WIE IST WELTGESCHICHTE MÖGLICH?

REKTORATSREDE

VON
HERMANN BÄCHTOLD
BASEL 1931
VERLAG HELBING & LICHTENHAHN

An dem Tage, wo der mit der Führung des Rektorates betraute akademische Lehrer vor einem besonderen Kreise von Zuhörern zu sprechen den Vorzug hat, greift er gern über alle Einzelgegenstände und alle Einzelprobleme seines Faches hinweg nach einem grundsätzlichen Thema *). Was aber gäbe es Grundsätzlicheres für eine Einzelwissenschaft als das, was ihr, formal oder material, zu-grunde gesetzt, noch schärfer: was ihr voraus-gesetzt ist, was also ihr Prinzip ist oder ihre Prinzipien sind?

Es ist jedoch hier nicht die Absicht, allgemeine logisch-methodologische Überlegungen anzustellen zur Beantwortung der Frage: Wie ist Historie überhaupt möglich? Nur um eine Teilaufgabe der Geschichtsschreibung handelt es sich in dieser Stunde (allerdings um die allgemeinste), nur um eine Blickrichtung des historischen Erkennens, genauer um das, was diesen Blick richtet, ausrichtet. Die Frage heißt:

Wie ist Weltgeschichte möglich?

Unter welchen Voraussetzungen ist Weltgeschichte möglich?

Wobei jedoch die Beantwortung zur guten Hälfte indirekt erfolgt durch die Beantwortung der Frage: Welche Voraussetzungen hatten die alte Weltgeschichte unmöglich gemacht?

Wenn wir so über das Problem der Weltgeschichte sprechen wollen, so geschieht auch dies mit einem Minimum von systematisch-philosophischen Erörterungen und mehr,

wie es dem Historiker geziemt, in geschichtlicher Darlegung. Überdies haben wir auf dem für diesen Anlaß kurz bemessenen Gang durch die Problematik des Themas bei jedem Schritt, als Sprechender und als Hörende, zahlreich auftauchende Probleme rechts und links von uns abzuwehren.

Es geht um ein Thema, bei dem die Frageform — von unserer jüngsten geistigen Situation aus gesehen — gewiß die der Sachlage entsprechende ist. Allerdings nicht insofern, als ob die kritische Frage sich dann besonders gegen Weltgeschichtsschreibung, ja gegen die Möglichkeit von Weltgeschichtsschreibung wenden würde. Die Lage ist eher umgekehrt. In Frage stellen wir den von der letzten und vorletzten Forschergeneration vorwiegend geübten Verzicht auf Welthistorie. Und diese Fragestellung, diese Infragestellung ist selbst hervorgetrieben von dem positiven Bedürfnis nach Wiedergewinnung weltgeschichtlicher Blickeinstellung. Dieses Bedürfnis seinerseits aber ist wieder nicht etwas Willkürliches, sondern erscheint eingelagert in einen Stromwechsel, der in den tieferen Schichten des gegenwärtigen geistigen Lebens vor sich geht. Damit ist unser Problem eine Teilerscheinung der geistigen Krisis der Gegenwart, die ja auch das wissenschaftliche Bewußtsein im allgemeinen und im einzelnen in Bewegung und in Unruhe versetzt.

In dieser konkreten geistigen Situation stehend, die uns über dem Problem nicht zur Ruhe kommen läßt, in der das Problem sich nicht zur Ruhe bringen läßt, sind wir zudem noch der Wirkung praktischer Motive ausgesetzt. Sie liegen schon im Lehrauftrag des Sprechenden für Allgemeine Geschichte des Mittelalters und der Neuzeit. Er sieht sich damit geschichtlich geistigen Landschaften gegenübergestellt, in denen er stetsfort das Bild

vor Augen hat, wie aus zeitlich weiter zurückliegenden Gegenden die welthistorischen Kräfte mit entfalteten oder zusammengerollten Fahnen, Land besetzend, Land verlierend und zur Entscheidung aufrufend, ihren Durchmarsch nehmen. Schweizerische Universitätshistorie ist zudem dringender auf die Gewinnung eines besonders ausgeprägten und vom nationalhistorischen Standpunkt gesonderten universalgeschichtlichen Standpunktes angewiesen, weil in ihr die Lehrstühle nach diesen Gesichtspunkten stärker differenziert sind als in großen Ländern. Jacob Burckhardt meint allerdings selbst für die Vaterländische Geschichte —und ich würde ihm in einem noch weiteren als dem gemeinten Sinne recht geben —, das wahrste Studium der Vaterländischen Geschichte werde dasjenige sein, welches die Heimat in Parallele mit dem Weitgeschichtlichen und seinen Gesetzen betrachtet, als Teil des großen Weltganzen, bestrahlt von denselben Gestirnen, die auch anderen Zeiten und Völkern geleuchtet haben, und bedroht von denselben Abgründen... Aber vielleicht gibt es zwei Historikertypen: Der eine geht vom Einzelnen aus — ich möchte sagen positivistisch, und deshalb die Geisteshaltung des vergangenen XIX. Jahrhunderts für sich habend — und schreitet von da aus ins Allgemeinere und Umfassendere hinein, so weit als der Atem reicht. Der andere geht aus vom Allgemeinen — das aber weder ein Abstraktes noch ein vermeintlich Fernes ist — sagen wir deshalb besser: vom Ganzen aus, noch besser: davon aus, was das letzte historische Ganze konstituiert. Dabei hat er allerdings für sich einen gewissen Zug unserer Zeit, insofern als sie in einer ganzen Reihe von Wissenschafts- und Wirklichkeitsbereichen den Vorrang der Ganzheitsbetrachtung des Gegenstandes, eben gegenpositivistische Einstellung postuliert.

Die Ausdrücke "Weltgeschichte", "weitgeschichtlich" sind allerdings vielleicht so üblich wie je. Meist werden sie aber in verwaschenem Sinne gebraucht, um diese und jene umfassenderen, einen irgendwie breiteren Raum überdeckenden geschichtlichen Phänomene zu bezeichnen. Ab und zu liegt auf ihnen noch der Widerschein wahrhaft weitgeschichtlicher Dignität, dann, wenn sie Erscheinungen. meinen, die einst als absolute Geistesmächte anerkannt waren. Der Ausdruck "Weltgeschichte" wird ferner gebraucht zur Betitelung jener Kollektivweltgeschichten, die als Riesenkonglomerate durch Zusammenarbeit mehrerer entstehen, Weltgeschichten, in denen perspektivisch ganz verschieden gesehene und zwar unter partikularen Gesichtspunkten gesehene Geschichtsbilder zusammengeheftet sind zu einem heterogenen Ganzen.

Die heutige Verwendung der Worte "weltgeschichtlich", "Weltgeschichte" bringt deshalb mehr die Tatsache zum Bewußtsein, daß in der Hauptsache die Weltgeschichtsschreibung mit vorschreitendem XIX. Jahrhundert der Auflösung anheimgefallen ist. Und zwar in zweierlei Richtungen: Sie hat sich partikularisiert, d. h. aufgelöst in zeitliche und räumliche Teilgebiete oder gar Teilganze, namentlich Geschichten von Völkern und Völkergruppen bzw. Kulturkreisen. Und sie hat sich spezialisiert, d. h. aufgelöst in Fachgebiete. Das gilt vor allem für das zunächstliegende Teilganze des abendländischen Kulturkreises. Es gilt auch, wenn schon weniger, für die Antike und noch weniger für die übrigen Einzelvölker- und Völkergruppenkulturen, wo Islamwissenschaft, Ägyptologie, Assyriologie, Iranistik, Indologie und Sinologie noch relative Facheinheiten sind. Der diese Kultureinheiten zeitlich unterströmende und räumlich umströmende Okeanos der primitiven Menschheit

wird allerdings von einer Reihe von Fachwissenschaften forschend befahren, von der Prähistorie, der Ethnologie, der vergleichenden Religionswissenschaft usw.

