Entwicklung
und Bedeutung der Tiermedizin
Rektoratsrede
Prof. Dr. Walter Hofmann
Verlag Paul Haupt Bern 1946
Entwicklung
und Bedeutung der Tiermedizin
Rektoratsrede von Prof. Dr. W. Hofmann
Hochverehrte Festversammlung!
Die heutige Feier bietet unserer Hochschule den Anlass, Behörden,
Freunde und Gönner zu begrüssen und allen denjenigen
zu danken, von denen sie unterstützt und gefördert wird. Vor
allem gilt dieser Dank dem Berner Volk, das für seine im Boden
Berns und der ganzen Eidgenossenschaft heute fest verwurzelten
Universität opferwillig die Mittel aufbringt.
Der dies academicus wird im Rahmen akademischer
Ueberlieferung abgehalten. Ueberlieferung ist es auch, die dem
jeweiligen Rektor das Recht einräumt, die Aufmerksamkeit der
Festversammlung auf Probleme seines Fachgebietes hinzulenken.
So sei es denn auch mir gestattet, die wichtigsten Entwicklungsperioden
in der Tiermedizin, so weit man sie aus den spärlichen
und lückenhaften Aufzeichnungen der früheren Jahrhunderte hat
erfahren können, zu streifen, kurz heutige Aufgaben zu berühren
und ihre Bedeutung für die Volkswirtschaft und die Gesundheit
des Menschen hervorzuheben.
Aus verschiedenen Gründen musste der Mensch den Krankheiten
der Tiere je und je Beachtung schenken. Er brauchte gesunde
Tiere für Friedens- und Kriegszeiten. Sodann gefährdeten
verheerende Tierseuchen wirtschaftlich das Gedeihen ganzer Länder
und auch die menschliche Gesundheit.
Die ersten Anfänge einer Tierheilkunde gehen in die ältesten
Zeiten zurück. Sie stellten Heilungsversuche dar, die von
Hirten und Landleuten vorgenommen wurden.
Wie die Menschenmedizin, so lag auch die TIerheilkunde in
den Händen von Priestern, da man glaubte, dass Krankheiten
eine Strafe der Götter oder Taten von Dämonen wären. Sie sammelten
durch die Beobachtung von Krankheitserscheinungen und
durch die Erforschung ihrer Ursachen Erfahrungen und unterrichteten
darüber in den Tempelschulen. So entwickelte sich allmählich
eine Wissenschaft, die über menschliche und tierische
Krankheiten lehrte. Bei den Griechen und Römern befassten sich
vorwiegend Naturforscher und Philosophen mit Tierkrankheiten.
Männer wie Demokrit, Hippokrates und vor allem Aristoteles
nahmen Zerlegungen von menschlichen und tierischen
Leichen vor und suchten derart durch vergleichende Studien die
Krankheiten zu ergründen, eine Erkenntnis, die leider jahrhundertelang
vergessen, erst durch das Studium der Infektionskrankheiten
wieder in den Vordergrund geschoben wurde.
Gerade die Verkennung dieser Tatsache war es, die im Mittelalter
die Entwicklung der Heilkunde hemmte. Dieses Zeitalter
mit seinen strengen Dogmen und naturphilosophischen Spekulationen
brachte eine scharfe Trennung zwischen den Ansichten
über menschliche und tierische Krankheiten. Die Ueberzeugung,
dass der Mensch nach Gottes Ebenbild geschaffen sei, liess einen
Vergleich mit dem Tier unmöglich erscheinen. Der Verfall der
Wissenschaften nach dem Untergang des römischen Weltreiches
zur Zeit der Völkerwanderung brachte auch die Heilkunde zum
Stillstand. Die Tiermedizin entbehrte eines besonderen Berufsstandes
und wurde mit wenig Ausnahmen zum pfuscherhaften
Nebengewerbe unwissender Leute. Finsterer Aberglaube, Furcht
vor Dämonen und Zauberei traten an Stelle der Naturbeobachtungen.
In den Klöstern schrieben zwar Mönche die aus dem Altertum
übernommenen Schriften ab und ergänzten sie auch. Diese Aufzeichnungen
waren aber vor der Erfindung der Buchdruckerkunst
dem Volke nicht allgemein zugänglich. Häufig wirkte sich damals
die Medizin bei Mensch und Tier nur in Geisterbeschwörungen
und Wunderglauben aus, was sich teilweise bis heute erhalten
hat. So findet man ja noch hie und da bei uns im Gebälk
von Scheunen und Ställen Flaschen aufgehängt, in denen
ein böser Geist eingesperrt sein soll, der Mensch und Tier mit
Krankheiten, Unglück oder Feuer heimgesucht hatte.
