WIE IST
WELTGESCHICHTE MÖGLICH?
REKTORATSREDE
VON
HERMANN BÄCHTOLD
BASEL 1931
VERLAG HELBING & LICHTENHAHN
An dem Tage, wo der mit der Führung des Rektorates
betraute akademische Lehrer vor einem besonderen Kreise
von Zuhörern zu sprechen den Vorzug hat, greift er gern
über alle Einzelgegenstände und alle Einzelprobleme
seines Faches hinweg nach einem grundsätzlichen Thema *).
Was aber gäbe es Grundsätzlicheres für eine Einzelwissenschaft
als das, was ihr, formal oder material, zu-grunde
gesetzt, noch schärfer: was ihr voraus-gesetzt ist, was also
ihr Prinzip ist oder ihre Prinzipien sind?
Es ist jedoch hier nicht die Absicht, allgemeine logisch-methodologische
Überlegungen anzustellen zur Beantwortung
der Frage: Wie ist Historie überhaupt möglich?
Nur um eine Teilaufgabe der Geschichtsschreibung handelt
es sich in dieser Stunde (allerdings um die allgemeinste),
nur um eine Blickrichtung des historischen Erkennens,
genauer um das, was diesen Blick richtet, ausrichtet. Die
Frage heißt:
Wie ist Weltgeschichte möglich?
Unter welchen Voraussetzungen ist Weltgeschichte
möglich?
Wobei jedoch die Beantwortung zur guten Hälfte indirekt
erfolgt durch die Beantwortung der Frage: Welche Voraussetzungen
hatten die alte Weltgeschichte unmöglich gemacht?
Wenn wir so über das Problem der Weltgeschichte
sprechen wollen, so geschieht auch dies mit einem Minimum
von systematisch-philosophischen Erörterungen und mehr,
wie es dem Historiker geziemt, in geschichtlicher Darlegung.
Überdies haben wir auf dem für diesen Anlaß
kurz bemessenen Gang durch die Problematik des Themas
bei jedem Schritt, als Sprechender und als Hörende, zahlreich
auftauchende Probleme rechts und links von uns
abzuwehren.
Es geht um ein Thema, bei dem die Frageform —
von unserer jüngsten geistigen Situation aus gesehen —
gewiß die der Sachlage entsprechende ist. Allerdings nicht
insofern, als ob die kritische Frage sich dann besonders
gegen Weltgeschichtsschreibung, ja gegen die Möglichkeit
von Weltgeschichtsschreibung wenden würde. Die Lage
ist eher umgekehrt. In Frage stellen wir den von der
letzten und vorletzten Forschergeneration vorwiegend geübten
Verzicht auf Welthistorie. Und diese Fragestellung,
diese Infragestellung ist selbst hervorgetrieben von dem
positiven Bedürfnis nach Wiedergewinnung weltgeschichtlicher
Blickeinstellung. Dieses Bedürfnis seinerseits aber
ist wieder nicht etwas Willkürliches, sondern erscheint
eingelagert in einen Stromwechsel, der in den tieferen
Schichten des gegenwärtigen geistigen Lebens vor sich geht.
Damit ist unser Problem eine Teilerscheinung der geistigen
Krisis der Gegenwart, die ja auch das wissenschaftliche
Bewußtsein im allgemeinen und im einzelnen in Bewegung
und in Unruhe versetzt.
In dieser konkreten geistigen Situation stehend, die
uns über dem Problem nicht zur Ruhe kommen läßt, in
der das Problem sich nicht zur Ruhe bringen läßt, sind
wir zudem noch der Wirkung praktischer Motive ausgesetzt.
Sie liegen schon im Lehrauftrag des Sprechenden
für Allgemeine Geschichte des Mittelalters und der
Neuzeit. Er sieht sich damit geschichtlich geistigen Landschaften
gegenübergestellt, in denen er stetsfort das Bild
vor Augen hat, wie aus zeitlich weiter zurückliegenden Gegenden
die welthistorischen Kräfte mit entfalteten oder zusammengerollten
Fahnen, Land besetzend, Land verlierend
und zur Entscheidung aufrufend, ihren Durchmarsch
nehmen. Schweizerische Universitätshistorie ist zudem
dringender auf die Gewinnung eines besonders ausgeprägten
und vom nationalhistorischen Standpunkt
gesonderten universalgeschichtlichen Standpunktes
angewiesen, weil in ihr die Lehrstühle nach diesen Gesichtspunkten
stärker differenziert sind als in großen
Ländern. Jacob Burckhardt meint allerdings selbst für die
Vaterländische Geschichte —und ich würde ihm in einem
noch weiteren als dem gemeinten Sinne recht geben —,
das wahrste Studium der Vaterländischen Geschichte werde
dasjenige sein, welches die Heimat in Parallele mit dem
Weitgeschichtlichen und seinen Gesetzen betrachtet, als
Teil des großen Weltganzen, bestrahlt von denselben Gestirnen,
die auch anderen Zeiten und Völkern geleuchtet
haben, und bedroht von denselben Abgründen... Aber
vielleicht gibt es zwei Historikertypen: Der eine geht
vom Einzelnen aus — ich möchte sagen positivistisch, und
deshalb die Geisteshaltung des vergangenen XIX. Jahrhunderts
für sich habend — und schreitet von da aus ins
Allgemeinere und Umfassendere hinein, so weit als der
Atem reicht. Der andere geht aus vom Allgemeinen —
das aber weder ein Abstraktes noch ein vermeintlich Fernes
ist — sagen wir deshalb besser: vom Ganzen aus, noch
besser: davon aus, was das letzte historische Ganze
konstituiert. Dabei hat er allerdings für sich einen gewissen
Zug unserer Zeit, insofern als sie in einer ganzen
Reihe von Wissenschafts- und Wirklichkeitsbereichen den
Vorrang der Ganzheitsbetrachtung des Gegenstandes, eben
gegenpositivistische Einstellung postuliert.
Die Ausdrücke "Weltgeschichte", "weitgeschichtlich"
sind allerdings vielleicht so üblich wie je. Meist werden
sie aber in verwaschenem Sinne gebraucht, um diese und
jene umfassenderen, einen irgendwie breiteren Raum überdeckenden
geschichtlichen Phänomene zu bezeichnen. Ab
und zu liegt auf ihnen noch der Widerschein wahrhaft
weitgeschichtlicher Dignität, dann, wenn sie Erscheinungen.
meinen, die einst als absolute Geistesmächte anerkannt
waren. Der Ausdruck "Weltgeschichte" wird ferner gebraucht
zur Betitelung jener Kollektivweltgeschichten, die
als Riesenkonglomerate durch Zusammenarbeit mehrerer
entstehen, Weltgeschichten, in denen perspektivisch ganz
verschieden gesehene und zwar unter partikularen Gesichtspunkten
gesehene Geschichtsbilder zusammengeheftet
sind zu einem heterogenen Ganzen.
Die heutige Verwendung der Worte "weltgeschichtlich",
"Weltgeschichte" bringt deshalb mehr die Tatsache
zum Bewußtsein, daß in der Hauptsache die Weltgeschichtsschreibung
mit vorschreitendem
XIX. Jahrhundert der Auflösung anheimgefallen
ist. Und zwar in zweierlei Richtungen: Sie hat sich
partikularisiert, d. h. aufgelöst in zeitliche und räumliche
Teilgebiete oder gar Teilganze, namentlich Geschichten
von Völkern und Völkergruppen bzw. Kulturkreisen.
Und sie hat sich spezialisiert, d. h. aufgelöst in Fachgebiete.
Das gilt vor allem für das zunächstliegende
Teilganze des abendländischen Kulturkreises. Es gilt auch,
wenn schon weniger, für die Antike und noch weniger
für die übrigen Einzelvölker- und Völkergruppenkulturen,
wo Islamwissenschaft, Ägyptologie, Assyriologie, Iranistik,
Indologie und Sinologie noch relative Facheinheiten sind.