Beim Aufsuchen der Gründe für diese Zerspaltungsprozesse aber wird dann die weitere Frage auftauchen: Sollte die Schwächung universaler Erfassung des geschichtlichen Menschheitsdaseins, sollte jener zutage liegende doppelte Auflösungsprozeß nicht vielleicht begründet sein in der Auflösung einer tiefer liegenden geistigen Haltung?

Fassen wir zunächst die zwei genannten Auflösungsrichtungen ins Auge.

1.

Für die partikularistische Auflösung ist eine ganze Reihe von Faktoren verantwortlich zu machen.

An erster Stelle sind zu nennen das Nationalitätsprinzip des XIX. Jahrhunderts und die nationalen Einigungsbewegungen, die zeitweise fast unwiderstehlich die Kräfte und Interessen auch der Historiker in Bann schlugen und bei ihnen den Blick auf die Universalgeschichte zurücktreten ließen oder ganz absorbierten, so daß nun vielfach Nationalgeschichten entstanden oder allgemeingeschichtliche Darstellungen, worin die Geschichte der eigenen Nation gleichsam theoretisch privilegiert oder gar verabsolutiert wurde, aus deren Zusammenfügung also auch natürlich ein widerspruchloses und bruchloses universales Gesamtbild sich nicht gewinnen ließ. Was Fr. Meinecke von der deutschen Historie sagt, gilt mehr oder weniger von allen nationalen Historien: Das historische Denken ist, vorab seit der Romantik, im großen und ganzen in Kampf um Staat und Nation entwickelt worden.

Im Zusammenhang damit, aber noch aus andern Gründen, treffen wir da und dort auch auf die Tendenz, bestimmte Grundhaltungen des Geistes zu binden an bestimmte Nationen oder Rassen (auch an Landschaften und Stände), z. B. bestimmte Kunststile zuzuordnen bestimmten Rassen (Worringer), sie so zu partikularisieren und damit Universales, über das Nationale Hinausgreifendes, bzw. in einer tieferen, allgemein-menschlichen Schicht Verwurzeltes aufgehen zu lassen im Nationalen. So eine Überwucherung des Universalen durch das Partikulare.

Wenn schon durch dieses Überwuchern eine Schwächung der Einheit des abendländischen Gesamtgeschichtsbildes vor sich ging, so litt das Universalgeschichtliche weiter Not durch ein zweites Moment. In diesem selben XIX. Jahrhundert nämlich drängten sich die außereuropäischen (untergegangenen oder noch vorhandenen) Kulturen mit ihren großen Unterschieden unter sich und gegen Europa in den wissenschaftlichen Gesichtskreis. Und auch die bisher im Zusammenhang einer weltgeschichtlichen Stufenfolge oder im Zusammenhang starker Kontinuitätseinheit gesehenen Kulturkreise Alter Orient-Antike-Abendland traten in ihrer Individualität schärfer gegeneinander und die Zusammenhänge mehr zurück, bis sie z. B. in Spenglers Weltaspekt ganz verschwanden. Diese universalgeschichtliche Linie — die wir hier kurz die horizontale nennen wollen, weil sie quer von Kulturkreis zu Kulturkreis, bzw. von Weltreich zu Weltreich läuft, im Gegensatz zu den vertikalen, parallel aufsteigenden Einzelvölkerentwicklungen —verlor auch da, wo sie noch anerkannt wurde, an weltgeschichtlichem Rang. Denn der geschichtliche Raum Alter Orient-Antike-Abendland erwies sich nur als ein relativ kleiner Teilraum des Planeten.

Wenn schon das Zurücktreten der horizontalen Zusammenhangslinie indirekt die vertikalen Entwicklungslinien der Einzelvölker oder Einzelkulturkreise in ihrer Individualität, ja Totalität schärfer hervortreten ließ, so bekamen nun drittens die neu gesehenen vertikalen Völkerentwicklungslinien vergrößertes Gewicht dadurch, daß auch sie, gleichsam in die Länge gezogen, in Stufen gegliedert und diese Stufen in eine bestimmte Abfolge gebracht wurden; größeres Gewicht zudem, als z. T. infolge der Romantik die Forschung in Frühzeiten zurückverlegt wurde, wo z. B. bei den Germanen überhaupt noch wenig universal-horizontaler Realzusammenhang vorhanden gewesen war; größeres Gewicht, als überdies auch eine Rückverlegung des Wertakzentes auf die früheren und mittleren Zeitstufen innerhalb der vertikalen Linien vor sich ging. Jedenfalls sind die primitiven prähistorischen Stufen im Rankischen und Burckhardtschen Weltgeschichtsbild noch fast ganz unbeachtet geblieben. Bezeichnend ist, wie sich Burckhardt verhielt, wenn er durch die Jahrhunderte des Mittelalters nach rückwärts blickte und sein Blick an die Stelle geriet, wo die geschichtliche Linie — an der ersten Kontaktstelle der germanischen Geschichte mit dem vorangegangenen anderen, dem antiken Kulturkreis — sich gabelte. Er wandte sein Interesse weniger, gleichsam vertikal, der germanischen Früh- und Urzeit zu, sondern bog, universal-horizontal, ab in der Richtung auf die Antike. Das heißt: Der Einleitungsband für das Mittelalter war nicht eine Darstellung des Früh- und Urgermanentums, sondern eine Darstellung der Spätstufe der Antike im Zeitalter Constantins.

Viertens wirkten auch die aufkommenden nationalen sprach- und literaturgeschichtlichen Forschungen zugunsten der Betonung der vertikal-nationalen Linien.

Fünftens übte nochmals in derselben Richtung des Vorranges der vertikalen Linien vor der universalen seinen Einfluß das Auftreten der Wirtschaftshistorie und der Rechtshistorie. Gerade hier, vor allem bei der Wirtschaftsgeschichte, ist ja auch der Experimentierboden für vertikal-nationale Stufentheorien.

Es ist an diesem Ort nicht möglich, aufzuweisen, wie der geschlossene universale Einheitsstufengang der Weltgeschichte, so wie er etwa bei Fichte oder Hegel vorhanden war und bei Hegel z. B. sich noch glücklich der bereits auftauchenden vertikalen Stufenlinien erwehrte, erweicht ist zum universalgeschichtlichen Kontinuitätsgedanken. Bei Ranke und Burckhardt ist er noch fast absoluten Ranges und fast begründend für den Glauben dieser Geschichtsschreiber an Sinn und Zweck des menschheitsgeschichtlichen Daseins. Hernach aber verdünnt er sich zur bloßen Feststellung von Rezeptionen, kaum mehr von wirklichen Renaissancen. So weit er sich noch hielt (hauptsächlich für die Linien der humanistisch-idealistischen und christlichen Geistesströme), aber breiten Raum lassen mußte der sich aufdrängenden Wirklichkeit der vertikalen Nationalentwicklungen, ergab sich das schwierige, noch viel zu wenig gesehene Problem der Verrechnung und Kombinierung beider Linienarten bei der Deutung der großen geschichtlichen Erscheinungen und ihrer Einordnung in dieses Koordinatensystem. Wenn z. B. Rudolf Unger davon spricht, daß der ursprünglich mehr oder minder unter der Schwelle des reflektierenden Denkens sich vollziehende dichterische Gestaltungsprozeß im Verlauf der Kulturentwicklung immer stärker in das Licht heller Reflexion und zweckbewußter Technik rücke, so könnte man vermuten, daß er nationale Stufen meint; es zeigt sich dann aber auf das deutlichste, daß irrigerweise

von universalen Stufen die Rede ist. Das treffen wir auch sonst an. Karl Bücher z. B. hat seine wirtschaftsgeschichtliche Stufentheorie, die meinetwegen halbwegs stimmen mag für die vertikal-nationale Entwicklung, auch auf die universale Entwicklung übertragen. Er verwendete die erste Stufe, die geschlossene Hauswirtschaft, für die Antike und das germanische Frühmittelalter zusammen.

