Schnee und Firn
BERICHT
über das akademische Jahr
1939/40
DRUCK: ART. INSTITUT ORELL FÜSSLI A.-G., ZÜRICH
INHALTSVERZEICHNIS Seite
I. Rektoratsrede 3
II. Ständige Ehrengäste, der Universität 21
III. Jahresbericht 22
a) Hochschulkommission . . . 22
b) Dozentenschaft 22
c) Organisation und Unterricht 26
d) Feierlichkeiten, Kongresse und Konferenzen . . . 29
e) Ehrenpromotionen 30
f) Studierende 30
g) Prüfungen 32
h) Preisaufgaben 33
i) Stiftungen, Fonds und Stipendien 34
k) Kranken- und Unfallkasse der Universität . . . 36
l) Witwen-, Waisen- und Pensionskasse der Professoren
der Universität 36
m) Zürcher Hochschulverein 38
n) Stiftung fur wissenschaftliche Forschung 40
o) Jubiläumsspende für die Universität 45
p) Julius Klaus-Stiftung 47
IV. Schenkungen 51
V. Nekrologe 54
I.
FESTREDE
DES REKTORS PROF. DR PAUL NIGGLI
gehalten an der 107. Stiftungsfeier der Universität Zürich
am 29. April 1940:
Schnee und Firn
Entwickelt sich aus dem vorwissenschaftlichen Denken ein
wissenschaftliches Begriffssystem, so muss oft mit altgewohnten
Vorstellungen gebrochen werden. Ein nicht geringer Teil der
Schwierigkeit, naturkundliche Erkenntnis in leichtfasslicher
Weise zu übermitteln, beruht letzten Endes auf einer Verschiedenheit
des Inhaltes, den unwillkürlich Laie und Fachmann
dem gleichen, scheinbar eindeutig umrissenen Begriff zuordnen.
Anderseits ist es vielleicht möglich, durch Darstellung der Beziehungen,
die wohlbekannte Gegenstände mit im Bewusstsein
weniger verankerten wissenschaftlichen Problemkreisen besitzen,
jene plastischer zu gestalten und diese dem Verständnis näher
zu bringen.
Schnee und Eis, die unserem Hochgebirge das stille Leuchten
des Sommers und die flimmernde Pracht des Winters schenken,
eignen sich in diesem Sinne zur Einführung in kristallographische,
mineralogische und petrographische Problemstellungen. Sie sind
zugleich in zwiefacher Weise mit dem Beginn der wissenschaftlichen
Erforschung der im festen Aggregatzustand befindlichen
anorganischen Natur verknüpft.
Weder im Altertum noch im Mittelalter ist es gelungen, die
Formenmannigfaltigkeit der leblosen Welt nach irgendwelchen
fruchtbaren Prinzipien zu gliedern. Bei der Betrachtung der
einzelnen Körper überwog das Gefühl, eine schrankenlose, individuelle
Variationsfähigkeit vor sich zu haben. Wissenschaft
aber kann erst entstehen, wenn es gelingt, Parallelismen, Wiederholungen
festzustellen, die ein Ein- und Unterordnen, einen Vergleich,
die Formulierung von Gesetzen ermöglichen. Das schlechthin
Einmalige bleibt unverständlich, die Erkenntnis aber, dass
etwas Gemeinsames das Verschiedenartige verbindet, dass es
möglich ist, den Ablauf eines Geschehens innerhalb gewisser
Grenzen zu reproduzieren, gestattet ein Chaos zu formen, an
Stelle der komplexen Realität den Schematismus einer nur
bedingt wahren, jedoch verständlichen Ideenwelt zu setzen. Als
zu Beginn des 17. Jahrhunderts Johann Kepler die Aufmerksamkeit
eindringlich auf den so häufig wiederkehrenden hexagonalen
Baurhythmus der Schneesterne lenkte, schien zum erstenmal
ein Prinzip, das Symmetrieprinzip, gefunden zu sein, das Gestaltliches
verschiedener anorganischer Individuen verbindet. Allein
wir brauchen nur an die bizarren Formen der Eisblumen am
Fenster zu denken, um zu verstehen, dass sich daneben immer wieder
der Versuch aufdrängte, diese Gestalten mit den mathematisch
unbestimmteren der Organismen zu vergleichen. Die Tendenz
zur symmetriegemässen Wiederholung schien nur in Einzelfällen
durchzuschimmern, ohne beherrschend, d. h. wesentlich zu sein.