Der diese Kultureinheiten zeitlich unterströmende und
räumlich umströmende Okeanos der primitiven Menschheit
wird allerdings von einer Reihe von Fachwissenschaften
forschend befahren, von der Prähistorie, der
Ethnologie, der vergleichenden Religionswissenschaft usw.
Beim Aufsuchen der Gründe für diese Zerspaltungsprozesse
aber wird dann die weitere Frage auftauchen:
Sollte die Schwächung universaler Erfassung des geschichtlichen
Menschheitsdaseins, sollte jener zutage liegende
doppelte Auflösungsprozeß nicht vielleicht begründet sein
in der Auflösung einer tiefer liegenden geistigen Haltung?
Fassen wir zunächst die zwei genannten Auflösungsrichtungen
ins Auge.
1.
Für die partikularistische Auflösung ist
eine ganze Reihe von Faktoren verantwortlich zu machen.
An erster Stelle sind zu nennen das Nationalitätsprinzip
des XIX. Jahrhunderts und die nationalen
Einigungsbewegungen, die zeitweise fast unwiderstehlich
die Kräfte und Interessen auch der Historiker in
Bann schlugen und bei ihnen den Blick auf die Universalgeschichte
zurücktreten ließen oder ganz absorbierten, so
daß nun vielfach Nationalgeschichten entstanden oder
allgemeingeschichtliche Darstellungen, worin die Geschichte
der eigenen Nation gleichsam theoretisch privilegiert
oder gar verabsolutiert wurde, aus deren Zusammenfügung
also auch natürlich ein widerspruchloses und
bruchloses universales Gesamtbild sich nicht gewinnen
ließ. Was Fr. Meinecke von der deutschen Historie sagt,
gilt mehr oder weniger von allen nationalen Historien:
Das historische Denken ist, vorab seit der Romantik, im
großen und ganzen in Kampf um Staat und Nation
entwickelt worden.
Im Zusammenhang damit, aber noch aus andern Gründen,
treffen wir da und dort auch auf die Tendenz, bestimmte
Grundhaltungen des Geistes zu binden an bestimmte
Nationen oder Rassen (auch an Landschaften und
Stände), z. B. bestimmte Kunststile zuzuordnen bestimmten
Rassen (Worringer), sie so zu partikularisieren und damit
Universales, über das Nationale Hinausgreifendes, bzw.
in einer tieferen, allgemein-menschlichen Schicht Verwurzeltes
aufgehen zu lassen im Nationalen. So eine
Überwucherung des Universalen durch das Partikulare.
Wenn schon durch dieses Überwuchern eine Schwächung
der Einheit des abendländischen Gesamtgeschichtsbildes
vor sich ging, so litt das Universalgeschichtliche
weiter Not durch ein zweites Moment. In diesem selben
XIX. Jahrhundert nämlich drängten sich die außereuropäischen
(untergegangenen oder noch vorhandenen)
Kulturen mit ihren großen Unterschieden unter sich
und gegen Europa in den wissenschaftlichen Gesichtskreis.
Und auch die bisher im Zusammenhang einer weltgeschichtlichen
Stufenfolge oder im Zusammenhang starker
Kontinuitätseinheit gesehenen Kulturkreise Alter
Orient-Antike-Abendland traten in ihrer Individualität
schärfer gegeneinander und die Zusammenhänge
mehr zurück, bis sie z. B. in Spenglers Weltaspekt ganz
verschwanden. Diese universalgeschichtliche Linie — die
wir hier kurz die horizontale nennen wollen, weil
sie quer von Kulturkreis zu Kulturkreis, bzw. von Weltreich
zu Weltreich läuft, im Gegensatz zu den vertikalen,
parallel aufsteigenden Einzelvölkerentwicklungen —verlor
auch da, wo sie noch anerkannt wurde, an weltgeschichtlichem
Rang. Denn der geschichtliche Raum Alter Orient-Antike-Abendland
erwies sich nur als ein relativ kleiner
Teilraum des Planeten.
Wenn schon das Zurücktreten der horizontalen Zusammenhangslinie
indirekt die vertikalen Entwicklungslinien
der Einzelvölker oder Einzelkulturkreise in ihrer
Individualität, ja Totalität schärfer hervortreten ließ, so bekamen
nun drittens die neu gesehenen vertikalen Völkerentwicklungslinien
vergrößertes Gewicht dadurch,
daß auch sie, gleichsam in die Länge gezogen, in Stufen
gegliedert und diese Stufen in eine bestimmte Abfolge
gebracht wurden; größeres Gewicht zudem, als z. T.
infolge der Romantik die Forschung in Frühzeiten zurückverlegt
wurde, wo z. B. bei den Germanen überhaupt noch
wenig universal-horizontaler Realzusammenhang vorhanden
gewesen war; größeres Gewicht, als überdies auch eine
Rückverlegung des Wertakzentes auf die früheren
und mittleren Zeitstufen innerhalb der vertikalen Linien
vor sich ging. Jedenfalls sind die primitiven prähistorischen
Stufen im Rankischen und Burckhardtschen Weltgeschichtsbild
noch fast ganz unbeachtet geblieben. Bezeichnend
ist, wie sich Burckhardt verhielt, wenn er durch
die Jahrhunderte des Mittelalters nach rückwärts blickte
und sein Blick an die Stelle geriet, wo die geschichtliche
Linie — an der ersten Kontaktstelle der germanischen
Geschichte mit dem vorangegangenen anderen, dem antiken
Kulturkreis — sich gabelte. Er wandte sein Interesse
weniger, gleichsam vertikal, der germanischen Früh- und
Urzeit zu, sondern bog, universal-horizontal, ab in der
Richtung auf die Antike. Das heißt: Der Einleitungsband
für das Mittelalter war nicht eine Darstellung des Früh-
und Urgermanentums, sondern eine Darstellung der Spätstufe
der Antike im Zeitalter Constantins.
Viertens wirkten auch die aufkommenden nationalen
sprach- und literaturgeschichtlichen Forschungen
zugunsten der Betonung der vertikal-nationalen Linien.
Fünftens übte nochmals in derselben Richtung des
Vorranges der vertikalen Linien vor der universalen seinen
Einfluß das Auftreten der Wirtschaftshistorie und
der Rechtshistorie. Gerade hier, vor allem bei der
Wirtschaftsgeschichte, ist ja auch der Experimentierboden
für vertikal-nationale Stufentheorien.
Es ist an diesem Ort nicht möglich, aufzuweisen, wie
der geschlossene universale Einheitsstufengang der Weltgeschichte,
so wie er etwa bei Fichte oder Hegel vorhanden
war und bei Hegel z. B. sich noch glücklich der
bereits auftauchenden vertikalen Stufenlinien erwehrte,
erweicht ist zum universalgeschichtlichen Kontinuitätsgedanken.
Bei Ranke und Burckhardt ist er noch fast
absoluten Ranges und fast begründend für den Glauben
dieser Geschichtsschreiber an Sinn und Zweck des menschheitsgeschichtlichen
Daseins. Hernach aber verdünnt er sich
zur bloßen Feststellung von Rezeptionen, kaum mehr von
wirklichen Renaissancen. So weit er sich noch hielt (hauptsächlich
für die Linien der humanistisch-idealistischen
und christlichen Geistesströme), aber breiten Raum lassen
mußte der sich aufdrängenden Wirklichkeit der vertikalen
Nationalentwicklungen, ergab sich das schwierige, noch
viel zu wenig gesehene Problem der Verrechnung
und Kombinierung beider Linienarten bei der
Deutung der großen geschichtlichen Erscheinungen und
ihrer Einordnung in dieses Koordinatensystem. Wenn
z. B. Rudolf Unger davon spricht, daß der ursprünglich
mehr oder minder unter der Schwelle des reflektierenden
Denkens sich vollziehende dichterische Gestaltungsprozeß
im Verlauf der Kulturentwicklung immer stärker in das
Licht heller Reflexion und zweckbewußter Technik rücke,
so könnte man vermuten, daß er nationale Stufen meint;
es zeigt sich dann aber auf das deutlichste, daß irrigerweise
von universalen Stufen die Rede ist. Das treffen wir auch
sonst an. Karl Bücher z. B. hat seine wirtschaftsgeschichtliche
Stufentheorie, die meinetwegen halbwegs stimmen
mag für die vertikal-nationale Entwicklung, auch auf die
universale Entwicklung übertragen. Er verwendete die
erste Stufe, die geschlossene Hauswirtschaft, für die Antike
und das germanische Frühmittelalter zusammen.
