Die moderne Konstitutionslehre
in der Medizin
Rektoratsrede gehalten
an der Jahresfeier der Universität Basel
am 21. November 1924
Prof. R. Staehelin
Separatabdruck aus dem Sonntagsblatt der "Basler Nachrichten"
vom 18. und 25. Januar 1925
Die moderne Konstitutionslehre
in der Medizin.
Es gibt in der Geschichte jeder Wissenschaft Zeiten,
in denen einzelne Begriffe, die sonst eine grosse Rolle
spielen, verachtet und selbst beinahe vergessen werden.
Plötzlich tauchen sie wieder auf, finden ausgedehnte
Bearbeitung und erhalten häufig auch einen neuen
Inhalt. Es ist recht interessant, den Ursachen einer
solchen Entwicklung der Wissenschaft nachzugehen.
Deshalb möchte ich heute über einen Begriff sprechen,
dem es in der Medizin so ergangen ist, nämlich der
Konstitution.
Das Wort bedeutet eigentlich Zusammensetzung,
und wir können die Konstitution als die Summe
der für das einzelne Individuum charakteristischen
Eigenschaften der Zellenzusammensetzung, des Baues
der einzelnen Organe auffassen. Aber das praktisch
Wichtige ist nicht der Bau der Organe, sondern ihre
Funktion. Dementsprechend wurde von jeher die
Konstitution auch als ein physiologischer Begriff
aufgefasst, und erst die Verbindung des anatomischen
mit dem funktionellen macht den vollständigen
Konstitutionsbegriff aus. Die Organe sind aber
nicht unabhängig voneinander, sondern sie beeinflussen
sich gegenseitig. Inhalt der Konstitutionspathologie
sind deshalb nicht nur die Bedeutung der
individuellen Eigentümlichkeiten von Form und
Funktion der Organe für die Entstehung und den
Verlauf der Krankheit, sondern auch die Beziehungen
der Organe untereinander d. h. die Gesamtheit des
Menschen.
Die Konstitution des Menschen wird durch zweierlei
bedingt. Erstens durch die angeborene Anlage,
zweitens durch äussere Einflüsse, durch die Einwirkung
der Umwelt, die Lebensweise und die
Krankheiten. Deshalb unterschied der Rostocker
Kliniker Martius, dem wir grundlegende Untersuchungen
verdanken, angeborene und erworbene
Konstitutionsfaktoren. Unter dem Einfluss des
Wiener Anatomen Tandler ist es nun vielfach gebräuchlich
geworden, als Konstitution nur die Anlage
zu bezeichnen, die im Moment der Vereinigung
Von Ei und Samenzelle zustande kommt, also das,
was die Vererbungswissenschaft den Idiotypus
nennt. Das, was daraus die Eigenschaften des Individuums
in einem bestimmten Alter, den Phänotypus,
gemacht hat, wird dann als Kondition
bezeichnet. Die Konstitution wird dadurch aber ein
theoretischer Begriff, mit dem praktisch nichts anzufangen
ist. Mit Rössle und Siemens müssen wir betonen,
dass man dabei in Konflikt mit dem gewöhnlichen
Sprachgebrauch kommt und dass man vieles
von dem, was man von jeher Konstitutionsanomalien
genannt hat, dann gar nicht mehr als konstitutionell
bezeichnen dürfte, weil es die Folge einer im frühen
Kindesalter durchgemachten Krankheit sein kann,
vielleicht auch die Folge einer Keimschädigung im
Mutterleib, auf deren Bedeutung die neuesten Ergebnisse
der Entwicklungsmechanik wieder hinweisen.
Die Konstitution ist ein praktisch-klinischer Begriff
. Wir dürfen deshalb damit nicht schlechthin den
Phänotypus bezeichnen, sondern den Zustand des
Individuums, wie er vor dem Einwirken der Krankheitsursache
bestand. Dieser Zustand ist das Resultat
der ererbten Eigenschaften, wie sie im Lauf des
Lebens modifiziert worden sind. Die angeborene
Anlage ist die Ursache dafür, dass die äusseren Umstände
das Individuum gerade in der gegebenen
Richtung und innerhalb gewissen Grenzen bilden
mussten; sie ist, wie Häberlin sagt, die Ursache der
relativen Konstanz der Konstitution.
