Die philosophische Krisis
der Gegenwart
Rektoratsrede
Karl Joël
Leizig Verlag von Felix Meiner 1914
Einmal im Jahre am akademischen Festtag, wenn die
Hörsäle geschlossen bleiben und es still ist in den Arbeitsstätten
der einzelnen Wissenschaften, wird sich die Universität
ihrer Universalität bewusst, sammelt sie ihre Glieder,
lebt sie einen kurzen Augenblick das Leben der organischen
Ganzheit. Zu solcher Stunde pflegt auch die Rektoratsrede
sich über die Einzelforschung zu erheben auf die höhere
Warte und die weitere Überschau zu suchen und das breitere
Interesse. Scheint nun nicht solche Erhebung und Ausweitung
am leichtesten und natürlichsten für die Philosophie,
die ja wohl als die Wissenschaft der allgemeinen Überschau
auf der höheren Warte gleichsam ihren ständigen Wohnsitz hat?
Und doch ist für keine Zeit und keine Wissenschaft solche überschauende
Besinnung schwerer als heute für die Zeit, die
sie am ehesten brauchte, und für die Wissenschaft, die am
ehesten zu ihr berufen wäre. Denn heute steht die Philosophie
in einer Gärung, die ihr die Selbstbesinnung erschwert
um so mehr, als sie selber wieder aus der ganzen
Gärung der Zeit stammt, und so heisst es und gilt es
über Zeit und Philosophie zugleich aus der Gärung die
Klärung suchen durch eine Besprechung der philosophischen
Krisis der Gegenwart.
Man pflegt heute pietätvoll die Erinnerung an die grossen
Tage vor hundert Jahren. Und doch wie fern liegt uns
diese Zeit im Wandel aller Dinge seitdem! Was aber hat
sich mehr gewandelt als die Lage der Philosophie? Damals
herrschte sie in Klarheit als überschauende Seele der Zeit,
damals hatte sie selber gleichsam das Rektorat unter den
Wissenschaften, und noch bei Hegels Tode schildert Varnhagen
von Ense den Philosophen als den "Eckstein der Universität
. Auf ihm ruhte die Wissenschaftlichkeit des Ganzen;
in ihm hatte das Ganze seine Festigkeit, seinen Anhalt" .
Doch gerade nachdem die Philosophie alles sein wollte, wurde
sie nichts. Seit zwei Menschenaltern, seit die Königin der
Wissenschaften herabgesunken, man darf wohl sagen, zum
Sündenbock der Wissenschaften, hat die Philosophie mehr
und mehr Mut und Kraft verloren auf die hohe Warte zu
steigen, hat sie an ihrem eigenen Beruf so sehr verzweifelt,
dass 1894 ein Philosophieprofessor ein Buch schreiben konnte
über das Ende und Erbe der Philosophie. 1) Doch gerade
als sie ihre tiefste Ohnmacht bekannte, als sie vielfach schon
totgesagt war, begann sie von neuem aufzuleben. Seit der
Jahrhundertwende spricht man vom Wiedererwachen des philosophischen
Sinnes, und kein Zweifel, der philosophische
Hunger ist da; aber ist ihm Sättigung geworden und kann
ihm überhaupt noch Sättigung werden? Ist denn der
Auflösungsprozess, dem die Philosophie im 19. Jahrhundert
erlag, rückgängig zu machen? Ist nicht vielmehr der Auflösungsprozess
der Philosophie eins mit dem Fortschritt der
Wissenschaften? Ist nicht aller Fortschritt nun einmal Differenzierung,
und muss daher nicht die Wissenschaft des bindenden
Allgemeinen sterben, damit die Wissenschaften vom
Einzelnen frei sich entfalten?
Soviel ist sicher: die Republik der Wissenschaften hat sich
durchgesetzt gegenüber dem Königtum der Philosophie, und
der wissenschaftliche Spezialismus hat für alle Zeiten den
philosophischen Absolutismus abgelöst, den nur ein blinder
Phantast noch zurückträumen kann. Aber hat nun mit
ihrem Absolutismus die Philosophie überhaupt ihre Rolle
ausgespielt? Unabweisbar klingt die Folgerung: die Philosophie
ist die Wissenschaft des Allgemeinen; also hat sie im
Zeitalter des Spezialismus kein Lebensrecht mehr; denn
eine spezialistische Philosophie wäre ein Widerspruch. Doch
sonderbar! Dieser Widerspruch ist heute Tatsache geworden.
Im Zeitalter des Spezialismus hat die bedrohte Philosophie
den einzigen offen scheinenden Rettungsweg eingeschlagen:
sie selber ist spezialistisch geworden. Und sie kann es schon
darum, weil sie Teile hat, in die sie sich sondern kann.
Unverkennbar folgt heute der philosophische Betrieb der
wachsenden Differenzierungstendenz der Wissenschaft und neigt
zu einer z. T. bereits bis zur Trennung der Professuren
gehenden Sonderung der Logiker, Psychologen, Philosophiehistoriker,
Ästhetiker usw. Die früher wenig beachtete Abgrenzung
von Logik, Erkenntnistheorie und Psychologie bildet
heute ein Hauptthema philosophischer Erörterungen, und schon
steht auf der Tagesordnung die völlige Losreissung der Psychologie.
Gewiss ist es Anpassung nicht nur an den Zeitgeist,
sondern an den Fortschritt überhaupt, wenn selbst die
Philosophie heute sich spezialisiert. Feiner sind heute die
Distinktionen der Logiker, schärfer die Analysen der Psychologen,
reicher das Material der Philosophiehistoriker.
Aber auch für den, der die Philosophie in ihren Teilen
nicht nur leben und wachsen, sondern schliesslich auch sich
zersetzen sieht, auch für den, dem eine selbständig gewordene
Logik in Formalismus zu entarten droht wie eine blosse
Erkenntnistheorie in Skepsis, eine allein gepflegte Ästhetik
in Schöngeisterei, auch für den, der die Einheit der Philosophie
im Zusammenhalt ihrer Teile retten will, kann sie,
weil sie ja nicht bloss ihre Teile untereinander, sondern auch
sich selber als Ganzes von anderen Wissenschaften abscheidet,
ihr Eigengebiet wahren und damit ihr Lebensrecht auch im
Zeitalter des Spezialismus. Wenn Philosophie als Psychologie
die seelischen Funktionen, sozusagen das reale Leben
des Geistes untersucht, wenn sie als Logik, Ethik, Ästhetik
das ideale Leben des Geistes, die Ziele und Normen seiner
höheren Funktionen, des Denkens, Wollens und Fühlens nach
den Idealen des Wahren, Guten und Schönen zu bestimmen
sucht, wenn sie endlich als Erkenntnistheorie das Verhältnis
des Geistes zu Gegenständen überhaupt behandelt, so zeigt
sie in alledem sich offenkundig als Wissenschaft vom Geist
als solchem und scheidet sich damit nicht nur von allen
Wissenschaften vom Körper, von allen Naturwissenschaften,
sondern auch von allen sogenannten Geisteswissenschaften, die es
aber nur mittelbar sind, weil sie in Wahrheit Wissenschaften von
Werken des Geistes sind, von Religion und Recht, Sprache
und Kunst, Staat und Wirtschaft. Philosophie aber ist Wissenschaft
vom Geiste selbst, nicht erst von seinem Niederschlag
in bestimmten, gegebenen Objekten, sondern die Wissenschaft,
die das Subjekt selbst zum Objekt macht, und darin hat
sie ihre Domäne, die ihr sogar ein spezialistischer Fanatismus
nicht rauben kann. Die Formen logischen Schliessens z. B.
oder die Gesetze der Vorstellungsassoziation sind genau so
strenger Sonderforschung fähig und bedürftig wie irgendein
Gegenstand einer Einzelwissenschaft. Nicht zu reden von
den Spezialitäten der Geschichte der Philosophie, in denen
diese reine Geistesforschung auf sich selbst zurückblickt.
So hat die Philosophie im Zeitalter des Spezialismus
nichts zu fürchten; denn sie ist selber Spezialwissenschaft des
Geistes. Und es muss einmal ausgesprochen werden sowohl
denen gegenüber, die der Philosophie ob der höheren Ansprüche,
die sie ihr zutrauen, gram sind, als auch manchen
gegenüber, die solche Ansprüche heute befriedigt glauben:
Die heutige Philosophie ist hauptsächlich Spezialwissenschaft;
sie hat als Spezialwissenschaft des Geistes ihr Recht und
ihre Notwendigkeit, sie hat darin, zumal als Logik, Erkenntnistheorie
und Psychologie, ihre Fortschritte und Erfolge,
sie hat darin ihre Grösse und ihre Grenze. Nicht mehr gilt
die Frage, ob Philosophie so Spezialwissenschaft sein kann
und darf — sie ist als solche heute bewährt und bewiesen
— sondern ob sie nichts anderes sein kann und darf, ob der
Gedanke einer Philosophie als Universalwissenschaft wirklich
nichts ist als ein törichter Traum.