Bei der Zersetzung des universalgeschichtlichen horizontalen
Zusammenhangs aber ist entscheidend wirksam
noch ein anderes Moment gewesen. Es liegt in der in der
zweiten Hälfte des XIX. Jahrhunderts so stark sich vordrängenden
positivistischen Geisteshaltung, einmal
negativ durch ihre Gegnerstellung gegen Christentum
und Humanismus-Idealismus, also gegen die Mächte,
die bisher die eigentlich welthistoriographisch konstituierenden
Faktoren gewesen waren, nun aber aus dem
Geschichtsbild relativ zurücktreten mußten. Begann man
doch sogar sie vorwiegend oder ausschließlich in vertikalnationale
Zusammenhänge einzuordnen und ihnen damit
den weitgeschichtlichen Charakter überhaupt zu nehmen.
Die Geschichte des Christentums z. B. wurde in ihrer
ersten Hälfte als religiöse Spätstufe des Altertums und in
ihrer zweiten Hälfte für die religiöse Frühstufe des Abendlandes
in Anspruch genommen. Positiv aber an der
Wurzel getroffen wurde der Glaube an einen einheitlichen
Weltgeschichtszusammenhang dadurch, daß die positivistische
Auffassungsweise, auch wenn sie nicht eigentlich
naturalistisch sein wollte, geneigt war, die ausschließliche
Herleitung der geschichtlichen Ereignisse und Erzeugnisse
aus dem subjektiven (immer irgendwie partikular gerichteten)
Geist, will sagen dem physisch-psychischen Substrat
(der Einzelnen und der Völker) der Geschichte, zu betonen.
Einzelne und Völker in diesem Sinn aber können
abtreten vom Schauplatz und untergehen und damit die
weltgeschichtliche Kontinuität zerreißen. Aufgegeben ist
somit der Gedanke an einen selbständig wirkenden objektiven
Geist oder gar an einen in sich gegründeten
absoluten Geist — Voraussetzungen früherer Weltgeschichtskonzeptionen.
Mit der positivistischen Haltung
war eine geistige Gesamtauffassung des menschlichen
Wesens nach seinem einheitlichen Lebenssinn weithin
agnostizistisch und skeptisch preisgegeben worden.
Damit könnte angedeutet sein, in welcher Richtung
die Voraussetzung liegt für die Wiedergewinnung des
Fundamentes weltgeschichtlicher Betrachtungsweise. Bloß
empirisch nämlich vermögen wir dazu nicht vorzudringen.
Da stehen wir immer vor einer Vielheit von partikularen
(z.B. nationalen), besonderen Ziel- und Zweckrichtungen
geschichtlichen Lebens, gelangen aber nicht zum
allgemeinen Wesen und Sinn menschlichen Daseins.
Dieses Allgemeine ist aber weder die Gesamtsumme der
partikularen (nach Einzelmenschen, Völkern oder Zeitaltern
individualisierten) Wesenseigenschaften oder Sinnrichtungen,
noch das allen Menschen und Völkern gemeinsame
Partikulare (neben dem jedem Volk, Zeitalter oder
Kulturkreis eigentümlich Partikularen). Das Wesen und
damit der eine Sinn menschlichen Daseins ist in allem
Partikularen mächtig und gegenwärtig. Dieser letzte überpartikulare
Sinn des menschlichen Daseins, der erst die
wahre Einheit der Menschheitsgeschichte fundieren würde,
ist überhaupt nicht durch Ausweis einer Gleichheit oder
Zusammenhangseinheit der menschlichen Geschichte auf
der Ebene des empirischen Daseins zu fassen, selbst wenn
wir das Beobachtungsfeld noch so planetar über alles
Partikulare ausweiten. Er ist vielmehr, wenn er überpartikular,
also universal sein will, auch überempirisch.
Das heißt: er ruht in der Bezogenheit des Endlichen,
Relativen, Bedingten alles menschlichen Daseins
auf ein Ewiges, Absolutes und Unbedingtes, auf den
Grund und Ursprung alles empirischen Daseins und
damit der Welt, wäre also nur von dieser Bezogenheit
aus zu fassen und damit mit metaphysischen Voraussetzungen.
Nur damit wäre also auch der Blickpunkt für
eine einheitliche weltgeschichtliche Perspektive zu gewinnen.
Eben solche metaphysische Einstellung (mit welchem
Ausdrucke hier noch ungeschieden philosophisch-metaphysische
und religiös-glaubensmäßige Haltung bezeichnet
sein möge), ist aber im Laufe des 19. Jahrhunderts
in hohem Maße dahingeschwunden. Diesem Dahinschwinden
muß also letztlich der Verlust einheitlich weltgeschichtlicher
Betrachtungsweise zugeschrieben werden.
II.
Nun bietet aber der Bereich moderner geschichtlicher
Erkenntnis nicht nur den Anblick einer partikularistischen
Aufteilung, ja Auflösung in Einzelgeschichtsbilder von
Völkern und Kulturkreisen, sondern innerhalb dieser
Einheiten dazu den Anblick spezialistischer Aufteilung
und Auflösung des geschichtlichen Universums
an Fachgebiete, an Politische Geschichte, Rechtsgeschichte,
Wirtschaftsgeschichte, Literaturgeschichte, Kunstgeschichte,
Philosophiegeschichte, Kirchen- und Religionsgeschichte.
Und zwar kann die Aufteilung bis zur Isolierung
dieser Gegenstandsgebiete gegeneinander, ja zur
Auf lösung des Ganzen gehen. Es ist allerdings keine
Frage, daß für die Forschung Arbeitsteilung und fachspeziale
Parzellierung des Arbeitsfeldes (innerhalb der
Fächer sich noch weiter steigernd) unumgänglich war und
ist, aus doppeltem Grunde unumgänglich: extensiv, weil
das Quellenmaterial in unermeßlicher Anschwellung begriffen
war, intensiv infolge der großen Steigerung der
Präzision der Forschungsmethoden, infolge der Zerfaserung
der Untersuchungsobjekte auf Grund der Schärfung
der psychologischen Sehkraft und der Ersetzung typisch
schematischer Sehweise durch immer feiner individualisierende
und nuancierende. Dieser analytischen und differenzierenden
Richtung von geschichtlicher Forschung
und Deutung hielt nun aber die synthetische und integrierende
Richtung nur ein schwaches Gegengewicht. Zum
Teil wirkte mit dieser Tatsache zusammen, daß der akademische
Unterricht sich gezwungen sah, auf die berufliche
Ausbildung Rücksicht zu nehmen und die einzelnen
sachlich um ein Wertgebiet, z.B. das Recht oder die Wirtschaft,
zusammengeschlossenen Entwicklungsverlaufe herauszuschneiden
aus dem geschichtlichen Gesamtleben
und übermäßig loszutrennen von den vorhandenen Gesamtzusammenhängen.
So verhält es sich zum Teil mit
der Wirtschaftsgeschichte, die zumeist in ausgeprägter Isolierung
erforscht und geschrieben wird, nicht bloß etwa
bei Kulischer (Allgemeine Wirtschaftsgeschichte des Mittelalters
und der Neuzeit), der auch die naheliegendsten
Zusammenhänge mit andern Lebensbereichen unbeachtet
läßt. So ist es in hohem Grade der Fall auch mit der
Rechtsgeschichte, die in ihren großen zusammenfassenden
Darstellungen von Juristen geschrieben und für Juristen
bestimmt ist und deren Forschungsergebnisse deshalb in
allgemeingeschichtlichen Darstellungen für die Erkenntnis
der Geistes- und Lebenshaltung z. B. der mittelalterlichen
Menschen noch viel zu wenig ausgewertet worden
sind, obgleich gerade Teilgebiete, wie Straf-, Zivil- und
Prozeßrecht geistesgeschichtlich von größtem Ertrag sein
können. Die Kunstgeschichte hat ebenfalls lange übermäßig,
namentlich in ihrer formalen, stilgeschichtlichen
Richtung, sich isoliert und sich auf ihre Autonomie berufen.
