DIE
GEWISSENSFREIHEIT
REKTORATSREDE
ZUR FEIERLICHEN ERÖFFNUNG
DES STUDIENJAHRES
AM 15. NOVEMBER 1940
GEHALTEN VON
ANTON ROHNER O.P.
DAS Prinzip der «Gewissensfreiheit» ist
jedenfalls etwas Großes. Und selbst wenn
es nicht etwas Großes wäre, sondern nur den
Schein des Großen an sich hätte, wäre es doch
etwas Wichtiges und Bedeutsames, da die
ganze moderne Kultur in all ihren Formen auf
diesem Prinzip ruht.
Was versteht man unter «Gewissensfreiheit»?
Wohl die meisten verstehen unter der «Gewissensfreiheit»
das Recht der freien Entscheidung
in den sittlichen und religiösen
Fragen. So genommen ist die «Gewissensfreiheit»
das ursprünglichste aller Grundrechte
des Menschen. Es ist nichts anderes, als das
Recht des Menschen, ein Mensch zu sein.
Soll damit aber der ganze Sinn des Wortes
erschöpft sein, dann ist es schwer verständlich,
daß die Neuzeit so viel Aufhebens von der
«Gewissensfreiheit» gemacht hat und immer
noch macht.
Auch die Nihilisten und Anarchisten berufen
sich auf die «Gewissensfreiheit». Nach ihnen
ist die Freiheit des Gewissens eine Art Vogelfreiheit.
Jeder kann mit dem Gewissen machen,
was ihm beliebt. Der Tor hält sich an das
Gewissen. Der Aufgeklärte dagegen weiß, daß
ihn nichts bindet. Der Vollfreie setzt rücksichtslos
alles durch, was ihm nützlich scheint.
Gegen diese Auffassung der «Gewissensfreiheit»
tritt die gesamte ältere, mittlere und
neuere Ethik auf. Rudolf Eisler 1 zählt ungefähr
hundert verschiedene Definitionen des
Gewissens auf, und alle diese Definitionen
— wie weit sie auch im übrigen auseinandergehen
— stimmen darin überein, daß sie das
Gewissen als Schutzwall gegen egoistische Willkür
und sittliche Anarchie fassen. Damit ist
aber der Sinn der «Gewissensfreiheit» nicht
berührt, denn auch im Mittelalter wurde die
Vernunft des Gewissens gegen die Unvernunft
egoistischer Willkür aufgerufen. Im Mittelalter
aber sprach kein Mensch von der «Gewissensfreiheit».
Die «Gewissensfreiheit» ist
ein Kind des modernen Geistes. Also nicht aus
dem Gegensatz zu individueller Rücksichtslosigkeit,
sondern aus dem Gegensatz zum
«Gewissenszwang» muß die «Gewissensfreiheit»
erklärt werden. Seit den ersten Anfängen der
Neuzeit wurde dem Mittelalter «Gewissenszwang»
vorgeworfen. Man denke an die Inquisition.
Ich lasse mich hier nicht auf historische
oder apologetische Erörterungen ein.
Ich sage nur: Hätte im Mittelalter das Prinzip
des Gewissenszwanges geherrscht, dann wäre
das moderne Prinzip der «Gewissensfreiheit»
diesem Zwange gegenüber im vollen Rechte.
Ich möchte aber hinzufügen: Bei meinem
Studium der Werke des hl. Thomas habe ich
nirgends auch nur die leiseste Andeutung der
Berechtigung des Gewissenszwanges gefunden.
Dagegen betont er konstant die Unmöglichkeit,
das Gewissen zu zwingen; genauer: den Willen
zu zwingen, dem Gewissen zu gehorchen.
Mit dem Gegensatz zum Gewissenszwange
ist aber nur der geschichtliche Ursprung der
modernen «Gewissensfreiheit» in etwa angedeutet.
Sein Sinn ist damit noch nicht festgestellt.
Wo herrscht heute noch Gewissenszwang?
Und doch wird die Fahne der «Gewissensfreiheit»
noch hoch geschwungen. Auch
uns, die wir doch mit dem Geiste des Mittelalters
noch in lebendigem Zusammenhange
bleiben, wirft niemand mehr Gewissenszwang
vor. Und doch hat das Schlagwort der «Gewissensfreiheit»
seine Schlagkraft durchaus
nicht eingebüßt. Es muß also im Worte der
«Gewissensfreiheit» ein Sinn verborgen sein,
den wir bisher noch gar nicht berührt haben.
Was bedeutet also im tiefsten Grunde die
«Gewissensfreiheit»? Dieser tiefste Grund muß
in jenem Punkte gesehen werden, in dem die
Nihilisten, die Positivisten und die Idealisten
in Sachen des Gewissens zusammentreffen. Sie
treffen tatsächlich in einem Punkte zusammen,
wie weit auch ihre ethischen Grundlinien sich
voneinander trennen. Alle drei schwören auf
die «Gewissensfreiheit». Allen dreien ist die
«Gewissensfreiheit» das Allerheiligste ihres
Lebens. Und alle drei verstehen bewußt oder
unbewußt unter «Gewissensfreiheit» die absolute
Autonomie.
Absolute Autonomie ist Unabhängigkeit von
Gott. Das Prinzip der «Gewissensfreiheit» ist
mithin im Verstande der Neuzeit das Prinzip
der Los-von-Gott-Bewegung. Sie sagt Freiheit
vom Zwang und meint Freiheit von Gott. Das
ist das Gemeinsame in der Interpretation der
«Gewissensfreiheit». Dabei darf aber der tiefgehende
Unterschied auch nicht übersehen
werden.
Der rationalistische Idealist ist liberal. Bald
steht er rechts, bald links, bald wirft er sich
ein religiöses, bald ein religionsloses Mäntelchen
um. Er behauptet im Brustton der Überzeugung:
Das Gewissen ist die Offenbarung
des Ewigen im Menschen. Dann fügt er verlegen
hinzu: Das Ewige ist aber nur ein Gedanke.
Also — schließt er — brauchen wir
Gott nicht zu fürchten.
Der Positivist rückt schon weiter von Gott
ab. Seine Ethik lautet: Das Ewige, wie überhaupt
alles Absolute, ist eine Seifenblase. Um
zeitliche Wohlfahrt handelt es sich. Es ist
aber dem Einzelnen nicht wohl, wenn das
bürgerliche Gemeinwesen nicht gesund und
kräftig ist. Also ist das menschliche Gewissen
wesentlich bürgerlicher Art. Zur Bürgertugend
hat das Gewissen den Menschen zu erziehen.
Mehr braucht es nicht.
Der Nihilist endlich ruft offen zur Gottlosigkeit
auf. Er predigt also: Mein Gewissen ist
mein eigenstes Eigentum. Es hat mithin nur
auf mein eigenstes Wohl Rücksicht zu nehmen.
Über mein individuelles Wohl entscheide nur
ich, sonst niemand. Ich will also frei sein von
allem und allen, die mir befehlen wollen, sei
es Gott oder ein menschlicher Gewalthaber oder
sonst jemand.
Der Unterschied liegt also darin, daß der
Positivist — am konsequentesten der Nihilist —
das Gewissen und die «Gewissensfreiheit» aus
dem rein tatsächlichen Leben, der Idealist aus
dem Geistesleben begründet.
Meine Auseinandersetzung mit ihnen sieht
eine doppelte Aufgabe vor sich. Zunächst ist
die Tatsache des Gewissens zu analysieren.
Die beschreibende Analyse der Tatsache des
Gewissens wird ergeben, daß die Stimme des
Gewissens die Stimme des Geistes im Menschen
ist.
In der Ethik des Idealismus verschwimmt
und verflüchtigt sich der Geist. Ihr gegenüber
ist der Beweis zu erbringen, daß der Geist des
Menschen ein wirklicher Geist ist. Dadurch
wird die Einsicht vermittelt, daß die Stimme
des Gewissens die Stimme Gottes im Menschen ist.
I.
Thomas von Aquin spricht von der Autonomie
des Menschen in drei Kapiteln der Summa
contra Gentiles 2. Die Stellung dieser drei
Kapitel ist sehr bezeichnend. Nachdem Thomas
von der göttlichen Vorsehung gesprochen, und
sich anschickt, den Sinn des göttlichen Gesetzes
und der Gnade zu erklären, wirft er — scheinbar
ganz unvermittelt, in Wirklichkeit aber
wohlerwogen — drei Kapitel über die Autonomie
des Menschen zwischenhinein. Gesetz
und Gnade sind eben ohne die Voraussetzung
der Autonomie, d. h. des Gewissens und der
Freiheit des Menschen, sinnlos. Selbst da, wo
der Heilige Geist die unmittelbare Führung
der Seele übernimmt, schlägt er den Weg über
das Gewissen ein. Gott will —nach Thomas —
keine Sklaven, sondern Freie um sich herum
haben.
Wenn von jener Freiheit die Rede ist, der
das Gewissen dient, also von der echten Gewissensfreiheit,
kann man nicht hoch und tief
genug greifen. Der Mensch ist nicht nur frei
in dem Sinne, daß er sich selbst beliebige
Zwecke vorsetzen und die geeigneten Mittel zu
ihrer Realisierung auswählen kann. Diese Art
Freiheit liegt an der Peripherie des Lebens.
Die sittliche Freiheit dagegen hat etwas
Schöpferisches an sich, d. h. sie schöpft aus
der Tiefe des menschlichen Wesens, weil der
Leitstern ihres Handelns aus jener Stelle hervorbricht,
an der der Geist des Menschen
sichtbar wird.
An drei Merkmalen kann man den Geist erkennen
und von allem unterscheiden, was nicht
Geist ist.
Der Geist bleibt bei sich selbst. Innerlichkeit
ist seine Signatur. Der Geist weiß, was er
will. Zielsicherheit ist seine Eigenart. Der Geist
ist einfach. Er behält immer etwas vom Kinde
an sich.
Wenn wir diese drei Eigenschaften am Gewissen
sehen, dann sehen wir das wahre Gewissen,
dann vernehmen wir in der Stimme
des Gewissens die Stimme des Geistes. Nur dieses
Gewissen macht den Menschen sittlich frei.
1. Der Freie bestimmt sich selbst aus seinem
Innern heraus. Je innerer das Prinzip der
Selbstbewegung ist, um so vollkommener ist
die Freiheit, um so höher auch das Gesetz der
Selbstbestimmung. Und darum darf die Selbstbestimmung
nicht mit Entwicklung verwechselt
werden. Wo Entwicklung ist, da ist keine
Freiheit und wo Freiheit ist, da ist keine Entwicklung.
