DER RICHTER
IM BERNISCHEN RECHT
Rektoratsrede
gehalten an der 99. Stiftungsfeier der Universität Bern
in der Heiliggeistkirche am 18. November 1933
von
PHILIPP THORMANN
Dr. jur., Professor der Rechte
PAUL HAUPT BERN
Akademische Buchhandlung vormals Max Drechsel 1934
Die Tatsache, dass wir heute die 99. Stiftungsfeier unserer
Universität abhalten, gibt dieser Veranstaltung ihren besonderen
Charakter. Nicht, dass wir heute das vorausnehmen wollten, was
an der Jahrhundertfeier im Juni des nächsten Jahres gesagt werden
soll, aber zur Beurteilung eines Zeitabschnittes wäre schon der
Beginn des letzten Jahres geeignet. Wie es dem einzelnen Menschen
nicht schadet, wenn er von Zeit zu Zeit Einkehr hält, eine
Selbstprüfung vornimmt, um zu sehen, wie er sich während einer
gewissen Zeit entwickelt hat, so kann eine ähnliche Betrachtung
auch bei einer hohen Schule, die zugleich Lehr- und Forschungsanstalt
ist, am Platze sein. Aber bei uns, der Universität, stellt
sich sofort eine grosse Schwierigkeit ein: Kaum jemand ist imstande,
diesen Werdegang beherrschend zu überblicken, und erschöpfend
darzustellen; die Universität ist keine absolute Einheit
mehr infolge der Teilung in Fakultäten und der weitgehenden
Spezialisierung der wissenschaftlichen Forschung auf sämtlichen
Gebieten. Faesi in seinem geistreichen Aufsatz "Ueber eine schweizerische
Akademie" hat hiefür einen hübschen Ausdruck gefunden:
"Von einem bis zum andern Ende dieser Burg der Wissenschaften
ist ein so weiter Weg, dass man vergessen könnte, noch in ein
und derselben Burg zu wandern." Eine geschichtliche Darstellung
der Entwicklung unserer Universität wird uns nächstes Jahr unser
Historiker, Prof. Dr. Richard Feller, geben, wir erwarten sie
mit grossem Interesse und berechtigten Erwartungen; dankbar sei
hier auch das letztes Jahr erschienene Werk von Hugo Marti
"Die Universität Bern" erwähnt, das als Werbeschrift gedacht,
uns einen guten Ueberblick über Werdegang und derzeitigen Stand
der Hochschule gibt.
Ich will daher heute nichts derartiges versuchen, auch nicht
auf dem mir naheliegenden Gebiet der Rechtswissenschaft. Es
wäre zwar interessant zu verfolgen, welchen Einfluss die Existenz
einer juristischen Fakultät in Bern auf das Rechtsieben des Kantons
Bern, die Gesetzgebung und die Rechtsprechung in den
letzten hundert Jahren gehabt hat. Man müsste hier freilich auf
die alte Akademie zurückgreifen, an welcher Samuel Schnell wirkte,
als er das Zivilprozessgesetz von 1821 und nachher das klug gedachte
bernische Zivilgesetzbuch verfasste, das seinen Nachfolgern,
Jakob Leuenberger und Karl Gustav König, Gelegenheit zu wissenschaftlicher
Durchdringung bot. Auf die ganze Schweiz erstreckte
sich der Einfluss eines Munzinger, als er den Entwurf des
seinerzeit mustergültigen schweizerischen Obligationenrechtes ausarbeitete
und des uns noch so nahe stehenden Eugen Huber, dessen
32 jährige Wirksamkeit in Bern sowohl die Zeit der Schaffung
der Entwürfe eines schweizerischen Zivilgesetzbuches wie deren
Beratung in Kommissionen und Räten und das Inkrafttreten dieses
Gesetzes umfasst. Bei diesem Anlass seien auch Virgile Rossel
und Max Gmür als Mitarbeiter bei dieser grossen Rechtsschöpfung
erwähnt. Ein Berner, Carl Stooss, war es, der wahrend seines Wirkens
an unserer Fakultät die ersten Entwürfe eines schweizerischen
Strafgesetzbuches verfasste, bevor sein Name in Wien einen europäischen
Klang annahm. Den energischen Vorarbeiten Alexander
Reichels ist es vor allem zu verdanken, dass die Zivilprozessgesetzgebung
aus ihrem alten Geleise herausgebracht und den Bedürfnissen
der neuen Zeit entsprechend geordnet wurde. Wenn ich
hier nur diese Namen akademischer Lehrer nenne, so soll damit
in keiner Weise der hervorragende Anteil, den zu allen Zeiten
in Bern die Praktiker des Rechts am Ausbau der Gesetzgebung
genommen haben, herabgesetzt werden, im Gegenteil, man braucht
ja nur unsere bernische Justizreform von 1909 (Gerichtsorganisation
und Verwaltungsrechtspflege) bis 1930 (Jugendrechtspflge)
mit den wichtigen Zwischenstadien 1918 (Zivilprozess) und 1928
(Strafverfahren) zu verfolgen, um festzustellen, welcher Einfluss
den Praktikern des Rechtes, bei uns den Richtern und Anwälten
und in ganz besonderer Weise den Vorstehern der bernischen Justizdirektion
zukommt. Ich nenne absichtlich keine Namen, zunächst
um niemanden zu übergehen und sodann weil die meisten
von ihnen noch heute unter uns leben und wirken.
Es besteht aber kein Zweifel, dass unsere Gesetzgebung wesentliche
Fortschritte aufwies, seit die Jurisprudenz an der hohen
Schule in Bern, der reformierten Akademie seit 1805 und der Universität
seit 1834 als Wissenschaft gepflegt wurde.
Als die neue Hochschule im Jahre 1834 ins Leben trat, fand
sie bereits eine vollständige Zivilgesetzgebung vor, die von der
Restaurationsregierung in drei Teilen promulgiert worden war: das
Personenrecht mit Einschluss des Familienrechtes im Jahre 1824,
das Sachen- und Erbrecht im Jahre 1827 und das Obligationenrecht
im Jahre 1830. Freilich war durch diese verdienstvolle Gesetzgebung
noch nicht die Rechtsgleichheit im ganzen Kanton
durchgeführt, da einzig die Vormundschaftsordnung auch im neuen
Kantonsteil "den leberbergischen Oberämtern", wie damals der
offizielle Amtsstil den Jura bezeichnete, eingeführt wurde, 1) während
einzelne Teile des französischen Code civil bis zum Inkrafttreten
des schweizerischen Zivilgesetzbuches weiter im Jura in
Geltung blieben. Dies löste auch für die Universität eine Rückwirkung
aus, indem an der juristischen Fakultät ein besonderer
Lehrstuhl für französisches Zivilrecht errichtet wurde, der zeitweise
von hervorragenden französischen Gelehrten eingenommen
wurde. Zuletzt hatte diesen Lehrstuhl der noch unvergessene Virgile
Rossel inne. Seit Inkrafttreten des schweizerischen Zivilrechtes
wurde der Lehrstuhl in eine Professur für schweizerisches Privatrecht
in französischer Sprache umgewandelt.