Nur den Arabern kommt im Mittelalter das Verdienst zu, die
Errungenschaften der Alten übernommen und zu neuer Blüte gebracht
zu haben. In der Zeit vom 7. bis zum 12. Jahrhundert entstanden
in arabischer Sprache zahlreiche Bücher über Tierheilkunde,
speziell über das Pferd.
Neuen Impuls bekam die Heilkunde dann in der Renaissance,
besonders durch das Aufblühen der Anatomie. Ohne hier auf einzelne
grosse damalige Forscher einzugehen, erwähne ich nur den
spanischen Tierarzt Francisco de la Reyna, dessen Studien Wesentliches
zur Erkennung der Bedeutung des Kapillarkreislaufes
und der Funktion der Venen beigetragen haben.
Einen besonders mächtigen Ansporn bildeten für die tierärztliche
Forschung die Seuchen, die schon im Mittelalter sehr
verheerend aufgetreten waren und sich im 16. und 18. Jahrhundert
noch mehr verbreiteten. Von allen weitaus ani meisten gefürchtet
war die Rinderpest, eine akute, sehr ansteckende Krankheit
der Wiederkäuer, die sich bei raschem tödlichem Verlauf
durch brandige Schleimhautentzündungen und eine allgemeine
Blutinfektion kennzeichnet. Diese Seuche war den Griechen und
Römern nicht bekannt, hat aber seit uralten Zeiten bis heute in
den Steppengebieten Osteuropas und Zentralasiens geherrscht.
Mit dem Eintreten der dort lebenden Völker in die Weltgeschichte
und ihrer Wanderung nach Westen beginnt für Europa auch die
Geschichte der Rinderpest. Namentlich durch die vielen Kriegszüge
der nachfolgenden Jahrhunderte wurde sie nach kurzen
Pausen immer wieder aufs neue über die Länder Europas verbreitet.
Die Verluste waren enorm, besonders im 18. und anfangs des
19. Jahrhunderts mit ihren langdauernden Kriegen. Damals sollen
in Europa nur an der Rinderpest über 200 Millionen Rinder
zu Grunde gegangen sein. Es kam vielerorts so weit, so z. B. in
Holland, dass für den Ackerbau keine Zugtiere mehr übrig blieben,
ganze Gegenden verarmten und verödeten und die Weiterexistenz
von Staaten direkt in Frage gestellt wurde. Denn der
schon vom Römer Vegetius geprägte kulturhistorisch wichtige
Satz, dass kein Volk ohne Zugrinder bestehen könne, behielt
seine Gültigkeit bis ins 19. Jahrhundert hinein. An Stelle des Rindes
trat dann mehr und mehr das Pferd als Zugtier. Sehr schlimm
hauste die Seuche wiederholt auch bei uns. Ein eindrucksvolles
Bild von den Verheerungen einer Rinderseuche im Emmental,
von der ich glaube annehmen zu dürfen, dass es sich um Rinderpest
handelte und die zugleich mit dem schwarzen Tod des Menschen
auftrat, hat Gotthelf in der plastischen Erzählung "Die
schwarze Spinne" gezeichnet. Darin steht der für die damalige
Lage bezeichnende Satz: "Gegen den Zauber versuchte man weltliche
und geistliche Künste, aber alles umsonst; ehe noch der
Tag graute, hatte der Tod das sämtliche Vieh im Stalle gestreckt."
Die Rinderpest verursacht in ihren Heimatgebieten beim
widerstandsfähigen Steppenvieh relativ wenig Verluste. Dagegen
ist sie in den Ländern mit Hochzucht die gefährlichste, akute
Seuche.
Es ist daher verständlich, wenn eine solche Naturkatastrophe
zum Aufsehen mahnte und allgemein die Forderung zur Ausbildung
eines wissenschaftlichen Berufsstandes für die Durchführung
von wirksamen Abwehrmassnahmen gestellt wurde. Die Regierungen
aller Länder richteten daher ihre volle Aufmerksamkeit
auf diese Geissel. Bedeutende Gelehrte, so auch Albrecht von
Haller, befassten sich mit der Erforschung der in den alten
Schriften erwähnten Hornviehseuchen, unter denen neben der
Rinderpest namentlich auch die Lungenseuche gemeint war. Es
handelt sich bei dieser um eine ansteckende, brandige Lungen-
und Brustfellentzündung mit meist chronischem Verlauf, die in
nahezu der Hälfte der Fälle zum Tode führt. Diese Seuche trat
besonders von Anfang des 17. Jahrhunderts an in der Schweiz
auf.