Wo Entwicklung ist, da ist keine
Geschichte, und wo Geschichte ist, da ist keine
Entwicklung. Die Freiheit und die Geschichte
der Freiheit ist Entscheidung und Tat, und
zwar Selbstentscheidung und Selbstbetätigung.
Selbstverständlich ist der Geist des Menschen
nicht der ganze Mensch. Und deshalb ist nicht
alles im Menschen frei. Der Mensch ist auch
ein Stück Natur. Seine Freiheit ist in die verschiedenartigsten
Naturnotwendigkeiten eingebettet.
Aus den mannigfaltigen Fäden, aus
denen das Menschenleben zusammengewoben
ist, ist nur ein Faden frei. Es ist der goldene
Faden, der dem Gewebe des Lebens das spezifische
Gepräge gibt. Und der Goldgrund dieses
goldenen Fadens ist der Geist. Denn der Geist
ist das Innerste im Menschenwesen.
Vom Innersten des Menschenwesens geht die
Freiheit nicht nur aus, zum Innersten im
Menschenwesen geht die Freiheit auch zurück.
Wir befragen im Leben alles, was uns begegnet,
nach dem Sinn. Wir dürfen also auch nach
dem Sinn der Freiheit fragen. Die Selbstbewegung
geht doch nicht ins Blaue. Die
Freiheit wird wohl auch eine Aufgabe zu erfüllen
haben. Worin besteht sie? In der
Selbstverwirklichung. Einer, der sich selbst
bestimmt, hat als Lebensaufgabe nicht eine
Aufgabe außer sich, sondern eine Aufgabe in
sich zu lösen. Der Mensch ist nicht für die
Welt da, sondern für sich selbst, «propter se
ipsum», wie Thomas von Aquin sagt. So
kostbar die äußere Arbeit eines Menschen sein
mag, er darf doch nicht in ihr aufgehen. Sonst
verliert er sich. Und nicht nur er selbst geht
zugrunde, sondern auch das Werk, das er losgelöst
von seinem Innern schafft, ruht auf Sand
und fällt zusammen.
Alle Ordnung ruht auf einem Gesetz; die
äußere Ordnung auf einem äußeren Gesetz, die
innere Ordnung auf einem inneren Gesetz. Die
äußeren Gesetze kann der Mensch machen, soweit
die Ordnung von ihm abhängt. Das innere,
geistige Lebensgesetz kann der Mensch nicht
erfinden. Er muß es entdecken. Und er entdeckt
es im Gewissen. Er kann es nicht erfinden,
weil das sittliche Leben des Menschen
eine unendliche Spannweite hat. In der Unruhe
des menschlichen Herzens liegt dafür der
Erfahrungsbeweis. Das Bild Gottes im Menschen
beweist es a priori: Gott ist unendlich. Also
liegt im Geiste, als dem Ebenbild Gottes, ein
Zug zum Unendlichen. Aus diesem Zug zum
Unendlichen, den wir nicht willkürlich konstruieren,
sondern als innere Tatsache erleben,
geht zugleich mit der Freiheit auch das Gewissen
hervor.
Der Freiheit fällt die Aufgabe zu, die Selbstvollendung
zu erringen. Das freie Selbst wird
angesprochen, wenn das Gewissen sagt: «Du
sollst». Dem Gewissen fällt die Aufgabe zu,
den Willen zu leiten auf dem Wege zum Ziel.
Das Gewissen ist mithin die persönliche Richtschnur
des sittlichen Lebens. Folgt der Wille
der Stimme des Gewissens (des echten und
rechten Gewissens), dann wird der freie Wille
sittlich gut. Und dieser sittlich gute Wille
wird schlechthin sittliche Freiheit genannt,
weil in ihm die Freiheit zum Guten ihre Verwirklichung
findet. Folgt dagegen der freie
Wille fremden Stimmen, die durch das Scheingewissen
sprechen, dann wird der Wille
schlecht, und dann spricht man von sittlicher
Unfreiheit, weil da die Freiheit umgestürzt wird.
Man muß sich aber hüten, die Sache so zu
fassen, wie wenn das Gewissen von Anfang an
der Freiheit das Lebensziel und den Weg dazu
in konkreter Weise und in anschaulicher Form
vorhalten würde. Das trifft in etwa für das
christliche Gewissen zu, in dem das Kind den
Lebenszweck und die Mittel dazu aus dem
Katechismus aufnimmt. Die Vernunft dagegen
bringt es nie zu den Einsichten des
Glaubens. Rein auf sich gestellt, würde das
natürliche Gewissen die natürlichen Grundsätze
des Lebens anfänglich nur ganz verschwommen
auf das konkrete Leben anwenden. Mit dem
Wachstum der Lebenserfahrung und bei konstant
normaler sittlicher Haltung würde dann
mit der sittlichen Freiheit auch das sittliche
Gewissen und mit dem sittlichen Gewissen auch
die sittliche Freiheit von Stufe zu Stufe sich
in die Höhe bilden, ohne den Höchstpunkt
je erreichen zu können.
Gewissen und Freiheit liegen nicht nebeneinander,
auch nicht auseinander, sondern ineinander.
Das Gewissen steckt in der Freiheit
als maßgebender Faktor und die Freiheit
steckt im Gewissen als ausführender Faktor.
Das Gewissen erhebt die Freiheit zur sittlichen
Freiheit, die sittliche Freiheit prägt die Züge
des Gewissens immer schärfer aus. Je mehr
Freiheit und Gewissen im Menschen eins werden,
um so besser ist der Mensch. Je mehr die
Freiheit sich vom Gewissen trennt, um so
schlechter wird der Mensch. Das sind Tatsachen,
und als Tatsachen fundamentale Wahrheiten
der Ethik.
Wenn der freie Wille das Gewissen verloren
hat, kann nur der freie Wille das Gewissen
wiedergewinnen. Wie? Das ist die große
Frage. Jedenfalls kann das nicht durch die
Wissenschaft geschehen. Das Wissen fördert
das Gewissen des Menschen, der es besitzt.
Wer es aber verloren hat, gewinnt es nicht
durch irgend ein Wissen zurück. Die Wissenschaft
— auch die Wissenschaft der Ethik —
ist einem gewissenlosen Menschen gegenüber
ohnmächtig. Es ist nicht möglich, den Nihilisten
praktisch zu widerlegen. Er kann nicht
genötigt werden, einzugestehen, daß er unrecht
hat. Man kann ihn nicht zum Eingeständnis
der Falschheit seines Lebens zwingen.
«Wenn ich die sittliche Pflicht, die mein
Handeln leitet, nicht anerkennen will, so vermag
niemand mir ihre Geltung anzudemonstrieren».
So Heinrich Rickert 3. Er hat
recht, so weit es sich um «andemonstrieren»
handelt.
Aber Gott kann den Gewissenlosen wieder
auf den Weg des Gewissens zurückführen. Und
die Not kann ihn wieder zur Vernunft bringen,
denn wo die Not am größten, da ist Gott am
nächsten. Und der Gute kann den Schlechten
bekehren. Aber nicht durch «Demonstrieren».
Er muß dazu einen bestimmten Weg einschlagen,
den Weg des Gewissens. Der Weg
des Gewissens führt von innen nach oben.
Der Weg des Gewissens beginnt mit der Liebe,
der Liebe zum Guten, in der der ganze Geist
des Menschen ursprünglich investiert ist, in
der die natürliche Solidarität aller Menschen
wurzelt. Mit dem Glauben an das Gute, das
in allen Menschen lebt, mit der Hoffnung auf
das Gute, das in allen, auch den verworfensten
Menschen weiterlebt und so oder so sich regt,
mit der Liebe zum Vollguten, zu dem alle
Menschen mit Naturnotwendigkeit hintendieren,
muß der Versuch einer Sinnesänderung des
Schlechten beginnen.
Der Weg des Gewissens geht von der geistigen
Grundliebe der Menschen zu den Grundsätzen
voran. Die Grundsätze des Gewissens, als
Grundsätze des Lebens, sind nicht kalte, trockene,
schattenhafte, blutleere Sätze, wie sie in
der Schule vorgetragen werden. Sie sind vielmehr
vom warmen Herzblut der Liebe erfüllt.
Wer also auf das Gewissen eines anderen im
guten Sinne einwirken will, muß grundsätzlich
vorgehen. Der Kommandoton muß vermieden
werden. Das «Du sollst» darf nicht vorkommen.
Denn der andere muß ja dahin
gebracht werden, zu sich selbst «Du sollst»
zu sagen. Es darf also nicht vorweggenommen
werden. Die Grundsätze, in denen das «Du
sollst» enthalten ist, müssen mit einer derart
schonenden Liebe ihm nahegebracht werden,
daß das «Du sollst» in ihm aufblitzt, ohne daß
er es eigentlich merkt.
Die allgemeinen Grundsätze schmiegen sich
endlich der individuellen Eigenart der Person
an. Durch diese Verbindung wird das spezifische
Wesen des Gewissens konstituiert. Erst
in dieser Vollendung ist das Gewissen die unmittelbare
Norm der Sittlichkeit. Jeder bessernde
Einfluß auf das Gewissen eines anderen
hat mit dieser Eigenart desselben zu rechnen.
Wer das nicht tut, redet an seinem Gewissen
vorbei. Wer im Besitze eines guten Gewissens
ist, wird auch aus allgemeinen Unterweisungen
Nutzen ziehen. Der Gewissenlose dagegen
findet derlei Reden langweilig und nutzlos.
Der Kontakt von Person zu Person ist aber
voll und ganz nur dann gegeben, wenn der
Gewissenlose aus der Person des Gewissenhaften
das gute Gewissen nicht nur sprechen
hört, sondern aus der Persönlichkeit desselben
das gute Gewissen hervorleuchten sieht. Das
gute Beispiel ist in dieser Sache das Entscheidende.
Die Macht des guten Beispiels
geht weit über alle Kraft der Überredung.
Der Anschauungsunterricht ist auch hier der
beste. Die Rose, die sich selber schmückt, die
schmücket auch den Garten, und der Heilige, der
sich selber heiligt, der heiligt auch die anderen.