Der ebenfalls von Samuel Schnell verfasste Zivilprozess von
1821 wurde dagegen gemäss der Promulgationsverordnung von
Schultheiss, Klein und Grossen Räthen der Stadt und Republik
Bern vom 26. März 1821 auf den 1. April 1823 für den ganzen
Kanton eingeführt. Unverkennbar war in diesem Gesetz der Einfluss
der gemeinrechtlichen Prozesstheorie, über die Samuel Schnell
schon im Jahre 1810 ein "Handbuch des Zivilprozesses mit besonderer
Hinsicht auf die positiven Gesetze des Kantons Bern" veröffentlicht
hatte. Dieser Einfluss hat das bernische Zivilprozessrecht
trotz der Gesetzesrevisionen von 1847 und 1883 bis 1918,
also während eines Jahrhunderts, beherrscht und auf die Prozessführung
nach verschiedenen Richtungen nicht günstig gewirkt,
es wurden ihr namentlich ein schleppender Gang und spitzfindige
Formalistik vorgeworfen. 2)
Weniger ausgebildet war im Jahre 1834 der Zustand der Gesetzgebung
über die Strafrechtspflege. 3) Mehrfache Versuche der
Mediations- wie der Restaurationsregierung, ein vollständiges,
peinliches Gesetzbuch zu erlassen, waren gescheitert; 4) so dass
neben den Bestimmungen der Gerichtssatzung von 1762, die nur
die Frevel, den Totschlag und die Wundtaten (Misshandlungen)
betrafen, das helvetische peinliche Gesetzbuch von 1799 subsidiär
in Kraft blieb und erst durch das Einführungsgesetz zum Strafgesetzbuch
auf den 1. Januar 1867 aufgehoben wurde. Ausserdem
galten noch einige Spezialgesetze, von denen das Gesetz vom
18. Februar 1823 über Kindsmord, Abtreibung der Leibesfrucht
und die Aussetzung unbehilflicher Kinder und ein Gesetz
über Aufruhr und Hochverrat vom 7. Juli 1832 die bedeutendsten
waren. Die Kodifikationsarbeiten wurden während der
politisch bewegten 30 er, 40 er und 50 er Jahre mühsam weitergeführt
und gelangten erst im Jahre 1866 zum Abschluss. 5)
Das Strafprozessrecht war ebenfalls unvollständig und unzusammenhängend
geordnet in der Gerichtssatzung, einigen Organisationsgesetzen,
die zum Teil als Ausführung der neuen Verfassung
von 1831 erlassen worden waren, einer Instruktion von 1803 über
das Verfahren in Strafsachen und anderen Spezialerlassen, ein
Zustand, der erst am 1. Januar 1851 durch das Inkrafttreten des
Gesetzbuches über das Verfahren in Strafsachen sein Ende fand,
welch letzteres mit einigen Abänderungen bis zum 1. Oktober 1928
galt. Es ist eine interessante Feststellung, dass die kantonale bernische
Gesetzgebung bei den Kodifikationsarbeiten jeweils zeitlich
das formale Recht vor dem materiellen ordnete: so ging der
Zivilprozess von 1821 dem Zivilgesetzbuch von 1823-1830 voraus,
wie das Strafverfahren von 1850 dem Strafgesetz von 1866; wahrend
die schweizerische Eidgenossenschaft mit der Vereinheitlichung
des materiellen Rechtes auf Grund von Art. 64 und 64 bis
der Bundesverfassung begonnen hat und sie bis jetzt auf dem Gebiete
des Privatrechts durchgeführt hat.
In der Gerichtsorganisation hatte die Verfassung vom 6. Juli
1831 einige wesentliche Neuerungen eingeführt. An die Stelle
des Appellationsgerichtes der Mediations- und Restaurationszeit
trat ein vom Grossen Rate gewähltes Obergericht, bestehend aus
einem Präsidenten, zehn Mitgliedern und vier Suppleanten. Die
Wählbarkeit in dieses Kollegium setzte voraus: das Stimmrecht,
das Alter von 29 Jahren, Rechtskunde und die Kenntnis der beiden
Landessprachen. Ausserdem musste ein Mitglied Grundeigentum
oder ein auf Grundeigentum versichertes Kapital von wenigstens
5000 Schweizerfranken besitzen. Neu war die Beschränkung der
Amtsdauer, die freilich für das Obergericht auf die relativ lange
Zeit von 15 Jahren angesetzt wurde, während sie für den Regierungsrat
sechs Jahre betrug (Art. 35, 39 und 73 der Verfassung).
Auch der Oberamtmann verschwand, der administrative und
richterliche Funktionen vereinigt hatte. Er wurde als Verwaltungsbeamter
in den Amtsbezirken ersetzt durch den vom Regierungsrat
und Sechszehnern, einem Ausschuss des Grossen Rates
(Art. 69 Verfassung), gewählten Regierungsstatthalter, und seine
richterlichen Funktionen gingen als Folge der Anerkennung der
Gewaltentrennung über an den Präsidenten des Amtsgerichtes, der
von der gleichen Wahlbehörde auf Doppelvorschlag der Wahlversammlung
des betreffenden Amtsbezirkes, der durch das Obergericht
durch Nennung zweier weiterer Kandidaten vermehrt werden
konnte, gewählt wurde. Erforderlich waren zur Bekleidung dieser
Richterstelle das Stimmrecht, das Alter von 29 Jahren, sowie
Rechtskunde. Das Amtsgericht setzte sich ausserdem aus vier Amtsrichtern
und zwei Ersatzmännern zusammen, von denen diese
Rechtskunde nicht ausdrücklich verlangt wurde.
Dem Gesetze. blieb vorbehalten, für das ganze Gebiet der Republik
peinliche Gerichte aufzustellen, welche alle Verbrechen
erstinstanzlich beurteilen sollten. Organisation und Geschäftsgang
derselben sollten durch das Gesetz bestimmt werden. Die Regenerationsperiode
von 1831-1846 hat dieses Gesetz jedoch nicht
erlassen.
