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Biogene Arzneimittel und biochemische Forschung

Rektoratsrede gehalten an der 111. Stiftungsfeier der Universität Bern

am 17. November 1945
PAUL HAUPT VERLAG BERN
P. Casparis

Alle Rechte vorbehalten
Printed in Switzerland
by F. Graf-Lehmann, Berne

Biogene Arzneimittel und biochemische Forschung

Rektoratsrede von Professor P. Casparis.

Der Umfang und Inhalt der materia medica, des Arzneischatzes, ist stets Wandlungen unterworfen gewesen. Sein Bestand, in früheren Jahrhunderten im wesentlichen aus der Natur geschöpft, hat seit der wissenschaftlichen Vertiefung der Pharmazie und Chemie eine mächtige Bereicherung durch auf künstlichem Wege hergestellte Stoffe erfahren. Das Inventar der materia medica, wie es etwa in einer Landespharmakopöe, einem offiziellen Arzneibuch, seinen Ausdruck findet, zeigt heute ein bedeutsames Ueberwiegen der künstlichen Arzneimittel über die natürlichen. Wenn wir uns in den nachfolgenden Betrachtungen mit letzteren beschäftigen, so wollen wir uns zwecks klarer Abgrenzung bewusst sein, dass es bei den natürlichen Arzneimitteln zwei Gruppen gibt, nämlich die der unbelebten Natur entstammenden, wie manche anorganischen Verbindungen aus dem Reiche der Mineralien und dann die uns hier allein interessierenden aus der belebten Natur, die irgendeinem Lebensprozess im Tier- oder Pflanzenreich ihr Entstehen verdanken, und die wir daher als biogene Arzneimittel bezeichnen wollen.

Es bedarf noch einer zweiten allgemeinen Erläuterung, bevor wir uns unserem engeren Thema zuwenden können. Die im folgenden häufig anzutreffenden Bezeichnungen Arzneistoff und Arzneimittel wollen nicht verschiedene Ausdrücke für den gleichen Begriff sein. Von Arzneistoff wird stets nur gesprochen, wenn darunter ein wohldefinierter Einzelstoff im Sinne eines chemischen Individuums verstanden werden will, während der Begriff des Arzneimittels ein übergeordneter ist im Sinne

eines Mittels, das arzneiliche Wirkung ausüben kann schlechthin. Es kann daher das Letztere auch etwas Uneinheitliches, Zusammengesetztes, Vielfältiges sein, wie etwa eine Arzneipflanze, eine tierische Drüse oder Extrakte aus solchen und ähnliches. Ersteres dagegen ist der aus diesem Naturprodukt isolierte Reinstoff, oder in concreto, Cocain ist ein Arzneistoff, das Cocablatt ein Arzneimittel, das Thyroxin ist Arzneistoff, die Schilddrüse, die es beherbergt, und die ebenfalls medizinisch verwendet wird, ein Arzneimittel.

Wenn wir uns trotz der erwähnten numerischen Unterlegenheit der biogenen Arzneimittel diesen zuwenden, so geschieht es, weil sie in ihrer Entwicklung sehr unterschiedliche Verwendungsursachen und interessante Wandlungen zeigen, die zur Analyse reizen und zur Prognose locken. Da uns aber vornehmlich der Einfluss der biochemischen Forschung auf diese Wandlungen interessiert, binden wir uns bewusst zeitlich an jene Epoche, die mit dem Einsetzen der Biochemie ihren Anfang nimmt. Es versteht sich, dass die wissenschaftliche chemische Erforschung der Lebensvorgänge bei Mensch, Tier und Pflanze und der daraus resultierenden Stoffe einen gewissen Standard der Stammwissenschaften, also der Chemie und Physiologie zur Voraussetzung haben muss. Dementsprechend konnte sie auch nicht wesentliche Erfolge aufweisen, bevor Ende des 18. Jahrhunderts Pharmazie und Chemie, Medizin und Botanik ihre wissenschaftliche Vertiefung erfuhren.

Haben wir auch damit den Zeitpunkt unserer Betrachtungen über den Einfluss der biochemischen Forschung auf den Bestand der materia medica an biogenen Arzneimitteln festgelegt, so mag uns dies doch nicht hindern, durch einen kurzen Rückblick auf die vor ihm liegende Epoche uns den Masstab zu verschaffen, der nötig ist, um Wandlungen überhaupt abschätzen zu können. Man kann die bis in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts hinaufreichende Frühperiode der Verwendung biogener Arzneimittel als jene der Empirie bezeichnen. Sie reicht zurück in jene vor- und frühgeschichtlichen Zeiten, wo dem Menschen überhaupt nur Pflanzen- und Tierreich als Quelle für Arzneimittel zur Verfügung stand, wo er an der frischen oder getrockneten Pflanze und primitiven Zubereitungen daraus und an tierischen Organen

seine Erfahrungen über Heilwirkungen solcher Rohstoffe sammelte, wo in Tempeln des altägyptischen Kulturkreises Priesterärzte diese überlieferten Erfahrungen, bereichert durch eigene, in Schriftzeichen den Papyrusrollen anvertrauten, wo griechische Aerzte und Weise solches empirisch gesammeltes, im therapeutischen Handeln bewährtes Kulturgut an ihre Schüler weitergaben, bis es auch hier, vielfach untermischt mit wirrem Rankwerk abergläubischer und missverstandener Beigaben, seinen Niederschlag fand in schriftlicher Ueberlieferung. Diese empirische Stufe setzt sich fort über das Mittelalter, wo vor allem fleissige Mönche übernommenes Kulturgut des Altertums, und damit auch die Kenntnisse über die Wirkung und Anwendung von ausschliesslich der Natur entstammenden Arzneimitteln zusammentragen, hüten und mehren und mündet ein in die Periode der Neuzeit. Trotz Entdeckung neuer Länder und damit verbundener starker Bereicherung der materia medica mit aus diesen stammenden neuen pflanzlichen Arzneidrogen, trotz Erfindung der Buchdruckerkunst, trotz Jatrochemie des Paracelsus und Phlogistontheorie von Stahl beherrscht weiterhin im wesentlichen die Empirie das Feld der biogenen Arzneimittel und gebiert noch in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts Auswüchse, wie sie die in mehreren Auflagen erschienene, die materia medica ihrer Zeit nicht unbeeinflusst lassende sogenannte "Heylsame Dreckapotheke" des Arztes Kristian Frantz Paullini aus Frankfurt darstellte.