Der Unterschied zwischen der echten Autonomie
der sittlichen Freiheit und der unechten
Autonomie der sittlichen Unfreiheit besteht
demnach in erster Linie darin, daß die Autonomie
der sittlichen Freiheit wirklich schöpferisch
ist, d. h. ihr Gesetz aus dem Innern
schöpft, d. h. mit dem Gewissen in kontinuierlichem
Zusammenhange steht, während die
sittliche Unfreiheit unschöpferisch ist, d. h.
vom Gewissen und damit vom Innern sich
immer mehr entfernt und an das Äußere sich
verliert. Dieses Sichverlieren an das Äußere
beschreibt Rudolf Eucken so: «Das Gesamtergebnis
ist also, daß die in der Neuzeit aufsteigende
Bewegung in ihr kein hinlängliches
Gegengewicht findet, daß sie daher mit elementarer
Kraft weiter und weiter vordringen
und was irgend noch Widerstand leistet, auflösen
muß. Unterstützt wird das weiter durch
die rapide Beschleunigung des Lebens von
außen her, welche die neueste Zeit durch den
so viel rascheren Verkehr, die Erleichterung
gegenseitiger Mitteilung, das Zusammendrängen
der Menschen usw. vollzogen hat und immer
noch weiter vollzieht ... Mehr und mehr wird
das Leben ein unablässiger Wandel, ein stets
Fallenlassen und Neuergreifen, ein jeder neuen
Anregung Folgen, ein Dahintreiben mit dem
Strom der Dinge» 4. «Mehr und mehr wird
bei gegenseitiger Zerreibung der Lebensmächte
die Innenwelt zu einem Reich der Schatten
verblassen und es wird nur eine bewegliche,
jeder Anregung nachgiebige Subjektivität verbleiben»
5. «Die eigentümliche Art der Neuzeit
mit ihrer Weite und Universalität, ihrer
aufrüttelnden Gedankenarbeit, ihrer Steigerung
des menschlichen Vermögens, ihrer Befreiung
der Geister mag noch so sehr in Ehren stehen,
es läßt sich nicht übersehen, daß (diese) Entwicklung
mit der Aufrufung aller Kräfte und
der Erweckung unbegrenzter Ansprüche unsägliche
Verwicklungen heraufbeschworen hat» 6.
Wenn die Autonomie im Gewissen verankert
ist, die Heteronomie aber dem Aufgehen
im Äußeren ihre Entstehung verdankt, dann
hat die Neuzeit — nach der Schilderung
Euckens — absolut kein Recht, dem Mittelalter
gegenüber auf ihre Autonomie zu pochen.
2. Das zweite Element, das im Wesen des
Gewissens die echte Autonomie der Freiheit
aufbaut und gewährleistet, ist die Zielsicherheit.
Ein Mensch, der sich nach dem Winde dreht,
ist kein freier Mensch, eben weil er in der
Gewalt der Winde ist. Und auch das ist kein
freier Mann, der in der gleichen Sache bald Ja,
bald Nein sagt, der heute verbrennt, was er
gestern angebetet hat. Ein solches Leben hat
keine feste Vergangenheit und keine ruhige
Gegenwart und keine sichere Zukunft und
darum auch keine Geschichte. Ein solches
Leben zerlegt sich in immer kleinere Stücke,
zerfällt in einzelne Augenblicke, droht ein
Halb- und Scheinleben zu werden.
Anders das Gewissensleben. Das Gewissen
weiß, was es will. Schon in seinem Namen ist
das gewisse Wissen eingeschlossen. Die Weisungen
des Gewissens werden nicht mit hundert
«Wenn» und «Aber» umringt. Es geht gerade
aus. Es ist zielsicher. Sein Imperativ ist kategorisch.
Seine Gebote und Verbote lauten
absolut. Wir müssen Kant dankbar sein dafür,
daß er die Tatsache des Gewissens so klar
gesehen und den Ruf des Gewissens so energisch
verteidigt hat. Er ist dadurch gewiß vielen in
der allgemeinen, fortschreitenden Auflösung
alles Guten in der Neuzeit Retter geworden.
Woher stammt diese Energie des Gewissens?
Wo nimmt das Gewissen den Mut her, so
absolut zu sprechen? Vor dem Gewissen gilt
kein Ansehen der Person. Es sagt allen die
Wahrheit, den Großen und Mächtigen gerade
so gut, wie den Kleinen. Woher kommt diese
wunderbare, alle Menschen überragende Majestät
des Gewissens? Sicher nicht von außen;
ob von oben, das wird erst später ausgemacht
werden. Die nächste Antwort muß lauten:
von innen, d. h. aus dem Wesen des Menschen
entspringt das Gewissen. Und es entspringt in
folgender Ordnung:
Die Natur des Menschen manifestiert sich
nach ihrer geistigen Seite hin als Liebe zum
Guten. Die Liebe zum Guten ist absolut, d. h.
losgelöst von diesem oder jenem Guten, das
nicht das Vollgute ist. Darum zittert in der
Liebe zum Guten ein Sehnen hindurch, das
durch kein Gut und durch nichts Gutes, das
irgendwie begrenzt ist, befriedigt werden kann.
Das Vollgute ist das Letzte und Höchste, auf
das die Grundliebe des Menschen im Aufbau
des Gewissens abzielt. Aber es ist nicht das
Einzige. Alles, was absolut notwendig ist zur
Verwirklichung und Erreichung des Vollguten,
wird vom Gewissen ebenfalls absolut gefordert.
Ehrfurcht vor dem allerhöchsten Guten wird
absolut gefordert, weil ohne diese Ehrfurcht
das Ziel nicht erreicht werden kann. Lieblosigkeit
gegen den Nächsten wird vom Gewissen
absolut verboten, weil dadurch das
geordnete Zusammenleben unmöglich gemacht
und der Weg zum letzten Ziel verlassen wird.
Die Gerechtigkeit wird vom Gewissen absolut
verlangt, weil ohne sie wiederum die menschliche
Gemeinschaft nicht bestehen kann. Die
Lüge wird vom Gewissen absolut verdammt,
weil dadurch das gegenseitige Vertrauen untergraben
und dadurch ein wesentlicher Teil der
Liebe vernichtet wird usw.
Hätte nun die Funktion des Gewissens einen
rein negativen Charakter, dann würde seine
Anwendung der allgemeinen praktischen Prinzipien
auf das konkrete Menschenleben nur
eine Abwendung alles dessen bedeuten, was
absolut zielwidrig wäre. Und die positive
Höherbildung der sittlichen Freiheit wäre in
diesem Falle der Lebenserfahrung überlassen.
So hat Kant die Gewissensfunktion aufgefaßt.
Diese Auffassung ist irrig, denn sie läßt das
Gewissen nur halb und deshalb überhaupt
nicht zur Geltung kommen. Der Inhalt des
Gewissens deckt sich nicht mit dem Inhalt
der allgemeinen praktischen Vernunft. Vielmehr
werden die Lebensgrundsätze, die den
Grundstock des Gewissensinhaltes bilden, durch
die Lebenserfahrung durchsättigt, so daß alles,
was der Person im Laufe des Lebens an Wissen
und Erfahrung zuwächst, in das Gewissen aufgenommen
wird. Und alles, was an Inhalt in
das Gewissen aufgenommen wird, wird in
einer gewissen Ordnung aufgenommen. Das
Gewissen selbst macht einen scharfen Strich
zwischen dem Wesentlichen und Unwesentlichen
in der sittlichen Ordnung. Das Wesentliche
wird kategorisch gefordert. Das Unwesentliche
wird dem Belieben des Einzelnen anheimgestellt.
Es wird nur verlangt, daß es
vernünftig sei. Und weil das Einzelne als
Einzelnes, das Individuelle als Individuelles
in unendlich vielen Variationen auftreten kann,
findet hier die praktische Vernunft einen unendlichen
Spielraum für ihre Betätigung.
Kant meint, wenn einer gewissenhaft leben
wolle, müsse er sich vor jedem Handeln die
Frage stellen: Was würde aus der Menschheit
werden, wenn alle so handeln würden? Z. B.,
was würde aus der Menschheit werden, wenn
alle lügen würden? Hier tritt der rein negative
Charakter der Gewissenstätigkeit klar zutage.
Ein solches Gewissen würde wohl genügen, um
ein Minimum an Sittlichkeit innerhalb der
Menschheit sicherzustellen. Ein solches Gewissen
müßte Grenzwächter der Sittlichkeit
genannt werden. In der Tat aber ist es mehr.
Es ist der persönliche Wegweiser des konkret
guten Wollens, der positive Führer auf dem
Wege zur Vollfreiheit des sittlichen Lebens.
Wenn einer bei seinen Überlegungen, die der
Ordensberufswahl vorausgehen, sich fragen
würde: was würde geschehen, wenn alle Menschen
ins Kloster gingen?, dann wäre seine
Wahl zum vornherein im negativen Sinne entschieden.
Und hätte Bruder Klaus in seinen
Gewissensnöten im Kampf um seinen Einsiedlerberuf
nach kantischem Rezept sich die
Frage vorgelegt: Was würde aus der Menschheit
werden, wenn alle Einsiedler würden, dann
wäre er eben daheim geblieben und aus Vater
Klaus wäre kein seliger Bruder Klaus und
kein Landesvater geworden. Das Gewissen
sagt also dem Einzelnen nicht nur, was für
alle gut ist, sondern überdies auch, was für
mich und für mich allein gut ist. Nicht nur
der allgemeine Mensch mit seinem allgemeinen
Ziele, sondern auch der konkret lebendige
Mensch mit seinem konkret ewigen und zeitlichen
Ziele steht vor dem Gewissen.
Um die Art, wie das Gewissen die Person
im normalen Vollzug des sittlichen Lebens
zur Verwirklichung ihrer Lebensaufgabe führt,
zu verstehen, müssen wir die Wesensstruktur
des Gewissens noch etwas genauer ins Auge
fassen. Das Ineinander von Erkennen und
Wollen, die gegenseitige Bedingtheit von Wissen
und Freiheit und Freiheit und Wissen im
Gewissen haben wir schon früher hervorgehoben.
Nun muß auch noch die Stelle bezeichnet
werden, die dem Gefühl im Gewissen zukommt.
Daß mit dem Gewissen ein Gefühl verbunden
ist, unterliegt keinem Zweifel. Das Gefühl
tritt im Gewissen so stark hervor, daß die
modernen Ethiker fast insgesamt das Gewissen
überhaupt und ausschließlich als Gefühl ansprechen.
Aus der Analyse dieses Gefühles
ergibt sich, daß das Gewissen mit dem Gefühl
der Ruhe und Unruhe, der Freude und der
Trauer arbeitet. Bei näherem Zusehen finden
wir, daß das Gefühl der Ruhe schon im Ursprung
des Gewissens liegt. Das Ursprünglichste
des Gewissens ist die Liebe zum Guten.
In dieser Liebe zum Guten ist die Liebe zur
Wahrheit mitgegeben. Diese absolute Liebe im
Ursprung des menschlichen Geisteslebens ist
absolute Ruhe, Ruhe im Prinzip.