Bei der Zersetzung des universalgeschichtlichen horizontalen Zusammenhangs aber ist entscheidend wirksam noch ein anderes Moment gewesen. Es liegt in der in der zweiten Hälfte des XIX. Jahrhunderts so stark sich vordrängenden positivistischen Geisteshaltung, einmal negativ durch ihre Gegnerstellung gegen Christentum und Humanismus-Idealismus, also gegen die Mächte, die bisher die eigentlich welthistoriographisch konstituierenden Faktoren gewesen waren, nun aber aus dem Geschichtsbild relativ zurücktreten mußten. Begann man doch sogar sie vorwiegend oder ausschließlich in vertikalnationale Zusammenhänge einzuordnen und ihnen damit den weitgeschichtlichen Charakter überhaupt zu nehmen. Die Geschichte des Christentums z. B. wurde in ihrer ersten Hälfte als religiöse Spätstufe des Altertums und in ihrer zweiten Hälfte für die religiöse Frühstufe des Abendlandes in Anspruch genommen. Positiv aber an der Wurzel getroffen wurde der Glaube an einen einheitlichen Weltgeschichtszusammenhang dadurch, daß die positivistische Auffassungsweise, auch wenn sie nicht eigentlich naturalistisch sein wollte, geneigt war, die ausschließliche Herleitung der geschichtlichen Ereignisse und Erzeugnisse aus dem subjektiven (immer irgendwie partikular gerichteten) Geist, will sagen dem physisch-psychischen Substrat (der Einzelnen und der Völker) der Geschichte, zu betonen. Einzelne und Völker in diesem Sinn aber können

abtreten vom Schauplatz und untergehen und damit die weltgeschichtliche Kontinuität zerreißen. Aufgegeben ist somit der Gedanke an einen selbständig wirkenden objektiven Geist oder gar an einen in sich gegründeten absoluten Geist — Voraussetzungen früherer Weltgeschichtskonzeptionen. Mit der positivistischen Haltung war eine geistige Gesamtauffassung des menschlichen Wesens nach seinem einheitlichen Lebenssinn weithin agnostizistisch und skeptisch preisgegeben worden.

Damit könnte angedeutet sein, in welcher Richtung die Voraussetzung liegt für die Wiedergewinnung des Fundamentes weltgeschichtlicher Betrachtungsweise. Bloß empirisch nämlich vermögen wir dazu nicht vorzudringen. Da stehen wir immer vor einer Vielheit von partikularen (z.B. nationalen), besonderen Ziel- und Zweckrichtungen geschichtlichen Lebens, gelangen aber nicht zum allgemeinen Wesen und Sinn menschlichen Daseins. Dieses Allgemeine ist aber weder die Gesamtsumme der partikularen (nach Einzelmenschen, Völkern oder Zeitaltern individualisierten) Wesenseigenschaften oder Sinnrichtungen, noch das allen Menschen und Völkern gemeinsame Partikulare (neben dem jedem Volk, Zeitalter oder Kulturkreis eigentümlich Partikularen). Das Wesen und damit der eine Sinn menschlichen Daseins ist in allem Partikularen mächtig und gegenwärtig. Dieser letzte überpartikulare Sinn des menschlichen Daseins, der erst die wahre Einheit der Menschheitsgeschichte fundieren würde, ist überhaupt nicht durch Ausweis einer Gleichheit oder Zusammenhangseinheit der menschlichen Geschichte auf der Ebene des empirischen Daseins zu fassen, selbst wenn wir das Beobachtungsfeld noch so planetar über alles Partikulare ausweiten. Er ist vielmehr, wenn er überpartikular, also universal sein will, auch überempirisch.

Das heißt: er ruht in der Bezogenheit des Endlichen, Relativen, Bedingten alles menschlichen Daseins auf ein Ewiges, Absolutes und Unbedingtes, auf den Grund und Ursprung alles empirischen Daseins und damit der Welt, wäre also nur von dieser Bezogenheit aus zu fassen und damit mit metaphysischen Voraussetzungen. Nur damit wäre also auch der Blickpunkt für eine einheitliche weltgeschichtliche Perspektive zu gewinnen. Eben solche metaphysische Einstellung (mit welchem Ausdrucke hier noch ungeschieden philosophisch-metaphysische und religiös-glaubensmäßige Haltung bezeichnet sein möge), ist aber im Laufe des 19. Jahrhunderts in hohem Maße dahingeschwunden. Diesem Dahinschwinden muß also letztlich der Verlust einheitlich weltgeschichtlicher Betrachtungsweise zugeschrieben werden.

II.

Nun bietet aber der Bereich moderner geschichtlicher Erkenntnis nicht nur den Anblick einer partikularistischen Aufteilung, ja Auflösung in Einzelgeschichtsbilder von Völkern und Kulturkreisen, sondern innerhalb dieser Einheiten dazu den Anblick spezialistischer Aufteilung und Auflösung des geschichtlichen Universums an Fachgebiete, an Politische Geschichte, Rechtsgeschichte, Wirtschaftsgeschichte, Literaturgeschichte, Kunstgeschichte, Philosophiegeschichte, Kirchen- und Religionsgeschichte. Und zwar kann die Aufteilung bis zur Isolierung dieser Gegenstandsgebiete gegeneinander, ja zur Auf lösung des Ganzen gehen. Es ist allerdings keine Frage, daß für die Forschung Arbeitsteilung und fachspeziale Parzellierung des Arbeitsfeldes (innerhalb der Fächer sich noch weiter steigernd) unumgänglich war und

ist, aus doppeltem Grunde unumgänglich: extensiv, weil das Quellenmaterial in unermeßlicher Anschwellung begriffen war, intensiv infolge der großen Steigerung der Präzision der Forschungsmethoden, infolge der Zerfaserung der Untersuchungsobjekte auf Grund der Schärfung der psychologischen Sehkraft und der Ersetzung typisch schematischer Sehweise durch immer feiner individualisierende und nuancierende. Dieser analytischen und differenzierenden Richtung von geschichtlicher Forschung und Deutung hielt nun aber die synthetische und integrierende Richtung nur ein schwaches Gegengewicht. Zum Teil wirkte mit dieser Tatsache zusammen, daß der akademische Unterricht sich gezwungen sah, auf die berufliche Ausbildung Rücksicht zu nehmen und die einzelnen sachlich um ein Wertgebiet, z.B. das Recht oder die Wirtschaft, zusammengeschlossenen Entwicklungsverlaufe herauszuschneiden aus dem geschichtlichen Gesamtleben und übermäßig loszutrennen von den vorhandenen Gesamtzusammenhängen. So verhält es sich zum Teil mit der Wirtschaftsgeschichte, die zumeist in ausgeprägter Isolierung erforscht und geschrieben wird, nicht bloß etwa bei Kulischer (Allgemeine Wirtschaftsgeschichte des Mittelalters und der Neuzeit), der auch die naheliegendsten Zusammenhänge mit andern Lebensbereichen unbeachtet läßt. So ist es in hohem Grade der Fall auch mit der Rechtsgeschichte, die in ihren großen zusammenfassenden Darstellungen von Juristen geschrieben und für Juristen bestimmt ist und deren Forschungsergebnisse deshalb in allgemeingeschichtlichen Darstellungen für die Erkenntnis der Geistes- und Lebenshaltung z. B. der mittelalterlichen Menschen noch viel zu wenig ausgewertet worden sind, obgleich gerade Teilgebiete, wie Straf-, Zivil- und Prozeßrecht geistesgeschichtlich von größtem Ertrag sein

können. Die Kunstgeschichte hat ebenfalls lange übermäßig, namentlich in ihrer formalen, stilgeschichtlichen Richtung, sich isoliert und sich auf ihre Autonomie berufen.