Neben der Rinderpest und Lungenseuche bedrohten noch der
Milzbrand, der Rauschbrand, die Maul- und Klauenseuche, die
Tuberkulose, der Rotz, die Schafpocken, die Tollwut sowie andere
ansteckende Krankheiten die Haustiere. Gleichzeitig forderten
unter den Menschen die Pest, der Aussatz und die Blattern,
auch der schwarze Tod genannt, zahllose Todesopfer.
Diese Seuchen, sowie das Bedürfnis der Armeen, tüchtige
Pferdärzte zur Verfügung zu haben, bildeten in der zweiten
Hälfte des 18. Jahrhunderts den Hauptanstoss zur Gründung von
tierärztlichen Unterrichts- und Forschungsanstalten.
Der Rechtsanwalt und spätere Tierarzt Claude Bourgelat
gründete im Jahre 1762 in seiner Vaterstadt Lyon die erste und
zwei Jahre später in Charenton bei Paris die zweite tierärztliche
Schule der Welt. Ueberall wurden diese Schöpfungen mit Begeisterung
begrüsst, wurden sie doch als Verwirklichung der
damals herrschenden philosophischen Ideen, besonders der Encyklopädisten,
betrachtet.
Die neugeschaffenen Institute fanden bald auch ausserhalb
von Frankreich grosse Beachtung. Ueberall machte sich das Bedürfnis
nach theoretisch und praktisch geschulten Tierärzten geltend.
Deshalb gab das Vorgehen von Frankreich im 19. und 20.
Jahrhundert in den Kulturländern den Anstoss zur Gründung von
tierärztlichen Schulen.
In der Schweiz gründete Bern 1806 eine solche und Zürich
folgte 1820 nach. Beide sind Werke fortschrittlich gesinnter Behörden
und eines einsichtigen Volkes.
Den ersten tierärztlichen Unterricht in Bern erteilte der aus
Tübingen übersiedelte Arzt Karl Friedrich Emmert, der dort
bei dem universal gebildeten Prof. Ploucquet neben medizinischen
auch tierärztliche Studien betrieben hatte. Emmert
blieb der Berner Schule bis zu seinem Tode im Jahre 1834 treu.
In seinem Schüler Matthias Anker aus Ins, einem Onkel des
späteren berühmten Kunstmalers Albert Anker, bekam Bern im
Jahre 1816 einen zweiten hervorragenden tierärztlichen Kliniker.
Seither haben in Bern und Zürich bedeutende Männer gelehrt
und gewirkt.
Die beiden Tierarzneischulen sind um die Jahrhundertwende
durch Volksentscheide als selbständige Fakultäten an die Universitäten
angeschlossen und dadurch stark gefördert worden.
Die weitere Entwicklung der Tierheilkunde wurde wesentlich
durch die grossen Umwälzungen beeinflusst, weIche seit etwa
der Mitte des vorigen Jahrhunderts sich auf allen Gebieten der
Medizin vollzogen haben. Erwähnen will ich nur drei grosse Errungenschaften,
die ihr in den letzten Jahrzehnten das Gepräge
gegeben haben:
Erstens die Möglichkeit der schmerzlosen Ausführung von
Operationen,
zweitens der Ausbau der Chirurgie und
drittens die Entdeckung der bakteriellen Krankheitsursachen
mit den Erkenntnissen der Immunitätslehre und der Einführung
der Schutz- und Heilimpfungen.
Es ist selbstverständlich, dass daneben auch alle andern Entdeckungen
aus den Gebieten der Naturwissenschaften für die
tägliche Praxis nutzbar gemacht worden sind, namentlich aus der
Chemie und Physik. Erinnert sei bloss an die Einführung der
Röntgenuntersuchung, an die mannigfaltige Anwendung der Hormone
und Vitamine, oder an die Chemotherapie bei bestimmten
Infektionskrankheiten, wie z. B. mit Sulfonamid- und Penizillinpräparaten.
Von der Möglichkeit der Ausschaltung von Schmerz wird
heute in der Tiermedizin weitgehend Gebrauch gemacht. Wir unterscheiden
dabei die Allgemeinnarkose und die lokale Schmerzbetäubung.
Bei einer allgemeinen Narkose wird das betreffende
Tier mit einem Narkotikum in einen schlafartigen Zustand versetzt.