Es war schon das Zeichen einer Wendung, daß
gerade auch in der formalen Kunstgeschichtsschreibung
das Bestreben aufkam, für die unübersehbare Vielfältigkeit
der Stiltatsachen auf einfache große Grundhaltungen,
zu fassen als Grundbegriffe künstlerischen Gestaltens, zu
kommen. Ich erinnere an Heinrich Wölfflins Grundbegriffe
und die starke Bewegung, die dadurch hervorgerufen
worden ist, z. T. in Widerspruch, z. T. im Weiterausbau
der Grundbegrifforschung (Schmarsow, Frankl, Dagobert
Frey, Panofsky, Scheltema, Kohn-Wiener).
Und die Gegenbewegung gegen die extreme Spezialisierung
wurde allgemeiner vor allem in dem Ruf nach
geistesgeschichtlicher Betrachtungsweise der von
den einzelnen Fachhistorikern behandelten Lebensbereiche.
Die Bewegung geht durch fast alle Disziplinen.
In der Literaturgeschichte untersucht beispielsweise
Rudolf Unger vor allem das Problem der Literaturgeschichte
als Geistesgeschichte und setzt sie in engste
Beziehung zu Philosophie- und Religionsgeschichte. In
der Kunstgeschichte ist es eine ganze Reihe von
jüngeren Forschern, die darauf hin wirkt, die Kunst als
Ausdruck der jeweiligen Geisteshaltungen zu deuten, sie
in ihrer Eingliederung in die allgemeine Kultur- und
Geistesgeschichte aufzusuchen. Rege sind vor allem die
Untersuchungen über die der Kunst entsprechende Entwicklung
der Weltanschauung in Philosophie und Religion,
über Parallelverläufe in der Entwicklung von Weltbegriff
und Stilform. Bei Panofsky und Dagobert Frey
treffen wir auf eine ausgesprochen geistesgeschichtliche
Fundierung ihrer kunstgeschichtlichen Ergebnisse, auf
den Hinweis innerer Verbundenheit von künstlerischem
und philosophischem Weltbild. Diese Richtung verstärkt
sich in dem Maße, als man innerhalb der Kunstgeschichtsforschung
gegen die vornehmlich formgeschichtliche Betrachtungsweise
den Inhalt stärker in Betracht zieht.
Aber bezeichnend ist eben doch, daß auch die Stilform
geistes- und weltanschauungsgeschichtlicher Deutung
unterworfen wird. In der Kirchengeschichte ist es
etwa Walther Köhler, der sie als Geistesgeschichte betrachtet
wissen will. Selbst in der Wirtschaftsgeschichte
verlangt die geistesgeschichtliche Deutung z. B.
durch Alphons Dopsch ihr Recht, und in der Rechtsgeschichte
ruft Hans Fehr nach mehr Geistesgeschichte.
Die Tendenz nach Überwindung der Ausschließlichkeit
fach-spezialistischer Forschungs- und Deutungsrichtung
tritt also überall hervor.
Immerhin sind es mehr nur Anfänge, und vorderhand
muß, wie oben bei der partikularistischen Zerteilung des
Geschichtsbildes, auch hier gesagt werden: Wir stehen
vor einer Mehrheit von mehr oder weniger isoliertem
Spezialem, von besonderen Lebens- und Geistesbereichen
ideeller und realer Art, z. B. Kunst, Wirtschaft
usw., also vor einem Bild, in dem Ziel und Zweck des
geschichtlich menschlichen Lebens spezialistisch aufgeteilt
erscheint.
Als Universalhistoriker aber interessiert uns zunächst
nicht die Deutung des Spezialen (wie auch nicht
des Partikularen), z. B. des mittelalterlichen Mönches, des
modernen Unternehmers, des Medizinmannes der magischen
Geisteslage, des Politikers der Renaissancezeit, vielmehr
all das erst auf dem Umweg über den Menschen,
auf dem Umwege der Erkenntnis des menschlichen
Wesens überhaupt. Dadurch wollen wir zu allgemeiner
Deutung jener spezialen Erscheinungen gelangen.
Was ist dies Allgemeine?
Das menschliche Wesen wird, unter geschichtlichen
und geistigen Gesichtspunkten betrachtet, konstituiert
nicht durch sein Sein als Fleisch und Blut, als Physis
und Psyche, sondern durch seine Beziehung auf den
Sinn, auf den Sinn des Lebens, durch seinen Sinngehalt,
durch seine Bejahung und Erfüllung der Sinnbestimmung,
bzw. durch den Widerstreit gegen diese Sinnbestimmung.
Zur Wahrheit über den letzten Sinn des menschlichen
Daseins und damit zur Einsicht ins menschliche Wesen
— Voraussetzung allgemeingeschichtlicher Betrachtungsweise
— gelangen wir aber auch hier wieder nicht
dadurch, daß wir die Gesamtsumme des Spezialen ziehen,
noch dadurch, daß wir ein gemeinsames Speziales aus
dem Gesamtspezialen abstrahieren und unterscheiden vom
eigentümlich Spezialen. Das Wesen und damit der
Einheitssinn menschlichen Daseins ist in allem
Spezialen mächtig und gegenwärtig, und erst
wenn dies Gegenwärtigsein des Allgemein-Menschlichen
im Spezial-Menschlichen erkannt
ist, ist auch das Speziale voll, d.h. allgemeingeschichtlich,
erkannt.
Dieser letzte überspeziale, jedoch im Spezialen gerade
erscheinende Sinn des menschlichen Daseins ist, eben
wenn er überspezial (wie nach den früheren Ausführungen
auch überpartikular) sein soll, auch überempmirisch.
Das heißt: er ist fundiert durch die Bezogenheit
des Bedingten, Endlichen und Relativen aller Spezialrichtungen
menschlichen Lebens auf ein Unbedingtes,
Absolutes, Ewiges, auf den Grund, auf den Sinngrund
des empirischen Daseins. Er tritt hervor als
Gehorsam gegenüber dem Sinngrund (und verschafft damit
dem Leben die Verheißung auf Sinnerfüllung) oder aber als
Widerstreit gegenüber dem sinngebenden Grund (und
bedroht damit das Leben mit der Gefahr des Abgleitens
in den Sinnabgrund). So stehen wir wieder vor der metaphysischen
Voraussetzung, die hinzunehmen ist, wenn
wir die weltgeschichtliche Perspektive für die geschichtlichen
Dinge und den übergreifenden Zusammenhang für
sie gewinnen wollen.
Nicht um die Ablehnung der Spezialforschung handelt
es sich, sondern um die Überwindung der spezialistischen
Betrachtungsweise, wo Teile des menschlichen
Gesamtdaseins verselbständigt, theoretisch privilegiert, ja
verabsolutiert werden, so daß aus den Teilen ein widerspruch-
und bruchloses Ganzes nicht mehr zu gewinnen ist.
Wir sind bei der Tendenz auf Auflösung des Weltgeschichtsbildes
zum zweitenmal auf einen dritten Auflösungsprozeß
als mitbedingende Ursache geführt worden,
auf die Auflösung der metaphysischen Geisteshaltung
im vorschreitenden XIX. Jahrhundert, d.h. auf den Verlust
des Glaubens an die Erkenntnis des letzten, allgemeinmenschlichen
Lebenssinnes, Verlust des Glaubens an ein
Getroffenwerden-können von der Wahrheit über diesen
Lebenssinn.
III.