Es fehlte der Idee die Durchschlagskraft, da das Auge die Verhältnismässigkeit
der Erscheinungen nicht zu überblicken vermochte.
Die Klarheit des Eises hatte indessen Veranlassung gegeben,
den Begriff Kristall, ursprünglich beschränkt auf das, was wir
heute Bergkristall nennen, gleichfalls mit Schnee und Firn in
engste Beziehung zu setzen; glaubte doch der lange Zeit massgebende
Plinius, Bergkristall sei nichts anderes als Eis, das
durch die starke Kälte des Hochgebirges eine hohe Härte und
Widerstandsfähigkeit erlangt habe. An den einfacheren, kompakt
gebauten Polyedern der Bergkristalle gelang nun dem
Dänen Nicolaus Steno die endgültige Feststellung von etwas
"Überindividuellem, Beharrendem. Indem er sich von einer alles
berücksichtigenden, qualitativen Beschreibung frei machte, fand
er 1669, dass bei verschiedenen Individuen trotz wechselnder
Grösse und wechselndem Aussehen die begrenzenden ebenen
Flächen gleiche Winkel miteinander bilden. Die Tragweite dieser
scheinbar nebensächlichen Beobachtung wurde von ihm sofort
erfasst. Von zufälliger Gestalt konnte keine Rede mehr sein, die
Bergkristalle hatten offenbar während des Wachstums einen ihnen
innewohnenden Formwillen bekundet, d. h. senkrecht zu ganz
bestimmt zueinander orientierten Richtungen ebene Grenzflächen
entwickelt. Bereits Steno machte sich übrigens von der
Anschauung frei, dass zwei so verschiedene Stoffe wie Bergkristall
(d. h. Quarz) und Eis gleichartig seien. Allein eine Übertragung
der bei Quarz gefundenen Gesetzmässigkeiten auf
andere Naturkörper, z. B. auch auf den sechseckigen Schnee, lag
nahe. Ausdrücklich vollzogen wurde sie 50 Jahre später (1719
und 1723) durch den Luzerner Arzt Moritz Anton. Cappeller
(Kappeler), der den Begriff Kristall erweiterte und mit der
gleichen Liebe und Sorgfalt die Morphologie natürlicher und
künstlicher Festkörper studierte. Seine Abhandlung, die erste
bekannt gewordene Cristallographie1), beginnt folgendermassen:
"Die Verwandtschaft von Inhalt und Materie erfordert, dass
ich bei einer Schrift über den Bergkristall auch die übrigen kristallisierten
Körper erwähne, nicht so sehr in physikalischer Hinsicht,
als wenigstens in historischer. Man nennt mit einem übertragenen
oder uneigentlichen Namen jene Körper Kristalle, die
ebenfalls eigene geometrische Gestalten besitzen, wie jener Stein
die seinige, und in Polyedern, von Winkeln oder sonstwie begrenzten
Formen auftreten, oder die dem wirklichen Kristall
durch eine gewisse Durchsichtigkeit nahestehen.
Es schien mir der Mühe wert, eine Aufzählung dieser Körper
zu liefern, soweit das mit meinen geringen Hilfsmitteln möglich
ist, und die verstreuten Angaben darüber in eine gewisse Ordnung
zu bringen; dadurch sollte wie aus einer Tabelle ersichtlich
werden, was die Natur auf dem Gebiet der Geometrie vermag,
ferner sollte daraus die gegenseitige Verwandtschaft einiger
Körper sowie auch die tiefere Natur derselben hervorgehen.
Weiterhin sollten daraus für die Naturphilosophie wie auch für
die Medizin und Pharmazie einige Vorteile entspringen, denn
niemand wird in Abrede stellen können, dass die Übereinstimmung
oder Abweichung der geometrischen Figuren, welche die
Körper durch die Naturkräfte selbst erhalten, auch die Verwandtschaft
oder Verschiedenheit ihrer Eigenschaften und
Wirkungen verraten.