Die einzelnen Haustierarten reagieren auf die verschiedenen
Narkotika sehr unterschiedlich. So lassen sich zum Beispiel
Pferd und Schwein leicht in Chloroformnarkose versetzen, während
eine solche für den Hund gefährlicher ist. Für diesen wird
Aether und Morphium gebraucht. Umgekehrt verursacht aber
Morphium beim Rind und den kleinen Wiederkäuern eine sehr
heftige Erregung, die sogar in Tobsuchtsanfälle ausarten kann.
Mehr Anwendung findet die lokale Schmerzbetäubung, weil
sie einfacher und ungefährlicher ist. Hiebei wird Novocainlösung
oder ein ähnliches Präparat in die unmittelbare Umgebung des
Operationsfeldes oder auch direkt auf den dieses Gebiet versorgenden
Nerven eingespritzt und die betreffende Körpergegend
damit unempfindlich gemacht. Ganze Körperteile können auch
dadurch anaesthesiert werden, indem man das betäubende Medikament
in den Wirbelkanal hineinspritzt und auf das Rückenmark
einwirken lässt. Man bedient sich dieser Methode namentlich
bei geburtshilflichen Eingriffen beim Rind.
Die Einführung der Schmerzbetäubung bedeutete in der Geschichte
der Menschen- und Tiermedizin einen gewaltigen Fortschritt.
Vorher stellte jeder schwere operative Eingriff gewissermassen
einen rohen Akt dar. Die wissenschaftliche Tierchirurgie
hat sich überhaupt erst nach der Einführung der Schmerzbetäubung
entwickeln können. Obschon sie heute einen breiten
Raum einnimmt, liegen die Verhältnisse doch wesentlich anders
als in der Menschenchirurgie. Während sich der Arzt die Erhaltung
der Gesundheit und des Lebens seiner Patienten zur Aufgabe
macht, sei es auch nur für kurze Zeit, dient die Tätigkeit
des Tierarztes vornehmlich wirtschaftlichen Zwecken. Das kranke
Tier soll in möglichst kurzer Zeit wieder gesund und arbeitsfähig
gemacht werden. Die beste Therapie ist in der Regel wertlos,
wenn die Leistungsfähigkeit der Tiere aufgehoben ist, die
Behandlung zu lange dauert, oder. das äussere Aussehen z. B, bei
Luxustieren beeinträchtigt ist. Diese Unterschiedlichkeit des Zieles
der Behandlung und die Verschiedenartigkeit vieler Krankheiten
bei Mensch und Tier weisen deshalb der ärztlichen und
tierärztlichen Chirurgie und oftmals der ganzen Therapie verschiedene
Wege.
Auch von Tierart zu Tierart sind die Voraussetzungen für
Operationen anders. So ist z. B. das Pferd in erster Linie ein
Reit- und Arbeitstier. Infolgedessen spielt bei ihm die Gliedmassenchirurgie
eine wesentliche Rolle. Das Rind dagegen wird
vor allem wegen der Milch- und Fleischleistung gehalten. Deshalb
haben bei ihm die Erkrankungen der Gliedmassen nicht die
Bedeutung wie beim Pferd. Hingegen sind die geburtshilflichen
und die mannigfaltigen Eingriffe bei Störungen in der Fortpflanzung,
sowie die sogenannte Fremdkörperoperation praktisch
von Wichtigkeit. Es handelt sich hiebei um die operative Entfernung
von spitzen Fremdkörpern, wie Nägel oder Drahtstücke,
die mit dem Futter aufgenommen werden und in den Vormägen
ein- und durchstechen und damit benachbarte, lebenswichtige
Organe verletzen können. Ohne Operation gehen bei dieser so
häufig vorkommenden Fremdkörpererkrankung viele Rinder zugrunde.
Für diesen chirurgischen Eingriff wird das kranke Tier
nicht etwa gefesselt, sondern man bindet es bloss lose an, so
dass es möglichst bequem stehen kann. Die linke Flanke wird
durch eine Einspritzung unempfindlich gemacht. Nach einigen
Minuten werden die Bauchdecken durchtrennt, die Vormägen eröffnet
und nach eingestuften Fremdkörpern abgesucht, diese
entfernt und die Wunde wiederum verschlossen. Die meisten
Rinder verhalten sich dabei vollständig teilnahmslos, weniger
die umstehenden Laienzuschauer, denen diese Operation nachhaltigen
Eindruck macht.
