, vor die die alttestamentliche
Forschung sich gestellt sieht, hängt mit diesem
Zurücktreten des Einzelnen zusammen, dessen ganze
Energie darauf gerichtet ist, seine Zuhörer zu der unmittelbaren
Konfrontierung mit dem göttlichen Auftraggeber,
der hinter ihm steht, zu führen. So bleibt der im
Exil entstehenden Gemeinde, auch wo sie auf die Belehrung
durch ihre Führer angewiesen ist, die Bindung an
den einzelnen Lehrer fremd; die Sache, die er vertritt,
geht als wirklichkeitsgestaltende Kraft weit über die Formulierung,
die er ihr gibt, hinaus und treibt zu einer rastlosen
Anspannung, die ganz auf die Zukunft hin orientiert
ist.
IV.
Damit aber stoßen wir auf eine letzte Eigentümlichkeit
dieser neuen Gemeinschaft, die sie von allen ähnlichen
Zusammenschlüssen unterscheidet: sie findet ihren Sinn
nicht in sich selbst, sondern betrachtet sich als Interim, das
auf eine in der Zukunft liegende Vollendungsgestalt hinzielt.
Hesekiel hat keinen Zweifel darüber gelassen, daß er
die Gemeinde, die durch das gemeinsame Handeln aller
Einzelnen entsteht, nicht als die endgültige Daseinsform
seines Volkes betrachtet. Das Leben, das er ihren Gliedern
verheißt, ist nicht eine vollkommene Lebensgestalt, sondern
das Erhaltenwerden auf ein Ziel hin, in dem erst der
Beruf Israels sich erfüllen wird. So entwirft er in Kapitel
34-37 seines Buches Bild auf Bild, um das Israel der
Zukunft sichtbar werden zu lassen. Soweit diese Bilder
Land und Volk der Heilszeit mit einem messianischen
König an der Spitze und einem neuen Tempel in ihrer
Mitte zeigen, scheinen sie die geistige Höhe, die in der Forderung
an die Gegenwart erstiegen wurde, wieder aufzugeben
und alteingewurzelten Traditionen ihren Zoll zu
entrichten. Und doch darf eine merkwürdige Akzentverschiebung
nicht übersehen werden, die aus dem überkommenen
Hoffnungsgut etwas anderes macht: Es ist die mit
starker Betonung zwischeneingefügte geistige Neugeburt
des einzelnen Volksgliedes, durch die jene am Ende des
berühmten achtzehnten Kapitels auftauchende Mahnung:
«Schaffet euch ein neues Herz und einen neuen Geist!»
in die zentrale Gabe und Ausrüstung der Heilszeit verwandelt
wird: «Ich will euch ein neues Herz und einen
neuen Geist geben» (36. 26). Damit sind jene alten Hoffnungsbilder,
ohne die sich Israel offenbar eine geschichtliche
Leibhaftigkeit seiner neuen Existenz nicht vorstellen
konnte, vor dem Mißverständnis bewahrt, einfach zur Verheißung
der Rückkehr der guten alten Zeit zu werden: Sie
haben einen neuen Beziehungspunkt erhalten, der eben
aus dem konsequenten Personalismus der neuen Gemeinschaft
stammt.
Diese Gemeinschaft selbst aber kann nun nicht anders
existieren als in einer starken Spannung auf die Zukunft
hin. Das Handeln aus der persönlichen Verantwortung
heraus führt nicht zu einer in sich selbst ruhenden und
mit sich selbst zufriedenen Autarkie, die mit dem Dasein
einer weltabgeschiedenen Sekte zufrieden wäre, oder in
der Selbstbespiegelung einer dürftigen gesetzlichen Rechtschaffenheit
ihr Genüge fände, sondern erreicht seinen
eigentlichen Sinn nur dort, wo der Handelnde sich in
Marsch gesetzt weiß aus der unvollkommenen und stückwerkmäßigen
Gegenwart heraus auf ein Ziel, das eine
wirkliche Wandlung der Lage bringt. Es ist dieses Rechnen
mit einer Peregrinatio seiner Gemeinde, einer Wanderung
aus der bestehenden in eine kommende Welt, die Hesekiel
als den nüchternen, jeder idealistischen Übersteigerung
abgeneigten Realisten und zugleich als den mit allen
Fasern vorwärts gerissenen prophetischen Menschen
kenntlich macht.
Er ist schon von seinen Zeitgenossen darin vielfach mißverstanden
worden. Die Folgezeit machte aus seinem Hinweis
auf die kommende Gemeinde ein Schema zur Verewigung
der gegenwärtigen Mittelmäßigkeit im rechtlich
verfaßten Priesterstaat, wie er in Hesekiel 40-48 unter
Benützung prophetischer Bilder von einem Epigonen entworfen
wurde; oder sie versuchte das wiederkommende
Davidsreich mit menschlichen Mitteln aufzurichten. Und
doch blieb auch in diesen Verzerrungen seiner ursprünglichen
Konzeption die verpflichtende Kraft der personalen
Lebensgestaltung wirksam und ließ sich nicht mehr
unterdrücken. Sie befruchtete auch noch die Schöpfungen
des Spätjudentums und erlebte ihre umfassendste Erneuerung
in der christlichen Gemeinde. So bleibt die Botschaft
Hesekiels auch in der vom Zerfall der Gemeinschaft bedrohten
Jetztzeit Mahnzeichen und Aufruf zur Besinnung;
sie gehört zu den großen geistigen Mächten, die das Lebensgesetz
unserer abendländischen Kultur bestimmt und je
und je wieder zu einem neuen geistigen Aufbruch geführt
haben.