Abgesehen von dem Nutzen, den diese Körper gewähren,
ergötzen sie auch durch ihre kunstvolle und mannigfache, wie
vom Bildhauer hergestellte Gestalt Auge und Geist des Beschauers
aufs angenehmste und regen zum Nachdenken an. Denn
während die zusammengesetzten Figuren von Pflanzen und
Tieren mit soviel Dunkelheit behaftet sind, dass sie von der
Mehrheit der Philosophen zu den unbekannten Wesensformen
gezählt werden, reizen die Kristallformen infolge ihrer grösseren
Einfachheit zu einer genaueren Erforschung an, da die weniger
verwickelte Anordnung ihrer Teile die Hoffnung einflösst, ihre
mechanische Entstehung zu ergründen und aus den an ihnen
befindlichen Linien wie aus physiognomischen Zeichen die Zustände
in ihrem Innern zu erkennen."
Daß er zu den kristallisierten Körpern Eis und Schnee in allen
Formen zählte, mögen folgende Auszüge aus dem Abschnitt über
die Kristallisation beweisen.
"Aber nicht nur mit Hilfe der Wärme, sondern auch durch
Einwirkung der Kälte entstehen in der freien Luft derartige
Kristallisationen, da ja die Wassermoleküle und in der Luft
fliegende Salzpartikel zu figurierten Körpern werden. Unter
ihnen zeichnet sich vor allem der Schnee aus, der fast unzählige
Formen annimmt, nach Massgabe der Verschiedenheit der Kälte,
der Winde und der aus der Atmosphäre übernommenen Ausdünstungen."
Und weiter: "Zu den Kristallen, die sich in der
Luft bilden, gehört ferner der Hagel, der auch im 147. Psalm
unter dem Namen Kristall auftritt.... Hieher muss man endlich
den Reif stellen, der gewöhnlich wie Stacheln und Dörner erstarrt,
und jene Art Eis, die sich aus feuchter Luft auf kalten
Oberflächen, wie es die Glasfenster sind, niederschlägt. ... Die
fünfte Art der Kristallisation tritt ein, wenn die kristallisierenden
Körper an der Oberfläche der Flüssigkeiten in Berührung mit
der Luft erstarren. So ist erstens das Eis, das wie eine Kruste auf
stillstehenden oder nur wenig bewegten Gewässern durch die
Kälte entsteht..... Die sechste und letzte Art der Kristallisation
endlich könnte die sein, wo kein Dampf und keine ruhende
Flüssigkeit verfestigt wird, sondern solche, die noch in Bewegung
ist, wie jene Art Eis, die in rasch fliessenden und bewegten Gewässern
erstarrt; es ist dünn, porös, voll Biegungen, wie aus
Stäben, Trauben und Stacheln, die durcheinander und regellos
unter sich vermischt sind, zusammengewachsen, und ahmt die
Bildungen des Tuffsteins nach, dessen Entstehungsweise es am
ersten erklärt."
So war die Kristallgestalt, die früher ein Naturspiel schien,
in das Zentrum einer morphologischen Wissenschaft gerückt.
Aber mehr als das. Mit der Erkenntnis, dass es vielerlei Körper
gibt, die beim Wachstum gesetzmässige, geometrische Formen
anstreben, wurde das Kristallsein als diejenige Zustandsform der
Materie erkannt, die unsere gesamte anorganische Umwelt
beherrscht.
Gilt der Bergkristall als das Symbol der Unvergänglichkeit,
so sehen wir Schnee und Eis entstehen und vergehen. Durch
dieses verschiedene Verhalten erfuhr von Anfang an die Vorstellung
vom Kristall eine Erweiterung auf breitester Basis. Und
man darf, ohne zu übertreiben, feststellen, dass die im Altertum
eins scheinenden Bergkristalle, Schnee und Eis unserer Alpen
gerade infolge ihrer stofflichen, physikalischen und morphologischen
Gegensätzlichkeit und infolge des Umstandes, dass sie
zuerst von der "Geometrie des göttlichen Architekten"Zeugnis
ablegten, die Kristall- und Mineralienkunde von einer einseitigen
Entwicklung bewahrten.