Eine gewaltige Entwicklung kann die TiermedIzin in der
Seuchenbekämpfung verzeichnen. Die wissenschaftlichen Forschungen
über das Wesen und die Ursachen der ansteckenden
Krankheiten brachten Licht in das vorherige Dunkel. Sie knüpfen
sich, insbesondere an die Namen Pasteur Koch u. a. Von
grosser Bedeutung waren später die Errungenschaften der Immunitätslehre
Diese Entdeckungen brachten eine neue Orientierung
der medizinischen Tätigkeit überhaupt. In ungeahntem
Masse war es nun möglich geworden, die Krankheiten als solche
zu bekämpfen, statt nur die einzelnen Tiere zu behandeln. Man
kam zur Erkenntnis, dass alle Schutz- und Bekämpfungsmassnahmen
gegen Seuchen nur dann Erfolg haben, wenn sie systematisch
und allgemein durchgeführt werden. Das bedingte die
Schaffung von staatlichen Ueberwachungsstellen, wie bei uns
das Eidgenössische und die kantonalen Veterinärämter, oder als
Dachorganisation das internationale Tierseuchenamt in Paris,
sowie die Notwendigkeit von Seuchengesetzen. Diese befassen
sich mit allen Tierseuchen, die das Volksvermögen erheblich
schädigen und gegen die der Einzelne sich nicht wirksam genug
zu schützen vermag. Die Geschichte aller Zeiten lehrt, dass
Seuchen und dadurch die Verminderung der Nutztiere den Wohlstand
und die Ernährung der betreffenden Völker verhängnisvoll
beeinträchtigen. Zahlreich sind bei uns die Sagen von verwunschenen
oder verhexten Alpweiden, auf denen die Rinder zeitweise
massenhaft zugrunde gegangen sind. Ferner bestätigen
viele Chroniken, dass die Existenz ganzer Talschaften, deren
Vieh von Seuchen befallen wurde, gefährdet oder sogar vernichtet
worden sind.
Bei der gesetzlichen Unterstellung dieser Seuchen war auch
die gesundheitliche Gefährdung des Menschen mitbestimmend,
da einzelne davon auch auf diesen übertragbar sind. Ich erinnere
bloss an die Tollwut, den Milzbrand, den Rot; die Trichinosis
oder an die Vergiftungen durch verdorbenes Fleisch oder andere
Lebensmittel, zu deren Verhütung ein umfassender Ueberwachungsdienst
eingeführt wurde. Aehnlich ist die Produktion
und der Verkehr mit Milch und Milchprodukten durch gesetzliche
Vorschriften geregelt worden.
Es ist der Tiermedizin durch energische, auf gesetzlicher
Grundlage basierende Massnahmen gelungen, ganze Länder von
den in früheren Jahrhunderten so verheerenden Seuchen wie Rinderpest
und Lungenseuche zu befreien Bei andern ist eine starke
Verminderung der Schäden erreicht worden. Gegen die Mehrzahl
dieser Seuchen stehen uns heute auch hochwirksame Impfstoffe
zur Verfügung.
In diesem Zusammenhang sei der Name unseres berühmten,
vor zehn Jahren verstorbenen Landsmannes Sir Arnold Theiler
erwähnt, dessen Arbeiten die Krankheitsforschung mächtig
gefördert haben. Sein Wirkungsfeld war Süd-Afrika, wohin er
im Jahre 1891 ala junger Tierarzt ausgewandert ist. Aus eigener
Initiative und oft gegen starken Widerstand schuf er in zielbewusster
Arbeit nach und nach in Onderstepoort eine Forschungs-
und Unterrichtsstätte, die später weltberühmt geworden
ist. Seine ersten Arbeiten galten der Rinderpest. Grundlegend
aber wurden namentlich die Untersuchungen über die Blutparasiten
des Rindes. Er und seine Mitarbeiter, Tierärzte, Zoologen
und Botaniker, worunter auch einige Schweizer zu nennen sind,
haben die wichtigsten in Südafrika und in den Tropen herrschenden
Tierkrankheiten erforscht und die Wege zu deren wirksamen
Bekämpfung gewiesen. Diese Forschertätigkeit ermöglichte in
ganzen Ländern, wo vorher nur Tod und Verderbnis hausten,
eine blühende Tierzucht, deren Wert für die betreffenden. Gegenden
gar nicht erfasst werden karin.