Damit waren schon in der Verfassung die Fragen über die Besetzung
der Gerichte entschieden: Für die wichtigen SteIlen der
Oberrichter und Gerichtspräsidenten, d. h. der ständig amtierenden
Richter war Rechtskunde verlangt. Diese Rechtskunde setzte aber
nicht ein bestimmtes Rechtsstudium oder die Ablegung gewisser
Prüfungen voraus, sondern konnte auch im Justizdienst selbst
erworben werden, doch wurde es je länger je mehr zur Gewohnheit,
bei solchen Wahlen die Inhaber bernischer Fürsprecher- oder
Notariatspatente zu berücksichtigen. Erst die Partialrevision der
Verfassung von 1907 ersetzte das Erfordernis der Rechtskunde
durch den Besitz eines bernischen Fürsprecher- oder Notariatspatentes
(Art. 59), wodurch auch alle übrigen Ausweise wie akademische
Grade oder solche ausserkantonaler Herkunft als ungenügend
bezeichnet wurden. Der Besitz eines solchen bernischen
Patentes begründet somit eine unwiderlegliche Präsumption für
die für das Richteramt erforderliche Rechtskunde.
Für die Mitglieder der Amtsgerichte wurde jedoch in hergebrachter
Weise diese Voraussetzung nicht verlangt, so dass hier
wie früher Angehörige aller möglichen Berufsstände wählbar blieben.
Die Amtsrichter und Amtsgerichtssuppleanten wurden durch
die Wahlversammlungen der Gerichtsbezirke ernannt und bildeten
das volkstümliche Element in der Justiz, damit an die früheren
Epochen und das Schöffengericht germanischen Ursprungs erinnernd
(Art. 82 und 84 Verfassung). Die Wahldauer betrug sechs
Jahre mit Wiederwählbarkeit. In der Hauptsache ist diese Ordnung
der Amtsgerichte durch alle Verfassungsrevisionen von 1846,
1893 und 1907 die gleiche geblieben. Ein neues Element kam in
der Strafrechtspflege erst durch die Einführung der Geschworenengerichte
nach französischem Vorbilde, die von 1852 bis 1928
funktionierten, in die Gerichtsorganisation hinein. Die neueste
Zeit hat hier eine Neuordnung eintreten lassen.
Später hat die Organisation des Handelsgerichtes im Gerichtsorganisationsgesetz
vom 31. Januar 1909 einen weiteren Gedanken
verwirklicht, die Bildung eines Kollegialgerichtes aus juristischen
und kaufmännischen Mitgliedern und damit den Sachverständigen
neben den Juristen mit gleichen richterlichen Befugnissen ins Gericht
hinein versetzt. Man hätte diesen Gedanken auch bei
der neuesten Ordnung der Jugendrechtspflege durchführen können,
was vom grundsätzlichen Standpunkte aus wohl zu begrüssen gewesen
wäre, aus Gründen der Gesetzgebungspolitik aber, weil eine
Verfassungsänderung voraussetzend, unterlassen wurde. Endlich
finden wir die Vertretung nach Berufsständen in den 1894 eingeführten
Gewerbegerichten, welche Streitigkeiten aus Lehr-, Dienst-
und Werkverträgen im Fabrik- und Handwerksbetrieb entscheiden
sollten.
Der Kanton Bern hat daher so ziemlich alle Systeme der Besetzung
der Gerichte verwirklicht; er besitzt juristisch ausgebildete
Richterbeamte, solche ohne besondere juristische Ausbildung
(Volksrichter), Geschworene, sachverständige Richter, Standesgerichte.
Dabei ist noch nicht erwähnt das 1909 geschaffene Verwaltungsgericht,
das in seiner Mehrheit aus Juristen mit bernischem
Fürsprecher- oder Notariatspatent besteht, während für die
Minderheit der Besitz des Stimmrechtes als Schweizerbürger, das
25. Altersjahr und die Kenntnis beider Landessprachen genügen. 6)
Dieser Zustand reizt zu einer nähern Untersuchung der Frage
nach der besten Besetzung der Gerichte. Auf den ersten Blick
scheint die Antwort eine sehr einfache zu sein:
Der Richter muss diejenigen Eigenschaften besitzen, die ihn befähigen,
seine Aufgabe zu erfüllen. Besteht diese Aufgabe in der
Entscheidung von Rechtsfragen, so muss er rechtskundig sein, ja,
es ist von Vorteil, wenn er sich auch für die Rechtsfragen weitergehend
spezialisiert und ausgebildet hat, so für Zivilrecht, Strafrecht
oder Verwaltungsrecht oder noch mehr ins einzelne gehend
für Obligationenrecht, Haftpflichtrecht, Steuerrecht usw.
Nun gibt es keinen Rechtsstreit, in dem nicht eine Rechtsfrage
zu lösen wäre. Diese kann leicht oder schwer zu lösen sein, je
nach dem Stande der Gesetzgebung. Doch ist die Sache nicht so
einfach wie noch Montesquieu anzunehmen scheint, der es als
Kennzeichen einer Republik hinstellt, dass der Richter den Buchstaben
des Gesetzes anzuwenden habe, während er in Monarchien
nach dem Sinn des vielleicht nicht immer genauen Gesetzes zu
forschen hat. 7) Heute müssen wir auf den berühmten Art. 1 unseres
Zivilgesetzbuches verweisen, der den Richter unter Umständen
zum Gesetzgeber macht, ihm dabei aber die Befolgung bewährter
Lehre und Ueberlieferung zur Pflicht macht. 8) Doch soll damit
nicht gesagt werden, dass die Lösung der Rechtsfrage immer
schwierig oder immer die schwierigste der zu entscheidenden Fragen
darstellt. Die Beweisfrage z. B. kann im einzelnen Fall viel
schwieriger sein als die Anwendung des Rechtes auf den gegebenen
Tatbestand. Früher wollte der Gesetzgeber dem Richter
auch bei der Bildung seiner Ueberzeugung über den Tatbestand
zu Hilfe kommen und stellte genau fest, wann eine Tatsache als
bewiesen anzunehmen sei, es wurden z. B. zwei Zeugen mit bestimmten
Eigenschaften verlangt. 9) Die Beweiswürdigung war
also ebenfalls eine von juristischen Regeln wesentlich beeinflusste
richterliche Tätigkeit. Die Einführung der freien Beweiswürdigung
hat den Richter von diesen besonderen Fesseln befreit, was für
den Zivilrichter durch das Zivilprozessgesetz von 1847 (§ 171)
erfolgte, für den Strafrichter, abgesehen vom Geschworenen, aber
erst durch das neue Strafverfahren von 1928 (Art. 254). Zur richtigen
Beweiswürdigung sind Lebenserfahrung, gesunder Menschenverstand
und Vernunft erforderlich, die der Nichtjurist in gleicher
Weise besitzen kann wie der Jurist. Namentlich die Kenntnis gewisser
Lebensverhältnisse und Volksgewohnheiten, der Denkweise
bestimmter Volksschichten, das Verständnis für die Volkssprache,
die bei uns glücklicherweise in höherem Masse Gemeingut ist
als in vielen andern Ländern, in denen die von den Gelehrten gebrauchte
Sprache von der Volkssprache abweicht, sind oft sehr
wichtig für die richtige Erkenntnis des Tatbestandes; z. B. ob
ein gefallener Ausdruck als Zustimmung, juristisch als Vertragsabschluss,
zu werten ist, hängt nicht nur von einer grammatikalischen
Auslegung der Aeusserung ab. Der Volksrichter ist hier oft
der Sachverständige im Gericht, der den Juristen die richtige
Tatsachenfestlegung erleichtert oder sogar ermöglicht und im letztern
Fall die Zuziehung eines Sachverständigen im Beweisverfahren
als überflüssig erscheinen lässt. Birkmeyer 10) hält dafür,
dass der Laie in der Feststellung des Tatbestandes dem Berufsrichter
sogar bedeutend überlegen sei, weil er der Gefahr der
Routine entgeht und jedem Fall ein frisches, neues Interesse entgegenbringt.