Mineralogie und Petrographie wollen ja nicht nur eine Stofflehre
sein, in der über die Eigenschaften der unsere Erdkruste
aufbauenden Bestandteile Auskunft erteilt wird. Sie versuchen
das So- und Nichtanderssein der Natur historisch zu verstehen,
die Entstehung der Mineralien und Mineralaggregate zu erforschen.
Gegeben aber sind uns nur die Produkte der Vorgänge,
das Tatgeschehen selbst müssen wir versuchen daraus zu rekonstruieren.
Obwohl wir mit Horace Benedict de Saussure die von
ihm 1779 gestellte Frage: "Ces lois générales du monde physique
n'agissent-elles pas dans nos laboratoires de même que dans les
souterrains des montagnes?"bejahen, wird unsere Arbeit durch
den Umstand erschwert, daß wir die komplexe Natur als etwas
Gegebenes hinnehmen müssen. Will der Physiker und Chemiker
Vorgänge erforschen, so schliesst er von vornherein gewisse
Faktoren aus, um den Einfluss anderer möglichst ungestört
studieren zu können. Er stellt Gesetze für abgeschlossene
Systeme auf, die nur unter bestimmten Voraussetzungen Gültigkeit
besitzen, er zerlegt die Vorgänge in Einzelprozesse und
schafft möglichst ideale Versuchsbedingungen. Das Objekt des
Erkennenwollens des Naturhistorikers aber ist das Produkt vielfach
ineinander greifender Vorgänge, die da waren und die wir
nicht willkürlich vereinfachen dürfen. Das laboratoriumsmässige
Experiment kann, abgesehen davon, dass es nur in verzerrtem
Massstab Erdgeschichte abzubilden vermag, lediglich dazu dienen,
über mögliche Ursachen der Phänomene Aufschluss zu
erteilen. Die Beobachtung der Tatbestände selbst, verbunden
mit einer umfassenden Kenntnis der allgemeinen Gesetze physikalisch-chemischen
Geschehens, muss uns befähigen, im Geiste
eine Neuschöpfung der Erde vorzunehmen, die das Sein als
Gewordenes und Werdendes in das Weltgeschehen einordnet.
Eingedenk dieser Aufgabe, die eine Zusammenarbeit von Methoden
exakter, beschreibender und historischer Wissenschaften
verlangt, halten wir Ausschau nach Mineral- und Gesteinsbildungsprozessen
der Gegenwart, die durch vielfache Wiederholung
und relativ raschen Ablauf als natürliche Grossexperimente
angesehen werden dürfen und unser Urteilsvermögen
stärken.
Nun ist der Vorgang der Kristallisation und Mineralbildung
ein Individualisierungsprozess. Aus dem phänomenologisch ungegliederten,
flüssigen oder gasförmigen Zustand entsteht die
Mannigfaltigkeit des Kristallaggregates. In den äusseren Erdhüllen
gibt es einen Stoff, Wasser, der unter den hier herrschenden
wechselnden Bedingungen sowohl als Gas, Flüssigkeit oder
Kristall auftritt. Der dadurch geschaffene Gegensatz zu den
meisten, bei gewöhnlicher Temperatur viel beständigeren Mineralien
der Erdkruste ist ein so gewaltiger, dass der Laie gar nicht
daran denkt, Schnee- und Eismassen als Gesteine zu betrachten,
die er entstehen, sich verändern, ja vergehen sieht. Wir aber
wollen das tun, um so in das Geschehen unserer anorganischen
Umwelt neue Einblicke zu erhalten.