Der kurzen, zur Verfügung stehenden Zeit entsprechend, müssen
viele Probleme der Lehre und Forschung in der heutigen
Tiermedizin, so wichtig sie an sich auch sein mögen, übergangen
werden. Wir wenden uns deshalb vorerst noch der wirtschaftlichen
Bedeutung der Tierseuchenbekämpfung in der Schweiz
zu, um dann einen Blick auf die neue Forschungsrichtung zu
werfen, nämlich auf das Studium und die Bekämpfung Tier und
Mensch gemeinsam befallender Krankheiten.
Der Haustierbestand der Schweiz entspricht zur Zeit einem
Wert von rund 2 Milliarden Franken. Der Gesamtrohertrag aus
der Tierhaltung belief sich im Jahre 1942 auf 1122 Millionen
Franken oder 64 % des gesamten landwirtschaftlichen Endrohertrages,
was ungefähr einem Drittel des schweizerischen
Volkseinkommens ohne Kapitalzinsen entspricht. Schon aus
diesen trockenen Angaben können wir abschätzen, welche grosse
Bedeutung der Gesunderhaltung unseres Viehbestandes für die gesamte
Volkswirtschaft und die Landesversorgung zukommt.
Eine Schädigung in grösserem Ausmasse durch Seuchen
hätte während der Kriegsjahre, wie auch jetzt noch, schwerwiegende
Folgen nach sich gezogen. Die Niederringung der
Tierseuchen gehört daher mit zu den wichtigsten kriegswirtschaftlichen
Massnahmen.
Seit Einführung der eidgenössischen Statistik im Jahre 1886
können wir approximativ die grossen Schäden abschätzen, die
durch die ansteckenden Krankheiten entstanden sind. Zur Hauptsache
betrifft es solche, die den Rinderbestand dezimieren, wie
Maul- und Klauenseuche, Rauschbrand, Milzbrand, Tuberkulose
und Abortus Bang. Diejenigen der Schweine, wie Rotlauf und
Pest, des Geflügels, wie Geflügelpest und Cholera, und die der
Pferde, wie die infektiöse Anaemie oder die sporadischen Krankheiten
der Haustiere seien nur nebenbei erwähnt. Auch sie
können zu schweren Verlusten führen.
Die Maul- und Klauenseuche ist eine fieberhafte Virusinfektionskrankheit
der Wiederkäuer, die in der Maulhöhle, an den
Zitzen, an den Klauen, sowie in den Vormägen zu Blasen und
Geschwüren führt. Mitunter ist ihr Verlauf relativ milde, handkehrum
aber kann sie sehr bösartig auftreten und grosse Verluste
bewirken. Sie ist direkt von Tier zit Tier oder indirekt
durch alle möglichen toten oder lebenden Zwischenträger
sehr leicht übertragbar. Infolgedessen kann sie sich rasch über
weite Landesteile ausbreiten, wobei neben den Rindern auch
Schafe, Ziegen und Schweine ergriffen werden. Die wirtschaftliche
Bedeutung der Seuche liegt in ihrer schnellen Ausbreitung,
der starken Einbusse der erkrankten Tiere an Wert und Nutzleistung,
den plötzlichen Todesfällen, und, was die grösste Gefahr
für Neuausbrüche darstellt, der Möglichkeit des monatelangen
Ausscheidens des Kontagiums durch vermeintlich geheilte
Tiere. Ferner beeinträchtigt sie stark den freien Verkehr und
Handel.
Die Verluste, die durch die Maul- und Klauenseuche von
1886-1942 in der Schweiz entstanden sind, belaufen sich auf
rund 600 Millionen Franken. Einzig der Seuchenzug von 1918
bis 1921 verursachte einen Schaden von 350 Millionen Franken.
Die Maul- und Klauenseuche hat den Versuchen zur wirksamen
Schutzbehandlung trotz intensivsten Bemühungen lange
getrotzt. Erst im Jahre 1938 gelang es Waldmann und seiner
Schule auf der Ostseeinsel Riems eine den praktischen Anforderungen
in jeder Hinsicht Genüge leistende Vakzine zu
schaffen, die die damit geimpften Tiere 8-10 Monate lang zu
schützen vermag. Diese Schutzimpfung stellt einen Erfolg dar,
wie er in der Geschichte der Seuchenbekämpfung nur selten
zu verzeichnen ist. Durch sie ist auch für uns die so gefürchtete
Seuche keine beständige Gefährdung mehr, und zwar umso
weniger, als die Schweiz seit dem Jahre 1942 durch die Inbetriebnahme
eines eigenen Vakzineinstitutes in Basel für den Bezug
des Impfstoffes vom Ausland unabhängig geworden ist.