Es war schon das Zeichen einer Wendung, daß gerade auch in der formalen Kunstgeschichtsschreibung das Bestreben aufkam, für die unübersehbare Vielfältigkeit der Stiltatsachen auf einfache große Grundhaltungen, zu fassen als Grundbegriffe künstlerischen Gestaltens, zu kommen. Ich erinnere an Heinrich Wölfflins Grundbegriffe und die starke Bewegung, die dadurch hervorgerufen worden ist, z. T. in Widerspruch, z. T. im Weiterausbau der Grundbegrifforschung (Schmarsow, Frankl, Dagobert Frey, Panofsky, Scheltema, Kohn-Wiener).

Und die Gegenbewegung gegen die extreme Spezialisierung wurde allgemeiner vor allem in dem Ruf nach geistesgeschichtlicher Betrachtungsweise der von den einzelnen Fachhistorikern behandelten Lebensbereiche. Die Bewegung geht durch fast alle Disziplinen. In der Literaturgeschichte untersucht beispielsweise Rudolf Unger vor allem das Problem der Literaturgeschichte als Geistesgeschichte und setzt sie in engste Beziehung zu Philosophie- und Religionsgeschichte. In der Kunstgeschichte ist es eine ganze Reihe von jüngeren Forschern, die darauf hin wirkt, die Kunst als Ausdruck der jeweiligen Geisteshaltungen zu deuten, sie in ihrer Eingliederung in die allgemeine Kultur- und Geistesgeschichte aufzusuchen. Rege sind vor allem die Untersuchungen über die der Kunst entsprechende Entwicklung der Weltanschauung in Philosophie und Religion, über Parallelverläufe in der Entwicklung von Weltbegriff und Stilform. Bei Panofsky und Dagobert Frey treffen wir auf eine ausgesprochen geistesgeschichtliche Fundierung ihrer kunstgeschichtlichen Ergebnisse, auf

den Hinweis innerer Verbundenheit von künstlerischem und philosophischem Weltbild. Diese Richtung verstärkt sich in dem Maße, als man innerhalb der Kunstgeschichtsforschung gegen die vornehmlich formgeschichtliche Betrachtungsweise den Inhalt stärker in Betracht zieht. Aber bezeichnend ist eben doch, daß auch die Stilform geistes- und weltanschauungsgeschichtlicher Deutung unterworfen wird. In der Kirchengeschichte ist es etwa Walther Köhler, der sie als Geistesgeschichte betrachtet wissen will. Selbst in der Wirtschaftsgeschichte verlangt die geistesgeschichtliche Deutung z. B. durch Alphons Dopsch ihr Recht, und in der Rechtsgeschichte ruft Hans Fehr nach mehr Geistesgeschichte. Die Tendenz nach Überwindung der Ausschließlichkeit fach-spezialistischer Forschungs- und Deutungsrichtung tritt also überall hervor.

Immerhin sind es mehr nur Anfänge, und vorderhand muß, wie oben bei der partikularistischen Zerteilung des Geschichtsbildes, auch hier gesagt werden: Wir stehen vor einer Mehrheit von mehr oder weniger isoliertem Spezialem, von besonderen Lebens- und Geistesbereichen ideeller und realer Art, z. B. Kunst, Wirtschaft usw., also vor einem Bild, in dem Ziel und Zweck des geschichtlich menschlichen Lebens spezialistisch aufgeteilt erscheint.

Als Universalhistoriker aber interessiert uns zunächst nicht die Deutung des Spezialen (wie auch nicht des Partikularen), z. B. des mittelalterlichen Mönches, des modernen Unternehmers, des Medizinmannes der magischen Geisteslage, des Politikers der Renaissancezeit, vielmehr all das erst auf dem Umweg über den Menschen, auf dem Umwege der Erkenntnis des menschlichen Wesens überhaupt. Dadurch wollen wir zu allgemeiner

Deutung jener spezialen Erscheinungen gelangen. Was ist dies Allgemeine?

Das menschliche Wesen wird, unter geschichtlichen und geistigen Gesichtspunkten betrachtet, konstituiert nicht durch sein Sein als Fleisch und Blut, als Physis und Psyche, sondern durch seine Beziehung auf den Sinn, auf den Sinn des Lebens, durch seinen Sinngehalt, durch seine Bejahung und Erfüllung der Sinnbestimmung, bzw. durch den Widerstreit gegen diese Sinnbestimmung. Zur Wahrheit über den letzten Sinn des menschlichen Daseins und damit zur Einsicht ins menschliche Wesen — Voraussetzung allgemeingeschichtlicher Betrachtungsweise — gelangen wir aber auch hier wieder nicht dadurch, daß wir die Gesamtsumme des Spezialen ziehen, noch dadurch, daß wir ein gemeinsames Speziales aus dem Gesamtspezialen abstrahieren und unterscheiden vom eigentümlich Spezialen. Das Wesen und damit der Einheitssinn menschlichen Daseins ist in allem Spezialen mächtig und gegenwärtig, und erst wenn dies Gegenwärtigsein des Allgemein-Menschlichen im Spezial-Menschlichen erkannt ist, ist auch das Speziale voll, d.h. allgemeingeschichtlich, erkannt.

Dieser letzte überspeziale, jedoch im Spezialen gerade erscheinende Sinn des menschlichen Daseins ist, eben wenn er überspezial (wie nach den früheren Ausführungen auch überpartikular) sein soll, auch überempmirisch. Das heißt: er ist fundiert durch die Bezogenheit des Bedingten, Endlichen und Relativen aller Spezialrichtungen menschlichen Lebens auf ein Unbedingtes, Absolutes, Ewiges, auf den Grund, auf den Sinngrund des empirischen Daseins. Er tritt hervor als Gehorsam gegenüber dem Sinngrund (und verschafft damit

dem Leben die Verheißung auf Sinnerfüllung) oder aber als Widerstreit gegenüber dem sinngebenden Grund (und bedroht damit das Leben mit der Gefahr des Abgleitens in den Sinnabgrund). So stehen wir wieder vor der metaphysischen Voraussetzung, die hinzunehmen ist, wenn wir die weltgeschichtliche Perspektive für die geschichtlichen Dinge und den übergreifenden Zusammenhang für sie gewinnen wollen.

Nicht um die Ablehnung der Spezialforschung handelt es sich, sondern um die Überwindung der spezialistischen Betrachtungsweise, wo Teile des menschlichen Gesamtdaseins verselbständigt, theoretisch privilegiert, ja verabsolutiert werden, so daß aus den Teilen ein widerspruch- und bruchloses Ganzes nicht mehr zu gewinnen ist.

Wir sind bei der Tendenz auf Auflösung des Weltgeschichtsbildes zum zweitenmal auf einen dritten Auflösungsprozeß als mitbedingende Ursache geführt worden, auf die Auflösung der metaphysischen Geisteshaltung im vorschreitenden XIX. Jahrhundert, d.h. auf den Verlust des Glaubens an die Erkenntnis des letzten, allgemeinmenschlichen Lebenssinnes, Verlust des Glaubens an ein Getroffenwerden-können von der Wahrheit über diesen Lebenssinn.

III.