Die Bildung der Eisdecke eines Gewässers zeigt uns, dass eine
Flüssigkeit oder Schmelzlösung bei der Abkühlung zu einem
kompakten Kristallaggregat erstarren kann. Verknüpfen wir die
Beobachtungen mit solchen aus Vulkangebieten, in denen aus
dem Erdinnern stammendes, glutflüssiges Magma zu Gesteinen
erstarrt, so verstehen wir, dass Kristallisation aus Schmelzflüssen
zu mächtigen Gesteinsbildungen Veranlassung geben kann. Im
besonderen lässt das Studium der Eisdecke erkennen, dass das
einzelne Individuum bei Unterkühlung und plötzlich einsetzender,
von vielen Keimen ausgehender Kristallisation seine Eigengestalt
nicht frei zu entwickeln vermag, dass es jedoch unter
Umständen sich gesetzmässig gegenüber der Abkühlungsfläche
orientiert. Auch unter Berücksichtigung der Eigenart des Wassers
lernen wir beurteilen, wie wichtig für die Geschwindigkeit des
Kristallisationsprozesses der Temperaturgradient, die Menge der
Schmelzmasse, die Art der Konvektionsströmungen sind.
Doch weit eindringlicher kommt uns beim Schneefall der Prozess
der Kristallisation zum Bewusstsein. Hier ist es möglich,
das Wachstum einzelner Kristallkeime oder Kristallkeimgruppen
zum Schneestern oder zur Schneeflocke zu verfolgen, die myriadenfache
Wiederholung eines prinzipiell ähnlichen, im einzelnen
jedoch variablen Vorganges. Unerschöpflich scheint die Formenmannigfaltigkeit
zu sein, so dass nur statistische Untersuchungen
und Beschränkung auf Wesentliches eine gleichbleibende Grundtendenz
der Gestaltung zu erkennen gestatten. Das aber ist ja
gerade die Aufgabe der Wissenschaft, die sich stets aus der Spannung
zwischen Individuellem und typisiertem Gleichartigen entwickelt.
In Abhängigkeit von den Bildungsbedingungen, den besonderen
atmosphärischen Verhältnissen, kann man unterscheiden:
1. vorwiegend nadelige bis prismatische Kristalle, einfach oder
aggregiert;
2. vorwiegend tafelige Kristalle, tafelig senkrecht zu der Richtung,
die bei den nadelig-prismatischen Bildungen Stengelrichtung
ist. Solche praktisch zweidimensionalen Kristalle,
oft mit etwa 1/100 mm Dicke, sind sehr häufig dentritisch
sternförmig entwickelt, meist regelmässig sechswinklig mit
oder ohne Seitenäste, öfters mit kompakter Zentralplatte;
3. komplexe Aggregate, mit gemischten prismatischen und tafeligen
Bauelementen;
4. verrundete Kristalle oder Kristallaggregate, sogenannte Graupeln
und scheinbar formlose Bildungen.
Dem Bergkristall gegenüber fällt die weit grössere Variabilität
sowie die ausgesprochene Neigung zu skelettartigem Wachstum
auf. Nun ist in zweihundertjähriger Forschung bestätigt worden,
was bereits Cappeller aussprach: Die Form der Kristalle, der
Phänotypus, ist aus der kristallinen Struktur, dem Genotypus,
ableitbar unter Berücksichtigung der bei der Kristallisation wirksamen
Milieufaktoren. Der Prozess der Eisbildung ist ein Fixierungsprozess
der starke Kräfte aufeinander ausübenden Wassermoleküle.
Diese ordnen sich in gesetzmässiger Weise zu Sechserringen,
die aneinandergereiht eine wellige, zweidimensionale,
bienenwabenartige Netzstruktur ergeben. Die Netze selbst verbinden
sich senkrecht zur Schicht mit Kräften der gleichen
Grössenordnung, die den Netzverband erzeugen, so dass in erster
Annäherung jeder Molekülschwerpunkt tetraedrisch von vier
anderen Molekülen in kürzesten Abständen umgeben ist. Dabei
ist zu bedenken, daß die Entfernung zweier Molekülzentren nur
2,76 Zehnmillionstelmillimeter beträgt, bis zum sichtbaren
Schneekristall somit ein vielmillionenfacher Aufbau- und Einordnungsprozess
stattfinden muss. Erfolgt dieser Vorgang relativ
langsam und ohne Behinderung, so entstehen ganz allgemein
von ebenen Flächen begrenzte Vollkristalle. Nach dem heutigen
Stande der Forschung ist es bei Kenntnis des strukturellen Baumotivs,
also des Genotypus, möglich, vorauszusagen, was für
Lagen diese Begrenzungsflächen aufweisen können, gelang es
doch, die Regel der Winkelkonstanz, die nur bei genau gleichen
Entstehungsbedingungen für die Flächenbegrenzung einer Kristallart
gilt, zu einem umfassenden Rahmengesetz umzugestalten.