Die Schaffung dieses Institutes wurde nur möglich durch das
Zusammenwirken eines initiativen, wissenschaftlichen Weitblickes
und der Einsicht der Behörden.
Wir haben daher allen Grund, den Hauptförderern des eidgenössischen
Vakzineinstitutes, dem verstorbenen Herrn Bundesrat
Obrecht, dem jetzigen Chef des Eidgenössischen Volkswirtschaftsdepartementes,
Herrn Bundesrat Dr. Stampfli sowie
dem Direktor des Eidgenössischen Veterinäramtes, Herrn Prof.
Flückiger, dankbar zu sein.
Wirksame Vakzinen stehen uns heute auch gegen den
Rauschband zur Verfügung. Es handelt sich bei diesem um eine
bakterielle Infektionskrankheit des Rindes, deren Erreger mit
dem Futter vom Boden bestimmter Weiden und Alpen aufgenommen
werden. Unter fieberhaften Allgemeinerscheinungen
kommt es zur Bildung von gashaltigen, knisternden Entzündungsherden
in der Muskulatur, wobei die erkrankten Tiere
meistens zugrunde gehen. Bis vor wenig Jahrzehnten sind alljährlich
Hunderte von Rindern daran eingegangen. Noch in den
Neunzigerjahren des letzten Jahrhunderts waren einzelne fruchtbare
Alpweiden fast wertlos, weil sie zufolge der Rauschbrandgefahr
kaum bestossen werden konnten. Heute betragen die Verluste
nicht einmal mehr 1 0/00 der gesömmerten Rinder.
Auch gegen den Milzbrand, der schon im 2. Buch Mosis
als eine der Plagen der Aegypter erwähnt ist, besitzen wir heute
wirksame Schutzstoffe. Diese Infektionskrankheit befällt unter
den andern Haustieren vorwiegend das Rind und gefährdet
auch den Menschen. Die moderne Tierseuchenpolizei hat
die Zahl der Milzbrandfälle bei Mensch und Tier stark verringert.
Dazu haben die strenge Desinfektion von Häuten und Tierhaaren
vor ihrer Verarbeitung sowie die zuverlässige Vernichtung
der Milzbrandkadaver und die Schutzimpfung in gefährdeten
Beständen wesentlich beigetragen.
Am meisten wird die Viehhaltung in der Schweiz zur Zeit
noch durch die Tuberkulose beeinträchtigt. Die Schäden, die
die Rindertuberkulose pro Jahr verursacht, belaufen sich schätzungsweise
gegenwärtig auf 20 Millionen Franken. Dabei sind
die indirekten Verluste, die auf verminderter Zucht- und Nutzleistung
beruhen, nicht eingerechnet.
Die Tuberkulose tritt bekanntlich sowohl beim Menschen,
wie bei allen Haustieren auf. Ihr Erreger, der Tuberkelbazillus,
kommt bei den Warmblütern in drei Typen, demjenigen des
Menschen, des Rindes und des Geflügels vor. Diese Varietäten
unterscheiden sich voneinander u. a. durch ihre krankmachende
Wirkung. Der Menschentyp verursacht in erster Linie die Tuberkulose
beim Menschen, kann aber auch auf Tiere übergehen.
Der Rindertyp befällt neben dem Rind auch alle andern Haus-
und Wildsäugetiere und den Menschen. Er scheint nach neueren
Untersuchungen für diesen gefährlicher zu sein als man bisher
annahm. Es liegen zahlreiche Berichte über tuberkulöse, durch
den Rindertyp verursachte Erkrankungen des Menschen vor, ein
Problem, das heute mit im Vordergrund der Tuberkuloseforschung
steht und seiner Wichtigkeit wegen eIner Abklärung
harrt.
Der Geflügeltyp ruft die Hühnertuberkulose hervor, ist aber
auch für andere Tiere, wie namentlich das Schwein krankmachend.
Leider steht uns heute im Kampf gegen die Rindertuberkulose
noch kein wirksamer Impfstoff zur Verfügung, obschon
seit über 50 Jahren eifrig nach einem solchen geforscht worden
ist. Trotzdem oder gerade deshalb setzt die Veterinär-Medizin
ihre Anstrengungen intensiv fort.
Bei uns hat das staatliche Tuberkulosebekämpfungsverfahren
auf freiwilliger Basis durch hygienische Massnahmen und Ausmerzung
der offen tuberkulösen Tiere sehr befriedigende Resultate
gezeigt. Ganze Gegenden, namentlich in den Zuchtgebieten,
sind innert wenig Jahren praktisch von der Rindertuberkulose
befreit worden.