Mit der Bewegung des Lebens beginnt die
Unruhe. Und die Unruhe dauert so lange, als
die Bewegung anhält.
So lange die Bewegung mit dem Prinzip verbunden
bleibt, so lange behält sie ihre Richtung
auf das Volle der Wahrheit und Liebe bei, so
lange ist in aller Unruhe immer Ruhe. Das
Gefühl des Gewissens ist das Gefühl der Ruhe
in der Unruhe des irdischen Lebens. Diese
Ruhe in der Unruhe und diese Unruhe in der
Ruhe hat keiner tiefer gesehen und lebendiger
gefühlt, als Augustinus.
In den ersten Anfängen der sittlichen Bewegung
zum Guten ist der Ruf des Gewissens
ein Ruf der Sorge. Die Unruhe macht sich
stark geltend. Ist die Richtung der sittlichen
Bewegung aber durch die Tugend verfestigt,
dann wird auch der Ton der Gewissensstimme
immer fester und ruhiger. Der vollkommen
Freie aber tut alles Gute aus lauter Freude.
Ihm sagt das Gewissen nicht mehr «Du sollst»,
sondern «Du darfst». Die nächste Richtschnur
seines Lebens ist das Gewissen in der Freude.
Die Freude zeigt ihm die Wahrheit der Freiheit
auf dem Wege zum Glück.
Ganz anders steht es mit dem Gewissen,
wenn der Zusammenhang des Lebens mit
seinem Prinzip zerrissen ist. Dann vollzieht
sich die Lebensbewegung von oben nach unten,
von innen nach außen. Ziellosigkeit und Unruhe,
Haltlosigkeit und beständiges Hin und
Her bilden die Signatur dieses Lebens. Die
Stimme des Gewissens wird immer schwächer.
Schließlich erscheint da, wo das Gewissen sein
sollte, eine leere Stelle. Diese leere Stelle läßt
sich nicht durch etwas anderes ersetzen. Das
Ewige im Menschen ist unersetzbar. So bleibt
dann vom Gewissen nichts anderes mehr übrig,
als eine ewige Anklage.
Auch hier soll uns wieder Rudolf Eucken
schildern, wohin der Mensch kommt, wenn er
einmal von der Los-vom-Gewissen-Bewegung
ergriffen wird. «Die Versetzung des Lebens
in Bewegung erschien mit ihrer Erregung der
Kraft, ihrem Erzeugen immer neuer Bilder,
ihrem Entwerfen immer neuer Ziele, ihren unbegrenzten
Möglichkeiten zunächst als ein
reiner Gewinn, sie schien das Leben in höherem
Grade zu einem eigenen zu machen und den
Menschen sich selbst unvergleichlich näher zu
bringen. Diese Schätzung mag der Einzelne
immer noch festhalten, sofern er, nur auf sein
eigenes Wohl bedacht, sich in den Strom des
Lebens hineinwirft und in ihm weiterzukommen
sucht. .... Aber er wird die innere Leere, die
Sinnlosigkeit dieses Lebens, die Auflösung aller
Zusammenhänge nicht zu verkennen vermögen.
An der (neuzeitlichen) Bewegung sah man bis
dahin nur die eine Seite: das Entstehen von
Neuem in unerschöpflicher Fülle, man sah nicht
die andere: das eben so rasche Verschwinden
und die innere Verflüchtigung, die das Leben
mit solchem Kommen und Gehen erfährt. Ein
Leben bloßer Veränderung kann nicht froh
und sicher in die Zukunft blicken, denn wo
alle beharrenden Ziele fehlen, da liegt die Zukunft,
ihrem geistigen Charakter nach, in
liefern Dunkel, da können wir nicht wissen,
ob der morgende Tag nicht einen völligen Umschlag
bringt»
Der edle Rudolf Eucken hat deshalb Heimatrecht
in meiner Gedankenwelt, weil er so geistvoll
und freimütig die Vernunft des Geistes
gegen die Unvernunft des modernen Kulturlebens
verteidigt und mit einzigartiger Wucht
der Sprache die Autonomie des Geisteslebens
der Scheinautonornie des Subjektivismus und
Naturalismus entgegenstellt. Aber er sucht
das echte, das substantielle, das beisichselbstbleibende
Geistesleben in dunkler Ferne, während
es uns doch so nahe ist. Im Gewissen ist
uns der Geist nahe. Im Gewissen offenbart sich
unser Geist. Das Gewissen ist die Stimme des
Geistes im Menschen. Der Mensch von heute
hat das Gewissen verloren. Nur im Gewissen
kann er den verlorenen Geist wiedergewinnen.
Er hat die Freiheit verloren. Er kann sie
wieder erreichen durch das Gewissen. Am
Gewissen allein rankt sich die sittliche Freiheit
empor, weil das Gewissen das der sittlichen
Freiheit eigens zugeordnete Gesetz ist.
3. Neben der Innerlichkeit und der Zielsicherheit
ist dem Gewissen noch eine dritte
Eigenschaft eigen: die Einfachheit. Auch die
Einfachheit des Gewissens und die Einfachheit
des Gewissens insbesondere ist der Charakterzug,
wodurch die sittliche Freiheit wirklich
autonom ist, wirklich schöpferisch ist, d. h.
wirklich aus dem Eigenen schöpft und schafft
und dadurch als Ausfluß des Geistes sich
offenbart.
Da das Gewissen der Führer des Lebens zur
Höhe der sittlichen Freiheit ist, das menschliche
Leben sich aber außerordentlich zusammengesetzt
und kompliziert erweist, möchte
es scheinen, daß auch das Gewissen verwickelt
sei und zusammengesetzt. Dem ist aber nicht
so. Das Gewissen ist das Einfachste, das
sich denken läßt. Wer es anders faßt, sieht
nicht das Gewissen, sondern etwas anderes.
Kompliziert ist die Philosophie des Gewissens,
nicht das Gewissen selbst. Kompliziert ist das
verwirrte oder irregeleitete Gewissen, aber
nicht das Gewissen selbst. In den verwickeltsten
Lagen des Lebens urteilt das geschärfte Gewissen
mit einer Einfachheit, die an die Einfachheit
des Kindes erinnert. Das ist eine
Tatsache.
Diese Einfachheit des Gewissens will verstanden
sein. Die Weisheit würde sagen: Gott
ist einfach. Das Gewissen aber kennzeichnet
das Ebenbild Gottes. Also ist auch das Gewissen
einfach. Wir möchten aber die Einfachheit
des Gewissens aus dem Wesen des Gewissens
verstehen. Dieses Verlangen ist natürlich.
Es soll also der Beweis gegeben werden.
Jedenfalls darf er nicht kompliziert sein, da das
Einfache nicht durch Verwickeltes bewiesen
werden kann. Der Beweis lautet so: Im Zusammengesetzten
kann nur jenes das Einfache
sein, das sich wesentlich auf das Ganze bezieht.
Das Gewissen aber ist das Auge des Geistes
für das Ganze des Lebens. Also ist das Gewissen
einfach.
Die Liebe zum Guten, die sich im Gewissen
auswirkt, hat es auf das allerletzte und allerhöchste
Ganze des Lebens abgesehen. Die
Grundsätze des Lebens, die die Teilgebiete des
Lebens beherrschen, richten den Blick auf das
Ganze der betreffenden Teilgebiete. So weit
ist das Auge des Gewissens ganz einfach. Von
dieser Seite her kann keine Verwirrung in das
Gewissen kommen. Die Verwirrung kann nur
von der Peripherie des Lebens aus in das Gewissen
eindringen. Die Welt ist ja von von
Herrlichkeiten. Diese Herrlichkeiten üben natugemäß
eine große Anziehungskraft auf den
Menschen aus. Sie sind ja nicht umsonst da,
sie sind für den Menschen da. Daraus entsteht
der große Streit — nicht nur in der Brust des
einzelnen Menschen, sondern auch im Leben
der ganzen Menschheit — zwischen der gemeinen
und der höheren Natur im Menschen.
Das Gewissen vertritt die letztere. In diesem
Streit handelt es sich um die Wahrheit. «Wahr
ist, was wahrt», sagten die Alten. Das Gewissen
hat also vor allem die sittliche Freiheit zu
wahren. Es hat das Gute zu wahren gegenüber
allen äußeren Ansprüchen von Markt und
Mode, eigener Schwäche und fremder Anmaßung.
«Wahr ist, was währt», sagten ebenfalls
die Alten. Das Gewissen hat also das
Bleibende im Leben zu wahren. Der große
Zug, der beherrschende Sinn des Lebens will
vom Gewissen «gewahrt» werden. Und das
geschieht dadurch, daß das Gewissen Gewissen
bleibt und das Ganze nie aus dem Blicke verliert.
Wie in allem, so gibt es auch im Gewissen
Art und Unart. Das Gewissen hat seine Art,
solange es einfach bleibt, und einfach bleibt
es, solange es auf das Ganze schaut. Das
Gewissen wird Unart, sobald es sich in einen
Teil hinein verwickelt und das Ganze des
Guten nicht mehr sieht. Das Gewissen ist der
tiefste Sinn der Sammlung. In der Zerstreuung
verliert sich das Gewissen.
Es gibt Ethiker, die von verschiedenen
Arten des Gewissens reden. Sie sagen: Es
gibt so viele Arten des Gewissens, als es Arten
der Lebensbetätigung gibt. Sie sprechen von
einem wissenschaftlichen, einem künstlerischen,
einem medizinischen, einem juristischen, einem
politischen, einem wirtschaftlichen, einem landwirtschaftlichen
Gewissen. Bei einem dieser
Ethiker ist sogar die Rede von einem Bienenzüchtergewissen.
Und alle diese Arten von
Gewissen stellen sie dem sittlichen Gewissen
gegenüber. Das ist aber eine Verwechslung
von Sachen, die bei einem zünftigen Ethiker
nicht vorkommen sollte. Sie unterscheiden
nicht zwischen praktischem Sinn und praktischem
Sinn. Unter allen Arten von praktischem
Sinn ist nur einer, der auf den hehren
Namen des Gewissens Anspruch machen darf,
der praktische Sinn für das Sittliche. Der
praktische Sinn für das Sittliche wird dadurch
praktischer Sinn für das Sittliche, daß er im
lebendigen Zusammenhang mit dem Letzten
und Höchsten des menschlichen Lebens steht.