Da. dieses Grundgesetz erlaubt, aus der Kenntnis struktureller
Hauptbindungsrichtungen zwischen den eine Kristallart
aufbauenden Massenteilchen den Gesamtkomplex möglicher
Kantenrichtungen und ebener Kristallflächen abzuleiten, die
unter den verschiedensten Wachstumsbedingungen als Begrenzungselemente
der Kristallgestalten realisierbar sind, ist es eine
der erstaunlichsten. Leistungen der morphologischen Wissenschaft.
Es demonstriert, dass die Milieufaktoren nur innerhalb
einer gewissen Variationsbreite das Eigengestaltliche verändern
können, und es beschreibt diese Variationsbreite. Ja es gelingt
darüber hinaus, in grossen Zügen aus der Struktur eine Rangfolge
der in Betracht kommenden Kantenrichtungen und Kristallflächen
aufzustellen, die mit der Häufigkeit und Persistenz
übereinstimmt, die den einzelnen Begrenzungselementen im
Gesamtbild der Morphologie einer Kristallart zukommt. Schematisiert
gilt, dass die wesentlichen Kantenrichtungen den bei
der Kristallisation massgebenden Bindungsrichtungen korrelat
sind, und dass sich durch vektorielle Zusammensetzung aus ihnen
die Rangfolge der übrigen aussengestaltlich in Erscheinung
tretenden Richtungen bestimmen lässt. Die Hauptflächen der
polyedrischen Gestalt aber gehen möglichst vielen oder den
wichtigsten dieser Grundrichtungen parallel.
Für die Morphologie der Eiskristalle sind die Mittellinien der
Sechserringe der Netzebenen und die vertikal dazu stehenden
Bindungsrichtungen charakteristisch. Die Flächen parallel den
ersteren ist die den Netzschichten entsprechende Basis. Die
Prismen gehen beiderlei Bindungsrichtungen parallel und alle
übrigen je beobachteten Flächen und Kanten folgen als nächstwichtige
Ableitungen aus dem Grundschema. Da strukturell die
sechs Richtungen der Basisnetzebenen mit der vertikalen Bindungsrichtung
kommensurabel sind, vermögen schon verschiedene
Kristallisationsbedingungen einen Wechsel von prismatischem
zu tafeligem Habitus zu erzeugen, wobei es bis heute nur
in Einzelfällen gelungen ist, die habitusbestimmenden Milieufaktoren
scharf zu fassen. Im allgemeinen treten kurze Prismen
bei geringerer Übersättigung auf als dünne Tafeln oder ausgesprochene
Nadeln.
Setzt, was sehr häufig ist, die Kristallisation aus dem Wasserdampf
der Atmosphäre nach erfolgter Unterkühlung plötzlich
ein, so folgt von einem Kristallisationszentrum aus mit grosser
Geschwindigkeit die Angliederung der Molekülketten nach, den
Hauptbindungsrichtungen, z. B. nach den sechs symmetrisch
zueinander stehenden Richtungen der Basisnetze. Die entstehenden
Spitzen fangen die hinzudiffundierenden Moleküle ab.
Weiterwachstum findet nach aussen statt, ohne dass infolge
Behinderung der Stoffzufuhr durch die Spitzenwirkung das
Innere ganz ausgefüllt wird. Es schiessen so an einem Kern sechs
Hauptäste zu einem dendritisehen Schneestern an, Winkel von
60°einschliessend. Nebenäste erster Ordnung können aus diesen
Hauptästen erst herauswachsen, wenn die Spitzen der letzteren
soweit entfernt sind, dass durch Diffusion aus der Umgebung die
kritische Übersättigung im Innern wieder überschreitbar wird.