Die empirische Periode der biogenen Arzneimittel ist nicht nur durch die Art, wie man zu deren Kenntnis kam und die primitive Form von deren Verwendung gekennzeichnet, sondern auch durch die während ihrer ganzen Dauer herrschende Anschauung über die Ursache von deren Wirkung. Wenn wir heute diese Frage stellen, so ist es für uns selbstverständlich, dass es gewisse chemisch wohl definierte Einzelstoffe sind, welche die Wirkung einer Arzneipflanzenwurzel oder einer tierischen Drüse im wesentlichen bedingen. In der ersten Zeitepoche der biogenen Arzneimittel dagegen betrachtete man die Droge oder das daraus hergestellte Rohpräparat, wie Absud, Extrakt u. a. m. als ein organisch Ganzes, sofern man überhaupt die Frage nach der Ursache der Wirkung aufwarf. Eine Droge entfaltete eben gewisse

Heileffekte, weil ihr gewisse "Kräfte" innewohnten. An dieser vitalistischen Anschauung, der der Stoffbegriff fremd war, änderte auch der paracelsische Begriff der jedem natürlichen Arzneimittel innewohnenden wirksamen "quinta essentia" wenig, auf jeden Fall nicht im Sinne einer wissenschaftlichen Förderung der Frage. Man vergesse aber nicht, welche Mauern vor der Erkenntnis einer stofflichen Wirkung aufgerichtet waren; man vergesse nicht, dass es noch keine 200 Jahre her sind, seit Lavoisier mit seiner Theorie der Zusammensetzung organischer Stoffe aus Kohlenstoff, Wasserstoff und Sauerstoff erst die Grundlage schuf für eine chemisch- und damit auch biochemisch-wissenschaftliche Betrachtungsweise, und dass zu derselben Zeit uns heute so banal anmutende biogene Stoffe, wie Weinsäure, Zitronensäure und Milchsäure durch den schwedischen Apotheker Scheele erstmals aus pflanzlichem oder tierischem Rohmaterial in reiner Form isoliert wurden.

Damit war die zweite Periode in der Geschichte der biogenen Arzneimittel eingeleitet. Sie mag als jene der Inventarisierung der Wirkstoffe bezeichnet sein.

Die Registrierung von biogenen Arzneistoffen hat im Tier- und Pflanzenreich ganz verschiedenen Umfang angenommen, ganz verschiedene Wege beschritten und zu verschiedenen Zeiten eingesetzt. Es hängt dies zusammen mit dem Inventar an arzneilich verwendeten Rohstoffen. Der Gebrauch tierischer Arzneimittel ist Ende des 18. und während des ganzen 19. Jahrhunderts immer mehr in den Hintergrund getreten. Zur Zeit, als die Chemie zu ihrem Siegeslauf als Wissenschaft ansetzte, war die materia medica zunächst durch Arzneimittel pflanzlichen Ursprungs beherrscht. Wurzeln, Kräuter, Früchte, Samen und daraus hergestellte Extrakte, Tinkturen u. a., längst als Arzneimittel bewährt, standen dem Arzt neben verhältnismässig wenigen mineralischen Produkten für seine Arzneitherapie zur Verfügung. Viele von diesen biogenen Rohstoffen waren bekannt durch ihre eindeutige, oft sehr starke, in gewissen Dosen giftige Wirkung auf Tier und Mensch. Man denke etwa an die heute noch viel gebrauchten pflanzlichen Diuretika und Laxantia, an die Herzmittel der Digitalisgruppe, an das Opium, die Chinarinde, die Tollkirsche, die Wurmmittel des Pflanzenreiches, um nur vereinzelte

herauszugreifen. Was Wunder, wenn die Chemie sich vor allem mit solchen Arzneidrogen beschäftigte, als ihr endlich die Methoden zur Isolierung von Wirkstoffen aus solchen zur Verfügung standen. Die Erkenntnis, dass es chemische Einzelstoffe sind, die auch in Drogen deren Wirkung verursachen, hat ungewöhnlich befruchtend auf diese Bemühungen gewirkt. Der Weg vom biogenen Arzneimittel zum biogenen Arzneistoff war beschritten.

Mit der Entdeckung des Morphiums im Opium durch den Pariser Apotheker Derosne im Jahre 1804 und der Feststellung Sertürners im darauffolgenden Jahre, dass es das schlafmachende Prinzip dieser Droge ist, war eine unter dem Sammelnamen Alkakaloide bekannt gewordene Gruppe von Pflanzenstoffen erschlossen worden, die bestimmt war, unter den biogenen Arzneistoffen eine besonders bedeutsame Rolle zu spielen. Schon in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zeigte deren Inventar einen bemerkenswerten Umfang. Zum Morphium gesellten sich aus dieser Gruppe das Chinin, das Codein, das Cocain, das Atropin und viele andere mehr. Die Bedeutung dieser Alkaloide als Arzneistoffe ergibt sich ohne weiteres aus der Tatsache, dass sie in unserem heutigen schweizerischen Arzneibuch mehr als die Hälfte der biogenen Arzneistoffe ausmachen.