Hier liegt der Unterschied zwischen sittlichem
und untersittlichem Gebiet. Der Sinn für das
wirtschaftliche und praktische Leben, der Sinn
für juristische und medizinische Betätigung,
der Sinn für Wissenschaft und Kunst kann
ohne Rücksicht auf die sittliche Ordnung hoch
und fein ausgebildet werden. Ein Techniker,
ein Ökonom, ein Politiker, ein Jurist, ein Mediziner,
ein Künstler, ein Gelehrter kann jeder
auf seinem Gebiete etwas Großes leisten,
ohne daß er dabei die sittliche Ordnung berührte.
Das geschieht dann, wenn er die positiven
Gesetze, die auf seinem Gebiete gelten,
auf meisterhafte Weise handhabt. Ja, es kann
ein sittlich schlechter Mensch ein großer
Dichter, ein hervorragender Politiker, ein glänzender
Redner, ein ausgezeichneter Forscher
usw. werden. Die großen Leistungen eines
solchen Menschen sind und bleiben wertvoll,
trotzdem sie nicht in den Vollwert des Lebens
eingestellt sind, obgleich ihr Wert nicht voll
ausgewertet ist. Der schlechte Mensch ist nur
ein Bruchteil eines Menschen. Deshalb sind
die Werke des schlechten Menschen nur Bruchstücke
des Guten. Sie sind aber wertvoll für
die Gesamtheit der Menschheit, weil sie durch
das Gewissen der sittlich Guten dem Ganzen
des Lebens dienstbar gemacht werden können.
Von der Geschichte aus gesehen, ist tüchtige
Berufsarbeit nie verlorene Arbeit. Denn sie
kann früher oder später, so oder so, von diesem
oder von jenem zum Aufbau des Ganzen verwendet
werden, obschon sie dem Urheber
nicht zum Heile war. Nur der ganze Mensch
kann ein Ganzes schaffen. Ein ganzer Mensch
aber wird man durch das Gewissen. Deshalb
gibt es nur ein einziges, einfaches, unteilbares
Gewissen. Und das ist das sittliche Gewissen.
Von verschiedenen Arten des Gewissens könnte
man eventuell nur in dem Sinne sprechen, als
das eine sittliche Gewissen, auf den sittlichen
Grundlagen der Sondergebiete des Lebens
fußend, diese mit dem Vollganzen des Lebens
in Einklang bringt.
Aus solchen Überlegungen heraus haben
Aristoteles und Thomas von Aquin in der
Tugendlehre eine doppelte Klugheit unterschieden:
eine intellektuelle und moralische
Klugheit. Der spezifische Akt der sittlichen
Klugheit ist das Gewissen. Der spezifische Akt
der intellektuellen Klugheit dagegen ist die
Ausbildung des praktischen Sinnes auf den
Teilgebieten des Lebens, wozu der schlechthin,
d.h. sittlich gute Wille nicht vorausgesetzt wird.
Der tiefste Sinn des Gewissens drückt sich
mithin in dem Satze aus: Das Gewissen ist
der Sinn für das Ganze des Guten, soweit es
in der Person des Menschen verwirklicht ist.
Daraus ergeben sich drei Folgerungen: Erstens,
der Mensch und die Menschheit folgen nur
insofern dem Gewissen, als sie das große Ganze
des Guten nie aus dem Auge verlieren. Zweitens,
jeder neue Aufschwung des Lebens muß mit
einer Gewissenserneuerung beginnen. Denn
der Anfang jeder Reform ist die Reform des
Anfanges. Das Leben aber beginnt mit dem
Ganzen im Gewissen. Drittens, Zweifel und
Verwirrung des Gewissens werden am sichersten
behoben durch eine gründliche Hinkehr des
Willens zum Höchsten des Lebens. Denn die
Verwicklungen des Gewissens kommen von
außen, nicht von innen. Sie werden also
beseitigt durch die Rückkehr zum Zentrum
des Lebens, zum Gewissen. Si oculus tuus
simplex est, totum corpus erit lucidum. Wenn
das Gewissen einfach ist, dann ist das Ganze
des Lebens von strahlender Schönheit. Und
die sittliche Freiheit wächst wunderbar in die
Höhe.
Und umgekehrt: Wer den Weg des Gewissens
verläßt, wird kompliziert und sein Leben wird
verschlungen vom Strudel der Welt. Wir
geben nochmals Rudolf Eucken das Wort: «Dem
Hauptstrom der (heutigen) Menschheit sind
jene inneren Zusammenhänge (mit dem Ganzen)
mehr und mehr verschwunden, und zugleich
ist der Mensch ein bloßes Stück einer gegebenen
und innerlich geschlossenen Welt geworden,
die ihn von allen Seiten umklammert und einengt.
Für einen Begriff der Persönlichkeit gibt
es dort kaum einen Platz, und man sieht nicht,
wie die Individualität als bloße Naturbesonderheit
einen Wert zu behaupten vermöchte. Erhalten
die Begriffe sich dennoch, fordern und
finden sie für sich die alte Schätzung, so ist
ein Aufwuchern hohlen Phrasentums und eine
innere Unwahrhaftigkeit des Lebens nicht zu
verhüten. Bei fehlender Gegenwirkung wächst
immer mehr die Gefahr, daß unser Leben eine
sichere Grundlage verliert und schließlich in
leerer Luft schwebt, daß wir die Folge bejahen,
wo wir den Grund verneinen. Ja nicht einmal
bei sich selbst vermag bei solcher Wendung
die menschliche Seele eine Einheit zu bleiben,
vielmehr muß sie sich in ein Neben- und Durcheinander
einzelner Vorgänge verwandeln, und
diese werden beim Fehlen aller Umbildung
aus einer überlegenen Einheit immer mehr eine
sinnlich gebundene Art annehmen, der Mensch
wird schließlich ein bloßes Bündel sinnlicher
Erregungen, Empfindungen, Antriebe» 8.
II.
Bisher ging mein ganzes Bemühen dahin,
den Nachweis zu erbringen, daß das Gewissen
aus unserem Geiste stammt und für die richtige
Ausbildung des Geisteslebens da ist. Der
Naturalismus ist solchen Ausführungen gegenüber
blind. Er ist unfähig, den Geist — weder
im Einzelleben noch in der Geschichte — zu
sehen. Das Entwicklungsgesetz beherrscht alles.
Das Prinzip der geschlossenen Naturkausalität
umfaßt auch das Menschenleben. Das Menschenleben
ist nur eine feinere Nuance des Naturgeschehens.
Alles — absolut genommen, d. h.
ohne Ausnahme —ist relativ. Was wir Gewissen
nennen, ist ein Produkt der Geschichte. Es
wechselt nach Raum und Zeit und Sitte und
Umgebung. Der oberste Moralsatz des Positivismus
heißt: «Gut ist, was mir oder meinem
Volke nützt, schlecht ist, was schadet». Die
Metaphysik des Sittlichen wird in eine Physik
des Sittlichen umgemodelt.
Ich gebe mich nicht der Hoffnung hin, mit
meinem Nachweis des Satzes: Das Gewissen
ist die Stimme des Geistes im Menschen, den
Naturalismus und Positivismus bekehren zu
können. Denn ich habe es noch nicht so weit
gebracht, Blinde sehend zu machen.
Anders steht es mit dem Idealismus. Er
bekennt sich zum Geistesleben. Er ist der
festen Überzeugung, daß im Gewissen der Geist
sich offenbart, daß es allgemeingültige Werte
gibt, die vom individuellen Subjekt unabhängig
sind, daß in der Stimme des Gewissens absolute
Werturteile sich vernehmen lassen, daß im
kategorischen Imperativ die sittliche Pflicht
uns zum Bewußtsein kommt, daß im Menschenwesen
Ideale aufleuchten, die das Reich der
physischen Natur himmelhoch überragen, daß
also in unserem Inneren Leitsterne sichtbar
sind, nach denen sich das Leben zur Höhe der
sittlichen Freiheit emporführen läßt. Deshalb
konnte ich im Vorausgehenden wiederholt den
Idealisten Rudolf Eucken als Zeugen für die
Wahrheit meiner Behauptungen heranziehen.
Der Idealismus aber bleibt beim Idealen
stehen. Er dringt nicht zu jenem höheren
Realen vor, in dem das Ideale zu allerletzt
verankert werden muß. Er hört in der Stimme
des Gewissens nicht die Stimme Gottes. Mit
einer Einstimmigkeit und Hartnäckigkeit sondergleichen
widersetzt er sich dem Satz: Das
Gewissen ist die Stimme Gottes.
Paulsen, der auf der Grenze steht zwischen
Positivismus und Idealismus, sagt: «Besteht
man darauf, als Theismus nur eine solche Anschauung
gelten zu lassen (welche Gott als
Persönlichkeit der Welt gegenüber auffaßt),
dann wird es schwer sein, denen zu widersprechen,
welche behaupten, die Wissenschaft
führe zum Atheismus» 9.
N. Hartmann, der bedeutendste idealistische
Ethiker der Gegenwart, behauptet: «Sittliches
Wesen ist weder Gott noch der Staat, noch
sonst etwas in der Welt, sondern einzig der
primäre Träger der sittlichen Werte und Unwerte,
der Mensch» 10.
Wir müssen demnach unsere Untersuchungen
noch weiter führen und den Beweis erbringen,
daß im Gewissen durch die Stimme des Geistes
hindurch sich die Stimme Gottes vernehmbar
macht.
Die Problemlage ist die: Nach dem Idealismus
ist ein Zweifaches gegeben: Der Mensch
in der Wirklichkeit und der Mensch in der
Idee, der empirische Mensch und der Idealmensch,
das Individuum der Gattung Mensch
und das Sittengesetz als Inbegriff aller idealen
Werte des Menschen. Aus diesen beiden Elementen
sucht der Idealismus die sittliche Freiheit
des Menschen ausschließlich und restlos
aufzubauen. Das sittliche Leben soll rein
immanent erklärt werden.
Daraus ergeben sich zwei Fragen: Erstens,
kann das wirkliche sittliche Leben aus diesen
beiden Stücken verstanden werden? und
zweitens, ist das wirkliche sittliche Leben derart
innerhalb des menschlichen Kreises eingeschlossen,
daß gar kein wesentlicher Hinweis
auf Gott darin sichtbar wäre?
Der erste Schritt zur Verständigung dürfte
in folgender Überlegung liegen: Was wirkt,
ist wirklich. Das Gewissen wirkt. Also ist das
Gewissen wirklich. Der Idealismus hat nichts
gegen diesen Syllogismus einzuwenden. Er erklärt
den Schluß so: Das Gewissen ist Gewissen
durch den objektiven Gehalt, der in ihm in
Erscheinung tritt, und das Gewissen ist wirklich
durch die Wirklichkeit des Subjektes, in
dem der ideale Inhalt verwirklicht wird. Das
Gewissen ist ja nicht eine rein objektive und
nicht eine rein subjektive, sondern eine objektiv-subjektive
Norm des Lebens.