Den alten Aerzten war es selbstverständlich, dass
die Konstitution des Menschen als einzige Ursache
für viele Krankheiten betrachtet werden müsse, aber
auch für alle anderen von grösster Bedeutung sei,
indem sie einerseits die Disposition zu gewissen
Krankheiten in sich schliesse, andererseits den Verlauf
des einmal ausgebrochenen Leidens bestimme. Vor
achtzig Jahren stellte Hufeland in seinem «Enchiridion
medicum» an die Spitze der Diagnostik die
Erkenntnis der Konstitution. Diese Hochschätzung der
Konstitution als Krankheitsursache ging in der
zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts gründlich
verloren, namentlich unter dem Einfluss der Bakteriologie
. Die Anschauungen der Aerzte erlitten eine
ungeheure Umwälzung, als es gelang, Krankheiten
wie die Tuberkulose auf das Eindringen kleinster
Lebewesen in den Körper zurückzuführen. Immer
mehr krankmachende Bakterien wurden entdeckt. und
immer mehr wandte sich das Interesse von den
inneren Krankheitsursachen ab und den äusseren
zu. Allerdings wurde die Bedeutung der angeborenen
Krankheitsanlagen den Aerzten gelegentlich vor
Augen geführt, indem immer mehr Krankheiten gefunden
wurden, die, wie die vor sechzig Jahren vom
Heidelberger Kliniker Friedreich entdeckte, nur gleichzeitig
bei Geschwistern und andern Verwandten vorkommen
. Die Erblichkeit von Geisteskrankheiten war
von jeher auch den Laien geläufig. Die Erblichkeit
eines Augenleidens wurde von Ibsen in der "Wildente"
als Motiv verwendet, die Erblichkeit der Bluterkrankheit
von Zahn in den Frauen von Tannó.
Solche und ähnliche Krankheiten zeigten, dass die
angeerbte Konstitution für sich allein zu Krankheiten
führen kann, aber dass die angeborene Disposition
auch für die Wirksamkeit von Schädigungen, die von
aussen kommen, z. B. Infektionen, von entscheidender
Bedeutung sein kann, wurde meist übersehen.
Von Behring prägte vor zwanzig Jahren den Ausdruck:
Disposition gleich Exposition: es kommt
nicht auf die Empfänglichkeit oder Widerstandskraft
des Individuums an, sondern nur darauf. ob es
sich der Infektionsmöglickkeit aussetzt.
Seither hat sich wieder ein grosser Umschwung
vollzogen. Es ist uns jetzt selbstverständlich, dass die
meisten Krankheiten das Produkt aus zwei Faktoren
sind, einer äusseren Ursache und der durch die Konstitution
bedingten Disposition. Dieser Krankheitsanlage
hat sich die Aufmerksamkeit in letzter Zeit
wieder immer mehr zugewandt, ja, man kann sagen,
dass heute die Konstitutionsforschung Modesache geworden
ist. Warum vollzog sich diese plötzliche
Wandlung?
Die Entwicklung einer Einzelwissenschaft wird
durch verschiedene Umstände bedingt. Das wichtigste
sind die Fortschritte, die sie selbst macht und die zu
neuen Zielen führen und neue Wege weisen. Nicht
selten sind aber die Fortschritte anderer Disziplinen
ebenso wichtig, indem sie neue Gesichtspunkte und
neue Methoden liefern, deren Uebertragung auf benachbarte
Gebiete sich fruchtbar erweist. Endlich
wirkt auch die allgemeine geistige Strömung, der
Zeitgeist und leitet die Forschung in bestimmte
Richtungen. Besonders rasch muss die wissenschaftliche
Arbeit in neue Bahnen gelenkt werden, wenn
alle diese Ursachen zusammenwirken.
Das ist der Fall bei der Konstitutionsforschung.
Die allgemeine Abkehr vom Materialismus die teilweise
sogar bis zur Mystik ging, begünstigte die
Tendenz, das Interesse von den äusseren Krankheitsursachen
mehr nach den inneren zu wenden, namentlich
nach den Vererbungsproblemen. Dazu kam,
dass Botanik und Zoologie die vorher unbeachteten
Versuche Mendels über die Bastardisierung von
Pflanzen wieder entdeckt und auf diesem Grund eine
wirklich wissenschaftliche Vererbungslehre aufgebaut
hatten. Am Wichtigsten war aber, dass die Entwicklung
der Medizin selbst wieder zum Studium der
angeerbten Eigenschaften und ihrer Veränderung
im Lauf des Lebens führte.
Gerade die Bakteriologie war es, die mit dem
Fortschritt der experimentellen Forschung immer
mehr auf die im Körper selbst gelegenen Abwehrkräfte
und deren individuelle Unterschiede aufmerksam
wurde. Und je genauer man die Krankheiten
des Menschen studierte, umso häufiger entstand die
Frage Warum reagiert auf eine krankmachende
Schädigung das eine Individuum so, das andere
anders?