Die Nebenäste fehlen deshalb in der Nähe des Zentrums. Sie
können auch nur beschränkt wachsen, da sie in den gleichen
Raum vorstossen wie die Nebenäste des benachbarten Hauptastes.
:Durch die ungleichmässige Diffusion und die gegenseitige
Beeinflussung entsteht die grosse Mannigfaltigkeit der Einzelformen.
Der geringste Wechsel in der Übersättigung und Temperatur
bedingt eine Änderung der bildungs- und bestandfähigen
Gebilde innerhalb des durch die Struktur vorgezeichneten Rahmens.
Immerhin gegenüber den Eisblumen am Fenster, bei denen
sich in einer dünnen Niederschlagsschicht flächenhaft der Kristalleinordnungsprozess
von verschiedenen Stellen aus vollzieht,
sowie gegenüber den aus Wassertröpfchen entstehenden Graupeln,
ist die Gestalt entsprechend der grösseren Entwicklungsfreiheit
eine weit regelmässigere, wenn auch durch Vereinigung
verschiedener Keime oder halb ausgewachsener Kristallindividuen
zu Aggregaten die bereits komplexen Schneeflocken entstehen.
Das ist der fallende Schnee bei ruhiger Witterung: ein
Kristallniederschlag von gewaltigem Ausmass. Da es die Schwerkraft
ist, die mit einer durch Form und Grösse der Kristalle
bedingten Fallgeschwindigkeit (von wenigen Zentimetern bis
über zwei Meter Geschwindigkeit pro Sekunde) das Sinken der
Kristalle bedingt, ist der Prozess vergleichbar mit der Ablagerung
oder Sedimentation von Salzen aus verdunstendem Meer-
oder Süsswasser. Wie sich auf dem Grund stehender Gewässer
Gips- und Salzlager bilden, entsteht durch Ansammlung des
fallenden Schnees auf der unruhigen Erdoberfläche die Schneedecke,
ein Kristallaggregat und Gestein wie jene.
Das Gefüge, welches diese vielgestaltigen Kristalle bilden, ist
zunächst sperrig und ausserordentlich locker. Über 90% des
Volumens einer Neuschneedecke ist Hohlraum, erfüllt von Luft,
die mit Wasserdampf gesättigt ist. Das Schneegestein besitzt,
wie man sagt, eine über alle Massen grosse absolute Porosität.
Ein Kubikmeter bei tiefer Temperatur und Windstille gebildeten
Pulverschnees wiegt 50-100 kg, Wildschnee sogar nur 25-50 kg.
Das kann sich schon etwas ändern, wenn, wie so häufig im Gebirge,
während des Schneefalles oder unmittelbar nach der Ablagerung
Wind ein Einrütteln und damit eine dichtere Packung
der hiebei bereits sich verändernden Schneesterne ermöglicht.
An Stelle des Pulverschnees tritt bei Schneetreiben windgepackter
Schnee (1 m3 =100-500 kg). Es entsteht das Windbrett,
oder es bilden sich an Gräten und Hängen Oberflächenformen
(Wächten usw.), die denen von Dünengebieten und Sandwüsten
ähnlich sind.
Merkwürdigerweise haben sich bis vor kurzem die Mineralogen
und Petrographen sehr wenig mit dem durch Schneefall entstandenen
geschichteten Schneegestein selbst befasst. Es ist ein
klassisches Beispiel für die fruchtbare Wechselwirkung zwischen
reiner und angewandter Wissenschaft, dass eine der grössten
Hochgebirgsgefahren, die Lawinenbildung, Veranlassung gab, mit
der vom allgemein wissenschaftlichen Standpunkte aus so ergebnisreichen
Erforschung der alpinen Winterschneedecke zu beginnen.
Den Mitgliedern der Schweizerischen Kommission für
Schnee- und Lawinenforschung und im besonderen dem Sprechenden
ist es ein Bedürfnis, den jungen, von echt wissenschaftlichem
Geist beseelten Mitarbeitern, den Mineralogen, Physikern,
Ingenieuren und Geologen zu danken, die auf der Forschungsstation
Weissfluhjoch in schöner Gemeinschaft solche
Arbeiten durchführen. Mit Freude erfüllt es alle Beteiligten,
dass bereits die ersten Ergebnisse der Studien1) unserer Armee
dienstbar gemacht werden konnten, galt es doch, unsere die
Heimat bewachenden Soldaten vor dem weissen Tod, der im
Gebirgskrieg von 1916 so zahlreiche Opfer forderte, zu schützen.