Der Wissenschaft vom Geist stehen die Wissenschaften von
der Welt gegenüber. Auch die Gegenstände der sog. Geisteswissenschaften,
auch Religion und Recht, Sprache und Kunst,
Staat und Wirtschaft, sind, wenngleich vom Geist geschaffen,
in die Welt hinausgetreten und gehören ihr zu als objektive
Mächte und Realitäten so gut wie die Natur. Und von
alledem soll es keine Philosophie geben, weil Philosophie
nur den Geist und nicht die Welt betrachten dürfe? Aber
Jahrtausende hindurch gab es ja Philosophie auch von allen
Weltgebieten, und es gibt sie im Grunde auch heute wieder;
nur ist sie den Händen der Philosophen meist entglitten
und auf die Fachmänner der Spezialwissenschaften übergegangen.
Denn trotz allem nachgerade heiser gewordenen
Schelten auf Naturphilosophie und Rechtsphilosophie haben
heute namentlich die Grundfragen des Relativitätsprinzips,
der Biomechanik, der Vererbung, des Strafprinzips denkende
Naturforscher und Juristen zum Philosophieren gedrängt, wie
unverkennbar auch universalere Betrachtung und vergleichende
Methode heute Theologen, Historiker und Kunstforscher zur
Religions-, Geschichts- und Kunstphilosophie hinstreben lassen.
Auch hier also ist die Philosophie nicht erstorben, sondern
nur verwandelt, auch hier hat sie sich in moderner Weise
zum Spezialismus bekehrt, und aus der Pflege der Spezialisten
beginnt sie heute sich neu zu beleben, so dass der
sog. Fachphilosoph nur die Ohren aufzutun braucht, um
zumal aus den Entdeckungen moderner Physik und Biologie
vielfache Anregung zu schöpfen. Er selber hat sich heute
mehr und mehr aus den Weltgebieten zurückgezogen, die er
den Einzelforschern überlässt, und es mag heilsam, ja notwendig
sein, dass so aus jedem Weltgebiet eine eigene Philosophie
hervorwächst und dass hier im Spezielleren der Spezialist
das erste Wort hat; die Frage ist nur, ob er auch
das letzte haben soll, ob es keine Philosophie von der Welt
als Ganzem, von der Totalität der Natur und Kultur geben
kann und darf. Die Frage ist also, ob die Philosophie nur
bleiben soll, was sie heute überwiegend ist, Selbstanschauung
des Geistes, oder ob sie Weltanschauung werden kann und
soll, d. h. ob sie wieder werden darf, was sie mit hohem
Stolze war Jahrtausende hindurch. Die Geschichte jedenfalls
hat gesprochen; sie hat den Beruf der Philosophie zur
Weltanschauung erwiesen, und man soll es ehrlich bekennen,
dass es ein Rückzug ist für die Philosophie, wenn sie sich
heute begnügt mit der Selbstbeschauung des Geistes.
Aber muss sie nicht heute verzichten, da die Welt soviel
grösser geworden ist, dass heute keine Wissenschaft mehr die
Masse des Erkenntnisstoffs umfassen kann? Man braucht
nicht erst die Trivialität auszuspinnen, dass die Zeiten eines
Aristoteles und selbst eines Leibniz, in denen die Philosophie
mehr oder minder eins war mit der Wissenschaft, endgültig
vorbei sind, obgleich auch seitdem jeder systematische Philosoph
ein Polyhistor war. Doch eine Universalwissenschaft
soll ja gar nicht die Summe der Wissenschaften geben —
dann wäre sie überflüssig neben ihnen —, sofern nur ihren
Zusammenhang, den die Philosophie auch heute noch suchen
kann nicht mehr als Beherrscherin, wohl aber als Vermittlerin
der Wissenschaften. Brücken zu schlagen ist heute der Beruf
der Philosophie unter den Wissenschaften, und darum braucht
sie auch heute noch nicht auf Weltpolitik zu verzichten, wenn
sie darin nicht Gewalt sucht, sondern Verkehr und Gemeinschaft
des Geistes. Allerdings, der Verkehr braucht ein Zentrum,
der Zusammenhang braucht Einheit; es gilt nicht nur
die Assoziierung, sondern die Konzentrierung der Wissenschaften;
es gilt sie nicht nur zur Gesellschaft, sondern zum
Staate zu ordnen, es gilt ihr System. Und hierzu scheint
die Philosophie die Wissenschaften aus ihrer natürlichen Richtung
abzulenken und zum Konvergieren zwingen zu müssen.
Doch bedarf es wirklich zum Konvergieren der Wissenschaften
erst eines Gewaltakts der Philosophie? Eine Harmonie der
Wissenschaften ist ja nun einmal ideal da als Erfordernis
der Wahrheit, die doch wohl widerspruchslos und darum
irgendwie Einheit sein muss, und sie ist real da als Tatsache
des Zeitgeists. Denn die Wissenschaften einer Zeit haben
als ihre Kinder eine meist unbewusste Verwandtschaft, einen
unterirdischen Zusammenhang, den eben die Philosophie ans
Tageslicht ziehen soll.
Man glaube auch nicht, dass die philosophische Einheitswissenschaft
von der Welt abgetan sei als Anmassung phantastischer
Spekulation. Denn als solche Einheitswissenschaft
ist die Philosophie gerade von modernen stark empirischen
und naturwissenschaftlich gerichteten Denkern wie Comte,
Spencer und Wundt verkündet worden, während andere sie
heute als Wissenschaft der inneren Erfahrung oder des Normalbewusstseins
oder der Erkenntnis, kurz deutlich als jene
spezielle und reine Geisteswissenschaft bestimmen 2) , als die
sie eben heute akademisch wenigstens am meisten gepflegt
wird. Aber wie vertragen sich diese beiden Bestimmungen?
Es muss zur Klarheit gebracht werden, dass hier zwei Typen
der Philosophie sich gegenüberstehen, verschieden nach Stoff
und Methode: Philosophie als universelle Weltwissenschaft
und Philosophie als spezielle Geisteswissenschaft. Was ist
nun Philosophie? Synthese der Welt oder Analyse des
Geistes? Die Wahrheit ist, dass sie beides ist, beides sein
kann und sein muss. Die beiden Typen der Philosophie,
die Einheitswissenschaft von der Welt und die Spezialwissenschaft
vom Geist widersprechen sich nicht, sondern
müssen sich finden. Denn die Philosophie will beides erkennen,
Geist und Welt, ja sie will und muss, um zum
Erkenntnisabschluss, zum System zu kommen, gerade den Zusammenhang
beider erkennen, und mehr, sie kann im letzten
Grunde gar nicht eins ohne das andere fassen.
Die Philosophie will die Welt im Lichte des Geistes
und den Geist im Spiegel der Welt erkennen. Das Wesen
des Geistes ist Einheit, wie wir sie erleben in der Einheit
unseres Bewusstseins; die Welt aber erleben wir als Fülle.
Die Weltfülle dem Geiste zuführen heisst sie vereinheitlichen,
heisst sie zusammenfassen in grösster Vereinfachung, in möglichster
Ersparnis und Entlastung vom Stofflichen. Die Prinzipien
der Philosophie sind so grossartige Abbreviaturen der
Welt, sind Weltreduktionen durch Abstraktion von den Weltmassen,
und damit Vergeistigungen, Übersetzungen der Welt
in die Sprache des Geistes. Sie sind gleichsam die grossen
geradlinigen Heerstrassen, auf denen die Welt der Einheit
des Geistes zugeführt wird. Die Philosophie als Weltzusammenfassung
hat so ihren ewigen Grund in der Einheit
des Geistes, und sie wird darum leben, solange der Geist
lebt. Man mag auf Philosophie verzichten, aber dann verzichtet
man eben auf das seiner Natur nach Einheit suchende
höchste Bewusstsein und lässt von seinem dürftig erhellten
Lebenswinkel aus die Welt als Chaos im Nebel stehen.
Doch dann verzichtet man zuletzt auch auf die eigene Erkenntnis
des Geistes. Denn Geist und Welt lassen sich im
letzten Grunde nur aneinander erkennen.
Die Welt zum Verständnis des Geistes bringen heisst sie
zusammenfassen gemäss der Einheit des Geistes, und den
Geist zum objektiven, zum Weltverständnis bringen heisst ihn
zerlegen in seine Funktionen gemäss der Vielheit der Weltobjekte.