Seit zirka l830 war metaphysische Haltung im
Schwinden begriffen, sowohl was die Philosophie als den
religiösen Glauben betrifft. Die Empirie, auch auf historischem
Gebiet gewiß schon längst vorhanden, forderte
weithin Alleingeltung. Wir können die Machtverschiebung
beider Erkenntnishaltungen deutlich gerade für die
Geschichtsschreibung verfolgen, z. B. am zentralen Ort des
Kampfes, in Berlin selbst, wo Hegel, der größte der Geschichtsphilosophen,
bis 1831 lebte, und ein paar Jahre
vorher, 1825, Leopold von Ranke, der größte der empirischen
Historiker, eingerückt war. Der Prozeß der Ablösung
der empirischen Geisteswissenschaften von der
Metaphysik war ein langsamer, und die Gegner Hegels
unter den Historikern der verschiedenen Fachgebiete
konnten die Kategorien Hegelscher Geschichtsbetrachtung
selbst nicht völlig entbehren. Von den Höhen des Idealismus
um 1800, wo die Verbindung christlicher und philosophisch-idealistischer
Motive geschichtsphilosophisch
und welthistoriographisch besonders fruchtbar gewesen
war, floß immer noch das zauberische Licht auf die Niederungen
der rasch und mächtig aufwachsenden kritisch-empirischen
Geschichtsschreibung, und lange noch lagen
Reflexe dieses Lichtes auf den neu entstehenden Geschichtsbildern.
Bei Ranke mit seiner geschichtlichen Ideenlehre
ist diese Tatsache verschiedentlich aufgezeigt worden. Bei
Burckhardt blickt sie auch noch hinter der Ablehnung
Hegels hervor. Schwach schimmert an entscheidenden
Stellen durch sein im wesentlichen empirisches Geschichtsbild
hindurch die metaphysische Urpolarität des Idealismus:
Stoff —Geist oder Freiheit —Notwendigkeit. Wenn
er etwa besondere Werthöhendifferenzen von weltgeschichtlichem
Rang zwischen zwei Zeitaltern messen will,
gebraucht er diese Kategorien, z. B. beim Übergang vom
alten Orient zum europäischen Griechenland. Aber noch
bei zahlreichen andern, z. B. Hermann Hettner, Victor
Helm, Gervinus, Treitschke, Rudolf Haym, leben Hegelsche
Ideen verblaßt fort. Und wenn um und nach der Jahrhundertmitte
viele Historiker von der Empiristik und
Realistik des Zeitalters, vor allem vom nationalen Leben
erfaßt sind, so stehen sie doch für unser Auge noch auf
einem verblassenden metaphysischen Hintergrund von
vorwiegend synkretistischer Verbindung idealistischer und
christlicher Restbestände, was z. B. aus dem soeben veröffentlichten
Briefwechsel Rudolf Hayms sichtbar wird.
Allmählich verdämmert dann auch dieser Hintergrund.
Man hatte das Metaphysische aus der empirisch-historischen
Welt ausgeklammert. Diese Ausklammerung
war eine legitime Maßnahme, sofern sie sich ihres
bloß methodischen Charakters bewußt blieb und sofern
sie im Rahmen der empirischen Forschung (unter
dem Gesichtspunkte des unmittelbaren Zweckes der
empirischen Forschung), die Bedeutung hatte, das Wirklichkeitsurteil
über das Ausgeklammerte zu suspendieren.
Aber für eine vorwaltende Strömung des XIX. Jahrhunderts
gewann sie Sach- und Endgültigkeitsbedeutung im
Sinne agnostizistischer und skeptischer Infragestellung, ja
Leugnung des Ausgeklammerten. Der Inhalt der Klammer
als Ganzes, die empirisch erfahrbare Welt nämlich als
in sich ruhende und in sich gegründete Wirklichkeit,
wurde verabsolutiert, das übersinnliche Absolute (der Philosophie
und der Religion) negiert. Es entstand der Positivismus.
Auch den positiven Wissenschaften, die sich
zunächst nur methodisch jener Einklammerung bedienten,
blickte vielfach der Positivismus über die Schulter, d. h.
im Bereich der Historie der relativistische Historismus.
Es war nicht bloß alles Geschichtliche unter empirischen
Gesichtspunkten relativ geworden (das wäre nicht
zu beanstanden), sondern es hatte unter keinen möglichen
Gesichtspunkten mehr Bezug zu einem Absoluten, also
auch nicht zu einem absoluten Lebenssinn. Unter den
Augen der sich verabsolutierenden empirischen Geschichtsbetrachtung
zerrann das Ganze in subjektives Sinnpartikulares
und Sinnspeziales: also Sinnzertrümmerung.
Ja, wenn dieser historische Positivismus naturalistisch
wurde, floß der Sinn aus Menschendasein und
Geschichte überhaupt aus wie aus einem zersprungenen
Glas: also Sinnentleerung und Sinnverödung.
Das war in der Tiefe die Auflösung, die in der Oberschicht
des historischen Lebens die Auflösung der Welthistorie
in die beiden Richtungen des Partikularismus
und Spezialismus, die wir kennen gelernt haben, mitbegründete.
Der Versuchung zu wertender Stellungnahme
entging übrigens die Historie damit doch meistens
nicht. Sie verfiel nun nur partikularen und spezialen
Maßstäben, mochten es auch große, würdige und bezaubernde
sein.
Dann aber begann sich die Geisteslage zu wandeln.
Die Jahrhundertwende etwa war auch eine Geisteswende.
In ihr stehen wir mitten drin.
Sie ist bestimmt durch die Wendung weg von der
Sinnleere des naturalistischen Positivismus gröberer und
feinerer Schattierung oder weg von dem relativistisch
und subjektivistisch aufgelockerten Sinnchaos im Bereich
des Bloß-Endlichen und Bloß-Bedingten, wo der Boden
unter den Füßen nachgibt, oder weg aus den Einkerkerungen
und Einengungen seitens einzelner, sich verabsolutierender
Teilmächte der realen Welt. Und sie war
bestimmt durch ein Suchen und Streben nach dem Absoluten
und Unbedingten: Wiederauferstehung der Metaphysik,
Neu-Idealismus, Neuromantik, Neumystik, Phänomenologie,
Expressionismus, ein neuer Humanismus
und eine neue Theologie. In dem allem aber das Zentrale:
das Ringen um Deutung des Wesens des Menschen
d.h. seines Lebenssinnes, deshalb der überall auftauchende
Gedanke einer philosophischen oder theologischen Anthropologie.
Und nun der Einstrom der neuen Geisteshaltung in
die Geisteswissenschaften. Das ausgeklammerte metaphysische
Bedürfnis beginnt die Klammer zu durchbrechen.
Eduard Spranger spricht davon, daß der ganze immer
noch vorherrschende kühle Positivismus der Geisteswissenschaften
unserer Tage ein Müdigkeitssymptom sei, und
Jaensch, der Marburger Psychologe, konstatiert den weichenden
Einfluß des Positivismus in den einzelnen Wissenschaften.
Und das will für die Historie besagen, daß ein neues
geschichtsphilosophisches Zeitalter — mitten
in der anscheinenden Auswegslosigkeit und Not des relativistischen
Historismus — angebrochen und in Entfaltung
begriffen ist. Die Geschichte ruft der Metaphysik; die
Metaphysik ruft die Geschichte vor ihr deutendes und die
Tiefenschichten der Dinge abdeckendes Auge. Man spricht
von der Geschichtsphilosophie als einem der edelsten Dinge
der Philosophie überhaupt und wagt die Behauptung, daß
im Mittelpunkt der metaphysischen Arbeit unserer Zeit
die spezifische Wendung zur Geschichtsphilosophie stehe
(Arthur Liebert). Spranger aber, der philosophische Pädagoge,
sieht, um die Neunormierung des Bildungsideals
ringend, als den besten Weg dazu die geschichtsphilosophische
Besinnung. Und auch bei ihm geschieht das
unter der Voraussetzung, daß das geschichtliche Menschentum
in metaphysischen Tiefen wurzelt, es mit dem Ewigen,
auch im Hier und Jetzt, zu tun hat. Auch er sieht die
Kulturkrisen, wie die heutige z. B. (und wohl die Lebensproblematik
überhaupt) aus dem tragenden Untergrund
religiöser Überzeugungen emporsteigen. Das heißt also —
würde ich fortfahren —: die scheinbar nur empirischen
geschichtlichen Erscheinungen reichen hinab in die letzte
Tiefe menschlicher Stellungnahme, der Stellungnahme
zum Grunde der Welt und zu dem von ihm gesetzten
Lebenssinn.