Demgegenüber dürfte aber die forensische Erfahrung
des Berufsrichters, die dem einmalig amtierenden Laienrichter
gewöhnlich abgeht, geltend gemacht werden.
Ich will versuchen, diesen Gedanken für die Zivil- und Strafgerichtsbarkeit
weiter zu verfolgen. In der Zivilgerichtsbarkeit
spielt sich das ganze menschliche Leben vor dem Richter ab, da
der Mensch von seiner Geburt bis zu seinem Tode in seiner Lebenstätigkeit
vom Privatrecht beherrscht wird. Schon die Bezeichnung
der einzelnen Rechtsmaterien lässt dies erkennen: das
Personenrecht beschäftigt sich mit der Einzelperson und ihren
Eigenschaften: Rechtsfähigkeit, Handlungsfähigkeit, Heimat,
Wohnsitz, Namen, Anfang und Ende der Persönlichkeit usw.;
das Familienrecht enthält die Grundsätze über die Ehe und ihre Wirkungen,
das eheliche und uneheliche Kindesverhältnis und die Vormundschaft;
das Erbrecht ordnet das Schicksal der Vermögensrechte
nach dem Tode eines Menschen; das Sachenrecht regelt
die Eigentums- und Besitzesverhältnisse, die Dienstbarkeiten,
Grundlasten und Pfandrechte, endlich umfasst das Obligationenrecht
die Schuldverhältnisse zwischen den einzelnen Personen,
hauptsächlich das Vertragsrecht.
Hier kommen dem Volksrichter viele Fragen aus dem Familienrecht
menschlich viel näher als dem Berufsrichter, er versteht
sie auch besser, als formal-juristische Fragen aus dem Sachen-
oder Obligationenrecht. Das jus aequum steht ihm näher
als das jus strictum. Der Masstab des Angemessenen ist für ihn
leichter zu handhaben als derjenige des strengen Rechtes, 11) und
doch ist die Gefahr der Willkür hier grösser, und leicht verwechselt
der noch ungeschulte Richter das freie richterliche Ermessen,
das ihm der Gesetzgeber zubilligt, mit vollständiger Entscheidungsfreiheit,
die Willkür und das Gegenteil von Rechtsanwendung
wäre. 12) Hier muss es gegebenenfalls Aufgabe des juristisch
gebildeten Richters sein, den Gefahren, die das Billigkeitsrecht
für die Rechtssicherheit der Rechtsgenossen nach sich ziehen
könnte, entgegenzutreten, und auch bei freiem Ermessen auf
Befolgung einer gewissen ständigen Praxis zu dringen. Hat schon
die neue Gesetzgebung die Freiheit des Richters auf verschiedenen
Gebieten, namentlich im Zivilrecht, aber auch im Strafrecht
(man denke an den bedingten Straferlass und die weitgehende
Wahl der Massnahmen in der Jugendrechtspflege) sehr erweitert,
so muss um so mehr dem Richter die strenge Beobachtung der
noch bestehenden zwingenden Rechtssätze zur Pflicht gemacht
und sodann eine massvolle und die früheren Fälle berücksichtigende
Anwendung des freien Ermessens angeraten werden, wenn
nicht die Rechtssicherheit weiter Kreise gefährdet und die Autorität
der Justiz Schaden leiden soll.
Man vergleiche mit dem Gesagten die Verteilung der Zivilstreitigkeiten
an die verschiedenen Gerichte nach dem Gesichtspunkt
der sachlichen Zuständigkeit. Die Fälle, in denen scharfes juristisches
Denken unerlässlich ist und die rasch im summarischen
Verfahren entschieden werden müssen, sind dem juristisch
gebildeten Einzelrichter zugewiesen (Art. 2 und 3 EG zum ZGB,
Art. 2 ZPO), während dem Amtsgericht Fälle des Personen- und
Familienrechtes überlassen sind, z. B. die Ungültigerklärung der
Ehe, Ehescheidung, Ehelichkeit des Kindes, Vaterschaftsklagen, Ansprüche
aus Verlöbnisbruch, Entmündigungen. (Art. 4 EG zum
ZGB, Art. 3 ZPO). Man wird dem bernischen Gesetzgeber das
Lob nicht vorenthalten dürfen, diese Fragen mit klugem Verständnis
geordnet zu haben. Das Amtsgericht hat sich seit 1803
stets als lebensfähig und im Rechtsbewusstsein des Volkes verankert
erwiesen. Alle Versuche, es durch ein reines Beamtengericht
zu ersetzen, sind gescheitert. 13) Die Beibehaltung der Amtsgerichte
als Zivilgerichte wurde daher in den 1905 beginnenden
Vorarbeiten für die Revision der Gerichtsorganisations- und Prozessgesetze
von vorneherein in Aussicht genommen und verständnisvoll
durchgeführt und damit den Gerichtsbehörden ein Element
gesichert, das ihre Beziehungen zum Volk erleichtert. Unter guter
fachmännischer Leitung eines tüchtigen Präsidenten sind gerade diese
auf längere Zeit gewählten und praktisch mit dem Richteramt vertrauten
Amtsrichter kraft ihrer Kenntnis der Lebensverhältnisse,
und :der Bedürfnisse des Volkes sehr willkommene Mitarbeiter
der Justiz. 14) Die nahen Beziehungen der Amtsrichter und Amtsgerichtssuppleanten
zu den Gemeinden und einzelnen Bevölkerungskreisen
sind vielleicht mit ein Grund, weshalb die aus anderen
Gründen wünschbare Zusammenlegung der Amtsbezirke zu
grösseren Gerichtskreisen nicht durchgeführt werden konnte;
stammt doch die bestehende Einteilung des Kantons in 30 Amtsbezirke
aus einer Zeit, deren Verkehrsverhältnisse von den heutigen
recht verschieden waren.