Zu den Alkaloiden gesellten sich sehr bald als markante Gruppe von Wirkstoffen aus pflanzlichen Arzneidrogen die Glykoside, Verbindungen von Nichtzuckern mit Zuckern, die zum Teil ebenfalls starke physiologische Wirkung besitzen, weiterhin jene der Terpene und Polyterpene, vorwiegend aus Drogen mit aetherischen Oelen und Harzen stammend. So wuchs das Inventar jener biogenen Arzneistoffe ständig, deren gemeinsames Merkmal gekennzeichnet ist dadurch, dass es sich um Wirkstoffe von Drogen handelt, deren Bedeutung als Arzneimittel schon vorher bekannt war, und die dementsprechend mehr oder weniger die aus dem Gehäuse des Pflanzenorgans herausgeschälten wirksamen Inhaltsstoffe darstellen.

Diese von einem Arzneimittel mit bekannter Wirkung ausgehende Inventarisierung biogener Arzneistoffe ist noch keineswegs abgeschlossen. Man hat erst in den letzten Jahren und Jahrzehnten gewisse wichtige Alkaloide, Glykoside und andere

biogene Wirkstoffe aus altbekannten Drogen zu isolieren vermocht, nachdem die biochemische Forschung sich vorher schon hundert und mehr Jahre um das Problem bemüht hatte. Hierher gehören etwa die von Stoll und seinen Mitarbeitern entdeckten Mutterkornalkaloide oder die vom gleichen Forscher isolierten Glykoside verschiedener Drogen aus der Digitalisgruppe. Die Ursache für diese oft so spät einsetzenden Erfolge einer sehr langfristigen biochemischen Forschung liegt in der angewandten Methodik. Die Biochemie spiegelt gerade in den ihr bei der Isolierung von Wirkstoffen beschiedenen Erfolgen die Hilfsmittel wieder, die ihr von der Chemie und Physik zugeführt werden, und die in der Hand des geschickten Experimentators zum erfolgbringenden Werkzeug werden. Wenn daher heute die Registrierung biogener Wirkstoffe aus Drogen von bekanntem therapeutischem Effekt noch keineswegs abgeschlossen ist, so mag dies zum Teil auf noch ungenügende Anstrengungen in dieser Richtung zurückzuführen sein; zum anderen aber ist die Unzulänglichkeit der bisher angewandten und vielleicht auch der heute noch zur Verfügung stehenden Methoden daran schuld.

Die Zahl der auf Grund der erwähnten, sehr einfachen Fragestellung aus Arzneidrogen isolierten Wirkstoffe pflanzlicher Herkunft dürfte weit über tausend betragen. Nur ein kleiner Teil davon wird als Arzneistoffe verwendet. Dies hängt teilweise damit zusammen, dass sie aus wenig verwendeten Arzneidrogen stammen, teilweise damit, dass sie nur eine Teilwirkung einer durch die Droge verkörperten Gesamtwirkung darstellen, indem die letztere mehrheitlich durch das Zusammenspiel der Wirkung mehrerer Inhaltsstoffe zustande kommt, und schliesslich zur Hauptsache damit, dass deren technische Darstellung aus der Droge mit derartigen Schwierigkeiten verbunden ist, dass man es vorzieht, die Droge oder ein daraus hergestelltes galenisches Präparat als Arzneimittel an Stelle des isolierten Arzneistoffes zu verwenden. Alle diese Gründe bilden die Erklärung dafür, dass trotz des grossen Inventars an biogenen pflanzlichen Arzneistoffen in den Pharmakopöen deren Zahl verhältnismässig gering ist. Diese Arzneibücher spiegeln aber auch recht illustrativ die Fortschritte wieder, die die biochemische Forschung auf diesem Gebiete macht. So führt die heute in Kraft befindliche

fünfte Auflage des schweizerischen Arzneibuches von über 1000 Arzneimitteln nur etwa 60 biogene Arzneistoffe, davon weitaus die Mehrzahl Pflanzenstoffe genannter Art gegenüber etwas über 30 der 1935 ausser Geltung gesetzten vierten Auflage. Allerdings gibt es noch eine Anzahl von biogenen pflanzlichen Arzneistoffen, die nur in Form von Spezialpräparaten der chemischen Industrie im Handel sind und daher von der Pharmakopöe nicht geführt werden.

Ein mehrfaches der genannten Zahl beträgt jene der vom Arzneibuch geführten pflanzlichen Arzneimittel, die aus schon erwähnten Gründen heute noch Arzneistoffe ersetzen müssen, wenn auch diese bekannt sind. Sie umfasst die Drogen und aus diesen hergestellten zusammengesetzten Präparate wie Extrakte, Tinkturen und anderes.

Solche sogenannte galenische Präparate sind die eigentliche Domäne des Apothekenlaboratoriums. Ihre wissenschaftliche Bearbeitung wird in Instituten und Pharmakopöelaboratorien dauernd verfolgt. Sie werden stets ihre Bedeutung behalten, schon weil die Summenwirkung des Ausgangsmaterials, also der Droge, keineswegs immer durch eine Addition der Wirkstoffe zusammengefasst werden kann, sondern auch an und für sich nicht wirksame Inhaltsbestandteile die Wirkung beeinflussen können.

Wenn wir im Inventar der biogenen Arzneistoffe Umschau halten nach jenen, die aus tierischen Drogen von lange bekannter Wirkung isoliert wurden, so gibt uns auch hier die Pharmakopöe wünschenwerte Auskunft. Sie führt nur ganz vereinzelte tierische Drogen und dementsprechend noch weniger tierische Arzneistoffe, wie etwa das Cantharidin aus spanischen Fliegen, das Pepsin, den Zetylalkohol. Wir werden sehen, dass eine vordrängende Entwicklung dieses Bild grundlegend zu ändern im Begriffe ist.

Mit den in jahrhundertelanger Entwicklung vornehmlich empirisch gefundenen Arzneimitteln und den daraus hergestellten Arzneistoffen haben wir zwei Gruppen biogener Heilmittel umrissen. Ihnen gesellen sich weitere zu, die auf ganz anderem und unter sich verschiedenem Wege der materia medica zugeführt worden sind.