In der Sprache sind wir einig. Tatsächlich
ist das Gewissen eine Synthese des Allgemeinen
und des Einzelnen, des Idealen und des Realen,
des Objektiven und des Subjektiven, des Abstrakten
und des Konkreten, der Ordnung der
Intention und der Ordnung der Exekution.
Vielleicht aber sagen wir wohl das Gleiche,
meinen aber dabei ganz Verschiedenes. Das
kommt nicht selten vor. Wir müssen also
unsere Aufmerksamkeit dem Sinn der Worte
zuwenden. Was versteht der Transzendentalist
unter dem Wort Subjekt? Ich nehme vorläufig
an, daß wir unter dem Wort Objekt das Gleiche
denken. Versteht er unter den Akten des Erkennens,
Wollens und Fühlens, soweit sie vom
Subjekt ausgehen, etwas Geistiges, d. h. etwas,
dessen Existenz die Existenz der physischen
Welt transzendiert oder nicht? Die Frage ist
berechtigt. Es handelt sich ja um das Subjekt,
dessen Wirklichkeit das Objekt verwirklichen
soll. Die einmütige Antwort des Idealismus lautet:
Nein. Der Satz Kants: Wirklich ist, was
mit den Empfindungen zusammenhängt, ist für
den Idealismus unantastbar. Er leugnet die
persönliche Substanz, also auch die geistigen
Vermögen, also auch die Geistigkeit der persönlichen
Akte. Der Anteil also, der dem Subjekt
im Zustandekommen der objektiv-subjektiven
Norm des Gewissens zufällt, ist animalischer
Art. Das «Du» im «Du sollst» ist das Animal
im Menschen.
Nun entsteht die Frage: Kann die ratio mit
ihren idealen Inhalten dem animal Befehle erteilen?
Kann das objektive Denken ein solches
Subjekt in die Höhe bringen? Man denke nur
einmal an einen Herrn und seinen Hund. Mit
idealen Weisungen richtet er nichts aus. Er
wird seinen Hund durch den Stock und den
Wurstzipfel sich gefügig machen. Das Subjekt
und das Objekt des Gewissens müssen — wenn
anders eine denkbare Einheit sich daraus ergeben
soll — auf der gleichen Höhe stehen.
Mit anderen Worten: Nur ein wirklich geistiges
«Du» ist für ein ideales Sollen empfänglich.
Die Frage nach dem Objekt, die wir oben
zurückgestellt haben, drängt sich nun ebenfalls
auf. Ist das ideale Objekt, von dem das ideale
Sollen ausgeht, wirklich oder nicht? Kant war
in seiner Antwort noch unsicher. Auf der
einen Seite fühlte er die Wirksamkeit des
Sittengesetzes in seiner eigenen Brust sehr lebhaft.
Auf der anderen Seite verhinderten ihn
die Voraussetzungen seiner Philosophie, der
Wirklichkeit des sittlichen Inhaltes gerecht zu
werden. So pendelte er immer hin und her.
Die Neukantianer machten dieser Unsicherheit
ein Ende. An die Stelle der Wirklichkeit
setzten sie die Geltung. Die Wahrheit besteht
in der Geltung und der sittliche Wert besteht
in der Geltung. Die Welt der Geltungen aber
hat keine Wirklichkeit, die verschieden wäre
von der Welt der physischen Tatsachen. So
ist also — nach den modernsten Auffassungen
des Idealismus — das Gewissen eine Synthese
von einem Subjekt, das zwar wirklich, aber
nicht geistig ist, und einem Objekt, das zwar
geistig (ideal), aber nicht wirklich ist.
Mit Recht aber ruft Max Scheler schon im
Jahre 1900 den deutschen Idealisten das
kräftige Wort zu: «Ein «Gelten», das nicht
das «Gelten» irgend eines Wirklichen wäre,
ist undenkbar» 11. Und er versteht unter dem
Wirklichen nicht etwa das empirisch Wirkliche,
sondern jenes Wirkliche, das sich eben Geltung
zu verschaffen sucht, das ideal Wirkliche. Das
Ideal-Wirkliche sucht sich im Real-Wirklichen
durchzusetzen. Demnach ist das Gewissen
eine Synthese des Ideal-Wirklichen mit dem
Real-Wirklichen des ganzen Menschenlebens,
oder genauer: eine Synthese der idealen Freiheit
mit der konkreten realen Freiheit.
Das Ergebnis, zu dem uns diese Analyse
führte, wird noch evidenter, wenn wir es mit
den Ausführungen verbinden, die wir im ersten
Teil über das Gewissen darlegten. Früher
sagten wir: Das Gewissen beginnt mit der
Liebe zum Guten, geht von da weiter in die
Verzweigungen des Lebens durch die praktischen
Grundsätze und vollendet sich in der
Anwendung dieser praktischen Grundsätze auf
das konkrete Leben im Gewissen.
Die Liebe zum Guten ist offenbar eine
geistige Liebe. Darüber ist weiter kein Wort
zu verlieren. Die Liebe zum Guten ist eine
wirkliche Liebe, weil alle Wirksamkeit des
sittlichen Lebens von ihr ausgeht. Das Gute
als Objekt dieser Liebe, ist ein wirklich Gutes,
weil dieses Gute die Wirklichkeit dieser Liebe
konstituiert. Also ist schon die letzte innere
Grundlage des sittlichen Lebens ein Protest
gegen den ethischen Idealismus. Die Grundliebe
des Lebens protestiert gegen die Auffassung
des Idealismus, daß das Sollen in der
sittlichen Ordnung das Letzte sei. Das Sollen
dient der Liebe.
Die praktischen Grundsätze des Lebens entspringen
durch die Vermittlung der Liebe dem
substantiellen Geiste innerhalb der menschlichen
Person. Eine große Verwirrung kann
in dieser Sache dadurch entstehen, daß man
meint, die Grundsätze würden in ihrer allgemeinen
Formulierung aus der Natur des
Geistes hervorgehen. Man unterscheide doch
zwischen Form und Materie der sittlichen
Prinzipien. Der Materie nach sind die Grundsätze
Grundneigungen, die allen Menschen
gemeinsam sind, z. B. die Neigung zur Nächstenliebe,
die Neigung zur Wahrhaftigkeit, die
Neigung zur Gerechtigkeit usw. Die Form
dagegen, in der wir diese Neigungen fassen,
ist durch die Vernunft gebildet.
Es ist also klar, daß die Lebensprinzipien
geistiger Abstammung sind, denn im Bezirk
des Animalischen finden sich dergleichen Neigungen
nicht, daß sie wirklich sind, denn sie
sind im Leben wirksam. Und die idealen
Inhalte, die in diesen Neigungen auf blitzen,
sind real, weil sie die realen Neigungen bedingen.
Mithin lehnen sich auch die sittlichen Grundsätze
gegen den Idealismus auf, sobald sie aus
dem Halbdunkel, in dem sie meistens ihr Leben
fristen, ans Licht gezogen werden.
Am schärfsten spricht das Gewissen sich
selbst gegen die idealistische Auffassung derselben
aus. Die Funktion des Gewissens vollzieht
sich in der Form des Urteils. Es sagt
entweder Ja, oder Nein. Und es kann Ja
sagen, wo es Nein sagen sollte und es kann
Nein sagen, wo es Ja sagen sollte. In diesem
Falle haben wir es mit einem irrigen Gewissen
zu tun. Mit einem irrigen Gewissen aber weiß
der Idealismus nichts anzufangen. Wer verfällt
denn dem Irrtum im falschen Urteil des
Gewissens, das Objekt oder das Subjekt? Das
Objekt kann nicht irren, das Sittengesetz kann
nicht irren. Auch das Subjekt, der individuelle
Akt des Gewissens kann nicht irren. Nach dem
Idealismus ist der subjektive Akt des Gewissens
ja der empirische Teil desselben. Der empirische
Teil aber liegt viel zu tief, als daß er das
Sittengesetz ergreifen könnte. Er ist ja ungeistig,
oder vielmehr untergeistig. Wie soll
Untergeistiges Geistiges ergreifen? Wenn er
aber das Ideale nicht ergreifen kann, dann
kann er auch nicht daneben greifen. Das Daneben-Greifen-Können
setzt offensichtlich das
Zu-Greifen-Können voraus. Irren aber heißt:
Danebengreifen. Ein irrendes Gewissen ist
mithin im Verstande des Idealismus ein Ding
der Unmöglichkeit. Dem steht die Tatsache des
irrenden Gewissens gegenüber. Diese Tatsache
muß der ethische Idealismus überspringen, wenn
er seine Grundposition aufrechterhalten will.
Kant ist mutig genug, konsequent zu sein
und gegen alle Tatsachen konstant zu behaupten:
Das Gewissen kann nicht irren. Gegen
evidente Tatsachen jedoch kommen Behauptungen
nicht auf.
Der Grund, den wir soeben für die Unmöglichkeit
eines irrigen Gewissens anführten, gilt
nicht nur für dieses, sondern auch für das
wahre Gewissen, sei es positiver, sei es negativer
Art, weil die Unfähigkeit, Ideales zu ergreifen,
dem Subjekt überhaupt zukommt.
Wenn das Gewissen sagt: Tu das! Tu das nicht!
dann sagt das nach dem Idealismus nur das
Sittengesetz. Wie das Gewissen das sagen
soll oder auch nur sagen kann, ist einfach
unersichtlich. Das Urteil ist ein Akt.
Es bleibt also dabei: Entweder ist das
Gewissen sowohl subjektiv wie objektiv wirklich,
und zwar wirklich im Vollsinn des Wortes,
oder nicht. Im ersten Falle ist es um den
Idealismus geschehen, im zweiten Falle ist es
um das Gewissen geschehen. Wir lassen lieber
den Idealismus als das Gewissen fallen.
Diese langwierige, für manche vielleicht langweilige
Auseinandersetzung mußte geschehen,
um der Lösung der zweiten Frage freie Bahn
zu machen: «Ist das sittliche Leben derart
innerhalb des menschlichen Kreises eingeschlossen,
daß gar kein wesentlicher Hinweis
auf Gott darin sichtbar wäre?» Ist das Ideale,
das in der Liebe zum Guten und den verschiedenen
Grundneigungen des Menschen zum
Ausdruck kommt, durch sich selbst erklärbar,
oder hat es seinen letzten Grund in Gott?