Neben der Tuberkulose ist wirtschaftlich auch der Abortus-Bang
bedeutungsvoll, der unter den Haustieren am häufigsten
beim Rind vorkommt. Bei der weiten Verbreitung dieser bakteriellen
Infektionskrankheit erleidet die Landwirtschaft durch
Verunmöglichung der Nachzucht, Nachkrankheiten der Muttertiere,
Abmagerung, Rückgang der Milchergiebigkeit und Unfruchtbarkeit
Verluste, die sich schätzungsweise jährlich auf
rund 9 Millionen Franken belaufen.
Diese Krankheit ist auch auf den Menschen übertragbar, wo
sie allerdings andere Erscheinungen macht als beim Rind.
Gefährdet sind Personen, die viel mit kranken Tieren in Berührung
kommen, also in erster Linie Tierärzte, Landwirte und
Metzger. Diese beruflichen Infektionen stellen sich meistens
nach dem Kontakt mit infiziertem Material bei Hautverletzungen
ein.
Abortus-Bang infizierte Kühe scheiden die Erreger auch mit
der Milch aus. Deshalb bedeuten Rohmilch und deren Produkte
somit ebenfalls eine gewisse Infektionsgefahr, die indes doch
nicht sehr gross zu sein scheint, indem solche Erkrankungen nur
selten auftreten, neuerdings sogar bestritten werden.
Für die Bekämpfung des Rinderabortus-Bang sind auch noch
keine sicheren Schutz- und Heilverfahren bekannt. Dagegen bietet
nach wie vor die strikte Durchführung von hygienischen
Massnahmen die beste Gewähr zur Eindämmung dieser Seuche.
Abschliessend möchte ich nun noch die neue Forschungsrichtung
erwähnen, die es sich zur Aufgabe macht, die wechselseitigen
Krankheitsbeziehungen zwischen Tier und Mensch besser
als bisher zu ergründen. Zu diesem Zwecke' ist im Jahre
1943 von Aerzten und Tierärzten die Schweizerische Arbeitsgemeinschaft
zur Erforschung und Bekämpfung Mensch und
Tier gemeinsam befallender Infektionskrankheiten gegründet
worden. Damit ist die alte Idee von der wissenschaftlichen
Fruchtbarkeit der Zusammenarbeit von Menschen- und Tiermedizin
neu aufgegriffen worden. Aehnliche Bestrebungen machen
sich neuerdings auch in andern Ländern bemerkbar. Wohl kennen
wir schon eine ganze Reihe von tierischen Krankheiten, die
auch die menschliche Gesundheit gefährden können, wie schon
erwähnt, die Tuberkulose, den Abortus-Bang, den Milzbrand oder
andere, wie den Rotz, den Schweinerotlauf, die Papageienkrankheit,
die Tollwut, oder solche, die durch Ekto- und Endoparasiten
hervorgerufen werden. Aber noch unabgeklärt sind
die Wechselbeziehungen bei andern, durch filtrierbare Vira hervorgerufene
Krankheiten des Zentralnervensystems, wie z. B. die
epidemische Encephalitis oder Schlafkrankheit des Menschen —
und die seuchenhafte Gehirn-Rückenmarksentzündung der
Pferde, oder die epidemische Kinderlähmung — und die Teschenerkrankheit
der Schweine. Sehr wahrscheinlich spielen
dabei Tier und Mensch als gegenseitige Infektionsquelle eine
weit grössere Rolle als wir heute noch ahnen. Diese Probleme
können sicherlich in enger Zusammenarbeit zwischen Arzt und
Tierarzt weitgehend gefördert und vielleicht, so hoffen wir,
zu einer Lösung gebracht werden.
Rückschauend können wir heute erkennen, dass es namentlich
zwei Faktoren waren, die der Tiermedizin den Weg gewiesen
haben, nämlich die Erhaltung des Tierbestandes, der für
die Volkswirtschaft von entscheidender Bedeutung ist und der
Schutz für die menschliche Gesundheit, die durch kranke Tiere
oder deren Produkte gefährdet werden kann. Aus ursprünglichem
Aberglauben und Empirie ist es allmählich auch in der
Tierheilkunde zum biologischen Erkennen der Probleme und zu
wissenschaftlich geleiteter Therapie gekommen. Die Tiermedizin
ist somit zu einem wichtigen Zweig der Volkswirtschaft und
der Wissenschaften geworden, an deren Gedeihen mitzuarbeiten
eine ihrer vornehmsten Aufgaben ist und bleibt.