Und darum wird die Philosophie als Weltwissenschaft
zur Synthese, als Geisteswissenschaft zur Analyse, und
als solche wird sie heute mit Recht gepflegt — aber einseitig;
denn die modernen Philosophen betätigen sich zumeist
nur als scharfsinnige Logiker, Erkenntnistheoretiker und Psychologen
und überlassen die Philosophie der Weltgebiete Spezialforschern.
So haben wir Spezialismen hier wie dort,
aber kein Ganzes. Wir haben Geistesforschung und Weltforschung,
aber keine Weltanschauung, die mehr ist als die
Summe aller Weltforschungen. Alle Resultate aller Einzelwissenschaften
zusammen geben noch keine Weltanschauung;
aber auch alle Analysen des Geistes können sie nicht geben.
Eine Weltanschauung ist weder rein aus der Welt zu holen
noch rein aus dem Geiste, sondern erst aus dem Verhältnis
und Ausgleich von Geist und Welt. Und darum trieb alle
grosse Philosophie, was die heutige am wenigsten treibt, ja
was heute innerhalb und ausserhalb der Philosophie als das
verrufenste gilt und doch immer und ewig das letzte und
höchste der Philosophie bleiben wird: Metaphysik. Wer auf
Metaphysik verzichtet, verzichtet auf eine Weltanschauung;
denn er verzichtet auf eine letzte geforderte Einheit aller
Erkenntnis, die Subjekt und Objekt alles Erkennens umschliessen
und darum den Ausgleich von Geist und Welt
suchen muss.
Es heisst die ganze Geschichte der Philosophie verkennen,
wenn man die schöpferischen Denker als Spezialisten auf ein
Gebiet einstellt und nicht sieht, dass sie alle das Ganze
suchen im Verhältnis von Geist und Welt. Da beginnt nach
der konventionellen, ebenso oberflächlichen wie praktischen Einteilung
das antike Denken mit blossen Naturphilosophen, denen
als Geistesphilosophen die klassischen Aniker folgen, die
wiederum abgelöst werden durch die Moralphilosophie der
Stoiker und Epikureer und schliesslich durch den Neuplatonismus
als Religionsphilosophie. In Wahrheit aber sind
schon die sogenannten Naturphilosophen keine reinen "Physiker",
sondern verstehen die Natur aus dem Menschen heraus,
aus dem inneren Erleben, in Einheit mit dem Geist. 3)
Schon die Ionier von Thales bis Heraklit erfassen die Welt
als lebendig durchströmt, ja durchseelt. Anaximander verkündet
sie als Bussordnung, und Anaximenes lässt sie wie
den Leib von der Seele so vom göttlichen Hauch gehalten
sein. Als harmonische Musik klingt den Pythagoreern die
Welt, in der sie die Seelen wandern lassen. Im Wechsel
von Hunger und Sättigung rauscht sie auf und ab bei
Heraklit, und bei Empedokles durchwalten sie Liebe und Hass
und bei Anaxagoras die Vernunft. Am strengsten aber
fordern die Eleaten, dass das Sein dem Denken, also die
Welt dem Geiste entspreche. Während dann Demokrit selbst
das Geistige verweltlicht zum atomisierten Körper, vergeistigt
Platon die Welt zum sinnlich getrübten Spiegel der Ideen.
Nichts irriger als in Platon nur den Himmelsschwärmer zu
sehen, dessen Blick nach oben gebannt ist. Krönt er doch
in den Ideen die Ordnung der Welt und verlangt und
versucht mit allem Eifer ihre Realisierung im Staat! Und
man soll über Platons hochfliegendem Idealismus nicht vergessen,
dass er bei seinem Eingang Mathematik fordert wie
bei seinem Ausgang Politik. Und man soll bei Aristoteles
über dem grossen Schulmeister nicht den grossen Naturforscher
vergessen. Noch klarer und schärfer als Platon fügt
er den Geist in die Welt als Form in den Stoff. Aber
auch Stoiker und Epikureer lassen sich am Moralisieren nicht
genügen, sondern tragen ihre Ethik in heraklitische oder demokritische
Physik und wiegen ihre Geistesfreiheit im Universum.
Den Neuplatonikern endlich strahlt ja das Licht ihres Gottesgeistes
nicht nur sich selbst, sondern strömt spendend aus bis
ins Dunkel der Natur.
So hat auch die Folgezeit ihre Weltanschauung gefunden
in einem Verhältnis von Geist und Natur, ob es nun von
der Scholastik mehr als Gegensatz, von der Renaissance mehr
als Einheit gefasst ward. Dann aber im 17. und 18. Jahrhundert
scheint sich das philosophische Interesse zu spalten,
und die zwei Reihen, in die man die Denker zu ordnen
pflegt, lassen erwarten, dass sich die Rationalisten als Idealisten
wesentlich ans Geistige, Subjektive, Menschliche halten
und dafür die Empiristen sich wesentlich der Natur zuwenden.
Doch wunderbar! Es ist eher umgekehrt. Gerade die Idealistenführer
Descartes und Leibniz sind Mathematiker und
Naturforscher, und Spinoza erst recht mathematisiert und naturalisiert
seine Ethik. Auf der anderen Seite sind gerade
die grossen Empiriker schon als Praktiker und Politiker vorwiegend
für den Menschen und seine Geisteskultur interessiert.
Der Lordkanzler Bacon sucht nur für die Macht des Menschen
die Naturerkenntnis; auf den Menschen und sein Staatsleben
will Hobbes die Mechanik anwenden, wie Locke den
Menschen zur Aufklärung bringen will durch Untersuchung
seiner Erkenntnis, die Berkeley vergeistigt bis zur Leugnung
der Körperwelt, und noch deutlicher sucht Hume nur Aufklärung
des Menschen für alle Geistessphären, für Erkenntnis
und Moral, Staat und Religion, ja selbst der französische
Materialismus ist ausgesprochen anthropologisch und praktisch.
So orientieren die einen mehr den Geist nach der Natur,
die anderen mehr die Natur nach dem Geist; beide aber
suchen im Verhältnis von Geist und Natur eine Weltanschauung.
Nun aber scheinen die grossen deutschen Idealisten sich
wesentlich als Geistesphilosophen zu präsentieren, und man
betont etwa in Kant den Erkenntnistheoretiker, in Fichte den
Ethiker, in Schelling den Ästhetiker, in Hegel den Logiker.
Doch man vergisst, dass der Erkenntnistheoretiker Kant zugleich
als Physiker der erste Begründer des Laplaceschen
Weltsystems und dass seine Erkenntnistheorie in Wahrheit
nicht Selbstzweck ist, dass Kants Philosophie vielmehr im
tiefsten Grunde herausgerungen ist als Ausgleich zwischen
seinem grössten Naturerlebnis und seinem grössten Geisteserlebnis,
gleichsam ein Brückenschlag zwischen dem gestirnten
Himmel über ihm und dem moralischen Gesetz in ihm.
Der Erzidealist Fichte ferner ist ja zugleich der Erzpraktiker
unter den Denkern, den es aus dem Gedanken heraustreibt
zur Tat, zur politischen Wirksamkeit. Und Schellings spekulative
Phantasie strebt gerade zur Anschauung und lebt sich in
die Natur ein, die er zur Einheit bringt mit dem Geist.
Und Hegel füllt die Dialektik seiner Begriffe mit reichstem
geschichtlichem Inhalt und will gerade das Wirkliche begreifen
in Einheit mit der Vernunft. Wenn dann sein Antipode
Schopenhauer das Wirkliche vielmehr richtete als Widerspruch
gegen die Vernunft, so gab er auch darin kaum minder gross
eine Weltanschauung; denn er gab ein Verhältnis von Geist und
Welt. Und noch Ed. v. Hartmann hatte es gesucht wie noch
Lotze und Fechner, die auch als Naturforscher spekulative Idealisten
wurden.