Erweist sich bereits für die Silikat-, Karbonat- und Salzgesteine
die laienhafte Vorstellung, die einmal gebildeten Kristallaggregate
seien für ewige Dauer geschaffen, als unrichtig,
so gilt das in erhöhtem Masse fur die Schneeablagerungen. Wichtigste
Aufgabe der Untersuchungsstation war es daher, in einer
Synthese von Theorie, Experiment und Naturbeobachtung
Eigenschaften und Veränderung der Schneedecke im Hochgebirge
im Verlaufe eines Winters zu studieren. Die Lockerheit
des Aggregates und die niedrige Schmelztemperatur verlangten
besondere Untersuchungsmethoden, die grösstenteils zuerst auszubauen
waren. Man kann ja von der Schneeablagerung nicht
wie vom Felsgestein ein Handstück in ein tiefer gelegenes Laboratorium
mitnehmen und dort in aller Ruhe zu mikroskopisch
diagnostizierbaren Blättchen von hundertstel Millimeter Dicke
(Dünnschliffe) schleifen. Ein Kältelaboratorium im Hochgebirge
in der für Lawinenbildung wichtigen Höhenlage war notwendig.
Sorgfältig und in ungestörter Lagerung mussten die Proben entnommen
und sofort untersucht werden, eine besondere Technik
der Dünnschliffherstellung, der Korngrössenanalyse, der Raumgewichts-
und Durchlässigkeitsbestimmungen, sowie der Festigkeitsprüfung
musste entwickelt werden. In Versuchsfeldern waren
fortlaufend Profile aufzunehmen und zu Zeitprofilen zu verarbeiten,
damit an Ort und Stelle die Schneedecke und ihre allfällige
Veränderung studiert werden konnte. Sehr bald stund das
Hauptresultat dieser Untersuchungen fest. Schon während des
Schneefalles, besonders jedoch nach erfolgtem Absatz, tritt eine
ausserordentlich weitreichende Umbildung auf, die im Laufe der
Zeit den Charakter der Schneedecke völlig ändert. Das Sediment
wird metamorphosiert, es erhält ein völlig neues Gefüge. In Abhängigkeit
von den die einzelnen Schneefälle und die Zwischenzeiten
charakterisierenden klimatischen Werten tritt eine Schichtung
auf, deren Entwicklung für die älteren Ablagerungen sich frühzeitig
voraussagen lässt und die für die Art der Lawinenbildung
bestimmend ist. Das Studium des Verhaltens der alpinen Winterschneedecke
wird so zum prachtvollsten, unmittelbar verfolgbaren
Beispiel einer Gesteinsmetamorphose, d. h. eines Prozesses,
dem eine grosse Klasse von Gesteinen ihr Aussehen verdankt.
Die erste Ursache der Schneemetamorphose liegt in der
Forminstabilität der durch allzu rasches Wachstum gebildeten
dendritischen Schneekristalle. Sobald der Neuschneekristall abgelagert
und zugedeckt ist, befindet er sich in einer nur im Mittel
an Wasserdampf gesättigten Atmosphäre. Die scharfen Spitzen
und stark gekrümmten Oberflächen halten die Moleküle nicht
fest, diese wandern wieder in den Dampfraum und setzen sich
an anderen Stellen ab. Der Überschuss an Oberflächenenergie
der skelettartigen Formen gegenüber kompakten polyedrischen
Einkristallen macht sich bemerkbar. Eine kinematographisch
verfolgbare Stoffumlagerung im Sinne einer Verkleinerung der
Gesamtoberfläche setzt um so stärker ein, je weniger tief gelegen
die Temperatur ist; nur bei tiefen Temperaturen kann daher
Pulverschnee längere Zeit seine filzige, lockere Struktur beibehalten.
In der Nähe von 0 Grad scheint bis zum Krümmungsradius
von mindestens 100-200 K"