Allerdings wehrt sich die ältere Historie z. T. gegen
die jüngere Strömung aus Befürchtungen heraus für den
exakten, kritischen Betrieb der empirischen Historie.
Und natürlich muß sich die neue Richtung dessen bewußt
sein, daß ihr Wahrheitswille gegenüber dem unbearbeiteten
Rohstoff der Quellen nicht weniger stark sein
darf wie der der empirischen Historie.
Ferner wehrt sich diese im Namen der historischen
Mannigfaltigkeit und des Individualitätenreichtums
gegen die Gefahr der Vergewaltigung durch
abstrakte Formeln vom Wesen des Menschen. Und gewiß
muß sich die neue Strömung dessen bewußt sein, daß
sie nicht die Vielfältigkeit auf ein allgemeines Schema
reduzieren darf, sondern im vielfältig Partikularen und
Spezialen Sein und Sinn der menschlichen Situation aufzuweisen
hat.
Überdies wehrt sich die empirische Historie im Namen
der Objektivität gegen subjektive, ichbezogene und
ichbedingte Wertungen. Und allerdings muß sich die
neue Erkenntnisrichtung dessen bewußt sein, daß sie nach
dem Objektiven zu streben hat. Was mit welthistorischer
Einstellung aber ja gerade prinzipiell verbunden sein
soll, ist die Überwindung partikularistischer Wertgesichtspunkte.
Sie will die menschlich-geschichtliche Situation
abdecken und ihre Tiefe sichtbar machen dadurch, daß
sie sie ins Licht des gemeinsamen Lebenssinnes rückt,
so wie er dem historisch erkennenden Individuum aufgegangen
ist, gewiß in den Grenzen seiner Individualität
und insofern individuell, aber nicht subjektiv der Intention
nach. Gerade um den objektiven, unabhängig
von ihm gesetzten Lebenssinn ringt der Universalhistoriker
und damit um ein objektives, weil dadurch erst universales,
allverbindliches, ich will nicht sagen Wertungskriterium,
sondern Erkenntnismittel der letzten historischen
Wirklichkeit des Menschen, die eine sinnrelevante
Wirklichkeit ist, auch wo dem Sinn widerstritten wird.
Damit ergibt sich eine Gemeinsamkeit von Subjekt und
Objekt der Historie, von Hisotriker und historisch gedeuteten
Menschen (die Voraussetzung wahrer Objektivität).
Und zugleich empfangen durch dieses Ausgehen
vom letzten Sinn des Lebens universalgeschichtliches
Interesse und universalgeschichtliches Erkennen selbst
ihren Sinn und werden damit der Rechtfertigung teilhaftig,
die die modernen Wissenschaften überhaupt in
ihrem Ursprunge (vor ihrer Entwicklung ins Partikularistische
und Spezialistische) besessen haben: das Einbezogensein
von Erkenntnis und Erkenntnisgegenstand
in denselben allgemeinen Lebenssinn.
Es wehrt sich endlich die empirische Historie gegen
das Apriorische, der empirischen Erfahrung Vorausliegende
unserer Haltung. Diesem Einwand gegenüber
sind wir allerdings empirisch-wissenschaftIich
machtlos: ein metaphysisches Prinzip ist nicht
beweisbar. Es beruht auf innerer Gewißheit, und
die ist Glaubensgewißheit. Wollten wir das Prinzip
auf rationale Beweisbarkeit gründen, dann wäre es
keines mehr, wäre kein Prinzip mehr, und also auch
kein allgemeines, also auch kein welthistoriographisches
mehr.
Man kann die Möglichkeit der Erkenntnis des Lebenssinnes
leugnen. Man kann leugnen, daß von so etwas
überhaupt zu reden ist und kann damit die Voraussetzung
welthistorischer Erkenntnis und also die Möglichkeit
von Welthistorie selbst leugnen als eine Sache, die
selbst nicht mehr wissenschaftlich erreichbar und beweisbar,
also letztlich eben Glauben ist. Aber dieser Einwand
hat selbst nichts Besseres, oder, möchte ich sagen,
nichts Schlechteres zur Voraussetzung.
Wenn die Not des Relativismus mit ihrer Desorientiertheit
über die Zentralfrage des Lebens, seinen Sinn
nämlich, die neue metaphysische Geisteshaltung und
die neue geschichtsmetaphysische Welle hervorgetrieben
hat, wie könnte sich übrigens der Historiker der Stellungnahme
entschlagen, er, der selbst mit seinem Historismus
jene Strömung des Relativismus mit heraufgeführt?
Wenn die Not jemanden anläuft, so ihn.
Geschichtsphilosophie (oder Geschichtsmetaphysik)
ist übrigens auf dem Plan in nuce fast bei jedem Philosophen
und tritt ihre Herrschaft über die Köpfe an, auch
wenn wir Fachhistoriker in bezug auf ihre Berechtigung
den Standpunkt des Dahingestelltseinlassens einnehmen.
Was nützt unser Wollen oder Nichtwollen in Zeiten wie
der unsrigen, wo sich Ungeheuerstes rund um den Erdball
vollzieht, wo unter gewaltigsten Erschütterungen eine
Gestalt der Welt sich wandelt und Größtes noch bevorsteht?
Solche Zeiten treiben geschichtsphilosophische
Besinnung mit unwiderstehlicher Gewalt fast von selbst
empor. Es läßt uns auch nicht in Ruhe, wenn die Philosophen
in ihren philosophischen Anthropologien Wesen
und Sinn des menschlichen Lebens zu erfassen oder zu
vernehmen suchen und dazu noch selbst die Anwendung
auf die Geschichte andeuten. Da vermag keine Scheidewand
uns von der Bemühung abzuhalten, uns selbst an
der geschichtsphilosophischen Arbeit zu beteiligen. In
dem dabei resultierenden geschichtlichen Weltbild wird
ja dann bei uns Historikern die konkrete Mannigfaltigkeit
der historischen Erscheinungen im Vordergrunde stehen,
während der Theologe oder der Philosoph vom Fach
mehr in grundsätzlichen Ausführungen verharren wird.
Wenn es nun die metaphysische Wahrheit über
die Geschichte gibt — und ohne sie gibt es, wie gesagt,
eine universale Historie nicht —, müßte sich dann nicht
die bloß empirische Geschichtswahrheit mit dem Range
der vorbereitenden, allerdings deshalb nicht weniger
notwendigen begnügen?
Trotz aller Widerstände ist übrigens die metaphysische
Betrachtungsweise merklich auch in die Kreise der Fachhistoriker
selbst eingedrungen.
Spärlich erst ins Gebiet der Politischen Historie
i. e. S. Immerhin liegen z. B. beim späteren G. von
Below oder bei Fr. Meinecke idealistische Konzeptionen
vor, die bei von Below mehr in die Nähe Hegels, bei
Meinecke mehr in die Nähe Fichtes weisen.
Rechts- und Wirtschaftsgeschichte sind auch
noch fast unberührt.
Zaghaft ist auch die Haltung der meisten Kirchenhistoriker
i. e. S. (während stärker erfaßt schon die
alt- und neutestamentliche Forschung). Ich verweise etwa
auf diejenige Walther Köhlers in seiner im letzten Semester
gehaltenen Heidelberger Antrittsrede, ferner auf
diejenige Karl Heußis in seiner ebenfalls im letzten
Semester gehaltenen akademischen Rede über den Sinn
der Geschichte, die allerdings endigt in fast völliger Ratlosigkeit
in der Beantwortung der Frage.