So bezeugt es die ganze Geschichte der Philosophie: es
gibt keine Weltanschauung des Geistes und keine der Natur,
sondern nur eine von Geist und Natur. Und alle geschichtlichen
Zeiten hatten so ihre Weltanschauung, sei es im Glauben,
sei es im Denken oder in beidem zugleich. Alle Zeitalter
hatten ein geistiges Haus, in dem sie wohnten, ob sies
nun selber gebaut hatten oder ererbt. Allen Zeitaltern zeigte
die Welt ein Gesicht, ob nun ein sonniges oder ein trübes,
ob ein klarer geformtes oder ein stumpfes. In allen Zeitaltern
fühlte der Mensch sein Weltverhältnis, ob nun in
äusserem Zwang oder in stiller Ahnung oder in philosophischem
Bewusstsein. Ja, auch der Unphilosophische lebt in der
Philosophie seiner Zeit, ohne es zu wollen und zu wissen,
weil es die Geistesluft ist, die er atmet. Heute aber — wo
ist die gemeinsame Atmosphäre des Geistes, wo die Weltanschauung,
die in uns klingt oder sich um uns, über uns
spannt und wölbt als Himmel und Horizont? Sind wir nicht
geistig Nomaden ohne Heim und Heimat, Versprengte ohne
Gemeinschaft und Führung? Schwanken wir nicht ohne Steuer
und Anker auf der hohen See der Erkenntnis? Zwar zehren
wir noch von grossen Traditionen, von Resten früherer Weltanschauungen —
doch wenn wir weder Sinn und Trieb haben
sie zu stützen noch Kraft und Mut sie umzubilden, wo
werden wir noch geistigen Halt finden?
Gewiss, Philosophie kann Religion, Moral und Kunst so
wenig schaffen wie ersetzen; aber sie steht doch mit ihnen in
Wechselwirkung, weil schliesslich der Mensch ein Ganzes ist und
gerade die Philosophie hervorgegangen ist aus dem eingeborenen
Trieb des Menschen sich der Ganzheit seines Wesens
und seiner Sphäre klar zu werden. Und darum fehlt uns mit
der Weltanschauung der Zug zur Ganzheit überhaupt, mit
Schleiermacher zu reden, der Sinn für das Absolute. Es
fehlt uns mit der Weltanschauung die Ganzheit der Überzeugung
und mit der höchsten Überzeugungskraft auch die
höchste Glaubenskraft; es fehlen unserer Moral die grossen
Charaktere; es fehlen unserer Geschichte die Helden, in denen
ein ganzes Volk und Zeitalter in höchster gesammelter Kraft
sich ausprägt. Es fehlt uns die grosse Poesie, weil unsere
Phantasie, gelöst vom Weltzusammenhang, nur im Kleinen
wurzelt und im Grossen nur spielt, weil unsere Dichter nicht
mehr getragen sind von jenem Weltgefühl der Klassiker, das
ihren Versen den höheren Klang und ihren Gestalten die
innere Notwendigkeit gab. Wir haben die berauschendste Tonmalerei
ohne Melos, das schwelgendste Pathos ohne Ethos,
die farbigste Instrumentierung, Jllustrierung, Inscenierung,
die kunstvollste Technik ohne Seele. Wir haben das anschaulichste
Milieu, die stimmungsvollste Bühne, die bewegteste
Handlung ohne Helden, mit Massen und Marionetten als
Helden. Wir haben als wirksamste Kunst die Regie, die Kunst
der Erscheinung ohne Wesen. Wir haben das reichste Leben;
aber es fehlt ihm die Ruhe und Geschlossenheit, die innere
Harmonie, weil ihm der Sinn für das Ganze fehlt, für den
Ausgleich von Mensch und Welt. So wird die Krisis der
Philosophie zur Krisis der Zeit. Doch fragen wir: wie kam
diese Anarchie des Geistes — vielleicht dass dann in aller Auflösung
sich noch ein geistiges Band, noch der Reim einer
Weltanschauung findet.
Das spätere 19. Jahrhundert hatte noch eine Weltanschauung
hinterlassen, die aber schliesslich sich selbst aufhob, weil sie
den Geist aufhob, der doch die Welt erfassen sollte. Der Geist
erlag da der Natur, die geistige Persönlichkeit erlag dem Druck
der Massen, die geistigen Bande zerfielen in die Fülle des
Einzelnen, die geistigen Formen zerbrachen unter dem Andrang
der Stoffe. Das schaffende Subjekt sank zur blossen
Kreatur und Kopie der Objekte; das Innenleben verbirg
zum Schatten des Aussenlebens, und das Leben selber ward
zur Maschine, getrieben und gestossen in der Mechanik starrer
Atome. In die "ehernen Naturgesetze" klang das "eherne
Lohngesetz" der Sozialisten, die nun auch die Geschichte naturalisierten,
klangen die finsteren Prophezeiungen von der erkaltenden
Erde, die in die erlöschende Sonne stürzt, und von
der Welt, die zum Wärmetod verurteilt war im Maximum der
Entropie, und in Darwins düstern Kampf ums Dasein und
in die grossen Völkerkriege tönten die Lebensanklagen der
Pessimisten.
Vom Albdruck dieses harten Zeitgeists, von diesem grausam
starren Weltbild brachte die Wende des Jahrhunderts Erlösung
oder doch Erleichterung. Aus dem Bann der Stoffe
und Massen schäumten Kraft und Leben wieder auf. Dem
tötenden Entropismus hielt man den aufbauenden "Ektropismus"
entgegen. Gegen den Naturalismus erhob sich der
Energetismus, gegen den Mechanismus der Vitalismus.
Blieben sie auch Parteien im unentschiedenen Kampfe, so erweiterte
sich doch zugleich das Reich des Lebendigen ins Ungeheure
durch die Entdeckung der Mikroorganismenwelt, und
das starre Weltbild verflüssigte sich durch die Thermodynamik
zum elektromagnetischen. Zogen doch nun selbst in die anorganische
Welt Leben und Geschichte ein, als vor dem Blick
der jüngsten Physik auch die Elemente sich wandelbar, auch
die Atome sich lösbar zeigten und in den radioaktiven Substanzen
neuartige Energiespeicher sich auftaten und der erste
sich selbst labende Körper sich darbot. Dem mit Vernichtung
bedrohten Weltall verhiess nun Arrhenius eine Regeneration,
und ein Berliner Physiker konnte sein Buch über Weltentstehung
schliessen mit den Worten "die Welt ist Leben ——
und das Leben entstand mit der Weit." 4) Auch der Physiker
Mach erwartete nun von der Biologie die "grossen Aufklärungen"
für die Gesamtwissenschaft, die ihm in der Anpassung an die
Tatsachen selber nur das Leben fortzusezen scheint. Eine Revolution
des Weltbildes, die Planck mit der kopernikanischen verglich,
ist nun hereingebrochen über die alte Newtonsche Mechanik,
und unter dem Relativitätsprinzip versank die Absolutheit der
starren, trägen Materie, ward nach Bucherers Ausdruck die
Materie entmaterialisiert und die "ehernen Naturgesetze" kamen
ins Wanken, während gleichzeitig die Sozialreform das "eherne
Lohngesetz" erschütterte. Der im Naturalismus und Pessimismus
gesunkene Lebensgeist richtete sich wieder empor von
Darwins Descendenz zu Nietzsches Ascendenz und schäumte
auf in dionysischem Jubel und Rausch und schwang sich zu
wilder Macht und Leidenschaft, die kühn die alten Werte,
die ehernen Tafeln der Sittengesetze zerbrach. Nietzsche als
Triumphator des Lebens ward der Prophet des neuen Zeitgeists,
dessen Stimmung aus tragischer Not und Klage umsprang in
Lachen und Tanz.
Das Leben triumphierte im Festesjubel, aber auch in des
Werktags Arbeit, und im grössten Zeitalter der Praxis zog
jetzt vom praktischen Amerika die Lehre ein, dass die Praxis
Herr ist über die Theorie und damit das Leben Herr über
das Denken, dass die Wahrheit nur eine Frucht des Nutzens
und die Erkenntnis nur eine Rechnung aus lebenfördernden
Folgen, nur "ein Mittel des Lebens". Doch auch am praktischen
Sieg hatte das Leben noch nicht genug; höher griff
es und tiefer. Gewiss, der Verstand ist ein Rechner im
Dienste des Lebens; doch das Leben selber kann er nicht
fassen; denn er fasst nur von aussen mit groben Zangen
starrer Schemate; das Leben aber strömt innerlich, und den
Lebensschwung erfasst nur die lebendig sich einfühlende Intuition
. So verkündet's jetzt Bergson. Und schon hatte der
Psychologismus ja alle Wissenschaft zurückgeführt auf Erlebnisdaten,
und Diltheys feines Ohr hatte das Erlebnis belauscht
als Quelle der Dichtung wie der Erkenntnis und er
hatte das Recht der Geisteswissenschaften begründet, weil
"Leben hier Leben erfasst" und er wollte Historiker sein als
"Mitlebender" , der sich in den "Mittelpunkt" der Systeme
versetzt, in ihre "Lebensstimmung" — denn "die letzte Wurzel
der Weltanschauung ist das Leben" und er wollte nicht mehr
"von der Welt aus Leben erfassen", sondern "nur einen Weg"
noch kennen: "von der Deutung des Lebens zur Welt" . Der
Lebenstrieb in der Welt ward schon von dem heute erst
beachteten Guyau und wieder anders jetzt von Boutroux betont
und vergeistigt; am höchsten aber, mit prophetisch reformatorischer
Kraft wird nun das Leben von Eucken erfasst, der
es "von der Wirkung in die Ursache versessen", zur "Selbsttätigkeit"
steigern will, der in der Geschichte ein "Sichselbstsuchen
des Lebens" sieht und in der Philosophie "Lebenswandlung,
Lebenserweiterung, Lebenserhöhung" und in einer
"Lebensmetaphysik" Erhebung zum überzeitlichen, übermenschlichen
Charakter des Lebens, zur Ganzheit des Lebens, zum
Allleben des Geistes 5) . Und immer lauter beruft sich heute
auch die Theologie auf das religiöse Erleben, und die wiedererwachte
Mystik weitet ihr inneres Erleben Gottes zur göttlichen
Lebendigkeit der Welt, die bei einem Maeterlinck bis
in die zartesten Adern zittert von geheimem Leben.