Für die ordentlichen Zivilgerichte des Kantons sind somit im
grossen und ganzen seit hundert Jahren an der Art der Besetzung
keine wesentlichen Veränderungen vorgenommen worden, wobei
wir die Institution der 1907 aufgehobenen Friedensrichterämter
nicht weiter berücksichtigen. Die Gerichtspräsidenten und Oberrichter
sind juristisch gebildete Beamtenrichter, die ihre ganze
Zeit dem Richteramt widmen. 15) In den Amtsgerichten stehen dem
Gerichtspräsidenten Männer aus dem Volke als ständige Mitarbeiter
zur Seite, die unter der fachmännischen Leitung ihres Vorsitzenden
ihre Lebenserfahrung und ihre Sachkenntnisse in massgebender
Weise geltend machen können.
Mit der Schaffung der Gewerbegerichte wurde 1894 der Versuch
gemacht, Streitigkeiten aus bestimmten gewerblichen Verhältnissen
durch Spezialgerichte unter juristischer Leitung mit Heranziehung
der Berufsstände entscheiden zu lassen, ein Versuch,
der wie aus den Revisionen von 1910 und 1924 zu schliessen ist,
in der Hauptsache als gelungen zu bezeichnen ist. Es würde aber
zu weit führen, diese Bewegung hier weiter zu verfolgen.
Dagegen ist der Einsetzung des kantonalen Handelsgerichtes
im Jahre 1909 grössere Beachtung zu schenken. Das Handelsgericht
verdankt seine Errichtung dem Wunsche der Handelskreise
nach rascherer Justiz und Beteiligung kaufmännisch gebildeter
Richter an der Urteilsfällung. Es besteht aus 3 Mitgliedern des
Obergerichtes, 42 kaufmännischen Mitgliedern aus dem deutschen
und 18 kaufmännischen Mitgliedern aus dem französischen Kantonsteil
und urteilt als Fünferkollegium mit 2 juristischen Mitgliedern
und 3 Handelsrichtern. 16) Diesem Gericht wurden als einziger
kantonaler Instanz übertragen alle handelsrechtlichen Streitigkeiten
aus Obligationenrecht und Mobiliarsachenrecht, sofern
der Wert die endliche Kompetenz der Amtsgerichte übersteige,
ferner alle zivilrechtlichen Streitigkeiten aus Bundesgesetzen oder
Staatsverträgen über den Erfindungsschutz. Hier ist ein neuer Gedanke
verwirklicht worden, die Einbeziehung der Sachverständigen
in das Gerichtskollegium mit gleichen Rechten wie die ständigen
juristischen Beamtenrichter. Es soll dieses System die Ernennung
besonderer Sachverständiger zur Erklärung von Handelsusanzen
und ähnlicher Fragen, die dem Juristen nicht ohne weiteres
bekannt sein müssen, unnötig machen. Diese Organisation hat sich
praktisch bewährt, auch wurde der nach neuen Prozessgrundsätzen
geordnete Handelgerichtsprozess massgebend für die 1918 durchgeführte
Zivilprozessrevision, deren Bedeutung schon früher erwähnt
wurde. Der erste Vorsitzende des Handelsgerichtes war
der damalige Oberrichter, jetzige Regierungsrat Dr. Leo Merz, dem
ein grosses persönliches Verdienst am günstigen Resultat dieser
Neuerung zuzuschreiben ist.
Als Kuriosität sei endlich auch erwähnt, dass in den Jahren
1857 und 1858 im Grossen Rat über die Einführung von Zivilgeschworenengerichten
diskutiert wurde, die aus 2 Juristen und
5 Geschworenen bestehen und über alle Streitigkeiten im Werte
von über 250 Franken endlich urteilen sollten. Dabei sollten sie
"nach der Untersuchungsmaxime des Strafverfahrens" und nicht
nach der Verhandlungsmaxime des Zivilprozesses vorgehen. Auf
Antrag des Regierungsrates wurde aber beschlossen, die Geschworenen
für Streitigkeiten in Zivilsachen nicht einzuführen.
Aus der in der Sitzung vom 10. April 1858 gegebenen Begründung
des Regierungsrates gebe ich nur folgenden Satz wieder: "Sowie
man zur Entscheidung von Streitigkeiten in bürgerlichen Rechtssachen
bestimmter Normen bedarf, ebenso bedarf man rechtskundiger
mit diesen Normen vertrauter Männer." 17)
Wenden wir uns nun der Strafrechtspflege zu. Nach der
Verfassung von 1831 wurde die StrafjustIz durch die gleichen Gerichte
ausgeübt wie die Ziviljustiz, also durch die Amtsgerichte
und die Gerichtspräsidenten in erster Instanz und das Obergericht
in zweiter Instanz. Die in Art. 80 der Verfassung vorgesehenen
peinlichen Gerichte zur erstinstanzlichen Beurteilung der schweren
Verbrechen wurden nie eingeführt, aber bald kündigte sich ein
neues Problem an, der Wunsch nach Einführung von Geschworenengerichten
nach französischem Vorbild, wie er damals in ganz
Europa als Programmpunkt der liberalen Parteien geltend gemacht
wurde. Zwar sprach sich noch 1838 der Grosse Rat gegen
die Jury aus. Dagegen brachte 8 Jahre später die Verfassungsrevision
von 1846 in Art. 63 die Geschworenengerichte für Kriminal-,
politische und Pressvergehen, wobei ausdrücklich vorgesehen
war, dass das Gesetz diesen Gerichten noch andere Teile
der Strafrechtspflege übertragen konnte. Die Gerichtsorganisation
von 1847 und das Strafverfahren von 1850 führten den Gedanken
der Verfassung in die Gesetzgebung ein, dagegen wurde
von der Befugnis, die sachliche Zuständigkeit der Geschworenengerichte
zu erweitern, etwa auf Vergehen, kein Gebrauch gemacht.
18) Im Gegenteil zeigte sich sehr bald die Neigung, die
Kompetenz der Assisen einzuschränken, was namentlich im Jahre
1880 in verschiedener Weise durchgeführt wurde (Gesetz vom
2. Mai 1880), so namentlich durch Herabsetzung von Strafandrohungen
im Strafgesetz, sodann durch die Ausschaltung der Jury,
wenn der Angeklagte ein glaubwürdiges Geständnis abgelegt hatte
und endlich durch eine Abänderung der Ueberweisungsbestimmungen.