Die biochemische Forschung erschöpft sich nicht im Bemühen der Isolierung biogen entstandener Stoffe aus pflanzlichem und tierischem Material. Sie sieht eine weitere, man darf wohl sagen vornehmere, Aufgabe darin, die Lebensvorgänge chemisch zu erforschen, die im lebenden Organismus ablaufenden Reaktionen aufzudecken, und sie in Beziehung zu setzen zu dessen Funktionen. Diese Forschungsrichtung ist neueren Datums. Zwar hat sie einen ersten Anlauf schon vor hundert Jahren genommen, als der grosse Pionier der Chemie, Liebig, sich mit biochemischen Problemen zu beschäftigen begann. Die durch seinen berühmten Zeitgenossen Wöhler entdeckte erste künstliche Herstellung eines organischen Stoffes hat aber die chemische Forschung für viele nachfolgende Jahrzehnte auf ein anderes Hauptgeleise geschoben, auf jenes der Synthese. Diese Richtung hat zwar den Arzneischatz durch eine Fülle wertvoller und wertvollster künstlicher Arzneistoffe bereichert, aber gerade dadurch, dass der Chemiker sich ihr sehr einseitig zuwandte, die Fortentwicklung der Biochemie stark gehemmt. Erst vor etwa 20-25 Jahren hat die chemische Forschung die Devise "zurück zur Natur" ausgegeben. Aber sie hat ihr Interesse nicht mehr so vordringlich der Isolierung von Wirkstoffen aus lange bekannten biogenen Arzneimitteln zugewandt als vielmehr der Erforschung anderer wichtiger Naturstoffe wie der Kohlehydrate, Eiweissverbindungen, Fette, der Biokatalysatoren u. a. Die parallele Tiefenentwicklung der Physiologie, die Fortschritte der physikalischen Chemie und eine aus der Verfeinerung der Methodik sich ergebende gesteigerte Experimentierkunst, dies alles sind Voraussetzungen gewesen, die im Verein mit den gewonnenen Einblicken in den chemischen Aufbau vieler Naturstoffe den Boden für neue Typen biogener Arzneimittel geschaffen haben. Man hat, wie Hopkins es so treffend sagt, es vielfach verstanden, die Natur gewissermassen in ein Kreuzverhör zu nehmen und die Fragen so an sie zu stellen, dass sie nicht mehr mit einer zweideutigen Antwort entschlüpfen kann.

Ein aus dieser modernen biochemischen Forschung entstandener neuer Typus biogener Arzneistoffe ist jener der körpereigenen Substanzen. Es mag auf den ersten Blick verwunderlich erscheinen, dass ein Stoff, den unser Organismus

selbst zu bilden vermag, imstande sein soll, eine arzneiliche Wirkung auszuüben. Verschiedene Gründe können dafür verantwortlich sein. Ein solcher liegt dann vor, wenn infolge Unterproduktion gewisser Substanzen, die als Bioregulatoren bestimmte Funktionen sicherzustellen und zu koordinieren haben, Ausfallserscheinungen eintreten. Dann kann eine künstliche Zufuhr desselben Stoffes in physiologischen Dosen diese Erscheinungen beheben. Der Stoff wirkt dann heilend, lindernd oder vorbeugend, wird also zum Arzneistoff. Einem wesentlich anderen Verwendungszweck können körpereigene Stoffe dann dienen, wenn sie in höheren Konzentrationen als in den im Organismus üblichen, zur Wirkung gelangen, indem sie dann quantitativ oder selbst qualitativ andere Effekte auslösen können als unter den normalen vitalen Verhältnissen; und schliesslich mag als Beispiel der Fall zitiert sein, wo ein solcher Arzneistoff ausserhalb seines gewohnten Bezirkes im Organismus zur Einwirkung gebracht wird. Ob dieses oder jenes die Ursache der therapeutischen Anwendung eines solchen Stoffes sein mag, so ist in jedem Fall vorauszusetzen, dass man die Rolle kennen muss, die er im gesunden Körper spielt, oder dass man zum mindesten wissen muss, welche Ausfallserscheinungen sein Fehlen hervorruft. Eine zweite Voraussetzung, die erfüllt sein muss, ist die Möglichkeit, das betreffende biogene Arzneimittel aus einer anderen Quelle, als dem menschlichen Organismus zu beschaffen. Glücklicherweise produziert das zum Fleischgrosskonsum des Menschen bestimmte höhere Tier vielfach dieselben körpereigenen Stoffe wie sein Verspeiser und wird dadurch auch zum Arzneimittellieferanten. Ausserdem ist es in manchen Fällen gelungen, sich durch künstliche chemische Herstellung solcher Stoffe von dieser Quelle unabhängig zu machen.

Bei den körpereigenen oder, wie man sie auch etwa nennt, den organotherapeutischen Arzneimitteln ist eine Gruppe besonders eingehend erforscht und wenigstens dem Namen nach auch über die Fachkreise hinaus bekannt geworden, nämlich die der Hormone.

In weitgreifender Begriffsumgrenzung fasst man darunter körpereigene Stoffe zusammen, die Vorgänge im Organismus zu steuern, zu regulieren haben, organische Verbindungen, die der

Organismus dauernd bilden muss, wenn eine normale Tätigkeit gewisser Organsysteme und deren optimale Zusammenarbeit sichergestellt werden soll. Es sind also keine Aufbaustoffe, sondern Bioregulatoren. Daher führt ihr Fehlen zu Ausfallserscheinungen. Ihre Erforschung hat deshalb auch beim Studium dieser Erscheinungen, die in einer besonderen Form schon seit längster Zeit in Gestalt der durch die Kastration bei Mensch und Tier auftretenden Veränderungen bekannt waren, eingesetzt. Von der Exstirpation gewisser Drüsen, zunächst vornehmlich der Sexualdrüsen, führte der Weg über die Drüsenimplantation, über die Darreichung von Drüsenextrakten zur Isolierung chemisch reiner Wirkstoffe. Der erste dieser rein dargestellten Bioregulatoren, das 1901 entdeckte Adrenalin aus der Nebenniere, ist ein besonders lehrreiches Beispiel dafür, wie solche Stoffe auch über den ihnen im lebenden Organismus zugewiesenen Bereich hinaus arzneiliche Wirkungen entfalten können. Es ist zu einem höchst vielseitigen biogenen Arzneistoff geworden.