Als besonders deutliches Beispiel möchte ich die
Tuberkulose erwähnen. Nachdem Koch vor 40
Jahren den Tuberkelbazillus entdeckt hatte, nahm
man an, dass er, wie die andern Bazillen auch. an
der Stelle seines Eindringens sofort eine Krankheit
erzeuge. die je nach den Umständen, namentlich je
nach der Menge der eingedrungenen Bazillen. schwerer
oder leichter verlaufe. Heute wissen wir, dass
der grössere Teil der Menschheit in unseren Ländern
einmal eine Tuberkulose durchgemacht hat und dass
sehr viele lebende Bazillen in sich tragen, meistens
in den Drüsen im Innern des Brustkorbes. ohne
krank zu sein. Warum stirbt trotzdem nur ein
Sechstel bis ein Siebtel der Einwohner — um das
Beispiel Basels zu nennen — an dieser Krankheit,
warum heilt bei andern die Tuberkulose irgend eines
Organes aus und warum bleibt die Mehrzahl trotz
der Infektion das ganze Leben lang gesund? Warum
erkrankt der eine an Lungenschwindsucht, ein anderer
an Hirnhautentzündung, wieder ein anderer an
Lupus oder an einem harmlosen Hautausschlag, an
Tuberkulose der Knochen. der Nieren oder irgend
eines andern Organes? Das kann nur durch Unterschiede
in der Widerstandsfähigkeit der Menschen und
ihrer einzelnen Organe bedingt sein, und wir sind in
der Erklärung dafür, dass gerade ein bestimmtes Individuum
an Tuberkulose und gar an der Tuberkulose
eines bestimmten Organes erkrankt. nicht viel
weiter als vor der Entdeckung des Tuberkelbazillus.
Aber nicht nur das Studium der Krankheitsursachen
führte dazu, der Konstitution grössere Beachtung
zu schenken, sondern auch die Erforschung der
Funktionen der Teile des Körpers und ihrer Krankheiten
. die unter dem Einfluss Virchows zu sehr das
einzelne Organ als Sitz der Krankheit betrachtet
hatte. Immer mehr kam man dazu auch die Beziehungen
der Organe unter einander in ihrer Bedeutung
zu berücksichtigen. Besonders wichtig war,
dass man die Wege besser kennen lernte, durch die
sie miteinander verbunden sind.
Der eine Weg ist das Nervensystem. Seine
Bedeutung für die inneren Organe ist jetzt viel
besser bekannt als früher. Jedes Organ wird von
zweierlei Nervensystemen versorgt, dem sympathischen
und dem parasympathischen, dessen wichtigster Nerv
der Vagus ist. Von dem einen wird es in seiner
Tätigkeit gefördert, von dem andern gehemmt und
befindet sich so unter strenger Kontrolle wie das
Pferd zwischen dem Zügel und dem Schenkeldruck
des Reiters.
Ausser den Nerven wird aber, wie in den letzten
20 Jahren erkannt wurde, auch der Blutweg zur
Regulation und gegenseitigen Beeinflussung der
Organtätigkeit benuzt. Gewisse Gebilde des Körpers
haben die einzige Aufgabe. Stoffe herzustellen und
an das Blut abzugeben. die an andern. oft weit
entfernten Stellen Funktionen auslösen oder auch
hemmen. Als solche Drüsen mit innerer
Sekretion kennen wir die Schilddrüse. die
Nebenschilddrüse, den Hirnanhang, die Zirbeldrüse,
die Nebennieren. endlich ein in die Bauchspeicheldrüse
eingestreutes Gewebe, die sogenannten Langerhansschen
Inseln. Kürzlich ist es gelungen das
Produkt dieser Inseln, das Insulin. so weit rein
darzustellen, dass man es den Zuckerkranken einspritzen
kann und glänzende Erfolge damit erzielt.
Damit ist auch bewiesen dass die Zuckerkrankheit
(wenigstens in der Regel) auf einer mangelhaften
Funktion der Langerhansschen Inseln beruht.
Erscheint das nicht als ein Schlussstein im Gebäude
der Virchow'schen Lokalisationslehre? Wieder
ist eine Krankheit die früher als Störung der Gesamtheit
der Körperwellen aufgefasst und deshalb
Konstititutionskrankheit genannt wurde, auf den
Funktionsausfall eines Organes, ja sogar eines
Teils eines solchen, zurückgeführt. In Wirklichkeit
passt aber diese Entdeckung nicht mehr in die Virchow'sche
Lehre, denn das Studium der Drüsen mit
innerer Sekretion hat über das Lokalisationsprinzip
hinausgeführt und in den Zusammenhang
des ganzen Körpers ungeahnte Einblicke verschafft,
indem diese Drüsen durch ihre Absonderungen nicht
nur spezifische Tätigkeiten an anderen Körperstellen
hervorrufen, sondern sich auch gegenseitig hemmen
und fördern.
Es ist also wohl begreiflich, dass das Interesse der
medizinischen Wissenschaft sich immer mehr der
Forschung der Konstitution zuwandte und das Bedürfnis
nach Zusammenfassung unserer Kenntnisse
und nach theoretischer Begründung. also nach einer
allgemeinen Konstitutionslehre entstand. Ia Fr.
Kraus hat dafür sogar einen besonderen Namen,
"Syzytiologie" . erfunden.
Was soll eine solche Konstitutionslehre
enthalten, was ist ihre Aufgabe und ihr
Ziel ?
Sie hat zuerst einmal festzustellen, welcher Anteil
der Konstitution angeboren und unbeeinflussbar.
welcher erworben und der Behandlung zugänglich ist.
dann hat sie die verschiedenen Konstitutionstypen zu
klassifizieren zu analysieren und ihre Krankheitsdispositionen
und Reaktionsweisen zu erforschen.
endlich die Mittel zu finden, durch die die verschiedenen
Konstitutionen beeinflusst werden können,
sowohl zum Zweck der Verhütung von .Krankheiten,
als auch zum Zweck der Unterstützung des Körpers
in seinem Kampf bei ausgebrochener Krankheit.