Der Enthusiasmus, mit dem seinerzeit die Einführung
dieser demokratischen Gerichtsinstitution verlangt wurde, wich
gar bald, als man das Gericht an der Arbeit sah, einer nüchternen
Beurteilung, nicht bloss bei den juristen, sondern auch in
weiten Kreisen des Volkes. Interessant ist in dieser Beziehung
namentlich auch die Meinungsäusserung des damaligen
Obergerichtspräsidenten Rudolf Leuenberger am schweizerischen
Juristentag in Zug 1881, der anerkannte, dass sich die
ursprüngliche Begeisterung für die Jury etwas abgeschwächt habe
und dass sie im Kanton Bern als politisch-demokratisches Institut
durch die Verfassung von 1846 eingeführt worden sei. Ein
Grund, der in Monarchien namentlich für das Schwurgericht, vielleicht
mit einigem Recht, geltend gemacht werden konnte, die Abhängigkeit
der ständigen Gerichte von der Regierung, so dass das
Geschworenengericht als Hort und Schutz der persönlichen Freiheit
gegen Tyrannenmacht gewertet werden konnte, hatte in unserem
Lande wohl kaum Berechtigung, da gerade in den Amtsgerichten
vom Volk gewählte Volksrichter sassen. Einen Schutz gegen allzu
strenge Handhabung der Strafgesetze durch Berufsrichter sollte
das Geschworenengericht deshalb nicht gewähren, weil der Jury
keine direkte Mitsprache über das Strafmass gegeben war; diesen
Einfluss hat sie sich dann allerdings bald auf indirekte, vom Gesetz
nicht gewollte Weise verschafft. So bleibt als einziges dauerndes
Verdienst der Schwurgerichte die Einführung der freien Beweiswürdigung,
die unlöslich mit diesem Institut verbunden war.
Es wäre von vornherein undenkbar gewesen, von den Geschworenen
die Beachtung gesetzlicher Beweisregeln zu verlangen, während
man sich merkwürdigerweise aus Furcht vor Fehlurteilen und
im Interesse des Angeschuldigten noch nicht dazu entschliessen
konnte, die Berufsrichter in Strafsachen von den Fesseln der Beweistheorie
zu befreien. Es soll aber hier nicht das Schwurgerichtsproblem
als solches zur Darstellung gebracht werden, das in allen
Ländern Europas eine umfangreiche Literatur gezeitigt hat. 19)
Ich stelle nur folgendes fest: Zweifellos ist der weIterfahrene,
kluge Geschworene durchaus imstande, sich eine Meinung darüber
zu bilden, was als Beweisresultat einer Verhandlung anzunehmen
ist. Er könnte dies um so besser, je mehr Gelegenheit ihm dazu
geboten würde. Aber gerade hier setzt sich das gesetzliche System
in entgegengesetztem Sinne ein: die Zahl der in Betracht
fallenden Geschworenen und das ganze Auslosungs- und Ablehnungssystem
sorgen dafür, dass ein Geschworener nur zufällig
und selten in die Lage kommt, die in einer Session erworbenen Erfahrungen
auch später zu verwerten, ganz im Gegensatz zum
Amtsrichter, der in der Regel jahrelang im Amte steht. Die erwähnten
Umstände garantieren umgekehrt in keiner Weise, dass
nur kluge und lebenserfahrene Geschworene die Plätze auf der
Bank einnehmen,, ja das unkontrollierte Ablehnungsrecht der Parteien
unterstützt oder ermöglicht wenigstens die entgegengesetzte
Tendenz (Art. 386 Strafverfahren 1854). Eine gewisse Auslese
der zu diesen Funktionen tauglichen Personen sollte bei uns, im
Gegensatz zu andern Ländern, durch die Volkswahl getroffen werden,
20) diese an sich richtige Tendenz wirkt sich aber bei der
grossen Zahl der zu wählenden Geschworenen nicht genügend
aus, und übrigens ist bekannt, wie wenig sich die Stimmberechtigten
für diese Wahlen interessieren, falls dies nicht etwa aus politischen
Gründen geschieht. Der grösste und grundlegende Fehler
des Systems lag aber in der absoluten Geltung des Verdiktes,
das keinerlei Anfechtung unterlag. 21) Sogar in England, dem
Mutterlande der Schwurgerichte, ist im Jahre 1907 durch den
Criminal Appeal Act die Möglichkeit geschaffen worden, Urteil
und Verdikt wegen Unvernünftigkeit des Verdiktes aufzuheben. 22)
Aus dieser Unanfechtbarkeit heraus ist der weitverbreitete Glaube
entstanden, dass die Geschworenen bei der Abgabe des Verdiktes
vollständig frei und auch. dem Gesetz nicht unterstellt seien, so
dass sie z. B. befugt seien, eine Schuldfrage zu verneinen, wenn
sie die betreffende Tat für nicht strafwürdig betrachten, auch
wenn das Gesetz anders entschieden hat. Das ist übrigens ein
dankbares Verteidigungsthema bei Anklagen wegen Delikten, deren
Strafbarkeit im Volk diskutiert wird, ich nenne als Beispiel die
Abtreibung. Unerträglich ist aber der Gedanke, zumal in einer
Demokratie, dass der Wille einer Mehrheit von Geschworenen dem
im Gesetz ausgesprochenen Volkswillen vorgehen soll. Wird sogar
eine qualifizierte Mehrheit für eine Verurteilung verlangt, wie
z. B. im Bundesstrafprozess und einigen kantonalen Rechten, so
kann eine Minderheit die Anwendung des Gesetzes verhindern.
lind endlich war es bei der Fragestellung unseres Rechtes (Art.
427 ff. Strafverfahren 1854) unmöglich, die Rechtsfragen von den
Tatfragen zu lösen, wie man sich die Sache ursprünglich wohl vorgestellt
hatte; denn bei der Beantwortung der Hauptfrage: "Ist
der Angeklagte schuldig, die und die strafbare Handlung begangen
zu haben?", wobei die strafbare Handlung in ihren Tatbestandsmerkmalen
wiedergegeben wurde, war ja ohne weiteres über eine
ganze Anzahl von Rechtsfragen (Schuld, Vorsatz, Fahrlässigkeit,
Versuch, Vollendung, Schuldausschliessungsgrunde usw.) entschieden,
so dass die Unterstellung des Tatbestandes unter die Artikel
des Gesetzes zu einer reinen Formalität wurde. Hier trifft aber
die Annahme, dass der Volksrichter, allein auf sich gestellt, diese
Fragen so gut wie der Berufsrichter lösen könne, nicht mehr zu.
Er bedarf vielmehr der Anleitung, die ihm nach einigen Gesetzgebungen
in Form einer Rechtsbelehrung durch den Vorsitzenden
in unverbindlicher Weise gegeben werden kann; das bernische
Recht hat diese Rechtsbelehrung aber nicht aufgenommen und
ihr Wert ist übrigens sehr problematisch, da die Geschworenen für
derartige theoretische Erörterungen nicht immer empfänglich sind.