In der Philosophiegeschichte werden zunächst
die metaphysischen Probleme in der Geschichte der
Philosophie wieder stärker gesehen (etwa bei Kant durch
Heimsoeth u. a.), und dieses neue Sehen ist bei solchen
Philosophiehistorikern nun eben getragen von einer
eigenen metaphysischen Haltung. Bei Werner Jäger z. B.
steht nach Julius Stenzel im Hintergrunde ein latente
geschichtsphilosophische Überzeugung. Stenzel selbst ist
in seiner Metaphysik der Antike der Meinung, daß es
möglich sei, hindurchzusehen durch die Erscheinungen
der Geschichte auf ein Tieferes. Er will die in dem verengten
Blick der Gegenwart uns entschwundenen, verschütteten
Probleme der Metaphysik der Griechen wieder
lebendig machen. Auch Paul Häberlin unterscheidet von
der gewöhnlichen oder äußeren Philosophiegeschichte
die wahre innere Geschichte der Philosophie, und Joëls
bald vollendetes Werk "Wandlungen der Weltanschauung"
trägt den Untertitel "Eine Philosophiegeschichte als Geschichtsphilosophie".
Am stärksten ist die Literaturgeschichtsschreibung
in Gärung geraten. Auch hier hat man den Blick
wieder gewonnen für die metaphysischen Probleme in
den Werken der Dichter (R. Unger, Walzel, E. Ermatinger
u. a.), wobei sichtbar ist, daß das nur geschah,
weil man sich selbst gewandelt hatte, losstrebte von der
positivistischen Geisteshaltung und wieder mehr metaphysische
Haltung annahm.
Fast ebenso lebhaft ist die Bewegung in der Kunstgeschichtsschreibung.
An verschiedenen Stellen
tritt unter Ablehnung bloß positivistischer Geschichtsbetrachtung
das Postulat einer Philosophie der Kunstgeschichte
auf (unter andern besonders ausgeprägt
bei dem Neuhegelianer Coellen). Aufs lebhafteste ist
hier die Historie darauf aus, die Beziehungen, ja Parallelen
ans Licht zu ziehen zwischen den Kunstwerken
nach ihrem Gehalt und auch ihrer Stilform
einerseits und den Weltbegriffen der betreffenden Zeit,
den religiösen und philosophischen Auffassungen vom
Verhältnis des Menschen zum Weltgrund andrerseits.
Ich erinnere außer an Coellen etwa an Dvorak, Gerstenberg
und Nohl.
Universalgeschichte hat, wie dargelegt worden ist,
zur Voraussetzung, daß in allen ihren empirisch zunächst
bloß von partikularem oder spezialem Sinn erfüllten
Erscheinungen ein allgemeiner Sinn abgedeckt
werden kann, daß diese Bezogenheit auf einen allgemeinen
Sinn aber nicht empirischer, nur metaphysischer
Betrachtung zugänglich ist.
Nun es liegt nahe, mich auch noch auszusprechen
über den Inhalt dieser metaphysischen Voraussetzung;
denn wenn Weltgeschichte geschrieben werden
soll, so muß ihre Voraussetzung natürlich eine bestimmte,
konkret erfüllte sein. Ein Wort darüber drängt sich
um so mehr auf, als über dieses Letzte und Allgemeinste,
also über das Wesen des geschichtlichen Menschen, also
über seinen Sinn und damit den Sinn der Geschichte,
die Anschauungen auseinandergehen. Tatsächlich ist
unsere Zeit erfüllt von einer fast chaotischen Vielheit von
Wesensbegriffen von Mensch (von Welt und Weltgrund).
Welche Unzahl von Typologien, die darnach streben,
die Buntheit der menschlichen Individualitäten auf eine
beschränkte Zahl von Typen zu reduzieren! (Max
Scheler, Max Wundt, E. Jaensch, Ed. Spranger, Hermann
Nohl, Rudolf Unger, Kurt Gerstenberger, Max Deri u. a.)
Reden wir, alle Nuancierungen der einzelnen möglichen
Grundauffassungen vorbehalten, von einer positivistisch-naturalistischen
Grundauffassung bzw. Grundhaltung
des Menschen, einer idealistischen und der christlichen!
Dabei ist klar, daß wenn wir einfach dabei stillstehen
würden, universalhistorisch bei der Darstellung
der Geisteslage der einzelnen Zeitalter und ihres Nacheinander
diese drei Grundauffassungen in ihrem wechselnden
Sichgeltendmachen festzustellen, wir in den
Partikularismus und in die Zerspaltung des Geschichtsbildes
nur von neuem hinein geraten würden und zwar
jetzt von einer Seite her, von der aus er gerade überwunden
werden sollte. Übrigens will ja auch jede dieser
Menschenauffassungen selbst die alleingültige Wahrheit
sein, macht Anspruch auf universale Geltung. Dann muß
sie also auch die Kraft haben, die anderen von ihrer
Deutungsweise menschlichen Wesens aus zu verstehen,
d. h. sie irgendwie in ihre Deutung einzuordnen. Auch
wir müssen das tun mit derjenigen, die wir wählen oder
die zu wählen wir innerlich überführt sind.
1. Die positivistisch-naturalistische Auffassung
kann etwa mit der Annahme charakterisiert
werden, daß die empirisch erfahrbare Welt die einzige
Wirklichkeit sei und der Mensch ihres Wesens, zunächst
sich darbietend in einer Vielfältigkeit von Lebensrichtungen
und Wesenseigenschaften. Dieser Mannigfaltigkeit
liegen als Urelement zugrunde die Triebe und der Geist,
letzterer vor allem im Sinne von Intellekt als Werkzeug
des homo faber zur Beschaffung der Befriedigungsmittel
für seine Triebbedürfnisse. Die Geschichte ist Geschichte
dieses homo faber und schreitet fort in der Linie
intellektueller Entwicklung bis in den Hochrationalismus
hinein. Trieb und Geist sind völlig unter psychologistischem
Gesichtspunkt gesehen, wenn nicht unter
biologistischem oder gar materialistischem, sofern überhaupt
das Bedürfnis besteht, die geschichtliche Mannigfaltigkeit
auf ein naturales einheitliches Wesensprinzip
zurückzuführen. Das Wesensprinzip ist im letzteren
Fall jedenfalls grundsätzlich kein geistiges Sinnprinzip.
2. Für den Idealisten ist das Geistige etwas in
sich Begründetes, der Natur und auch dem psychischen
Substrat gegenüber Selbständiges, ja, wenn als Weltgeist
oder absoluter Geist gefaßt, der Grund der Welt. Der
Welt- und Menschenbegriff wird insofern mehr oder
weniger dualistisch gefaßt als eine Zweiheit von Geist
und Natur, Idee und Stoff: der Mensch aber zu innerst
immer im Geistigen gründend, doch noch naturgebunden
und die Geschichte der Ort, wo er sich aufringt aus Stoff-
und Naturgebundenheit zu geistiger Freiheit, der Ort, wo
der Geist zur Verwirklichung gelangt und das empirische
Sein sich erfüllt mit übersinnlichem Sinngehalt.
3. Nach der christlichen Auffassung aber, von
der her die eigentlich weltgeschichtliche Betrachtungsweise
überhaupt wesentlich stammt, sehen wir in Natur
und Geist nur Geschöpfliches, nicht den Urgrund und Ursprung
der Dinge. Das ist Gott, der Schöpfer selbst. Nach
Max Scheler ist der Mensch in seinem Wesen überhaupt
nicht zu bestimmen, ohne daß sein Verhältnis zum
Grund aller Dinge, zum metaphysischen Wesensursprung,
in Betracht gezogen wird. Das heißt, auf den christlichen
Glaubensstandpunkt angewendet, daß der Mensch in
seinem Sein und seiner geschichtlichen Situation nur zu bestimmen
ist von seiner Bezogenheit auf Gott her. Nicht
bloß ist Gott sein Ursprung dem Dasein nach. Gott setzt
dem Menschen auch seine Bestimmung, also seinen
Lebenssinn. Er, Gott, begleitet die Geschichte von Jenseits
her mit dem Aufruf zum sinnvollen Leben (und
der Verheißung der Sinnvollendung), indem er die Menschen
unter seinen gestaltenden Willen ruft und unter
ihnen sein Reich bauen will. Im Zentrum der Geschichte
aber offenbart er sich mit seiner Liebesabsicht in Jesus
Christus. Hier ist der geschichtliche Ort, wo die Wahrheit,
die Wahrheit über den Sinn des menschlichen Daseins
und der Geschichte aus der Verborgenheit des Geheimnisses
heraustritt. Die Stimme der Natur sagt uns
das nicht, auch nicht die philosophische Besinnung oder
Schau, sondern der Glaube. Dem Menschen aber ist die
Entscheidung ins Leben und in die Geschichte hineingegeben.