Die Tatsache, dass viele solche Bioregulatoren in besonderen Organen, den endokrinen Drüsen gebildet und aus diesen ins Blut abgegeben werden, die Möglichkeit, durch Entfernen solcher Drüsen im Tierversuch künstlich Ausfallserscheinungen hervorzurufen, hat nicht nur die physiologische und physiologisch-chemische Erforschung der Bioregulatoren aussergewöhnlich gefördert, sondern auch zur Prägung des klassischen Hormonbegriffes in dem Sinne geführt, dass es sich bei Hormonen um Produkte einer inneren Sekretion mit lokalisierter Bildung in bestimmten Drüsen handelt. In manchen Fällen hat die chemische Analyse Wirkstoffe aus solchen Organen herauszuschälen vermocht, die heute als Arzneistoffe zum Teil unentbehrlich geworden sind. Ausser dem genannten Adrenalin mögen als Beispiele aufgeführt werden das Insulin aus der Bauchspeicheldrüse, ein Arzneimittel, das heute aus der Behandlung der Zuckerkrankheit nicht mehr wegzudenken ist, die wie das Adrenalin in den Nebennieren vorkommenden Hormone Corticosteron und Desoxycorticosteron, das Thyroxin aus der Schilddrüse, die Ovarialhormone Oestradiol und Progesteron. Nicht stets ist man bisher im Bemühen der Isolierung der Reinstoffe erfolgreich gewesen, daher müssen von manchen solchen Drüsen vorerst noch an

Stelle des biogenen Arzneistoffes solchen enthaltende Arzneimittel verwendet werden, die mehr oder weniger gereinigte Teilfraktionen aus solchen Drüsen darstellen, wie dies etwa bei Präparaten aus der Hypophyse, dem Hirnanhang oder jenen aus den Nebenschilddrüsen der Fall ist.

Wo derartige Hormone aus den entsprechenden tierischen Drüsen beschafft werden müssen, werden von letzteren ausserordentliche Mengen benötigt. Dies hängt damit zusammen, dass sie nur Bildungsstätten, nicht aber Speicherorgane sind, indem die von ihnen produzierten Regulatoren fortlaufend durch das Blut an den Ort ihres Bedarfes geführt und Ueberschüsse davon ausgeschieden werden. Einen Begriff von den quantitativen Verhältnissen bekommt man, wenn man erfährt, dass man für die Gewinnung von je 1 kg kristallisierten Hormons die Drüsen von 50000 Rindern beim Adrenalin, 160000 Schweinen beim Insulin, 2,5 Millionen Rindern beim Desoxycorticosteron, 12 Millionen Stieren beim Testosteron und gar 15-20 Milliarden Schweinen beim Oestradiol benötigt oder benötigen würde. Für die Sexualhormone im besonderen lässt sich die Tatsache, dass Ueberschüsse dauernd im Harn ausgeschieden werden, verwerten, um letzteren technisch als Hormonquelle auszuschöpfen. Man versteht, dass der Ausweg über die Synthese, über die künstliche Herstellung auf rein chemischem Wege, der für einzelne Hormone schon beschritten werden konnte, eine grosse Erleichterung in der Beschaffung solcher biogener Arzneistoffe bedeuten kann. Die gestreiften quantitativen Verhältnisse zeigen aber auch, in wie kleinen Mengen solche Hormone eine physiologische Wirkung auszulösen imstande sein müssen.

Die neuere physiologisch-chemische Forschung hat aber auch körpereigene Stoffe kennen gelehrt, die wie die klassischen Hormone Bioregulatoren sind, die wie diese in kleinen und kleinsten Mengen wichtigste Funktionen im lebenden Organismus ausüben und dadurch auch Hormoncharakter haben, die sich aber von den bisher besprochenen darin unterscheiden, dass sie nicht scharf lokalisierte Bildungsstätten, wie die genannten innersekretorischen Drüsen, besitzen, sondern in im Körper überall verteilt sich findenden Geweben wie Muskeln, Nerven u. a. entstehen. Dies macht es nötig, zwischen Drüsenhormonen und Gewebshormonen -

zu unterscheiden. Die letzteren sind weniger durch das Studium von Ausfallserscheinungen als durch jenes der Ursachen normal ablaufender physiologischer Funktionen aufgefunden, oder durch die Abklärung der biologischen Rolle gewisser schon seit längerer Zeit bekannter Stoffe, wie etwa biogener Amine, in ihrer Bedeutung erkannt worden. Es kann nur beispielhaft und in kürzester Form auf solche Gewebshormone, worunter hier solche ausserhalb von bestimmten Drüsen im Organismus gebildete Stoffe im weitesten Sinne verstanden sein mögen, hingewiesen werden. Das Studium von Ursache und Ausbleiben der Blutgerinnung, der Nervenreizleitung und Nervenregeneration, der Muskelkontraktion, gewisser Kreislauferscheinungen u. a. hat gezeigt, wie in solchen Fällen bestimmte chemische Stoffe die Bedeutung von Gewebshormonen besitzen. Wenn auf diesem Gebiete in neuester Zeit Berner Forscher erfolgreich mitgearbeitet haben, so mag dies ein Grund sein, mit besonderer Genugtuung davon Notiz zu nehmen. Wir denken etwa an die Forschungen von Muralts und seiner Mitarbeiter über die Vagusstoffe oder den neuro-regenerativen Wuchsstoff "NR" und an jene Lenggenhagers über den Blutgerinnungswirkstoff Thrombokatalysin. Wenn es gelingt, solche Stoffe in reiner oder gereinigter Form der Therapie zugänglich zu machen, können sie zum körpereigenen Arzneistoff im Sinne geschilderter Gewebshormone werden, wie dies heute schon der Fall ist etwa beim Histamin, Azetylcholin, bei der Adenylsäure und Adenosinphosphorsäure bezw. solche enthaltenden Muskelauszügen, beim blutgerinnungshemmenden Stoff der Leber und dem in dem gleichen Organ enthaltenen zur Behandlung der perniziösen Anaemie benützten Prinzip.