Diese Ziele sind so alt wie die Medizin selbst. und
alle grossen Aerzte haben sie bewusst oder unbewusst
verfolgt. Neu ist aber die systematische Bearbeitung
mit Hilfe .der modernen Methodik. Wenn ich nun
versuche einen kurzen Ueberblick über das bis jetzt
Erreichte zu geben, so werden Sie nicht erwarten,
dass das Ziel schon erreicht sei, sondern dass nur im
Einzelnen schon recht viel Wertvolles geschaffen worden
ist.
Die erste Aufgabe. die angeborenen und die
erworbenen Faktoren der Konstitution auseinander
zu lösen, ist recht schwierig, "denn es handelt
sich ja", wie Rössle sagt, "nicht um eine Addierung
von Eigenschaften, sondern um eine Amalgamierung".
Grundlegend für diese Scheidung muss die Beantwortung
der Frage sein, welche für die Entstehung
der Krankheit wichtigen Eigenschaften überhaupt vererbt
werden können.
Dass eine Eigenschaft vererbt werden kann, kann
auf verschiedene Weise gezeigt werden. Die primitivste
Art ist das Sammeln von Einzelbeobachtungen.
Solche können nur bei eineiigen Zwillingen ohne
weiteres beweisend sein. Diese haben die gleiche Erbmasse
von beiden Eltern erhalten, und die Folge
davon ist eine körperliche Aehnlichkeit, die so weit
geht, dass sogar die Fingerabdrücke gleich sind. Wenn
nun Michaelis beobachtet hat, dass bei zwei Zwillingen
trotz ganz verschiedener Lebensweise mit
60 Jahren ein Brand der einen grossen Zehe aufgetreten
ist und als Ursache davon eine Zuckerkrankheit
entdeckt wurde, und beide später wenige Wochen nacheinander
an Nierenschwäche starben, so beweist das,
dass nicht nur bei Zuckerkrankheit und Nierenleiden,
sondern auch bei der speziellen Art ihrer Komplikationen
ein angeborenes Moment mitwirken muss und
in diesen Fällen sogar die einzige Ursache der Erkrankung
bildet. Und wenn zwei Zwillingsbrüder
während des Krieges an verschiedenen Orten gleichzeitig
an den gleichen Wahnideen zu leiden begannen
so beweist das ohne weiteres die Erblichkeit
von Geisteskrankheiten (Grassl) .
Abgesehen von den eineiigen Zwillingen kann es
sich bei Einzelbeobachtungen immer um Zufälle handeln
. Sie bieten höchstens einen Fingerzeig dafür,
in welcher Richtung geforscht werden soll. Der Nachweis
der Erblichkeit muss anders geführt werden.
Am einfachsten ist er bei gewissen Krankheiten. die
vier von Bing folgendermassen formulierte Bedingungen
erfüllen 1. Homologe Heredität. d. h. gleiche
Krankheitserscheinungen bei mehreren Familiengliedern
2. homochrone Heredität. d. h Auftreten im
gleichen Alter bei den einzelnen Verwandten: 3. Unabhängigkeit
der Entstehung und des Verlaufes von
äusseren Einflüssen; 4. unerbittliches Fortschreiten.
unbeeinflussbar durch die Behandlung. Von solchen
Krankheiten kennen wir eine ganze Anzahl. namentlich
solche des Nervensystems. so die Friedreich'sche
Ataxie, gewisse Formen von Muskelschwund usw.
Bei anderen Krankheiten liegt die Erblichkeit nicht
so auf der Hand. Dann kann sie einzig durch mathematisch-statistische
Methoden bewiesen werden. Diese
Untersuchungen sind ausserordentlich mühsam. aber
sie sind schon mit Erfolg durchgeführt worden, so
von Julius Bauer und Berta Aschner beim Magengeschwür,
von Rüdin in ganz grossem Massstabe bei
Geisteskrankheiten. Ganz sicher wird die Erblichkeit
bewiesen. wenn es gelingt festzustellen. dass auch die
Mendel'schen Regeln gelten. wonach in einer Familie
in den verschiedenen Generationen die Erkrankungen
in ganz bestimmter Häufigkeit auftreten müssen und
zwar je nach der Belastung durch verschiedene Ahnen.
Auch dieser Nachweis ist in einer Reihe von Krankheiten,
teils mit rezessiven. seltener mit dominanten
Merkmalen geführt worden, und auch die sogenannte
Geschlechtsgebundenheit hat sich dabei sehr
deutlich herausgestellt So werden die Farbenblindheit
und die Bluterkrankheit durch die Mutter übertragen,
aber nur bei den männlichen Familiengliedern
manifest und nur bei ganz bestimmter
beiderseitiger Belastung kann das Leiden auch beim
weiblichen Geschlecht zum Vorschein kommen.