Er kann sie mißbrauchen zur Selbstverabsolutierung,
naturalistisch oder idealistisch. Dadurch
kommt die Auflösungslinie in die Geschichte hinein und
die Linie der Not und Schuld und in der Not das Gericht,
das Abgleiten in den. Sinnabgrund. Aber gerade
in Not und Gericht verschwindet nicht, wird vielmehr
eindringlicher der Anruf Gottes zur Rückkehr zum
wahren Sinn des Lebens. Ob die beiden Linien der Geschichte
— Hingabe an den Sinn des Lebens und an
den Herrn von Leben und Lebenssinn einerseits und
Sinnwiderstand andererseits — eschatologisch so verlaufen,
daß die Abgrund- und Widerstandslinie letztlich
verschlungen wird in den Sieg der Vollendungslinie des
Lebenssinnes und in den Sieg des Herrn der Geschichte,
ist dann nicht mehr Gegenstand der Geschichtsbetrachtung.
Diese hat es — zwischen Anfang und Ende —
direkt nur zu tun mit der "ständig bewegten Mitte",
mit der durch die religiöse Grundspannung bewegten
geschichtlichen Mitte.
Bezogen auf diese Grundspannung und diesen
Grundgegensatz ist schließlich in der letzten Tiefe alle
Geschichte, auch alles Partikulare und Speziale, positiv
oder negativ, religiöse Geschichte. —
Wenn zum Schlusse noch eine Andeutung gemacht
werden soll darüber, wie sich das Geschichtsbild
unter solch einheitlichem und allgemeingeschichtlichem
Blickpunkte gestaltet, so fehlt die Zeit, das nach beiden
Richtungen zu zeigen. Wir müssen darauf verzichten
in der Richtung auf Überwindung der partikularistischen
Betrachtungsweise, verzichten auf Aufweisung
des einheitlichen weltgeschichtlichen Zusammenhangs
durch Kulturkreise hindurch, bzw. über Einzelvölkerentwicklungen
und Zeitalter hinweg, d. h. im Längsschnitt
oder Aufriß. Dagegen sei eine ganz abstrakt und blaß
gehaltene Andeutung gemacht über die einheitliche Gestaltung
des Gesamtgeschichtsbildes im Querschnitt oder
Grundriß, d.h. in Überwindung der spezialistischen
Betrachtungsweise.
Der Aufbau der Darstellung darf dabei natürlich
nicht, wie es meist der Fall ist, auf ein Nebeneinander
der den Fachdisziplinen zugeordneten Lebensbereiche
der Kunst, Literatur, Philosophie, Religion, Staat,
Wirtschaft usw. herauskommen. Die Darstellung wird sich
vielmehr in drei Hauptteile gliedern.
A. Sie wird zunächst das Lebenszentrum der Menschen
eines Zeitalters — denken wir dabei an irgendein
neueres — erfassen müssen, d. h. die Bewegtheit
einer Zeit durch ihre Stellung zum letzten Lebenssinn,
also zum Lebens- und Weltgrund als der sinngebenden
Lebensmacht. Da ringt das Christentum mit
Idealismus und Naturalismus, die die beiden Hauptformen
der Gefahr darstellen, daß das menschliche
Lebenszentrum wegverlagert wird vom letzten göttlichen
Zentrum und Grund alles Lebens, unter Verabsolutierung
sei es des inneren geistigen Kernes von Mensch
(und Welt), sei es der äußeren, naturalen Seite von
Mensch (und Welt).
Dabei ist nicht bloß das letzte Lebensverhalten in
unmittelbar praktischer Hinsicht zu schildern, sondern
auch seine Spiegelung in den Geisteshaltungen von
Wissenschaft (Theologie, Philosophie und andern Geisteswissenschaften)
und Kunst. Kunst und Wissenschaft,
Dichter und Denker — um es kurz zu sagen — begleiten
das Leben und sind mit ihren Geisteshaltungen erfüllt
von derselben Lebensproblematik und denselben
letzten Lebenshaltungen.
B. Wenn im ersten Teil die Darstellung der Bezogenheit
des Menschen auf den Grund von Welt und
Leben zugewendet ist, so faßt sie nun im zweiten die
Stellung zur (außermenschlichen) Welt, bzw. zur Natur
ins Auge und hat auch hier vorzudringen bis zur Abdeckung
der im ersten Teil sichtbar gemachten Lebens-
und Geisteshaltungen, wiederum unter Einbeziehung ihrer
Spiegelung in Kunst und Wissenschaft.
C. Endlich erfaßt die Darstellung diejenigen Lebensbeziehungen,
die von Mensch zu Mensch gehen und
das menschliche Gemeinschaftsleben konstituieren (aber
auch immer wieder zerstören). —Indem die Lebensrichtungen
aus dem Lebenszentrum heraustreten, Lebenssorge
und Lebensnot mit sich führend, durchschreiten
sie die einzelnen Regionen der menschlichen Lebenskreisfläche:
1. die Zone des elementarsten aller Triebe,
in der das Leben allererst gezeugt wird, das Gebiet der
Geschlechterbeziehungen; 2. die Zone der Lebenserhaltung
gegenüber außerordentlicher Bedrohtheit
durch Krankheit; 3. die Zone der Lebenserhaltung gegenüber
der normalen Lebenssorge (in ihren vier Sektoren
des Nahrungs-, Bekleidungs-, Behausungs- und Erholungsbedürfnisses),
d. h. die Konsumseite des Wirtschaftslebens;
4. die Zone der wirtschaftlichen
Produktion im weitesten Sinne (mit den hier wurzelnden
Vergesellschaftungen der Menschen, aber auch hier
hausenden Zerstörungsmächten); 5. die Zone des Staates
mit seiner Funktion der Behebung der aus den andern
Regionen aufsteigenden Auflösungserscheinungen, selber
aber wieder (innen- und außenpolitisch) Auflösung bewirkend;
6. draußen endlich auftreffend auf den die
Lebensfläche umkreisenden Machtbereich des Lebenszerstörers
Tod, bzw. auf die Deutung des Todesphänomens
durch den Menschen. —Die Darstellung soll das
alles zur Einheit zusammenfassen mittels der durchgehenden
Betrachtungsweise, die ihr letztes Ziel darin
sieht, die Tiefenschicht der miteinander ringenden Geisteshaltungen
—wiederum außer in der Lebenspraxis
auch bei Denkern und Dichtern — abzudecken, schließlich
zur Sichtbarkeit zu bringen die letzte Grundhaltung,
die in der Hinnahme des von Gott gesetzten Lebenssinnes
besteht, bzw. in der Ablehnung dieses Lebenssinnes,
unter Selbstverabsolutierung des Geschöpflichen, Verabsolutierungsversuchen,
die uns aus allen Regionen jener
Lebenskreisfläche entgegentreten und denen die leben-
und gemeinschaftszerstörenden Kräfte entspringen.
Aber all diese durchgehende und das ganze Querschnittbild
einheitlich zusammenfassende Sichtbarmachung
der Grundsituation und des letzten Sinnes des menschlichen
Daseins kann doch immer nur ein Vorletztes sein.
Denn sie ist doch nur die Schau von dieser und nicht
von der "ganz anderen" Seite und deshalb Stückwerk in
vielerlei Betracht, wie alles erst auf dem Weg zur Sinnvollendung
Befindliche.