Um zu einer durchsichtigen Lösung dieser
Frage zu kommen, müssen wir die Liebe zum
Guten noch etwas schärfer ins Auge fassen,
da von der Einsicht in die letzte Grundlage
des sittlichen Lebens alle weitere Einsicht abhängig
ist. Unter der Liebe zum Guten versteht
Thomas von Aquin jene Liebe, die nicht
auf dieses oder jenes Gute geht, sondern auf
das Gute schlechthin, also auf alles Gute. Mag
dieses oder jenes Gute noch so vollkommen
sein, es ist nicht das Letzte im Sinne der
Liebe zum Guten, wenn ihm noch ein Mangel
anhaftet. In der Liebe zum Guten ist also
wesenhaft die Liebe zum vollendeten Guten
investiert. Nun ist aber das Gute wirklich, und
nur das Wirkliche ist gut. Also liegt in der
Liebe zum Guten die Liebe zu allem Wirklichen.
Alles Wirkliche und alles Gute ist aber in der
geistigen Naturanlage des Menschen nur in
einem allgemeinsten Umrisse gegeben. Und in
diesen Grundriß des Lebens ist die Aufgabe unseres
Lebens hineingezeichnet. Die Aufgabe
des Lebens besteht somit in einer liebenden
Übereinstimmung der menschlichen Person mit
ihrer eigenen vollen Wirklichkeit, mit der Vollwirklichkeit
aller anderen Personen, mit der
Vollwirklichkeit des Universums, das jetzt
noch unvollendet ist, und endlich mit einer
Vollwirklichkeit, die alle diese Wirklichkeiten
in überragender Einheit in sich begreift. Ist
das nicht ein Traum? Ist das nicht eine eingebildete
Konstruktion? Nein! Das Auge
eines Augustinus, das Auge eines Thomas von
Aquin sah diesen menschlichen Lebensplan im
Grundriß der Liebe zum Guten vorgezeichnet.
Die Frage also, ob sittliches Leben rein
immanentes Leben sei, ob alles Außer- und
Übermenschliche aus der sittlichen Ordnung
ausgeschlossen werden müsse, läßt sich nun
so bestimmen: Ist die Liebe zum Guten —und
in ihr eingeschlossen das Sittengesetz — auf
Gott hingeordnet oder nicht? Ist die sittliche
Bewegung eine Bewegung von Gott, eine Bewegung
zu Gott?
Die idealen Wertinhalte wollen zunächst erklärt
sein. Als gedankliche Inhalte sind sie das
Produkt eines Denkens. Sie sind aber nicht
das Produkt unseres Denkens. Unser Denken
hängt ja von ihnen ab. Sie sind nicht das
Produkt eines freischwebenden, allgemeinen
Denkens, denn die idealen Werte sind wirklich,
weil wirksam. Ein allgemeines, abstraktes
Denken aber wäre nicht wirklich und könnte
deshalb auch nicht wirksam sein. Es bleibt
also nichts anderes übrig, als daß der Wahrheitsgehalt
der idealen Wertordnung von einem
außer- und übermenschlichen Denker ausgedacht
ist. Und das stand zunächst unter Beweis.
Was vom ersten Denker vorgedacht ist, muß
von unserem Denken nachgedacht werden.
Sonst berührt das Ideale uns nicht. In unsere
Existenzialwelt aber tritt die Idealwelt erst dadurch
ein, daß unser Denken in unser Wollen
und Fühlen eingesenkt wird. Wie sollte sie
sonst für uns wirklich und wirksam werden?
Der oberste Idealwert — die ratio boni —wird
also dadurch richtunggebend für unser Leben,
daß unser Willensleben in seinem tiefsten
Grunde von ihm erfaßt wird.
In diesem Gedankengang glaube ich das
tiefste Fundament des menschlichen Geisteslebens
bloßgelegt zu haben. Die Liebe zum
Guten, die wir bisher nur als Tatsache gesehen
haben, ist dadurch in ihrem inneren Entstehen
sichtbar geworden.
Und dieses Fundament kann kein anderer
legen, als Gott allein. Wie er die idealen
Inhalte in seinem göttlichen Wesen vordenken
muß, damit wir sie auf unsere Weise nachdenken
können, so muß Er auch an seiner
eigenen Liebe unsere Liebe entzünden, damit
wir uns selbstbestimmen und selbstbewegen
können. Seine Liebe ist unendlich. Deshalb
hat auch unsere Liebe in ihrem Ursprung aus
Gott eine gewisse unendliche Weite. Von Gott
geht also letzten Endes das Gewissen aus.
Thomas von Aquin sagt: «Deus movet voluntatem
hominis sicut universalis motor ad
universale obiectum voluntatis, quod est bonum
et sine hac universali motione homo non potest
aliquid velle» 12.
Nach Thomas geht also die Liebe zum Guten
unmittelbar von Gott aus. Im höchsten Sinne
des Wortes bewahrheitet sich hier der Satz:
Leben entzündet sich nur am Leben. Die
Liebe zum Guten ist das göttliche Leben in
unserer Natur. Das Ebenbild Gottes zeigt sich
hier in seinem allgemeinsten Umriß. In der
ursprünglichen Liebe zum Guten haben wir
Gabe und Aufgabe in einem. Die Gabe gibt Gott
allein. Die Aufgabe aber löst er nicht allein.
Darum fährt Thomas im eben angeführten
Text weiter: «Sed homo per rationem determinat
se ad volendum hoc vel illud, quod est
vere bonum, vel apparens bonum» 13. Die Bewegung,
von der Thomas hier spricht, ist eine
ganz neue Bewegung. Sie wird scharf von der
ersten Bewegung abgehoben. In der ersten
Bewegung wird der Mensch bewegt. Hier bewegt
und bestimmt der Mensch sich selbst. Diese
neue Bewegung wird aber von der ersten
Bewegung nicht getrennt. Thomas sagt ja:
«et sine hac universali motione homo non
potest aliquid velle». Die erste Bewegung ist
die Bedingung der Möglichkeit der zweiten
Bewegung. Die Selbstbewegung vollzieht sich
innerhalb der Liebe zum Guten. In der Bewegung
Gottes bewegen wir uns. Wir können
uns selbst bewegen, weil Gott uns bewegt.
Wir sind erhoben und erhaben über dieses
Gute, über jenes Gute, über diese Güter, über
jene Güter, weil die erste göttliche Bewegung
uns auf die Höhe des Guten überhaupt erhebt.
Wir können überlegen, weil wir überlegen sind.
Und wir können unsere Überlegungen auf
alles erstrecken, was nicht absolut vollgut ist,
weil der gute Grund in uns abgrundtief ist.
Der physischen Bewegung gegenüber ist die
Selbstbewegung eine absolut neue Bewegung,
weil sie unmittelbar aus der göttlichen Bewegung
zum Guten hervorgeht und darum nicht
aus der Naturbewegung hervorgehen kann.
Freilich ist nicht alles Geist im Menschen. Der
Geist ist nur ein Wesensstück der menschlichen
Person. Das andere Stück ist psycho-physische
Natur. Folgerichtig ist nicht alles Freiheit im
Menschen. Es steckt in ihm viel materielle
Naturnotwendigkeit. Das bißchen Geist aber,
das im Menschen lebt, ist so groß und so weit
und so hoch und tief, daß es ihn über die ganze
Welt erheben kann.
Der Mensch kann und soll sich über die ganze
Welt erheben. Er kann sich aber auch verlieren.
Und das geschieht dann, wenn die
Welt sich über ihn erhebt.
«Homo per rationem determinat se». Ratio
wird hier mit Gewissen übersetzt. Durch das
Gewissen bestimmt sich der Mensch entweder
für ein Leben des Seins und der Wahrheit oder
ein Leben des Scheins (ad verum vel apparens
bonum). Da im Gewissen drei Elemente sich
zu einem Ganzen verbinden, das Wissen nämlich,
das Wollen und das Fühlen, stellt sich die
Frage, welchem von diesen dreien die Entscheidung
zufalle? Allen dreien. Jedem in
seiner Art. Der Wille entscheidet als höchster
innerer Wirkfaktor, die Vernunft entscheidet
als Leitprinzip, das Gefühl entscheidet durch
den Eindruck, den Vernunft und Wille im
Ganzen des Selbst zurücklassen.
«Homo determinat se ipsum». Sich selbst
bestimmt der Mensch durch das Gewissen. Er
ist nicht nur Herr über seine Akte. Durch
seine Akte ist er Herr über sich selbst. Man
darf die Akte nicht vom Selbst und das Selbst
nicht von seinen Akten trennen. Das Selbst
lebt sich ja in seine Akte hinein. Darum fühlt
auch jeder sich selbst in jedem seiner Akte.
Das Gefühlsmoment im Gewissensurteil darf
nicht außer acht bleiben. Im praktischen Leben
urteilt jeder, wie er ist. Was aber einer ist,
das fühlt er auch. Im praktischen Leben
urteilt jeder nach seinem Gefühl. Das ist jedoch
nicht so zu verstehen, als wurde das Gefühl
den Menschen gut oder schlecht machen. Gut
oder schlecht wird der Mensch durch seinen
Willen im Verhältnis zu seiner Vernunft. Ist
sein Wille vernünftig, dann ist der Mensch gut,
ist er vernunftswidrig, dann ist er schlecht.
Im Gefühl kommt das Gute oder das Schlechte
des Menschen zum Ausdruck.
Aus der Liebe zum Guten haben wir bewiesen,
daß das Gewissen, soweit seine Natur in Frage
steht, von Gott stammt. Aus dem Gefühl des
guten Gewissens, aus der Freude kann bewiesen
werden, daß das Gewissen auf Gott
hinweist und zu Gott hinführt.
Die Freude des guten Gewissens ist eine Tatsache
ganz eigener Art. Je reiner das Gewissen,
je höher die sittliche Freiheit, um so dauernder
und tiefer ist die Freude des Menschen. Diese
Tatsache aber ist noch nicht verstanden, so
lange im Wesenszusammenhang zwischen Gewissen
und Freude nur der Zusammenhang
zwischen der Höhe des sittlichen Inhaltes und
der Tiefe der Freude verstanden wird. Die
Freude im Vollsinn des Wortes ist die Wirkung
der Liebe von Person zu Person, nicht von
Person zu Sachen, mögen die Sachen auch noch
so ideal sein. Die idealen Inhalte und ihre
Verwirklichung im menschlichen Leben können
also nicht letztes Ziel im letzten Sinne des
Wortes sein. Sie dürfen auch in ihrer letzten
Auswirkung nur als Bindemittel zwischen
Person und Person angesehen werden. Die allmähliche
Steigerung der Freude zur Vollfreude
vollzieht sich demnach nur unter der Bedingung
einer zunehmenden Annäherung an
den persönlichen Gott.