Aber nicht nur Krankheiten selbst können vererbt
werden, sondern auch die Disposition zu solchen.
Es gibt Menschen. die durch die Ausdünstung
von Pferdehaaren Asthmaanfälle bekommen. andere,
die nach Genuss von Erdbeeren an Nesselsucht
erkranken, wieder andere, bei denen gewisse Arzneien
Hautausschläge erzeugen. Hier ist die Ursache der
Krankheitserscheinungen der fremde Stoff, der in
den Körper gelangt, aber die Bedingung dafür daß
dieser eine Schädigung erzeugt, ist eine Ueberempfindlichkeit.
Alle diese Ueberempfindlichkeiten
kommen in einzelnen Familien gehäuft vor, und
zwar in der Weise, dass sich auch hier die Mendelschen
Regeln nachweisen lassen, wobei merkwürdigerweise
die Ueberempfindlichkeit der einzelnen
Verwandten sich gegen ganz verschiedene Stoffe
richten kann. Vererbt wird aber, wie Doerr schon
vor vier Jahren betont hat. nicht die Ueberempfindlichkeit
als solche, sondern nur die Disposition
dazu, und erst das erstmalige Eindringen
des Stoffes schafft eine solche Veränderung des
Körpers, dass dieser Stoff von jetzt an Krankheitserscheinungen
hervorruft. Wir können also sagen,
dass nicht die krankhafte Konstitution als solche vererbt
wird, sondern nur eine Konstitution, die durch
äussere Umstände krankhaft gestaltet werden kann.
Immer noch schwer zu beurteilen ist die Erblichkeit
bei der Tuberkulose, obschon gerade diese
Krankheit begreiflicherweise viel untersucht wurde.
Jedermann weiss, dass Kinder von schwindsüchtigen
Eltern sehr viel häufiger tuberkulös werden als
solche aus gesunden Familien. Aber die Tuberkulose
wird nicht angeboren. sondern der Bazillus
dringt erst nach der Geburt im Lauf des Lebens
ein. Selbstverständlich haben die Sprösslinge tuberkulöser
Eltern dazu sehr viel früher und sehr viel
ausgiebiger Gelegenheit als andere Kinder. Sie
erben also die Bazillen von ihren Eltern in gewissem
Sinne, aber nicht im naturwissenschaftlichen
Begriff. Mit Samen oder Ei kann höchstens die
Disposition zur Tuberkulose übertragen werden.
Nun ist auch jedem Laien geläufig, dass der Sohn
eines schmalbrüstigen Vaters nicht selten diesem sehr
ähnlich sieht und erst im erwachsenen Alter, wenn
der Vater schon lange an Schwindsucht gestorben ist,
an dem gleichen Leiden erkrankt.
Es lag deshalb nahe in der vererbten Körpergestalt
die Disposition zur Tuberkulose zu sehen.
Es ist aber febr schwierig. die Vererbung dieser
Disposition nachzuweisen. Weinberg, der hierüber
sehr ausgedehnte und mühsame Untersuchungen angestellt
hat, kommt zum Schluss, dass allerdings
Kinder tuberkulöser Eltern, auch wenn sie während
ihrer Jugend der Gefahr der Infektion durch die
Eltern nicht ausgesetzt waren, häufiger an Tuberkulose
erkranken als Kinder gesunder Familien.
Aber es handelt sich dabei um Menschen, die —
teilweise gerade wegen der Krankheit der Eltern —
in sozialen Schichten lebten, in denen die Tuberkulose
überhaupt häufiger ist. Und die Körpergestalt,
die zur Erkrankung an Tuberkulose zu disponieren
scheint, braucht, wie wir jetzt wissen, nicht angeerbt
zu sein, sondern kann auch durch Erkrankung in
der Jugend zustandekommen.
Auf der andern Seite kann der langaufgeschossene
Typus, dem man gewöhnlich eine besondere Disposition
zur Tuberkulose zuschreibt, sicher auch angeboren
und ererbt sein. Hanhart berichtet von zwei
Zwillingsschwestern dieses Typus, die sich in Körperbau,
Haar und Augenfarbe, selbst in den Fingerabdrücken
fast bis zur Identität ähneln, von
denen aber die Eine kerngesund ist, die andere
Zeichen einer durchgemachten Tuberkulose aufweist
und an hochgradigen nervösen Erscheinungen leidet.
Hier hat die Tuberkulose offenbar den angeborenen
Körperbau gar nicht beeinflusst, dagegen die nervösen
Erscheinungen hervorgerufen, die wir mit dieser
Konstitution so oft verbunden sehen. Die Frage
der Beziehung zwischen Körperbau und Tuberkulose
ist also noch lange nicht geklärt, ja Friedrich Müller
bestreitet sogar die besondere Disposition des sogenannten
phthisischen Habitus zur Schwindsucht.