Ueberblickt man die Entwicklung der Organtherapie, so muss man mit einem gewissen Erstaunen feststellen, dass die empirische Verwendung von Fuchslunge, Wolfsleber und mancher anderer tierischer Organe und Rohstoffe schon in der frühgeschichtlichen Medizin doch nicht ganz so abwegig war, wie sie zeitweise erschien.

Die Erkenntnis der zunehmenden Bedeutung körpereigener Stoffe als Arzneimittel muss fast zwangsläufig in jener münden,

dass wir in unserem Körper stets eine Apotheke mitführen, deren Schätze erst zu einem kleinen Teil gehoben sind.

Zum Bestand dieser Apotheke gehört auch eine Gruppe von Arzneistoffen, die ebenfalls durch die biochemische Forschung der letzten Jahre und Jahrzehnte erschlossen worden ist, Substanzen, die wie die bisher genannten körpereigenen, wichtigste Funktionen ausüben, sich aber dadurch ganz wesentlich von diesen unterscheiden, dass sie nicht im Laboratorium des Organismus produziert, sondern dem letzteren von aussen zugeführt werden. Sie sind bekannt unter der Bezeichnung Vitamine. Es handelt sich um chemische Verbindungen, die der Körper nicht selbst synthetisieren kann und die daher mit der Nahrung aufgenommen werden müssen, ohne aber wie die üblichen Nährstoffe Aufbaustoffe zu sein. Man hat sie daher auch als akzessorische Nährfaktoren bezeichnet. Ihre Bildungsstätten sind hauptsächlich Pflanzen. Der Körper benötigt sie in dauernder Zufuhr und verwendet sie in kleinsten Mengen wohl vorwiegend eingebaut in biochemische Gleichgewichtssysteme, wo sie als Bestandteile von Fermenten chemische Reaktionen zu aktivieren haben. Sie sind nicht Bioregulatoren wie die Hormone, sondern Biokatalysatoren. Ihr Fehlen oder ihr Unterangebot stört die genannten Gleichgewichte, wie etwa, um ein Beispiel zu nennen, des Auf- und Abbaues der Zucker, was wieder das Auftreten von Mangelerscheinungen zur Folge hat, die man als Avitaminosen bezeichnet, und die teilweise nicht in ihren Ursachen, aber in ihren Erscheinungsformen schon längst als Krankheiten bekannt sind. Es mögen genannt sein die Skorbut als eine auf Fehlen von Vitamin C, die Rachitis als die auf ein solches von Vitamin D zurückzuführende Erkrankung. Erhöhung der Zufuhr auf die physiologische Norm behebt in der Regel die Mangelerscheinung. Damit wird das Vitamin über die Bedeutung eines zusätzlichen Nährfaktors hinaus zum Arzneistoff. Da man eine Reihe von für den Menschen wichtigen Vitaminen heute künstlich herstellen kann, ist das Problem ihrer Beschaffung im allgemeinen leichter zu lösen als bei den Hormonen. Da andererseits in ihre dauernde Zufuhr durch die Nahrung nur dann eine Bresche gelegt wird, wenn diese, wie etwa in Kriegsverhältnissen, eine starke einseitige Verschiebung erfährt,

so sind Vitaminmangelkrankheiten bei uns nicht so häufige Erscheinungen, wie Erkrankungen infolge von Fehlen gewisser Hormone. Wenn die Vitamine trotzdem therapeutische Bedeutung erlangt haben, so deshalb, weil sie auch bei Krankheiten etwas leisten können, die nicht ursächliche Mangelbeziehungen erkennen lassen. Darüber hinaus mögen sie aber wohl oft auch als Arzneimittel überschätzt und mit mehr finanziellem als therapeutischem Erfolg verwendet werden.

Auch bei der Entdeckung der Vitamine hat die physiologisch-chemische Forschung eine entscheidende Rolle gespielt. Die Feststellung einer Mangelerscheinung als Avitaminose ist vielfach dadurch erleichtert worden, dass es durch systematische Variation der Nahrungskomponenten im Tierversuch gelang, ähnliche Erscheinungen künstlich hervorzurufen. Deren Behebung durch Zugabe gewisser Nahrungsmittel bildete den Indikator für das Vorkommen des Vitamins in diesen. Damit war jeweilen die Quelle erschlossen, aus der die biochemische Untersuchung den Reinstoff isolieren konnte. Man kennt heute rund ein Dutzend Vitamine als Reinstoffe, von denen allerdings einzelne nicht vom Menschen, sondern nur von gewissen Tieren oder Mikroorganismen benötigt werden. Die Erforschung der Vitamine ist sicher nicht abgeschlossen. Einige sind heute erst in ihrer Wirkung oder richtiger gesagt, in Mangelerscheinungen sichtbar. Ihre grosse Bedeutung liegt vorläufig mehr auf dem Gebiete der Ernährungsphysiologie als jenem der Therapie. Daneben sind sie aber als biogene Arzneimittel innerhalb gewisser, noch keineswegs genügend abgeklärter Grenzen eine Stoffgruppe von bemerkenswertem Interesse.