Seit zirka l830 war metaphysische Haltung im Schwinden begriffen, sowohl was die Philosophie als den religiösen Glauben betrifft. Die Empirie, auch auf historischem Gebiet gewiß schon längst vorhanden, forderte weithin Alleingeltung. Wir können die Machtverschiebung beider Erkenntnishaltungen deutlich gerade für die Geschichtsschreibung verfolgen, z. B. am zentralen Ort des Kampfes, in Berlin selbst, wo Hegel, der größte der Geschichtsphilosophen, bis 1831 lebte, und ein paar Jahre

vorher, 1825, Leopold von Ranke, der größte der empirischen Historiker, eingerückt war. Der Prozeß der Ablösung der empirischen Geisteswissenschaften von der Metaphysik war ein langsamer, und die Gegner Hegels unter den Historikern der verschiedenen Fachgebiete konnten die Kategorien Hegelscher Geschichtsbetrachtung selbst nicht völlig entbehren. Von den Höhen des Idealismus um 1800, wo die Verbindung christlicher und philosophisch-idealistischer Motive geschichtsphilosophisch und welthistoriographisch besonders fruchtbar gewesen war, floß immer noch das zauberische Licht auf die Niederungen der rasch und mächtig aufwachsenden kritisch-empirischen Geschichtsschreibung, und lange noch lagen Reflexe dieses Lichtes auf den neu entstehenden Geschichtsbildern. Bei Ranke mit seiner geschichtlichen Ideenlehre ist diese Tatsache verschiedentlich aufgezeigt worden. Bei Burckhardt blickt sie auch noch hinter der Ablehnung Hegels hervor. Schwach schimmert an entscheidenden Stellen durch sein im wesentlichen empirisches Geschichtsbild hindurch die metaphysische Urpolarität des Idealismus: Stoff —Geist oder Freiheit —Notwendigkeit. Wenn er etwa besondere Werthöhendifferenzen von weltgeschichtlichem Rang zwischen zwei Zeitaltern messen will, gebraucht er diese Kategorien, z. B. beim Übergang vom alten Orient zum europäischen Griechenland. Aber noch bei zahlreichen andern, z. B. Hermann Hettner, Victor Helm, Gervinus, Treitschke, Rudolf Haym, leben Hegelsche Ideen verblaßt fort. Und wenn um und nach der Jahrhundertmitte viele Historiker von der Empiristik und Realistik des Zeitalters, vor allem vom nationalen Leben erfaßt sind, so stehen sie doch für unser Auge noch auf einem verblassenden metaphysischen Hintergrund von vorwiegend synkretistischer Verbindung idealistischer und

christlicher Restbestände, was z. B. aus dem soeben veröffentlichten Briefwechsel Rudolf Hayms sichtbar wird. Allmählich verdämmert dann auch dieser Hintergrund.

Man hatte das Metaphysische aus der empirisch-historischen Welt ausgeklammert. Diese Ausklammerung war eine legitime Maßnahme, sofern sie sich ihres bloß methodischen Charakters bewußt blieb und sofern sie im Rahmen der empirischen Forschung (unter dem Gesichtspunkte des unmittelbaren Zweckes der empirischen Forschung), die Bedeutung hatte, das Wirklichkeitsurteil über das Ausgeklammerte zu suspendieren. Aber für eine vorwaltende Strömung des XIX. Jahrhunderts gewann sie Sach- und Endgültigkeitsbedeutung im Sinne agnostizistischer und skeptischer Infragestellung, ja Leugnung des Ausgeklammerten. Der Inhalt der Klammer als Ganzes, die empirisch erfahrbare Welt nämlich als in sich ruhende und in sich gegründete Wirklichkeit, wurde verabsolutiert, das übersinnliche Absolute (der Philosophie und der Religion) negiert. Es entstand der Positivismus. Auch den positiven Wissenschaften, die sich zunächst nur methodisch jener Einklammerung bedienten, blickte vielfach der Positivismus über die Schulter, d. h. im Bereich der Historie der relativistische Historismus. Es war nicht bloß alles Geschichtliche unter empirischen Gesichtspunkten relativ geworden (das wäre nicht zu beanstanden), sondern es hatte unter keinen möglichen Gesichtspunkten mehr Bezug zu einem Absoluten, also auch nicht zu einem absoluten Lebenssinn. Unter den Augen der sich verabsolutierenden empirischen Geschichtsbetrachtung zerrann das Ganze in subjektives Sinnpartikulares und Sinnspeziales: also Sinnzertrümmerung. Ja, wenn dieser historische Positivismus naturalistisch wurde, floß der Sinn aus Menschendasein und

Geschichte überhaupt aus wie aus einem zersprungenen Glas: also Sinnentleerung und Sinnverödung.

Das war in der Tiefe die Auflösung, die in der Oberschicht des historischen Lebens die Auflösung der Welthistorie in die beiden Richtungen des Partikularismus und Spezialismus, die wir kennen gelernt haben, mitbegründete. Der Versuchung zu wertender Stellungnahme entging übrigens die Historie damit doch meistens nicht. Sie verfiel nun nur partikularen und spezialen Maßstäben, mochten es auch große, würdige und bezaubernde sein.

Dann aber begann sich die Geisteslage zu wandeln. Die Jahrhundertwende etwa war auch eine Geisteswende. In ihr stehen wir mitten drin.

Sie ist bestimmt durch die Wendung weg von der Sinnleere des naturalistischen Positivismus gröberer und feinerer Schattierung oder weg von dem relativistisch und subjektivistisch aufgelockerten Sinnchaos im Bereich des Bloß-Endlichen und Bloß-Bedingten, wo der Boden unter den Füßen nachgibt, oder weg aus den Einkerkerungen und Einengungen seitens einzelner, sich verabsolutierender Teilmächte der realen Welt. Und sie war bestimmt durch ein Suchen und Streben nach dem Absoluten und Unbedingten: Wiederauferstehung der Metaphysik, Neu-Idealismus, Neuromantik, Neumystik, Phänomenologie, Expressionismus, ein neuer Humanismus und eine neue Theologie. In dem allem aber das Zentrale: das Ringen um Deutung des Wesens des Menschen d.h. seines Lebenssinnes, deshalb der überall auftauchende Gedanke einer philosophischen oder theologischen Anthropologie.

Und nun der Einstrom der neuen Geisteshaltung in die Geisteswissenschaften. Das ausgeklammerte metaphysische

Bedürfnis beginnt die Klammer zu durchbrechen. Eduard Spranger spricht davon, daß der ganze immer noch vorherrschende kühle Positivismus der Geisteswissenschaften unserer Tage ein Müdigkeitssymptom sei, und Jaensch, der Marburger Psychologe, konstatiert den weichenden Einfluß des Positivismus in den einzelnen Wissenschaften.

Und das will für die Historie besagen, daß ein neues geschichtsphilosophisches Zeitalter — mitten in der anscheinenden Auswegslosigkeit und Not des relativistischen Historismus — angebrochen und in Entfaltung begriffen ist. Die Geschichte ruft der Metaphysik; die Metaphysik ruft die Geschichte vor ihr deutendes und die Tiefenschichten der Dinge abdeckendes Auge. Man spricht von der Geschichtsphilosophie als einem der edelsten Dinge der Philosophie überhaupt und wagt die Behauptung, daß im Mittelpunkt der metaphysischen Arbeit unserer Zeit die spezifische Wendung zur Geschichtsphilosophie stehe (Arthur Liebert). Spranger aber, der philosophische Pädagoge, sieht, um die Neunormierung des Bildungsideals ringend, als den besten Weg dazu die geschichtsphilosophische Besinnung. Und auch bei ihm geschieht das unter der Voraussetzung, daß das geschichtliche Menschentum in metaphysischen Tiefen wurzelt, es mit dem Ewigen, auch im Hier und Jetzt, zu tun hat. Auch er sieht die Kulturkrisen, wie die heutige z. B. (und wohl die Lebensproblematik überhaupt) aus dem tragenden Untergrund religiöser Überzeugungen emporsteigen. Das heißt also — würde ich fortfahren —: die scheinbar nur empirischen geschichtlichen Erscheinungen reichen hinab in die letzte Tiefe menschlicher Stellungnahme, der Stellungnahme zum Grunde der Welt und zu dem von ihm gesetzten Lebenssinn.