Ist's nicht ein Sieg des Lebens 6) auf der ganzen Linie von
den äussersten Weiten der Natur bis zu den innersten Tiefen
der Mystik? Von den Elementen, Atomen und Mikroben bis
zum Seelischen und Göttlichen — alles schwingend, strahlend,
strömend, alles in Wandlung und Entwicklung? Kommt hier
nicht doch in grossem Zuge eine neue Weltanschauung herauf,
die ursprünglich und unmittelbar das leuchtende, freie, flüssige
Leben siegen lässt über das Tote und Starre, Dunkle und
Träge, Leidende und Lastende und Erlösung bringt von allem
Druck alles Mechanismus und Materialismus, alles Pessimismus
und Dogmatismus? Die Erde überflogen, der Körper
durchstrahlt, der Weltraum durchflutet von Energien — ja,
es war eine wahre Befreiung und Erlösung vom "Geist der
Schwere", wie ihn Nietzsche bekämpfte, es war ein segensreicher
Fortschritt und ein herrlicher Sieg — aber ein Pyrrhussieg,
in dem gar viel und schliesslich die Fahne der Wahrheit
verloren ging. Denn da nun die Wahrheit selber in diesen
rauschenden Fluss und Wandel gezogen ward, musste sie als
Wahrheit versinken. Es war ein Sieg des Lebens, aber ein
Sieg über das Denken, ein Sieg des Wandlungsstromes über
das Feste, und über der Flucht der Erscheinungen verschwanden
die ruhenden Pole der Prinzipien und Wesenheiten. Es
war ein Sieg des Relativen über das Absolute, des Zeitlichen
über das Ewige.
Wohl stimmt es zum rauschenden, rasenden Leben dieser
Zeit, deren Technik und Kunst ja Raum in Zeit umschaltet,
ruhendes Bild in fliegende Handlung, feste Körperlichkeit in
Schillern und Schwirren der Eindrücke, der auch Zeit selbst
Geld ist und Schnelligkeit Rekord und Neuheit höchster Wert,
wohl stimmt es zu ihr, wenn heute Bergson eine Metaphysik
der Zeit begründet, der Zeit, die so viele frühere Metaphysiker
als blosse Erscheinung vom Wesen der Dinge abgestrichen
hatten. Doch selbst dieses einzige absolute Prinzip,
die Zeit, in der alles vergänglich, alles wandelbar, alles
relativ wird, ist nun selber wieder relativ gesetzt von der
heutigen Physik. Gewiss, an den bewundernswerten Entdeckungen
der modernsten Naturforschung wird niemand
rütteln, wenn sie nur nicht selber daran rüttelt. Gewiss, sie
bietet befreiende Aufklärung und kritische Selbstbesinnung, Erlösung
vom Druck der Objekte und lebte Überwindung des
Materialismus, wenn sie uns heute statt der starren Substanzen
und der ehernen Naturgesetze vielmehr mit H. Hertz
Erkenntnissymbole, mit Mach denkökonomische Annahmen, mit
Poincaré Arbeitshypothesen bietet, aber liegt nicht darin eine
Lockerung und Erweichung, ja eine Subjektivierung des Weltbildes?
Die Dinge verdünnen, ja verflüchtigen sich zu Symbolen
für uns, die Wahrheiten zu brauchbaren Hypothesen,
die Grundbegriffe der Naturwissenschaft zu praktischen Näherungswerten
für unsere Erkenntnisarbeit. Das Weltbild gleitet
sozusagen aus dem Apodiktischen ins Assertorische und schliesslich
ins Problematische herunter, in das heute selbst die
Lehren eines Newton, eines Rob. Mayer, ja selbst eines
Kopernikus hinabgezogen werden. Aus Denknotwendigkeiten
werden Rechnungsmöglichkeiten, aus Gewissheiten Vermutungen,
aus Gesetzen Gegebenheiten für uns.
Es war nur die letzte Konsequenz und der klare Ausdruck
solcher Subjektivierung des Weltbilds, wenn Naturforscher
wie Meynert in bewusstem Idealismus das Weltbild als Produkt
nur unseres Gehirns mit unserm Gehirn verschwinden
liessen oder wie Mach und Ziehen das esse als percipi und
die Empfindungen als die Erkenntniselemente und damit
"panpsychistisch" als Weltstoff erklärten oder gar wie Verworn
die Körperwelt als Inhalt der Seele verstanden, wie
ja gleichzeitig für den Psychologismus die Erkenntnis in seelische
Erfahrung und für die Immanenzphilosophie die Welt
als blosse Gegebenheit ins Bewusstsein versank. Und zu all
diesem Verklingen und Verblassen der Welt ins Subjektive
stimmt es, wenn jetzt Vaihingers Philosophie des Als Ob die
Macht der Fiktionen für Erkenntnis, Moral und Religion
zeigen will, wenn jetzt der Pragmatismus die Wahrheiten
herabsenkt zu nützlichen Annahmen für den Menschen, wenn
jetzt der Agnostizismus z. B. in Adickes klar die Metaphysik
als Wissenschaft leugnet und sie für eine "Summe rein subjektiver
Glaubensüberzeugungen" erklärt und der Positivismus
z. B. in Petzoldt offen bekennt: die Welt ist jedem so,
wie sie ihm erscheint. Vorahnend war auch hier Nietzsche, dem
die Welt schillerte als ein Wechsel von Phänomenen aus der
Perspektive des Macht wollenden Subjekts, das sich lebensbrauchbare
Jrrtümer als sog. Wahrheiten einverleibt hatte.
Und wie Nietzsche die absoluten Werte, so zerstörte der Pragmatist
die absoluten Wahrheiten und so zerstörte manche Deutung
des Relativitätsprinzips die absoluten Naturprinzipien,
die absolute Materie, Zeit und Bewegung und damit den
eindeutigen Weltzusammenhang. Das Weltbild wird auf den
Beschauer abgestellt; es wird relativ, indem es subjektiv wird.
Wenn aber so insgesamt das Subjektive zum Siege kam
über das Objektive, das Praktische über das Theoretische,
dann siegten die "emotionalen" Funktionen über die rationale,
dann siegten Wille, Gefühl und Empfindung über das Denken,
und im Hass gegen die reine Denkwahrheit, im bewussten
Irrationalismus gehen Nietzsche, der Pragmatismus
und der naturwissenschaftliche Positivismus zusammen heute
mit Bergson und der neuen Romantik und Mystik. Die
Mystik aber, in der die Wahrheit subjektiv wird, kommt als
Ergänzung der Skepsis, in der sie relativ wird. Und stehen
wir nicht bereits mitten in einem Zeitalter der Skepsis,
der Auflösung aller Weltanschauung, der Zersetzung alles
geistig Festen und Bindenden seit Nietzsches Systemhass, da
jetzt zum erstenmal der Relativismus als klare Theorie aufstieg,
da der Pragmatist seine Lehre als einen "Korridor"
öffnen will, der in alle Türen führe, da einem reichhaltigen
Historizismus die Wahrheit sich erschöpft in Darstellung fremder,
früherer Wahrheiten, da Positivisten und Psychologisten
die objektiven Prinzipien zerfliessen lassen im Wandel der
Erscheinungen und Erfahrungen? 7) Wenn jüngst ein bekannter
Germanist die Gültigkeit der Lautgesetze stark durch die Willkür
der Individuen einschränkte, oder wenn ein bekannter
Romanist konstatiert: dass die Sprachentwicklung "das Werk
von abstrakten Lautgesetzen nicht ist, darüber beginnen die
meisten Sprachforscher sich nachgerade einig zu werden" ,
wenn er heute eine Ratlosigkeit findet, nachdem die "logische"
wie die "psychologische Grammatik", die den Sprachgebrauch
aus Denk- oder Naturgesetzen begründen wollten, der "historischen
Grammatik" weichen mussten, die "das sprachlich Gültige
in das sprachlich Existierende auflöst und die Relativität
alles Gewordenen erweist" 8), wenn ferner eine moderne
Jurisprudenz nicht mehr das Leben nach dem Gesetz, sondern
das Gesetz nach dem Leben bilden, wenn sie die Strafe nicht
mehr in ihrem absoluten Zweck, sondern nur relativ als
Mittel des Gesellschaftsschutzes gelten lassen will, wenn moderne
Rechtsvergleichung und noch mehr moderne Religionsvergleichung
solchen geschichtlichen Reichtum ausbreiten, dass
die Fülle der Variation die absoluten Kriterien zu verschütten
droht, liegt nicht in alledem der Sieg des Relativen über
das Absolute, der Sieg des bunten, wechselnden Lebens über
feste Formen und Gesetze?