In einer letzten Gruppe biogener Arzneimittel sollen jene zusammengefasst werden, die zur Bekämpfung bakterieller Infektionen, also von Krankheiten, die durch irgendwelche Mikroben verursacht sind, dienen. Seit langem werden Arzneistoffe nicht biogenen Ursprungs in grosser Zahl hierfür verwendet, Stoffe, die die Arzneimittelsynthese seit etwa hundert Jahren in grösster Mannigfaltigkeit zur Verfügung gestellt hat, und die in den letzten Jahren in den Sulfonamiden, wie etwa dem Cibazol und anderen, einen neuen Höhepunkt erreicht haben. Ihr Zweck ist möglichst grosse Schädigung des in den

Körper eingedrungenen Mikroorganismus bei möglichst weitgehender Schonung des erkrankten Organismus selbst. Unter den bisher besprochenen biogenen Arzneistoffen sind nur vereinzelte zu finden, die in dieser Richtung wirken und entsprechende Verwendung finden. Genannt seien etwa das Chinin aus der Chinarinde als Mittel zur Bekämpfung der durch Mikroben verursachten Malaria und das Emetin aus der Brechwurzel als ein solches gegen die Amoebendysenterie.

Bei den noch nicht berücksichtigten antimikrobiell wirkenden biogenen Arzneimitteln lassen sich heute deutlich zwei verschiedene Gruppen unterscheiden. Eine erste umfasst die teilweise schon lange in Form von Sera und Impfstoffen verwendeten Therapeutica, die durch die bakteriologisch-hygienische Forschung in steigender Zahl zur Verfügung gestellt werden. Es handelt sich im wesentlichen um Mittel, bei denen, wie bei einem Serum, die im Tierkörper in erzwungener Abwehr gebildeten Antikörper dem infizierten Organismus zugeführt werden mit dem Zweck, die Infektionserreger damit so zu schädigen, dass sie keine Giftstoffe mehr produzieren können, oder um solche, die, wie bei den Vakzinen oder Impfstoffen, mit Hilfe von lebenden oder abgetöteten Mikroorganismen, mit Extrakten aus solchen oder mit Kulturfiltraten auf dem Wege über die dosierte künstliche Einverleibung krankheitserregender Stoffe den Organismus zur Bildung von Abwehrstoffen veranlassen. Das im einen oder anderen Fall wirkende Agens ist also ein biogener Stoff oder eine Summe von solchen, die entweder im Tierkörper oder im erkrankten Organismus selbst "gezüchtet" wurden. Der Erforschung solcher Antikörper und der von Mikroorganismen abgeschiedenen Giftstoffe haben sich die Bakteriologie und die Biochemie in neuerer Zeit mit beträchtlichem Erfolg zugewandt. Die Forschungen werden sehr erschwert durch die hochmolekulare, wohl vorwiegend eiweissartige Natur solcher Substanzen. Zu chemisch einheitlichen Verbindungen, also zu eigentlichen Arzneistoffen, haben sie bisher kaum geführt. Sie mögen daher im Rahmen dieser Ausführungen auch lediglich gestreift werden.

Eine zweite Gruppe von biogenen Arzneimitteln im Kampfe gegen Infektionskrankheiten ist ganz anderer Art und neuesten Datums. Sie trägt ihr Signet in einem Wort, das in wenigen

Jahren zu einem leider durch vielfach unberufene Propaganda missverstandenen, in breitesten Bevölkerungskreisen auf der ganzen Erde bekanntgemachten Begriff geworden ist, im Wort Penicillin. Dieses ist der Repräsentant einer Reihe von durch die Forschungen des englischen Bakteriologen Fleming und anderer bekannt gewordener Inhaltsstoffe gewisser Schimmelpilze, welche imstande sind, verschiedene Infektionserreger, wie Staphylokokken, Pneumokokken, Meningokokken, Gonokokken und andere mehr, im erkrankten Organismus abzutöten. Das Penicillin ist ein Schulbeispiel für einen Weg, den die moderne biochemische Erforschung von biogenen Arzneistoffen einschlagen kann. Wie oft schon bei bedeutsamen Entdeckungen lässt sich auch hier sagen: am Anfang war der Zufall. Er bestand in einer von Fleming schon 1928 gemachten Beobachtung, dass in einer von einem Schimmelpilz befallenen Bakterienkultur sich die Bakterien aufzulösen begannen. Den Pilz identifizierte Fleming als Penicillium notatum Westling. Er erkannte, dass dieser einen bakteriolytischen Stoff absondern müsse, den er aber erfolglos zu isolieren versuchte. Einige Jahre später nahmen Raistrick und andere Chemiker das Problem der Gewinnung dieses Stoffes wieder auf, ohne indessen mangels genügender medizinischer Mitarbeit ans Ziel zu gelangen. Erst unter dem Zwang der Kriegsverhältnisse gelang einer Oxforder Arbeitsgemeinschaft von Biologen, Medizinern und Chemikern die Isolierung eines Penicillin genannten Stoffes aus künstlichen Kulturen des genannten Penicillium notatum und die Feststellung dessen hoher bakterizider Wirkung auf verschiedene Bakterien. Daraufhin wurde in den Vereinigten Staaten dieser Pilz in einem bisher nicht bekannten Masse gezüchtet und daraus Penicillinpräparate hergestellt, die zunächst in der Armee, später auch bei der Zivilbevölkerung mit epochemachendem Erfolg Verwendung fanden in der Behandlung zahlreicher bakterieller Infektionen. Heute ist die Produktion von einem so grossen Umfang, dass das Penicillin auch anderen Ländern, so auch unserem eigenen, in genügender Menge zur Verfügung gestellt werden kann. Das kriegsbedingte Ausbleiben angelsächsischer Literatur in den letzten Jahren lässt zur Zeit noch ungenügend beurteilen, wie weit dort die Penicillinforschung