Allerdings wehrt sich die ältere Historie z. T. gegen die jüngere Strömung aus Befürchtungen heraus für den exakten, kritischen Betrieb der empirischen Historie. Und natürlich muß sich die neue Richtung dessen bewußt sein, daß ihr Wahrheitswille gegenüber dem unbearbeiteten Rohstoff der Quellen nicht weniger stark sein darf wie der der empirischen Historie.

Ferner wehrt sich diese im Namen der historischen Mannigfaltigkeit und des Individualitätenreichtums gegen die Gefahr der Vergewaltigung durch abstrakte Formeln vom Wesen des Menschen. Und gewiß muß sich die neue Strömung dessen bewußt sein, daß sie nicht die Vielfältigkeit auf ein allgemeines Schema reduzieren darf, sondern im vielfältig Partikularen und Spezialen Sein und Sinn der menschlichen Situation aufzuweisen hat.

Überdies wehrt sich die empirische Historie im Namen der Objektivität gegen subjektive, ichbezogene und ichbedingte Wertungen. Und allerdings muß sich die neue Erkenntnisrichtung dessen bewußt sein, daß sie nach dem Objektiven zu streben hat. Was mit welthistorischer Einstellung aber ja gerade prinzipiell verbunden sein soll, ist die Überwindung partikularistischer Wertgesichtspunkte. Sie will die menschlich-geschichtliche Situation abdecken und ihre Tiefe sichtbar machen dadurch, daß sie sie ins Licht des gemeinsamen Lebenssinnes rückt, so wie er dem historisch erkennenden Individuum aufgegangen ist, gewiß in den Grenzen seiner Individualität und insofern individuell, aber nicht subjektiv der Intention nach. Gerade um den objektiven, unabhängig von ihm gesetzten Lebenssinn ringt der Universalhistoriker und damit um ein objektives, weil dadurch erst universales, allverbindliches, ich will nicht sagen Wertungskriterium,

sondern Erkenntnismittel der letzten historischen Wirklichkeit des Menschen, die eine sinnrelevante Wirklichkeit ist, auch wo dem Sinn widerstritten wird. Damit ergibt sich eine Gemeinsamkeit von Subjekt und Objekt der Historie, von Hisotriker und historisch gedeuteten Menschen (die Voraussetzung wahrer Objektivität). Und zugleich empfangen durch dieses Ausgehen vom letzten Sinn des Lebens universalgeschichtliches Interesse und universalgeschichtliches Erkennen selbst ihren Sinn und werden damit der Rechtfertigung teilhaftig, die die modernen Wissenschaften überhaupt in ihrem Ursprunge (vor ihrer Entwicklung ins Partikularistische und Spezialistische) besessen haben: das Einbezogensein von Erkenntnis und Erkenntnisgegenstand in denselben allgemeinen Lebenssinn.

Es wehrt sich endlich die empirische Historie gegen das Apriorische, der empirischen Erfahrung Vorausliegende unserer Haltung. Diesem Einwand gegenüber sind wir allerdings empirisch-wissenschaftIich machtlos: ein metaphysisches Prinzip ist nicht beweisbar. Es beruht auf innerer Gewißheit, und die ist Glaubensgewißheit. Wollten wir das Prinzip auf rationale Beweisbarkeit gründen, dann wäre es keines mehr, wäre kein Prinzip mehr, und also auch kein allgemeines, also auch kein welthistoriographisches mehr.

Man kann die Möglichkeit der Erkenntnis des Lebenssinnes leugnen. Man kann leugnen, daß von so etwas überhaupt zu reden ist und kann damit die Voraussetzung welthistorischer Erkenntnis und also die Möglichkeit von Welthistorie selbst leugnen als eine Sache, die selbst nicht mehr wissenschaftlich erreichbar und beweisbar, also letztlich eben Glauben ist. Aber dieser Einwand

hat selbst nichts Besseres, oder, möchte ich sagen, nichts Schlechteres zur Voraussetzung.

Wenn die Not des Relativismus mit ihrer Desorientiertheit über die Zentralfrage des Lebens, seinen Sinn nämlich, die neue metaphysische Geisteshaltung und die neue geschichtsmetaphysische Welle hervorgetrieben hat, wie könnte sich übrigens der Historiker der Stellungnahme entschlagen, er, der selbst mit seinem Historismus jene Strömung des Relativismus mit heraufgeführt? Wenn die Not jemanden anläuft, so ihn.

Geschichtsphilosophie (oder Geschichtsmetaphysik) ist übrigens auf dem Plan in nuce fast bei jedem Philosophen und tritt ihre Herrschaft über die Köpfe an, auch wenn wir Fachhistoriker in bezug auf ihre Berechtigung den Standpunkt des Dahingestelltseinlassens einnehmen. Was nützt unser Wollen oder Nichtwollen in Zeiten wie der unsrigen, wo sich Ungeheuerstes rund um den Erdball vollzieht, wo unter gewaltigsten Erschütterungen eine Gestalt der Welt sich wandelt und Größtes noch bevorsteht? Solche Zeiten treiben geschichtsphilosophische Besinnung mit unwiderstehlicher Gewalt fast von selbst empor. Es läßt uns auch nicht in Ruhe, wenn die Philosophen in ihren philosophischen Anthropologien Wesen und Sinn des menschlichen Lebens zu erfassen oder zu vernehmen suchen und dazu noch selbst die Anwendung auf die Geschichte andeuten. Da vermag keine Scheidewand uns von der Bemühung abzuhalten, uns selbst an der geschichtsphilosophischen Arbeit zu beteiligen. In dem dabei resultierenden geschichtlichen Weltbild wird ja dann bei uns Historikern die konkrete Mannigfaltigkeit der historischen Erscheinungen im Vordergrunde stehen, während der Theologe oder der Philosoph vom Fach mehr in grundsätzlichen Ausführungen verharren wird.

Wenn es nun die metaphysische Wahrheit über die Geschichte gibt — und ohne sie gibt es, wie gesagt, eine universale Historie nicht —, müßte sich dann nicht die bloß empirische Geschichtswahrheit mit dem Range der vorbereitenden, allerdings deshalb nicht weniger notwendigen begnügen?

Trotz aller Widerstände ist übrigens die metaphysische Betrachtungsweise merklich auch in die Kreise der Fachhistoriker selbst eingedrungen.

Spärlich erst ins Gebiet der Politischen Historie i. e. S. Immerhin liegen z. B. beim späteren G. von Below oder bei Fr. Meinecke idealistische Konzeptionen vor, die bei von Below mehr in die Nähe Hegels, bei Meinecke mehr in die Nähe Fichtes weisen.

Rechts- und Wirtschaftsgeschichte sind auch noch fast unberührt.

Zaghaft ist auch die Haltung der meisten Kirchenhistoriker i. e. S. (während stärker erfaßt schon die alt- und neutestamentliche Forschung). Ich verweise etwa auf diejenige Walther Köhlers in seiner im letzten Semester gehaltenen Heidelberger Antrittsrede, ferner auf diejenige Karl Heußis in seiner ebenfalls im letzten Semester gehaltenen akademischen Rede über den Sinn der Geschichte, die allerdings endigt in fast völliger Ratlosigkeit in der Beantwortung der Frage.