Die Einzelwissenschaften mögen unter solcher Lockerung der
Prinzipien befreit aufatmen und frisch gedeihen wie einst
unter Änesidems Skepsis die Medizin; der Philosophie aber,
die das Ganze sucht, droht heute die Wahrheit zu zerflattern
in wechselnde Hypothese und praktische Kalkulation, in Opportunität
und Virtuosität, in Aphoristik und Paradoxie, in
Zweifel und Schwärmerei, in Tanz und Spiel. Ja, die
Wahrheit wankt und wandert heute und taumelt — denn
sie hat keinen Hort und keine Heimat mehr im Denken.
Das Leben, das rauschende, wandelreiche droht das Denken
zu verschlingen, und es scheint, wir sind mit unserer Auflösung
der Wahrheit in ein neues Zeitalter der Sophistik
geraten. Nicht umsonst berufen sich die modernen Positivisten
von Laas bis Petzoldt und noch stärker Schiller, der
energischste Führer des Pragmatismus heute, ja schon der
Sokrateshasser Nietzsche auf den grössten der Sophisten, auf
Protagoras. Noch tiefer allerdings fand ja Nietzsche, dem
die Welt ein "Meer in sich selber stürmender und flutender
Kräfte", ein "Werden" ohne "Sattwerden" war, sich wieder
im Vorläufer des Protagoras und alles Relativismus überhaupt,
im grossen Heraklit, der alle Begriffe im Weltfluss
auflöste — wie heute auch Bergson. Und wahrlich, heraklitisch
9) ist die Denkweise dieser lebenstrunkenen Zeit, der
nichts feststeht als der unendliche Wechsel, nichts absolut gilt
als die Relativität. Proteus ist König dieser Zeit, der das
Weltbild zergeht im Wandel und Wirbel der Erscheinungen,
im Wellenrausch des Lebens.
Zur selben Zeit, da im lauten Kriegs- und Handelstreiben
Joniens die Welt für Heraklit wie ein Katarakt
dahinströmte, sassen an des Westmeers stiller Küste die ruhigen
Denker Eleas, denen das buntbewegte Leben wie Wellen
am Fels verrauschte und die Welt erstarrte im Absoluten.
Wie damals Heraklit und die Eleaten in ihrem Gegensatz
sich ergänzten, so erfüllt sich und charakterisiert sich jedes
Zeitalter und auch das unsrige erst in einem Gegensatz.
Während das laute Leben heute durch die Weltstädte braust
und selbst die Wahrheit in ihre Wirbel reisst, sind aus stilleren
Studienorten zumal des deutschen Westens Lehren aufgestiegen,
die über allen Marktlärm des Tages und allen
Taumel der Erscheinungen wieder die festen geltenden Werte
und die ehernen Tafeln des Gesetzes emporheben, die über
allen wechselnden Wettern und Wolken wieder die ewigen
Sterne suchen, und die dem ins Sinnen- und Nervenleben
verlorenen Geist wieder Mark und Muskel stärken, indem
sie das Denken in Spannung setzen gegen das Leben. Durch
die Kraft der Methode treten sie geschlossener in Schulen
auf, vor allem in der Marburger, in der badischen und in
der Göttinger 10) Schule, wie man sie wohl nach den Lehrorten
ihrer Führer bezeichnen darf. So sehr sie untereinander
und selbst in ihren einzelnen Vertretern sich unterscheiden,
sie sind doch einig darin, die Philosophie "als strenge
Wissenschaft" aus der Logik heraus zu begründen. Scharf
grenzen sie die apriorische Logik ab gegen alle empirische
und genetische Psychologie; doch wollen sie mit Recht mehr
sein als logische Spezialisten und Formalisten. Sie suchen die
Macht des Logos überhaupt für die Welterfassung; sie suchen
die festen, gültigen Prinzipien über allem zeitlichen Werden
der Erscheinungen. Sie wollen im Denken erkennen, den
Gegenstand fassen, der sich ihnen im Denken erst krystallisiert.
So wird ihnen die Logik zur Erkenntnistheorie, die ihnen
die alte Metaphysik ersetzt. Sie alle stellen die Philosophie
als quaestio juris auf gegenüber den Tatsachenwissenschaften;
sie alle suchen Begründung der Erkenntnis aus der Vernunft
oder aus dem "reinen", "überindividuellen", "absoluten"
"Bewusstsein überhaupt"; sie alle suchen nach Kants
Vorbild eine kritisch "rationale", "apriorische", "transzendentale"
Wissenschaft als synthetisches Erkenntnissystem. 11)
Am strengsten und vollendetsten haben wohl die Marburger
die Erkenntnis zum System ausgebildet, in dem der
Gegenstand, der ihnen durch die Sinne nicht gegeben, nur
aufgegeben ist, durch das Denken erst erzeugt, weil in Begriffen
erst bestimmt wird. Denn "nur das Denken selbst
kann erzeugen, was als Sein gelten darf"; "das Sein
ist Sein des Denkens", heisst es bei Cohen klar und scharf,
mit wahrhaft eleatischer Kraft. So ist diesen "klassischen,
logischen Idealisten" "sein = wahrgedacht", und so ist ihnen
nach Natorp "Alles Denken, Denken Alles". So haben sie
ihren Meister Kant erst konsequent logisiert, indem sie, was
für ihn unter oder über den Erkenntnisbegriffen lag, die
Anschauung wie die Welt der Dinge an sich in ihr reines
Denksystem einbezogen.
In freierer und mannigfaltiger Weise und noch in zukunftsreicher
Fortentwicklung leitet die badische Schule die
Erkenntnis, ja die Kullur sozusagen von oben her ab aus
Vernunftzwecken, aus einem "Normalbewusstsein", dessen Anerkennung
sie bei Windelband der Philosophie zugrunde legt.
Sie spannt so ein Reich der Normen und Formen über das
Reich der Inhalte, ein Reich der Geltung über das Reich
des Seins, ein Reich der Werte über das Reich der Wirklichkeit.
Wenn so die Marburger Schule mehr mit der theoretischen
Vernunft bestimmen, die badische mehr mit der praktischen
Vernunft 12) werten und sichten will, so will die Göttinger
phänomenologische Schule gewissermassen mit der ästhetischen
Vernunft schauen und beschreiben. 13) Man könnte den Unterschied
dieser Schulen vielleicht so zuspielen: die erste arbeitet
konstruktiv, die zweite normativ, die dritte intuitiv; die erste
denkt dialektisch, die zweite axiologisch, die dritte ontologisch;
die erste sucht Methoden und Gesetze, die zweite Normen
und Formen, die dritte Typen und Wesenheiten. Sie alle
suchen im Denken das Erkennen und im Erkennen den
"Gegenstand"; nur suchen die einen den Gegenstand mehr
im Wie? seiner Setzung, die andern im Wofür?, die dritten
im Was? Sie alle sind Idealisten, sind Geistesphilosophen;
denn sie bleiben im Geist; aber sie "objektivieren" den Geist
zur Erkenntnis des Gegenstandes, während die Lebensphilosophen
heute umgekehrt die Welt subjektivieren zur blossen
Erscheinung. Und so vollendet sich der Kreis.
Ist es nicht sonderbar? Die Idealisten streben heute
zum Realismus, die Realisten zum Idealismus. Während
den Idealisten heute das Denken sich härtet und schärft zur
Erkenntnis, schmilzt den Realisten die Welt als Lebensphänomen.