gediehen ist. In der englischen Tagespresse wurde bereits eine Strukturformel des Penicillins veröffentlicht. Ob die Synthese, die, wenn industriell durchführbar, von den umständlichen Pilzkulturen unabhängig machen würde, schon gelungen ist, dürfte wohl bald bekannt werden. Was wir zur Zeit wissen, ist, dass der genannte Pilz mehr als einen bakteriziden Stoff produziert, dass auch das Penicillin des Handels nicht ein einheitlicher Arzneistoff ist, sondern ein Gemisch von mindestens drei, die als Penicillin I, II und III oder F, G und X unterschieden werden, dass nach einer in diesem Jahr erschienenen Publikation von Raistrick und Mitarbeitern in der Kulturflüssigkeit von Penicillium notatum Westling auch ein Notatin oder Penicillin B bezeichneter antibiotischer Stoff enthalten ist, der möglicherweise mit dem Penicillin G identisch ist, noch in Verdünnungen von 1: 400 Millionen und darüber hinaus antibakterielle Wirkung entfaltet und ein Ferment, ein Flavoprotein darstellt, das Glukose bei Gegenwart von Sauerstoff zu Glukonsäure oxydiert unter Bildung von Wasserstoffsuperoxyd, welch letzteres dann das bakteriolytische Agens sein würde. Schliesslich wissen wir auch, dass nicht nur Penicillium notatum, sondern auch andere Schimmelpilze solche bakterientötenden Stoffe bilden können, dass also das Penicillin oder die Penicilline nur Exponenten einer ganzen Gruppe von biogenen aus Pilzen stammenden Stoffen sind, die erst den Anfang einer kommenden Entwicklung bedeuten.

Auf eines aber mag in diesem Zusammenhang mit Nachdruck hingewiesen werden. Weder das Penicillin noch andere, zu erwartende biogene Stoffe aus dieser Gruppe sind Arcana, Allheilmittel, wie man gerne geneigt wäre, aus den leider oft ganz ungenügend kontrollierten Mitteilungen der nicht fachlichen Presse in voreiliger, hoffnungsvoller Erwartung zu entnehmen. Ihrem Wirkungsbereich sind Grenzen gesetzt, die nur der Fachmann beurteilen kann. Daher müssen solche Stoffe auch seinen Händen anvertraut bleiben.

Unsere Betrachtung über biogene Arzneimittel müsste eine Lücke zeigen, würden wir nicht noch kurz auf jene hinweisen, die wir als veredelte oder künstlich abgewandelte Arzneistoffe bezeichnen können. Die ausgeprägte physiologische Wirkung

mancher Naturstoffe und die Aufklärung von deren Konstitution durch die biochemische Forschung hat zum naheliegenden Bestreben geführt, solche Stoffe durch chemische Eingriffe in ihrer Wirkung zu verbessern, zu veredeln oder abzuwandeln, denn die Natur produziert ja nicht das therapeutisch Edelste, sondern das für ihren Bedarf Zweckmässigste. Aus solchen Bemühungen sind eine Reihe von Arzneistoffen entstanden, die, aus biogenen Substanzen hergestellt oder wenigstens von ihnen abgeleitet, keine Naturprodukte mehr darstellen, aber therapeutisch grosse Bedeutung besitzen. Hierher gehören manche aus natürlichen Pflanzenbasen hergestellte künstliche Alkaloide, wie das Apomorphin, das Heroin, das Hydrastinin, das Permonid, Partergin, Dicodid, um nur einige Beispiele zu nennen. Einer analogen Entwicklung verdankt das als Präparat 133 von der Firma Wander hergestellte Derivat des schwefelhaltigen Stoffes Thiouracil, über dessen erfolgreiche Verwendung als Mittel gegen die Basedow'sche Krankheit vor kurzem Hadorn berichtet hat, seine Entstehung. Dieser Arzneistoff stellt ein Veredlungsprodukt dar von in Samen des Raps und in anderen Pflanzen vorkommenden auf die Schilddrüse wirkenden schwefelhaltigen Stoffen, wie des Allylthioharnstoffs.

So rundet sich das Bild. Es zeigt, wie aus tastenden Anfängen ein Kapital von Erfahrungen gesammelt wurde, wie aus der Umleitung einer zunächst mehr registrierenden und konstitutiv aufklärenden Forschung auf eine solche über die chemische Dynamik der Lebensvorgänge bei Mensch, Tier und Pflanze bis hinunter zum Mikroorganismus neue Gruppen biogener Arzneimittel erschlossen worden sind.

Das Freilegen der Ursachen, die zu den verschiedenen Kategorien von solchen geführt haben, lässt auch unter Innehaltung gebotener Vorsicht eine Prognose stellen für die künftige Entwicklung. Der Pharmakochemie, der Erforschung der Wirkstoffe und Inhaltsstoffe von Arzneidrogen bleibt ein noch weites Gebiet zur Bearbeitung. Sie wird in Verfolgung und Erweiterung heute schon durchgeführter Untersuchungen über die Zusammenhänge zwischen Stoffwechsel und Wirkstoffgehalt bei der lebenden Pflanze und über die Möglichkeit der Beeinflussung des letzteren durch verschiedenste Faktoren noch mehr als bisher

durch Probleme erweitert werden, die auf phytobiologischem Gebiete liegen. Dadurch müssen auch die Forschungen über aus Drogen hergestellte Arzneiformen gefördert werden. Eine besonders interessante Entwicklung lässt sich voraussehen in der Erforschung jener biogenen Stoffe, die im menschlichen Organismus eine bedeutsame Rolle spielen, seien es Biokatalysatoren, Bioregulatoren oder Abwehrstoffe, und schliesslich wird die Vertiefung unserer Kenntnisse über die Stoffwechselprodukte und Stoffwechselvorgänge der primitiven Lebewesen bis hinunter zu den Bakterien wohl noch manches Wichtige fördern.

Möge sich die Menschheit solcher künftiger Erfolge der Arzneiwissenschaft nicht dadurch unwürdig zeigen, dass sie im Kleinen heilt und im Grossen vernichtet.