Durch die Freude des Gewissens also ruft
Gott die Seele in die Heimat der ewigen Freuden
zurück.
Im gleichen Sinne müssen auch die anderen
Beweise des hl. Thomas gedeutet werden: Die
Liebe zum Guten ist Liebe zum Vollguten. Das
Vollgute ist Gott. Also weist die Liebe zum
Guten auf Gott hin, als unser letztes Ziel. Unter
dem Vollguten kann sowohl die volle Verwirklichung
des Guten im Menschen, wie auch
die Erreichung Gottes gemeint sein. Thomas
versteht unter dem Vollguten beides in einem.
Ein anderer Beweis lautet: Das sittliche Leben
ist auf allen Stufen eine Synthese von Subjekt
und Objekt. Die Vollendung des sittlichen
Lebens ist die Vollendung des Subjektes und
Objektes. Die Vollendung des Subjektes ist
die Vollendung der Liebe. Vollendet ist die
Liebe, wenn sie in einer Person ruht, die
unendlich vollkommen ist. Also ist das ganze
sittliche Leben, angefangen von der Liebe in
seinem Ursprung bis hinauf zur persönlichen
Ausprägung im Gewissen, der Weg des Menschen
zu Gott. Und das letzte, immanente Ziel unseres
Gewissens ist die Gottesnähe. Von Gott
also geht unser Gewissen aus und zu Gott
führt unser Gewissen zurück. So ist denn der
Satz: Das Gewissen ist die Stimme Gottes im
Menschen, zur Evidenz gebracht. Das Gewissen
ist die Begegnung Gottes mit dem
Menschen. Der Angesprochene bist Du, der
Sprecher ist Gott. Außerhalb des Gewissens
finden keine Besprechungen statt zwischen
Gott und dem Menschen.
Verantwortlich ist daher jeder Mensch zunächst
vor seinem Gewissen und vor Gott
durch das Gewissen. Gott richtet keinen, den
sein Gewissen nicht verurteilt. Darum ruft
Augustinus in den verschiedensten Wendungen
immer und immer wieder aus: Warum suchst
du Gott in der Ferne, er ist dir ja in deinem
Gewissen so nahe. Wenn dein Gewissen dir
dein Lebensgesetz vor Augen hält, dann steht
hinter diesem Gesetz dein Herr und dein Gott;
wenn dein Gewissen während deines Handelns
Zeuge ist von deinem Tun, dann steht hinter
diesem Zeugnis des Gewissens dein Herr und
dein Gott als Zeuge; wenn dein Gewissen nach
der Tat dich lobt, dann spricht sich in diesem
Lob die Anerkennung Gottes aus.
Der große Zug des Gewissens wird an keinem
Punkte so deutlich, wie in dieser dreifachen
Tätigkeit des Gewissens. Es steht über der
Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Es
beherrscht die Zeit. Es ist das Ewige im
Menschen. Die Bildungs- und Erziehungslehre
würde gut tun, die Erziehung und Bildung des
Gewissens in den Mittelpunkt ihres Lebens zu
stellen. Und die Politik würde aus dem Sumpfe
herauskommen, in dem sie steckt, wenn sie
ihre Forderungen mehr an das Gewissen ah
an die Tagesmeinungen anlehnen würde. Was
nützt es, von Auktorität zu sprechen, wenn
die allerhöchste Auktorität hier auf Erden
nicht mehr anerkannt wird, ich meine die
Auktorität des Gewissens?
Kann man von der Auktorität des Gewissens
an eine noch höhere Auktorität appellieren?
Wenn unter Gewissen das rechte, gute Gewissen
gemeint ist, dann sicher nicht. Denn das gute
Gewissen ist die Stimme Gottes. Von Gott
aber an Gott appellieren zu wollen, hat keinen
Sinn. Vom schlechten Gewissen aber gilt das
nicht. Das schlechte, verdorbene, verführte,
bestochene Gewissen ist keine inappellable
Instanz. Vom schlechten Gewissen muß man
an das Prinzip, das die Sprache Gottes spricht,
appellieren, nicht an den Prinzeps. Das Prinzip
geht über den Prinzeps. Die Auktorität des
Prinzips steht über der Auktorität des Prinzeps.
Ich spreche hier als Philosoph, nicht als
Theologe, von der natürlichen, nicht der übernatürlichen
Ordnung. In der Gnadenordnung
gilt das Gesagte nicht. Das Gewissen der Kirche
ist der Heilige Geist. Dem Heiligen Geiste
aber hat jedes Gewissen sich unterzuordnen.
Jedes christliche Gewissen kann an das Gewissen
der Kirche appellieren. Nicht aber kann
ein Einzelgewissen vom Gewissen der Kirche
an eine höhere Instanz appellieren, weil eben
der Heilige Geist das Gewissen der Kirche ist.
Und im Gewissen des Einzelnen ist der Heilige
Geist nur so weit, als es mit dem Gewissen der
Kirche übereinstimmt.
Wenn daher jemand die Stimme des Gewissens
so deutet, daß in seiner Deutung die
Stimme Gottes vollständig verschwindet, wie
in der neueren Zeit, wo z. B. auch die Atheisten
und Nihilisten sich auf das Gewissen berufen
und in seinem Namen Forderungen erheben,
«so muß die Gewissensfreiheit zum Prinzip der
sittlichen Anarchie» werden. Dieses Urteil
M. Schelers 14 ist hart, als Prinzip aber unanfechtbar.
Wenn Gott nicht mehr im Gewissen
spricht, dann tritt an seine Stelle der Mensch.
Und was dann herauskommt, ist eben die
Anarchie. Daß die Anarchie noch keine weitere
Ausdehnung gefunden hat, ist kein Gegenbeweis
gegen die Behauptung Schelers, sondern
der einfache Beweis dafür, daß von der älteren,
traditionellen Auffassung des Gewissens im
Leben der heutigen Zeit noch vieles weiterlebt
und — wenn auch unbewußt — noch
weiterwirkt.
Die falsche Gewissensfreiheit, von der diese
Rede ausging, wurde als Freiheit und Gewissen
ohne Geist und ohne Gott gekennzeichnet. Die
Rede ist ein Versuch, diese Philosophie zu
widerlegen. Am Schluß endlich können wir
die wahre Gewissensfreiheit — in Übereinstimmung
mit M. Scheler — definieren als
geistige Freiheit, die durch das Gewissen als
Stimme Gottes konstituiert wird. In diesem
Sinne ist die echte Gewissensfreiheit identisch
mit der wahren sittlichen Freiheit.
Die Konstituierung der sittlichen Freiheit
geschieht nicht auf einmal. Das Land der
sittlichen Freiheit muß langsam und mühsam
erobert werden. Das Gute, das in uns ist,
entwickelt sich nicht von selbst. Entscheidende
Taten bringen es zur Entfaltung. Der Weg
zur sittlichen Unfreiheit dagegen gleicht dem
Stromlauf, der nach unten stürzt. Das Schlechte
entwickelt sich von selbst. «Das eben ist der
Fluch der bösen Tat, daß sie fortzeugend
immer Böses muß gebären». Der Weg des
sittlich Guten ist der Weg vom Ganzen der
sittlichen Natur zum vollendeten Ganzen sittlich
gebundener Freiheit. Der Weg des Schlechten
ist der Weg vom Ganzen der sittlichen
Natur zur Zersplitterung und Anarchie sittlich
ungebundener Freiheit. Die Unterscheidungszeichen
sind folgende:
Geht es aufwärts im sittlichen Leben, dann
wird das Licht im Auge des Gewissens immer
heller und sein Blick wird immer sicherer, denn
von oben kommt das Licht. Geht es dagegen
im sittlichen Leben abwärts, dann wird es im
Gewissen immer dunkler und sein Blick wird
immer unsteter, weil unten alles dunkel ist.
Geht es im sittlichen Leben aufwärts, dann
wird das Herz und der Wille im Gewissen
immer einfacher, immer fester, immer treuer,
weil von der Höhe her die Einfachheit kommt
und die Kraft. Geht es dagegen abwärts im
sittlichen Leben, dann wird das Herz immer
verlegener und das Willensleben immer verwickelter
und die Tatkraft immer schwächer,
denn unten herrscht das Durcheinander, und
im Durcheinander ist alles wankend.
Geht es aufwärts im sittlichen Leben, dann
wird der Friede im Gewissen immer tiefer und
dauerhafter und die Freude der Ruhe immer
beseligender, weil Friede und Seligkeit oben
wohnen. Geht es dagegen abwärts im sittlichen
Leben, dann gräbt sich das Innere
immer tiefer in die Verzweiflung hinein, weil
unten der ruhende Pol in der Erscheinungen
Flucht nicht zu finden ist.
Diese Feststellungen kann die natürliche
Ethik machen. Sie hat aber nicht das letzte
Wort. Wie das Ende des Guten, wie das Ende
des Bösen bestimmt und konkret aussehen
wird, das kann die Ethik nicht sagen. Das
kann erst das Ende selbst offenbaren. Was
Gott denen bereitet hat, die Ihn lieben, das
offenbart uns nur der Glaube. Im Glauben hat
nicht mehr das natürliche Gewissen, sondern
der Heilige Geist im Gewissen die Oberleitung
des Lebens. Darum spricht Paulus vom
«Gewissen im Heiligen Geiste».
Davon aber darf ich hier nicht weiter reden,
weil ich ja nur als Ethiker sprechen wollte.
Nur eines wage ich noch hinzuzufügen. Vor
der Ankunft Christi war die Stimme Gottes in
der Menschheit beinahe verstummt. Durch
Christus wurde die Stimme Gottes wieder aufgenommen.
Und nicht nur das! Nicht nur
wurde die Stimme Gottes wieder erneuert und
verstärkt. Das Gewissen Christi war und ist
immer noch der Lautsprecher des himmlischen
Vaters, und jedes christliche Gewissen ist mit
diesem Lautsprecher in Verbindung. Die menschlichen
Lautsprecher suchen ihn zu stören, zu
verwirren, zu übertönen. Immer zahlreicher
werden diese Lautsprecher, immer lauter wird
ihre Sprache, immer wirrer laufen ihre Stimmen
durcheinander. Sie werden vergehen, die Worte
des Herrn aber werden nicht vergehen. Sein
Gewissen wird nicht schlafen. Und die Freiheit,
die durch das christliche Gewissen begründet
wird, die Freiheit der Kinder Gottes,
die vollkommene Gewissensfreiheit, wird nicht
mehr untergehen.