Während der Positivismus heute sich phänomenal
und geradezu idealistisch nennt 14), findet sich der Idealismus
heute nicht nur als "Phänomenologie" wahrhaft positivistisch,
empiristisch und realistisch. 15) Während heute die Positivisten,
die doch von den Weltgegebenheiten ausgehen, dieses festeste
Objektive, uneingedenk ihres Altmeisters Comte, auflösen in
wechselnde Erscheinungen für das Subjekt, kommen umgekehrt
heute die Idealisten, die doch vom Seelischen, Subjektiven,
vom menschlich Variablen, wie die Marburger vom stärkeren
Subjektivismus des geschichtlichen Kant, ja wie Windelband
und Rickert gerade von dem Eigenrecht des Individuell-Historischen
oder wie der einstige Psychologe Husserl vom
evidenten Icherlebnis" 16) ausgehen, vielmehr zum Objektiven
und Allgemeinen und erneuern so aus dem Geiste heraus
die Festigkeit der Welt, die gerade von der Weltphilosophie
heute verflüchtigt wird.
Aber ist es so wunderbar? Ist nicht schon dreimal, erst
durch den sokratisch-platonischen, dann durch den cartesischen,
endlich durch den kantischen Idealismus aus dem Geiste
heraus, durch Selbstbesinnung der Vernunft eine feste, allgemeine
Objektivität gerettet worden aus der Zerflossenheit
in sensualistische und subjektivistische Sophistik, aus Skepsis
und Mystik? Und leben wir nicht in der Situation vor Kant,
da den Massen von Häckel Lamettries Materialismus gepredigt
wird, da Mach den Sensualismus Humes erneuert, da
man Jakobis Dualismus von Verstand und Gemüt nicht nur
bei Bergson begegnet, da man Diderots schillernde Skepsis
wie Hamanns Mystik, Lichtenbergs Aphoristik wie Rousseaus
Naturwelt und wie viele Gestalten noch aus jener bunten,
lösenden Epoche heute wiederfinden kann? Wenn aber die
Positivisten heute die absoluten Erkenntnisgesetze auflösen und
die aus der alten starren Mechanik befreite Welt einer subjektiveren
Auffassung zuführen, muss dann nicht das Subjekt,
so in der Erkenntnis auf sich selbst gewiesen, nun in sich
selbst der Gesetzlichkeit seiner Erkenntnis inne werden? Muss
nicht aller Lebensrausch zur Besinnung kommen vor der
nüchternen Vernunft, aller Relativismus stränden vor den absoluten
Normen der Logik? So erleben wir heute eine Rettung
der im Rausch des Lebens und im Strom der Erscheinungen
versinkenden Erkenntnis, eine Rettung von innen her, aus
eigener Kraft, aus dem eigensten Organ der Erkenntnis, aus
der ratio, aus der Logik.
Sind wir damit am Ziel oder erst auf dem rechten Wege?
Noch bleiben Fragen und Aufgaben, noch drohen Gefahren,
noch starrt die Kluft zwischen diesem Absolutismus der Vernunft
und jenem Relativismus des Lebens, zwischen dem
Rationalismus der Schulphilosophie und dem Irrationalismus
der Weltphilosophie. Esoterische und esoterische Philosophie,
Schulbegriff und Weltbegriff der Philosophie, die Kant geschieden
und die er gerade in seiner Lehre wieder vereinigt
hat, scheiden sich heute wie nie zuvor. Geistesforschung und
Welterfassung klaffen auseinander heute, und in ihnen trennen
sich Theorie und Praxis, Schule und Zeitgeist, Denken und
Leben und kommen nicht zum Ausgleich in einer Weltanschauung.
Geist und Welt verstehen sich nicht mehr. Draussen
tobt das Weltleben, drinnen sinnt der Geist, und die Tür
scheint geschlossen. Bei aller Schärfe und Feinheit hat unsere
akademische Philosophie das Ohr der Zeit kaum erreicht.
Gewiss, weil sie zu fein ist und die Zeit zu wild und
zu laut für die leise, massvolle Stimme der Vernunft. Der
breitere, gebildete, ja auch wissenschaftliche Zeitgeist ahnt heute
gar nicht, welche hochgesteigerte Geistesarbeit in diesen Schulen
des modernen kritischen Rationalismus oder besser Logismus
geleistet, welche Leidenschaft des reinen Denkens durch gegenseitige
Anregung in ihm immer höher getrieben wird. Und
doch ist er nicht nur ein Gespinst der Studierstube, sondern
erwachsen aus tieferen Trieben der Zeit, die immer sichtbarer
auf allen Gebieten sich regen.
Aus allem Wandlungsrausch sehnt man sich wieder nach
Festem und Giltigem, und auch die Theologie will das Absolute
nicht mehr bloss mystisch als Erlebnis fassen, sondern
sucht wieder Anschluss an eine rationale Erkenntnistheorie oder
Metaphysik. 17) In der Jurisprudenz sind wie dem Positivismus
schon Bindings klassische Normen so jetzt dem Historizismus
vielfach schärfere, begriffliche, ja (nicht nur durch
Stammler) wieder aprioristische Auffassungen des Rechts entgegengetreten,
und die Zeit hat wieder den Beruf zur Gesetzgebung
gefunden. Die Biologie hat nach allem Entwicklungsfanatismus
in aller Wandlung der Arten auch wieder
die Konstanz beachtet und sich dem Problem der Vererbung
zugewandt, die sie zum Teil, mit Weismann die "unveränderliche
Bewegungsform" betonend, für erworbene Eigenschaften
bezweifelt und die sie icht nach Mendels Lehre auf strenge
Gesetze festzulegen sucht. Die Physik, der schon Heinr. Hertz
die "Prinzipien der Mechanik" im l. Bande ausdrücklich als
apriorische begründete, sucht wieder substantiellere Faktoren
für feste Rechnung und will extremen Folgerungen aus dem
Relativitätsprinzip ausweichen, die jetzt sogar Einstein beschränken
will. Gar manche kühne Hypothese sucht heute feste
Rhythmen periodischer Entwicklung für Welt und Erde, Leben
und Geschichte, und man versucht auch im Literarischen nicht
nur die allgemeine Folge der Dichtungsarten festzulegen, sondern
auch in der Einzeldichtung klangliche Konstanten herauszuhören.
Die feste Rhythmik, die wieder musikalisch und kunstgymnastisch
und sogar wirtschaftlich, als Arbeitswert beachtet wird, ist nach
der Verbannung im naturalistischen Zeitalter in die Poesie wieder
eingezogen, und gegenüber einer ausschweifenden, in grotesken
Satyrsprüngen der Phantasie tanzenden, spielenden Technik,
einer schwelgenden, blendenden Massenschaukunst, kurz gegenüber
einer dionysischen Weltlust tönt leise eine apollinische Seelenkunst,
eine weihende, mönchisch streng sich formende Lyrik. Auch
in der Baukunst tritt dem Allerweltsstil die Wahrung des
Eigenen und Heimischen entgegen, und in der Malerei wagen
sich neben der schwelgerischen Auflösung in Licht und Farbe
wieder Form und Linie und die Bildeinheit in strengerer
Stilisierung hervor, und gleichzeitig drängt in der Kunstforschung
neben der historischen Entwicklung und Erklärung
eine stärkere Richtung auf abstrakte Formprobleme.
Doch genug von diesen bedeutsamen Gegenströmungen!
Soll aber die Zeit sich so in Gegensätzen erschöpfen und nicht
gross werden in einem Ganzen, nicht Weltsinn und Formsinn
zum bewussten Ausgleich bringen in einer Weltanschauung?
Wohl hat unsere Schulphilosophie ein Grosses getan, indem
sie die Vernunft gerettet hat aus dem Lebensrausch dieses
weltmächtigsten Zeitalters; aber sie selber beansprucht nicht
damit eine Weltanschauung zu bieten. Denn sie sucht weniger
die Erkenntnis der Welt als die Erkenntnis der Erkenntnis. Sie
hat nicht so sehr Dinge vor sich als das Bewusstsein der
Dinge, das sie nun analysiert. Sie fragt mit Kant: wie
ist Wissenschaft möglich? und folgt der grossen Wendung Kants,
indem sie die Prinzipien statt in der Welt vielmehr in der
Wissenschaft sucht. Dabei erweitert sie Kant in fruchtbarer
Konsequenz und höchster Ausgestaltung der Vernunft, indem
sie zur Logik der Naturwissenschaft eine Logik der Mathematik
und weiter durch Cohen und Natorp auch eine Logik der Ethik
und der Ästhetik, durch Windelband und Rickert eine Logik der
Geschichtswissenschaft und schliesslich mit Last eine Logik der
Logik begründete — recht im Gegensatz zum realistischen Psychologismus,
der heute in Th. Lipps die Logik zur "Physik
des Denkens" oder in G. Heymans zur "Chemie des Urteilens"
herabdrückte.