Immerhin ist zu bedenken, dass die allgemeine Erfahrung
dazu geführt hat, in dem schmalen langen
Brustkorb eine besondere Gefährdung durch die
Tuberkulose zu erblicken und bei den Rekrutenuntersuchungen
alle als untauglich zu erklären, bei
denen der Brustumfang geringer ist als die Hälfte
der Körperlänge. Als in der Schweiz während
einer Periode des Weltkrieges von dieser Regel abgegangen
wurde, rächte das sich sofort, indem eine
auffallend grosse Zahl dieser vorschriftswidrig tauglich
Erklärten an Tuberkulose erkrankte.
Bei dieser Schwierigkeit in der Beurteilung der
phthisischen Konstitution ist natürlich die Frage der
Erblichkeit einer Anlage zur Tuberkulose auf statistischem
Wege recht schwierig zu beantworten. Es gibt
aber einige Einzelbeobachtungen, die sich kaum
anders erklären lassen. So beobachtete Turban
wiederholt, dass bei einem Mann die Tuberkulose
im gleichen Alter, auf der gleichen Seite und an der
gleichen Stelle der Lunge ausbrach wie früher beim
Vater. Direkt beweisend ist die Beobachtung
Kretschmers über das gleichzeitige Auftreten von
Nierentuberkulose bei zwei 14jährigen Zwillingsschwestern.
Die zweite Aufgabe der Konstitutionspathologie.
die Aufstellung bestimmter Konstitutionstypen,
ist in den letzten Jahren immer mehr in
Angriff genommen worden.
Man hat die Lösung auf zweierlei Arten versucht.
Die eine ist die Heraushebung von bestimmten
Typen, sei es von körperlicher Gestalt, sei es von
eigentümlicher Reaktionsweise, die besonders zu gewissen
Krankheiten disponieren. Die andere ist die
Einteilung der gesamten Menschheit in verschiedene
konstitutionelle Kategorien.
Auf die einzelnen Formen abnormer Konstitutionen
einzugehen, die die Forschung allmählich
herausgeschält hat, mangelt die Zeit. Ich erinnere
Sie nur an den Habitus asthenicus, dessen Beziehungen
zur Tuberkulose wir eben besprochen
haben. Ich erwähne den Status-thymicolyphaticus,
der durch die Vergrösserung der Gaumen und
Rachenmandeln namentlich im Kindesalter grosse
Bedeutung hat und sogar zu plötzlichen Todesfällen
aus geringfügigen Anlässen führen kann. Ferner
die arthritische Diathese der französischen Aerzte,
d. h. die Disposition einzelner Familien zu Gicht,
Fettsucht, Gallensteinen, Zuckerkrankheit usw.; die
exsudative Diathese Czernys, die in der Neigung
vieler Kinder zu Katarrhen, Hautleiden usw. besteht.
Endlich ist zu erwähnen, dass viele merkwürdige
Körpergestaltungen alf Erkrankungen von Drüsen
mit innerer Sekretion, des Hirnanhanges, der Zirbeldrüse
usw. zurückzuführen sind.
Diese Beispiele genügen, um zu zeigen, dass es
gelungen ist, eine ganze Reihe von besonderen Konstitutionsformen
abzugrenzen, die für die Entstehung
von Krankheiten wichtig sind. Schwieriger
ist es, den übrigen Teil der Menschheit in Gruppen
zu sondern, die sich durch körperliche Merkmale und
durch die Reaktion auf normale und krankhafte Reize
unterscheiden.
Von den Versuchen, eine Einteilung auf Grund
der Reaktionsfähigkeit zu treffen, seien die
von Fr. Kraus und von Eppinger und Hess erwähnt.
Kraus nahm die Ermüdung als Mass der Konstitution,
Eppinger und Hess die Reaktion des Nervensystems
auf chemische Substanzen. Leider haben
diese Prinzipien nicht zu dem erhofften Ziel geführt,
und alle derartigen Versuche stossen, schon
wegen der Grösse der Aufgabe, auf grosse Schwierigkeiten.
Einfacher ist es, bei einer grossen Zahl von
Menschen gewisse Körpermasse zu bestimmen und eine
Einteilung nach den Verhältnissen dieser Masse zu
treffen. Dieses Prinzip ist aber erst dann erfolgreich,
wenn es gelingt, Beziehungen zwischen den
einzelnen Kategorien und bestimmten Krankheitsdispositionen
nachzuweisen. Von solchen Systemen
hat das von Sigaud in letzter Zeit grössere Beachtung
gefunden, der vier Typen unterscheidet,
einen Typus respiratorius, digestivus, muscularis
und cerebralis, je nachdem Brustkorb und Atmungsorgane,
Verdauungswerkzeuge, Muskeln oder Schädel
besonders ausgebildet sind. Julius Bauer
konnte feststellen, dass diese einzelnen Typen zu bestimmten
Erkrankungen disponieren, der respiratorische
zu Lungentuberkulose. der muskuläre und digestive
zu syphilitischen Aortenerkrankungen und
Nierenkrankheiten der muskuläre ausserdem noch zu
Rheumatismen, Katarrhen der Luftwege und Herzstörungen,
der cerebrale zu Neurasthenie und Hysterie,
teilweise auch zu Lungentuberkulose.