Oft wurde sie ihnen auch von den Parteien in einer Weise gegeben,
die ihr Verständnis nicht erleichtern musste, so wenn z. B. Staatsanwaltschaft
und Verteidigung sich in widersprechender Weise
über den Begriff der Notwehr äussern. Es kam daher vor, dass
die Geschworenen den eigentlichen Sinn der ihnen vorgelegten,
oft sehr zahlreichen Fragen nicht verstanden, dagegen sich darum
bekümmerten, welche Folgen die Beantwortung nach sich ziehen
würde und damit in das Gebiet der Strafzumessung hinübergriffen.
Jeder Verteidiger wusste, was er damit erreichen konnte, wenn er
die Strafandrohung des Gesetzes im Falle der Bejahung oder
Verneinung bestimmter Fragen bekannt gab, was ihm nicht verwehrt
werden konnte. Dem Geschworenen soll daraus kein weiterer
Vorwurf gemacht werden, es ist klar, dass er sich für das Strafmass
interessiert, über das er eine Ansicht zu haben glaubt. 23) So wird
z. B. die Frage nach dem Wert der gestohlenen Sachen, die nach
bernischem Strafrecht ausschlaggebend ist für die Frage, ob der
Diebstahl mit Zuchthaus, Korrektionshaus oder Gefängnis bestraft
werden soll (Art. 211 Strafgesetz) leichthin danach beantwortet,
welche Strafe die Geschworenen im betreffenden Fall
für angemessen erachten. Endlich bringt es der Umstand, dass
für jeden Fall oder doch für jede Assisensession eine neue Geschworenenbank
gebildet wird, mit sich, dass sich eine gleichmässige
Gerichtspraxis nicht bilden kann, indem die gleiche Frage
unter den persönlichen Eindrücken des Augenblickes bald so,
bald anders beantwortet wird, was die Gefahr der Willkür und der
rechtsungleichen Behandlung steigert.
Für diese hier in aller Kürze geschilderten Nachteile, ist nicht
der einzelne Geschworene verantwortlich zu machen, sondern das
im Gesetz vorgesehene System, das den Geschworenen eine Aufgabe
zumutet, die über seine Kräfte geht. 24)
Das Problem der Verbesserung der Schwurgerichte ist kein
bernisches, sondern ein universelles und wird überall, auch in den
Ursprungsländern England und Frankreich diskutiert. Es würde
aber zu weit führen, es hier bis in alle Einzelheiten zu verfolgen.
Was die Schweiz anbelangt, seien folgende Daten genannt: 1883
wurde die Jury im Tessin abgeschafft, 1886 die Jury in korrektionellen
Sachen in der Waadt, 1889 die Jury in der eidgenössischen
Militärstrafgerichtsbarkeit, 1890 suchte Genf das Verfahren
durch Vermehrung des Einflusses des Präsidenten, der bei der
Beratung der Geschworenen mit beratender Stimme anwesend ist,
zu verbessern. 25)
Einen massgebenden Schritt, um die in den Geschworenen
liegenden Fähigkeiten sachgemäss zur Geltung zu bringen, machte
dann unser neues Strafverfahren vom 20. Mai 1928, in dem die
acht Geschworenen mit den drei Berufsrichtern der Kriminalkammer
dee Obergerichtes zu einem einheitlichen Gerichtskollegium
vereinigt wurden.
Dieses System weist eine Reihe nicht zu unterschätzender Vorteile
auf: zunächst bleibt das politisch-demokratische Prinzip gewahrt,
wonach dem Volke ein direkter Einfluss auf die Strafrechtspflege
gewährt wird, nicht im althistorischen Sinn des Schutzes
gegen Tyrannenmacht, sondern um in weiteren Kreisen des Volkes
das Interesse für die Strafrechtspflege zu erhalten. Dass dieses
Interesse hie und da den verwerflichen Beigeschmack der
Freude an Sensation annehmen kann, ist die nicht erwünschte
Kehrseite, hängt aber mehr vom Gegenstande des Strafprozesses
ab als von der Organisation des Gerichts. Es erhalten auf diese
Weise weitere Kreise als die Angehörigen des Richterstandes einen
unmittelbaren Einblick in die Kriminalität des Landes und die
Verhältnisse, aus denen sie entsteht. Die Beratungen bei Anlass
der Strafprozessrevision haben denn auch gezeigt, dass eine einfache
Abschaffung der Geschworenengerichte und damit die Ausschaltung
des Volksrichtertums aus der Kriminaljustiz nicht gewünscht
wird. Das alte Prinzip der Beurteilung durch seinesgleichen,
durch Standesgenossen, findet hier noch einen gewissen
Anklang in unserer, auf der Gleichheit der Bürger aufgebauten
Gesellschaft.
Sodann kann der Volksrichter auch bei diesem System seine
natürlichen Fähigkeiten bei Anlass der Beweiswürdigung in freier
Weise zur Geltung bringen. Er bringt dem Fall "seine frische
Auffassung"27) entgegen, da er noch nicht durch die länger
dauernde Beschäftigung mit ähnlichen oder unähnlichen Fällen
ermüdet ist, daher sein reges Interesse, das ihn allerdings
auch wiederum zu einer Ueberschätzung des besonderen Falles
führen kann. Er stammt vielleicht aus den gleichen Volkskreisen
wie der Angeklagte, er kennt die Verhältnisse, in denen letzterer
gelebt und gehandelt hat, die Stärke der Versuchung, die Bedeutung
der äusseren Anlässe wie der subjektiven Gelüste und Bedürfnisse,
die bestimmend wirkten; man denke z. B. an den Fall,
in welchem ein Geschworener aus bäuerlichen Kreisen eine Anklage
wegen Misshandlung zu beurteilen hat, die auf einen Wirtshausstreit
an einem Tanzsonntag zurückzuführen ist. Dass sich
dieser Einfluss des Einzelnen nicht allzu einseitig geltend macht,
soll die Zahl der Geschworenen vermeiden, die das neue Gesetz
auf acht angesetzt hat; auch die im neuen Gesetz anders gehaltenen
Ablehnungsbestimmungen (Art. 278 ff. StrV 1928) wollen
der Gefahr allzu einseitiger Besetzung der Geschworenengerichte
entgegenwirken.
Andererseits hat man dem Geschworenen die Verantwortlichkeit
für die Entscheidung schwieriger Rechtsfragen in der Hauptsache
abgenommen, die nach dem früheren System gerade bei den fähigeren
und gebildeten Geschworenen unter Umständen recht drückend
und quälend sein konnte. Die gemeinsame Beratung mit den
Richtern gibt ihnen hier Gelegenheit zur Bildung einer festen Ansicht,
ohne sich dabei blossstellen oder ihre Unwissenheit in
einer für sie unangenehmen Weise kundgeben zu müssen.