In der Philosophiegeschichte werden zunächst die metaphysischen Probleme in der Geschichte der Philosophie wieder stärker gesehen (etwa bei Kant durch Heimsoeth u. a.), und dieses neue Sehen ist bei solchen Philosophiehistorikern nun eben getragen von einer eigenen metaphysischen Haltung. Bei Werner Jäger z. B. steht nach Julius Stenzel im Hintergrunde ein latente geschichtsphilosophische Überzeugung. Stenzel selbst ist

in seiner Metaphysik der Antike der Meinung, daß es möglich sei, hindurchzusehen durch die Erscheinungen der Geschichte auf ein Tieferes. Er will die in dem verengten Blick der Gegenwart uns entschwundenen, verschütteten Probleme der Metaphysik der Griechen wieder lebendig machen. Auch Paul Häberlin unterscheidet von der gewöhnlichen oder äußeren Philosophiegeschichte die wahre innere Geschichte der Philosophie, und Joëls bald vollendetes Werk "Wandlungen der Weltanschauung" trägt den Untertitel "Eine Philosophiegeschichte als Geschichtsphilosophie".

Am stärksten ist die Literaturgeschichtsschreibung in Gärung geraten. Auch hier hat man den Blick wieder gewonnen für die metaphysischen Probleme in den Werken der Dichter (R. Unger, Walzel, E. Ermatinger u. a.), wobei sichtbar ist, daß das nur geschah, weil man sich selbst gewandelt hatte, losstrebte von der positivistischen Geisteshaltung und wieder mehr metaphysische Haltung annahm.

Fast ebenso lebhaft ist die Bewegung in der Kunstgeschichtsschreibung. An verschiedenen Stellen tritt unter Ablehnung bloß positivistischer Geschichtsbetrachtung das Postulat einer Philosophie der Kunstgeschichte auf (unter andern besonders ausgeprägt bei dem Neuhegelianer Coellen). Aufs lebhafteste ist hier die Historie darauf aus, die Beziehungen, ja Parallelen ans Licht zu ziehen zwischen den Kunstwerken nach ihrem Gehalt und auch ihrer Stilform einerseits und den Weltbegriffen der betreffenden Zeit, den religiösen und philosophischen Auffassungen vom Verhältnis des Menschen zum Weltgrund andrerseits. Ich erinnere außer an Coellen etwa an Dvorak, Gerstenberg und Nohl.

Universalgeschichte hat, wie dargelegt worden ist, zur Voraussetzung, daß in allen ihren empirisch zunächst bloß von partikularem oder spezialem Sinn erfüllten Erscheinungen ein allgemeiner Sinn abgedeckt werden kann, daß diese Bezogenheit auf einen allgemeinen Sinn aber nicht empirischer, nur metaphysischer Betrachtung zugänglich ist.

Nun es liegt nahe, mich auch noch auszusprechen über den Inhalt dieser metaphysischen Voraussetzung; denn wenn Weltgeschichte geschrieben werden soll, so muß ihre Voraussetzung natürlich eine bestimmte, konkret erfüllte sein. Ein Wort darüber drängt sich um so mehr auf, als über dieses Letzte und Allgemeinste, also über das Wesen des geschichtlichen Menschen, also über seinen Sinn und damit den Sinn der Geschichte, die Anschauungen auseinandergehen. Tatsächlich ist unsere Zeit erfüllt von einer fast chaotischen Vielheit von Wesensbegriffen von Mensch (von Welt und Weltgrund). Welche Unzahl von Typologien, die darnach streben, die Buntheit der menschlichen Individualitäten auf eine beschränkte Zahl von Typen zu reduzieren! (Max Scheler, Max Wundt, E. Jaensch, Ed. Spranger, Hermann Nohl, Rudolf Unger, Kurt Gerstenberger, Max Deri u. a.)

Reden wir, alle Nuancierungen der einzelnen möglichen Grundauffassungen vorbehalten, von einer positivistisch-naturalistischen Grundauffassung bzw. Grundhaltung des Menschen, einer idealistischen und der christlichen! Dabei ist klar, daß wenn wir einfach dabei stillstehen würden, universalhistorisch bei der Darstellung der Geisteslage der einzelnen Zeitalter und ihres Nacheinander diese drei Grundauffassungen in ihrem wechselnden Sichgeltendmachen festzustellen, wir in den

Partikularismus und in die Zerspaltung des Geschichtsbildes nur von neuem hinein geraten würden und zwar jetzt von einer Seite her, von der aus er gerade überwunden werden sollte. Übrigens will ja auch jede dieser Menschenauffassungen selbst die alleingültige Wahrheit sein, macht Anspruch auf universale Geltung. Dann muß sie also auch die Kraft haben, die anderen von ihrer Deutungsweise menschlichen Wesens aus zu verstehen, d. h. sie irgendwie in ihre Deutung einzuordnen. Auch wir müssen das tun mit derjenigen, die wir wählen oder die zu wählen wir innerlich überführt sind.

1. Die positivistisch-naturalistische Auffassung kann etwa mit der Annahme charakterisiert werden, daß die empirisch erfahrbare Welt die einzige Wirklichkeit sei und der Mensch ihres Wesens, zunächst sich darbietend in einer Vielfältigkeit von Lebensrichtungen und Wesenseigenschaften. Dieser Mannigfaltigkeit liegen als Urelement zugrunde die Triebe und der Geist, letzterer vor allem im Sinne von Intellekt als Werkzeug des homo faber zur Beschaffung der Befriedigungsmittel für seine Triebbedürfnisse. Die Geschichte ist Geschichte dieses homo faber und schreitet fort in der Linie intellektueller Entwicklung bis in den Hochrationalismus hinein. Trieb und Geist sind völlig unter psychologistischem Gesichtspunkt gesehen, wenn nicht unter biologistischem oder gar materialistischem, sofern überhaupt das Bedürfnis besteht, die geschichtliche Mannigfaltigkeit auf ein naturales einheitliches Wesensprinzip zurückzuführen. Das Wesensprinzip ist im letzteren Fall jedenfalls grundsätzlich kein geistiges Sinnprinzip.

2. Für den Idealisten ist das Geistige etwas in sich Begründetes, der Natur und auch dem psychischen Substrat gegenüber Selbständiges, ja, wenn als Weltgeist

oder absoluter Geist gefaßt, der Grund der Welt. Der Welt- und Menschenbegriff wird insofern mehr oder weniger dualistisch gefaßt als eine Zweiheit von Geist und Natur, Idee und Stoff: der Mensch aber zu innerst immer im Geistigen gründend, doch noch naturgebunden und die Geschichte der Ort, wo er sich aufringt aus Stoff- und Naturgebundenheit zu geistiger Freiheit, der Ort, wo der Geist zur Verwirklichung gelangt und das empirische Sein sich erfüllt mit übersinnlichem Sinngehalt.