Viel engere Beziehungen zwischen dem Körperbau
und der Funktion wenigstens eines Organes, des
Gehirns, liegen der Studie Kretschmers über
Körperbau und Charakter *) zugrunde. Er geht davon
aus, dass man unter den Menschen einerseits
in bezug auf den Körperbau drei Haupttypen, andererseits
in bezug auf die Temperamente zwei
Haupttypen unterscheiden kann, die in der Weise
einander entsprechen, dass bei einem bestimmten
Körperbau ein bestimmtes Temperament die Regel
ist. Er unterscheidet in Beziehung auf den Körperbau
den leptosomen, das heisst schmal aufgeschossenen
muskelschwachen, den athletischen und den pyknischen,
das heisst untersetzten gedrungenen Typus mit Neigung
zu Fettleibigkeit, in Beziehung auf die Temperamente
einerseits das cycloide Temperament, das
zwischen heiter und traurig schwanken kann und im
ganzen sich auf die Reize des Lebens adäquat einstellt
und das bei krankhafter Steigerung vorzugsweise
zu auf Störungen des Affektes beruhenden
Geisteskrankheiten führt, andererseits das schizoide
Temperament, das sich zwischen überempfindlich und
kühl springend hin- und herbewegen, aber auch an
einem Extrem zäh festhalten kann und auf die Reize
des äusseren Lebens oft inadäquat reagiert und das
bei krankhafter Steigerung zu Schizophrenie, das
heisst einer hauptsächlich auf Störung des Intellektes
und der Beziehungen zur Aussenwelt beruhenden
Geisteskrankheit führt. Das cykloide Temperament
findet sich hauptsächlich bei den pyknischen, das schizoide
bei den leptosomen und athletischen Menschen.
Als Ausprägung dieser Temperamente bei dichterischer
Begabung führt er als das eine Extrem Gottfried
Keller an, der als kleingewachsener untersetzter
Mann ein humorvoller und behaglicher Epiker war,
als anderes Extrem Schiller, der als langaufgeschossene
schmächtige Gestalt ein pathetischer Dramatiker
wurde.
Die Kretschmer'sche Arbeit bedeutet unzweifelhaft
einen grossen Fortschritt und zeigt, dass es möglich
ist, die Konstitutionen in der Weise zu erforschen,
dass nicht nur einzelne Eigenschaften oder einzelne
Organe zum Einteilungsprinzip genommen werden,
sondern der ganze Mensch mit allen seinen körperlichen
und geistigen Eigentümlichkeiten berücksichtigt
wird.
Eine allseitig befriedigende Lösung des Problems
stellt aber auch das Kretschmer'sche System noch
nicht dar. In mancher Beziehung ist das von
Mathes für da: weibliche Geschlecht aufgestellte
vielleicht besser.
Es gibt noch viel zu tun, bis wir zu einer einheitlichen
Konstitutionspathologie kommen, und dieser
neue Forschungszweig ist noch weit von dem entfernt,
was das Wesen der vollkommenen Wissenschaft
ausmacht, nämlich alle Beobachtungen in einen universalen
eindeutigen Zusammenhang zu bringen.
Im einzelnen ist aber schon recht viel geleistet worden,
sowohl in bezug auf die Erkennung der erblichen
Faktoren als auch auf den Zusammenhang der
einzelnen Organe beim gesunden und kranken Menschen.
Ein grosser Fortschritt ist es schon, dass gegenüber
der vergangenen lokalistischen Periode das zusammenfassende
konstitutionelle Denken wieder Gemeingut
der Aerzte geworden ist.
Fragen wir nus nun, welche Ergebnisse die Konstitutionslehre
in der Verfolgung ihrer dritten Aufgabe,
der willkürlichen Aenderung der
Konstitution, also der ärztlichen Praxis, bisher
erreicht hat und noch zu bringen verspricht. so
müssen wir bekennen, dass sie in bezug auf den einen
Anteil, die ererbten Konstitutionsfaktoren. sehr gering
sind und voraussichtlich auch sehr gering bleiben
werden.
Die praktische Konsequenz einer Vererbungslehre
ist die Eugenik, das heisst die Kontrolle der
Fortpflanzung der Menschen, und die Sorge
für ein möglichst vollkommenes zukünftiges Geschlecht.
Aber um die Vorsehung zu spielen
und für die Fortpflanzung der Menschen gesetzliche
Schranken zu errichten, reichen unsere Kenntnisse
noch lange nicht aus. Einzig für gewisse krankhafte
erbliche Anlagen können wir voraussagen, dass bei
einer Ehe von zwei gleichmässig belasteten Individuen
voraussichtlich die in der Familie vorkommende
Krankheit bei der Nachkommenschaft in Erscheinung
treten wird. Aber das wussten schon unsere Grossmütter,
dass zwei Sprösslinge ähnlich belasteter Familien
sich nicht heiraten sollen. Wir können das
allerdings heute mit Begriffen wie Gen, Homozygot
usw. beweisen, ja wir wissen sogar, dass die erblichen
Eigenschaften in den Chromosomen des Zellkernes
eine materielle Unterlage besitzen. Aber von
einer Umsetzung dieser Kenntnis in die Praxis sind
wir noch ebensoweit entfernt wie zu den Zeiten unserer
Grossmütter, ja sogar vielleicht noch weiter,
weil der Hausarzt seine beratende Stellung in der
Familie immer mehr verloren hat.