Und endlich interessiert den Volksrichter der ganze Fall viel
mehr, weil er ihn auch ganz zu beurteilen hat und man ihm nicht
gerade das entzieht, was ihn am meisten interessiert, nämlich die
Verfügung über das weitere Schicksal des schuldigen Angeklagten,
die Bestimmung der Strafe nach Art und Mass. Wird hierbei
durch die Mitberatung der Berufsrichter verhindert, dass
die im Gesetze aufgestellten Grenzen, maxima und minima, verletzt
werden, so ist doch die Freiheit des Richters namentlich
in den neueren Strafgesetzen eine sehr weitgehende, da oft verschiedene
Strafarten alternativ angedroht sind, mit sehr weitem
Strafrahmen, 28) oder fakultativ Nebenstrafen, deren Verhängung
für den Angeklagten oft unangenehmer ist als die Strafe selbst,
wie z. B. die Einstellung in der bürgerlichen Ehrenfähigkeit oder
das Wirtshausverbot. Auch die Gewährung oder Nichtgewährung
des bedingten Straferlasses nach dem Gesetz vom 3. November
1907 kann hier eine Rolle spielen, da sie von einer Würdigung
der gesamten Persönlichkeit des Verurteilten abhängig gemacht
wird. Gerade bei diesen Fragen wird der Geschworene um so lieber
mitsprechen, als ihm die menschliche Seite des Falles näher
liegt. Da ihm dieser direkte Einfluss früher versagt war, suchte
er ihn, wie bereits erwähnt, in einer Weise auszuüben, die nicht
immer korrekt oder gesetzmässig war. Auch hier muss der Berufsrichter
auf Grund seiner Kenntnis der bestehenden Gerichtspraxis
eingreifen, um eine allzu weitgehende Individualisierung
zu vermeiden und den Zusammenhang mit frühern ähnlichen Fällen
nicht ganz zu verlieren. Das ist umso wichtiger, als ja ein Strafurteil
nicht bloss für den Angeklagten selbst Bedeutung hat, sondern
für das ganze Land und seine Bewohner. Eine ungerechtfertigte
Freisprechung oder ein auffallend mildes Strafurteil können
schlimme Erscheinungen im Volksleben nach sich ziehen und als
Anregung zur Gesetzesverletzung wirken. Umgekehrt kann eine
allzu grosse Strenge in weiten Kreisen abstossend empfunden werden.
Bei aller Individualisierung, wie sie der modernen Strafrechtspflege
eigen ist, darf die generelle Idee der kontinuierlichen Verbrechensbekämpfung
nicht ausser acht gelassen werden, als deren
Hüter naturgemäss der Berufsrichter erscheint.
Wenn man zum Schluss die verschiedenen Vor- und Nachteile
der Volksrichter und der Berufsrichter einander gegenübersteht,
so wird man sehen, dass sie sich gegenseitig teilweise aufheben:
der Berufsrichter ergänzt die fehlende Rechtskenntnis des Volksrichters,
der letztere vermittelt dem Gesamtgericht möglicherweise
ein vollständigeres Bild des Vorfalls, er betrachtet ihn als
allein zu beachtende Erscheinung, während die Erfahrung des Berufsrichters
ihn in den Zusammenhang der kriminellen Erscheinungen
überhaupt stellt. Lohnt es sich da nicht, den Versuch zu
machen, beide Elemente in gleicher Rechtsstellung innerhalb des
gleichen Gerichtskollegiums zu vereinigen? Ich glaube, diese
Frage bejahen zu können. Die spätere Zeit wird über die praktischen
Resultate dieser Anschauung urteilen können. Ein Moment
ist dabei zu erwähnen: aus der früheren Zeit der Selbständigkeit
der Jury ist die grosse zahlenmässige Ueberlegenheit
der Volksrichter ins moderne Geschworenengericht herübergenommen
worden, acht Geschworene stehen den drei Berufsrichtern gegenüber.
29) Durch häufigere Heranziehung des einzelnen Geschworenen
zu seinen Funktionen könnte seine Brauchbarkeit noch
gehoben werden, dieses Resultat wäre aber nur durch eine bedeutende
Reduktion der Urlisten zu erreichen und könnte unter Umständen
infolge der stärkeren Belastung des Einzelnen zur Folge
haben, dass die besseren und tüchtigeren Personen sich diesem
zeitraubenden Justizdienst zu entziehen suchen würden, so dass
der Vorteil wieder verschwinden würde.
Das Gesetz allein kann hier nicht alles erreichen. Vieles hängt
von der Einzelpersönlichkeit des Richters ab. Die wichtigsten
Eigenschaften sind nicht Gemeingut einer bestimmten Richterkategorie:
Das natürliche Rechtsgefühl, die Liebe zur Gerechtigkeit,
die Selbständigkeit des Denkens, verbunden mit dem Bewusstsein
der eigenen Unzulänglichkeit in der Beurteilung gewisser
Fragen, die Fähigkeit, sich belehren zu lassen und unrichtige
Auffassungen zu verbessern, Unbestechlichkeit, die Erkenntnis,
dass die Rechtsprechung eine Aufgabe der Gerechtigkeit und
nicht der Politik ist, sind für alle Richter in gleicher Weise
notwendig und bilden wertvolle unentbehrliche Garantien für die
Erreichung des mit der Justizpflege auf allen Gebieten (Zivil-,
Straf- und Verwaltungsrechtspflege) verfolgten Zieles.
Und trotz aller dieser von der Person des Richters geforderten
Eigenschaften tritt die Person des Richters in der Oeffentlichkeit
immer in den Hintergrund. Man zitiert nicht die Urteile einer
bestimmten Richterperson, sondern eines Gerichtes. Man diskutiert
über die Praxis eines Gerichtes, nicht über die Ansicht der
einzelnen Gerichtsmitglieder. In dieser Anonymität liegt ein Teil
der Grösse des Richteramtes. Der Rechtsgelehrte wird berühmt
durch seine wissenschaftlichen Leistungen, der weise Gesetzgeber
sichert sich die Dankbarkeit auch späterer Generationen, der
glänzende Advokat wird bekannt und vermehrt in gewinnbringender
Weise seine Tätigkeit. Der Richter, in seine Anonymität gehüllt,
muss sich begnügen mit dem Gefühl, seine Pflicht erfüllt
zu haben. Mehr wird ihm in den wenigsten Fällen zuteil. Aber
gibt es überhaupt ein Mehr und hat er nicht den schönsten und
wichtigsten aller juristischen Berufe ausgeübt?
Anmerkungen