3. Nach der christlichen Auffassung aber, von der her die eigentlich weltgeschichtliche Betrachtungsweise überhaupt wesentlich stammt, sehen wir in Natur und Geist nur Geschöpfliches, nicht den Urgrund und Ursprung der Dinge. Das ist Gott, der Schöpfer selbst. Nach Max Scheler ist der Mensch in seinem Wesen überhaupt nicht zu bestimmen, ohne daß sein Verhältnis zum Grund aller Dinge, zum metaphysischen Wesensursprung, in Betracht gezogen wird. Das heißt, auf den christlichen Glaubensstandpunkt angewendet, daß der Mensch in seinem Sein und seiner geschichtlichen Situation nur zu bestimmen ist von seiner Bezogenheit auf Gott her. Nicht bloß ist Gott sein Ursprung dem Dasein nach. Gott setzt dem Menschen auch seine Bestimmung, also seinen Lebenssinn. Er, Gott, begleitet die Geschichte von Jenseits her mit dem Aufruf zum sinnvollen Leben (und der Verheißung der Sinnvollendung), indem er die Menschen unter seinen gestaltenden Willen ruft und unter ihnen sein Reich bauen will. Im Zentrum der Geschichte aber offenbart er sich mit seiner Liebesabsicht in Jesus Christus. Hier ist der geschichtliche Ort, wo die Wahrheit, die Wahrheit über den Sinn des menschlichen Daseins und der Geschichte aus der Verborgenheit des Geheimnisses heraustritt. Die Stimme der Natur sagt uns

das nicht, auch nicht die philosophische Besinnung oder Schau, sondern der Glaube. Dem Menschen aber ist die Entscheidung ins Leben und in die Geschichte hineingegeben. Er kann sie mißbrauchen zur Selbstverabsolutierung, naturalistisch oder idealistisch. Dadurch kommt die Auflösungslinie in die Geschichte hinein und die Linie der Not und Schuld und in der Not das Gericht, das Abgleiten in den. Sinnabgrund. Aber gerade in Not und Gericht verschwindet nicht, wird vielmehr eindringlicher der Anruf Gottes zur Rückkehr zum wahren Sinn des Lebens. Ob die beiden Linien der Geschichte — Hingabe an den Sinn des Lebens und an den Herrn von Leben und Lebenssinn einerseits und Sinnwiderstand andererseits — eschatologisch so verlaufen, daß die Abgrund- und Widerstandslinie letztlich verschlungen wird in den Sieg der Vollendungslinie des Lebenssinnes und in den Sieg des Herrn der Geschichte, ist dann nicht mehr Gegenstand der Geschichtsbetrachtung. Diese hat es — zwischen Anfang und Ende — direkt nur zu tun mit der "ständig bewegten Mitte", mit der durch die religiöse Grundspannung bewegten geschichtlichen Mitte.

Bezogen auf diese Grundspannung und diesen Grundgegensatz ist schließlich in der letzten Tiefe alle Geschichte, auch alles Partikulare und Speziale, positiv oder negativ, religiöse Geschichte. —

Wenn zum Schlusse noch eine Andeutung gemacht werden soll darüber, wie sich das Geschichtsbild unter solch einheitlichem und allgemeingeschichtlichem Blickpunkte gestaltet, so fehlt die Zeit, das nach beiden Richtungen zu zeigen. Wir müssen darauf verzichten in der Richtung auf Überwindung der partikularistischen Betrachtungsweise, verzichten auf Aufweisung

des einheitlichen weltgeschichtlichen Zusammenhangs durch Kulturkreise hindurch, bzw. über Einzelvölkerentwicklungen und Zeitalter hinweg, d. h. im Längsschnitt oder Aufriß. Dagegen sei eine ganz abstrakt und blaß gehaltene Andeutung gemacht über die einheitliche Gestaltung des Gesamtgeschichtsbildes im Querschnitt oder Grundriß, d.h. in Überwindung der spezialistischen Betrachtungsweise.

Der Aufbau der Darstellung darf dabei natürlich nicht, wie es meist der Fall ist, auf ein Nebeneinander der den Fachdisziplinen zugeordneten Lebensbereiche der Kunst, Literatur, Philosophie, Religion, Staat, Wirtschaft usw. herauskommen. Die Darstellung wird sich vielmehr in drei Hauptteile gliedern.

A. Sie wird zunächst das Lebenszentrum der Menschen eines Zeitalters — denken wir dabei an irgendein neueres — erfassen müssen, d. h. die Bewegtheit einer Zeit durch ihre Stellung zum letzten Lebenssinn, also zum Lebens- und Weltgrund als der sinngebenden Lebensmacht. Da ringt das Christentum mit Idealismus und Naturalismus, die die beiden Hauptformen der Gefahr darstellen, daß das menschliche Lebenszentrum wegverlagert wird vom letzten göttlichen Zentrum und Grund alles Lebens, unter Verabsolutierung sei es des inneren geistigen Kernes von Mensch (und Welt), sei es der äußeren, naturalen Seite von Mensch (und Welt).

Dabei ist nicht bloß das letzte Lebensverhalten in unmittelbar praktischer Hinsicht zu schildern, sondern auch seine Spiegelung in den Geisteshaltungen von Wissenschaft (Theologie, Philosophie und andern Geisteswissenschaften) und Kunst. Kunst und Wissenschaft, Dichter und Denker — um es kurz zu sagen — begleiten

das Leben und sind mit ihren Geisteshaltungen erfüllt von derselben Lebensproblematik und denselben letzten Lebenshaltungen.

B. Wenn im ersten Teil die Darstellung der Bezogenheit des Menschen auf den Grund von Welt und Leben zugewendet ist, so faßt sie nun im zweiten die Stellung zur (außermenschlichen) Welt, bzw. zur Natur ins Auge und hat auch hier vorzudringen bis zur Abdeckung der im ersten Teil sichtbar gemachten Lebens- und Geisteshaltungen, wiederum unter Einbeziehung ihrer Spiegelung in Kunst und Wissenschaft.

C. Endlich erfaßt die Darstellung diejenigen Lebensbeziehungen, die von Mensch zu Mensch gehen und das menschliche Gemeinschaftsleben konstituieren (aber auch immer wieder zerstören). —Indem die Lebensrichtungen aus dem Lebenszentrum heraustreten, Lebenssorge und Lebensnot mit sich führend, durchschreiten sie die einzelnen Regionen der menschlichen Lebenskreisfläche: 1. die Zone des elementarsten aller Triebe, in der das Leben allererst gezeugt wird, das Gebiet der Geschlechterbeziehungen; 2. die Zone der Lebenserhaltung gegenüber außerordentlicher Bedrohtheit durch Krankheit; 3. die Zone der Lebenserhaltung gegenüber der normalen Lebenssorge (in ihren vier Sektoren des Nahrungs-, Bekleidungs-, Behausungs- und Erholungsbedürfnisses), d. h. die Konsumseite des Wirtschaftslebens; 4. die Zone der wirtschaftlichen Produktion im weitesten Sinne (mit den hier wurzelnden Vergesellschaftungen der Menschen, aber auch hier hausenden Zerstörungsmächten); 5. die Zone des Staates mit seiner Funktion der Behebung der aus den andern Regionen aufsteigenden Auflösungserscheinungen, selber aber wieder (innen- und außenpolitisch) Auflösung bewirkend;

6. draußen endlich auftreffend auf den die Lebensfläche umkreisenden Machtbereich des Lebenszerstörers Tod, bzw. auf die Deutung des Todesphänomens durch den Menschen. —Die Darstellung soll das alles zur Einheit zusammenfassen mittels der durchgehenden Betrachtungsweise, die ihr letztes Ziel darin sieht, die Tiefenschicht der miteinander ringenden Geisteshaltungen —wiederum außer in der Lebenspraxis auch bei Denkern und Dichtern — abzudecken, schließlich zur Sichtbarkeit zu bringen die letzte Grundhaltung, die in der Hinnahme des von Gott gesetzten Lebenssinnes besteht, bzw. in der Ablehnung dieses Lebenssinnes, unter Selbstverabsolutierung des Geschöpflichen, Verabsolutierungsversuchen, die uns aus allen Regionen jener Lebenskreisfläche entgegentreten und denen die leben- und gemeinschaftszerstörenden Kräfte entspringen.

Aber all diese durchgehende und das ganze Querschnittbild einheitlich zusammenfassende Sichtbarmachung der Grundsituation und des letzten Sinnes des menschlichen Daseins kann doch immer nur ein Vorletztes sein. Denn sie ist doch nur die Schau von dieser und nicht von der "ganz anderen" Seite und deshalb Stückwerk in vielerlei Betracht, wie alles erst auf dem Weg zur Sinnvollendung Befindliche.

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Rektorats Reden © Prof. Schwinges
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