Etwas aussichtsreicher ist die Bekämpfung
der Keimschädigung. Hauptsächlich die Unterdrückung
des Alkoholismus und die Verminderung
der Geschlechtskrankheiten versprechen Erfolg.
Viel mehr Einfluss hat der Arzt auf die Faktoren,
die die angeborene Konstitution in
ihrer Entwicklung beeinflussen. Am
leichtesten gelingt das in der frühesten Kindheit, wo
die Art der Ernährung noch eine viel grössere
Wirkung ausübt als später. Später können allgemeine
Kräftigung, zweckmässige Ernährung, Bewegung
im Freien, Sonnenbäder, Turnen und
Sport manche schwächliche Konstitution kräftigen.
Ich möchte den Wunsch aussprechen, dass von seiten
unserer Universität in dieser Beziehung mehr getan
wird als bisher, und dass die beabsichtigte Schaffung
eines akademischen Turn- und Sportplatzes auch die
Studierenden, die bis jetzt der Kräftigung ihrer
körperlichen Konstitution nicht genug Beachtung geschenkt
haben, dazu veranlasst, es in Zukunft zu tun.
Aber eine Mahnung muss ich doch aussprechen. Der
Sport ist, wie auch Sonnen- und Luftäther usw.
kein Allheilmittel, auch kein ganz harmloses Mittel.
Schwächliche Konstitutionen können durch übermässige
Beanspruchung erst recht verschlechtert werden,
und es ist noch lange nicht bewiesen, dass eine
Kräftigung der Muskulatur die Widerstandskraft
gegen Infektionskrankheiten oder gegen angeerbte
Krankheiten, wie es zum Beispiel die Arterienverkalkung
vielfach ist, erhöht. Sicher ist nur, dass
eine zielbewusste Abhärtung die Empfindlichkeit
gegen Erkältungen herabsetzt. Es muss aber dringend
gefordert werden, dass Leute mit schwächlicher
Konstitution mir mit grösster Vorsicht, am besten
unter ärztlicher Kontrolle, Abhärtungsmethoden und
Sport durchführen. Glücklicherweise bricht sich das
Bewusstsein dessen immer mehr Bahn, und die beabsichtigte
allgemeine ärztliche Turn- und Sportkontrolle
wird hier sicher segensreich wirken.
Am erfolgreichsten ist immer noch die Bekämpfung
der äusseren Schädlichkeiten
bei besonders disponierten Menschen.
Bei der Erziehung, bei der Berufswahl muss
die Konstitution berücksichtigt werden. Ganz besonders
wichtig ist die Verhütung der Infektion.
Auch für die Tuberkulose gilt, dass die Beseitigung
der Gefahr einer schweren "massigen" Infektion
sicherer ist, als alle Kräftigung der Konstitution.
Das zeigt sich namentlich im Kindesalter,
wie die Erfahrungen in Frankreich, Schweden und
andern Ländern beweisen, wo die Entfernung der
Kinder von der kranken Mutter den Ausbruch der
Tuberkulose vermeiden liess, während von den zurückgebliebenen
Kindern eine grosse Zahl der Krankheit
erlag. Im erwachsenen Alter ist der Schutz
allerdings viel schwieriger, obschon in dieser Beziehung
bei uns noch viel getan werden könnte. Einstweilen
muss sich die ärztlich Beratung meistens auf
die Kräftigung der Konstitution beschränken. die
allerdings oft mit der Heilung der schon vorhandenen
schleichenden Infektion oder mit der Abhärtung
gegen auslösende Erkältungen identisch ist.
Aber nicht nur für die Verhütung, sondern auch
für die Heilung von Krankheiten ist der
konstitutionelle Gedanke, das Bewusstsein der Einheit
des ganzen Körpers, von grosser Bedeutung.
Wenn auch die Erfahrung schon längst zur Anwendung
vieler Methoden geführt hat, die wir als Beeinflussung
der Gesamtkonstitution erklären müssen,
so bestand doch die Gefahr, alles zu sehr durch
lokale Eingriffe behandeln zu wollen. Hier hat die
moderne Lehre günstig gewirkt. Aber nicht nur der
Körper muss behandelt werden, sondern auch die
Seele. Geistige und körperliche Vorgänge bilden
eine Einheit, und man darf nicht nur auf den einen
Teil der Persönlichkeit wirken wollen, oder nur durch
den einen Teil auf den anderen. Man kann nicht
körperliche Krankheiten durch Suggestion heilen sondern
man muss Körper und Seele zusammenbehandeln,
eine Kunst, die freilich schwer zu erlernen und
auszuüben ist.