Wohl war's nun eine Rettung, als nach der Auflösung
der Weltanschauung die Erkenntnis sich auf sich selbst zurückzog
und in der Selbsterkenntnis den logisch festen Turm
ihrer Prinzipien uneinnehmbar machte. Aber soll sie nun
in ihrer schützenden Burg verharren und nicht wieder frei
und mutig heraustreten in die Welt? Oder soll die Philosophie
nur an ihre eigene Sicherheit denken und nicht an
ihren Beruf, an ihre Verantwortung vor dem Zeitgeist?
Mag heute die akademische Philosophie auf Weltanschauung
verzichten, der Mensch kann nicht darauf verzichten kraft des
geistigen Triebs zum Ganzen, der unausrottbar in ihm
wohnt; und wenn hier die Philosophie als Wissenschaft
versagt, so drängt sie den Zeitgeist sich eine Weltanschauung
aus trüberen Quellen zu holen und treibt die Massen einem
materialistischen Monismus in die Arme oder, davon abgestossen,
einer abergläubischen Schwärmerei, die beide echter
Wissenschaft ebenso fern sind wie echter Religion. Und
dagegen genügt nicht die verdienstlichste philosophische Kritik,
die den Geist wohl schürt, aber nicht nährt. Die Stunde
ist da für die Philosophie; denn über alle Spezialismen
hinweg ruft der Geist der Zeit wieder nach einer Weltanschauung.
Aus langer Verachtung und Ohnmacht ist heute
die Philosophie kraftvoll erstanden in diesen Schulen, die in
eigener, freier Weise den Geist Platons, Descartes' und
Kants erneuern 18), nur ohne ihre Weltanschauung. Den
Idealismus der reinen Theorie haben sie wieder aufsteigen
lassen, den tiefgesunkenen Geist wieder aufgerichtet und sein
verlorenes Selbstbewusstsein wieder erweckt. Das Recht des
Denkens und das Reich der Vernunft haben sie wieder begründet
. Sie haben das Erste geleistet, das nottat, die
Analyse des Geistes, die notwendig war vor der Synthese
der Welt, wie Sokrates notwendig war vor Platon und
Descartes' und Kants Kritik notwendig vor ihrem und ihrer
Nachfolger System; aber indem diese Schulen die Mittel des
Geistes schärften ohne Anwendung für die Welterfassung, haben
sie dem philosophischen Hunger der Zeit oft Messer geboten
statt Brot, feine, scharfgeschliffene Messer, die erst an den
Speisen ihre Kraft bewähren sollen.
Dennoch dürfen wir mit unseren modernen Kritizisten
gehen, weil sie über sich selbst hinausweisen. Sie nennen sich
kritisch; aber sie selber haben bereits den Weg beschritten von
der Kritik zum System; sie selber haben die bindende, die
synthetische Kraft der Vernunft erkannt, wenn auch mehr für
die Erkenntnis. Sie selber haben den Geist aus seiner Subjektivität
erlöst und ihn zum Gegenstand hingeführt; aber es
blieb ein Gegenstand der Erkenntnis, ein Objekt für ein Subjekt,
wenn auch ein noch so allgemeines, und in dieser Korrelation
droht die ganze Erkenntnis ohne Weltbezug in der
Luft zu schweben.
Wohl darf sich die Philosophie dieser Schulen als transzendentale
auf Kant berufen; aber transzendental bleibt das
Prädikat einer Erkenntnis, einer Methode, nicht eines Inhalts,
nicht einer Welt. Und Kant lehrte noch eine Welt
hinter der Erkenntnis. Mag es ein heilsamer Fortschritt sein,
dass seine modernen Nachfolger die Kantische Welt der unerkennbaren
Dinge an sich überwanden und aufhoben und damit
die absolute und qualitative Grenzsetzung der Erkenntnis
zu einer relativen und quantitativen minderten — ist aber
nicht mit jener Grenzsetzung der Kern des Kriticismus preisgegeben?
Und hängt nicht Kants Transzendentalismus an
Kants Dualismus? Denn der Verstand kann der Welt Gesetze
geben, sofern sie seine Welt ist, die Welt, die er begreift
, weil sie ihm gleicht, die Welt der Erscheinung für ihn,
nicht die Welt an sich. Doch wenn dieser Unterschied dahinfällt,
dann droht Kants "kopernikanische Wendung" vielmehr
ptolemäisch, anthropozentrisch zu werden, dann fällt Kants Lösung
der grossen Frage dahin: wie können Denkgesetze Weltgesetze sein?
Ist aber die Welt der Erkenntnis nicht mehr die Erscheinung
einer unerkennbaren Welt, dann ist sie entweder ein Phantom
oder die Welt an sich, dann fasst die Erkenntnis unmittelbar
die Welt, dann steht das Denken vor dem Sein selber,
und dann bleibt nur ein negatives oder ein positives Verhältnis:
dann bleibt nur die Skepsis oder die Metaphysik.
Doch sehe ich recht, so strebt unsere moderne Schulphilosophie
kraft der hohen Macht des Denkens, die in ihr wohnt
und die sie verficht, selber schon einer neuen Metaphysik zu. 19)
Und sie kann ja nach Überwindung von Kants Dualismus so
wenig wie seine Nachfolger beim Kantischen Transzendentalen
stehen bleiben. Gibt es doch nur Formen ohne Inhalt, Perspektiven
ohne Anschauung, Fähigkeiten und Forderungen ohne
Wirklichkeiten, Mittel und Methoden der Welterfassung ohne
die Welt. Denn die Welt ist zulebt Inhalt, und der Welthunger
der Zeit lässt sich an Formen nicht genügen.
Wohl geschah es der Zeit zum Heile, dass eine rationale
Philosophie mit dem scharfen Schnitt der Analyse uns heute
von einem alles mischenden, alles verwischenden Monismus
befreite und wieder Formen und Normen heraushob aus der
Zerflossenheit in die Welt. Denn wir brauchen Gesetze hoch
über Welt und Leben gespannt und brauchen ein Reich der
Werte über dem Reich des Seins. Doch es darf bei den
blossen Gegensätzen nicht bleiben. Gegensätze reinigen und
klären, aber vollenden nicht. Antithesen formulieren erst die
Aufgabe, bringen erst die Spannung — alle Lösung liegt in
der Synthese. Jede Scheidung ist eine Schuld, die wieder
gut gemacht werden muss — nicht durch Vertuschung, sondern
durch "Aufhebung" im doppelten, Hegelschen Sinn. Solange
aber Form und Inhalt, Subjekt und Objekt, Denken und
Sein, Wert und Wirklichkeit bloss gegenübergestellt werden,
starrt nur ein Rätsel fremd ein anderes an. Was nützt uns
die noch so wahre Lehre, dass geltende Formen sich auf gegebene
Inhalte beziehen, wenn wir weder für die einen noch
für die andern noch für ihre Beziehung nach Gründen fragen
dürfen, weil die einen nur diktatorisch sich selbst begründen,
die andern auf alle Fragen stumm bleiben? Und wenn sich die
Formen und Gesetze im letzten Grunde nur als die Formen
und Gesetze der Erkenntnis offenbaren, dann mag es dem
Weltkind, das bis in den Himmel schauen will, zu Mute sein,
als zeige man ihm statt der ewigen Sterne die Balken und
Pfosten der Zimmerdecke. Die Formen und Werte sind da
über dem Menschen, abgeschnürt von der Welt und doch nicht
in einer zweiten, höheren Welt; sie sind da höchstens in einem
Normalbewusstsein, das in der Unbegründbarkeit seines Inhalts
dem common sense gleicht, mit dem sich die schottischen Akademiker
gegen Humes Skepsis wehrten; sie sind da nicht in
einem Dasein, sondern nur in der Erkenntnis; denn es gibt
nichts über, nichts hinter der Erkenntnis, sondern höchstens
etwas vor der Erkenntnis; es gibt da kein asylum ignorantiae
und keine intelligible Welt, in der die Ideale verankert wären,
es gibt nur die Welt der Erkenntnis, allerdings als unendliche
Aufgabe.
Doch die Zeit fordert nicht nur die Welt der Erkenntnis,
sondern auch die Erkenntnis der Welt. Und die weit ist mehr
als blosser Erkenntnisstoff, ist mehr als blosses Negativum für
die Positivität des Denkens, mehr als dunkler Überrest und
weichender Nachtnebel vor dem Lichte der Erkenntnis. Die
Welt ist nicht "stumm geboren" und lässt sich nicht so "nackt" ,
so glatt und wehrlos aufsaugen in die absoluten Formen des
Denkens. Die Inhalte schreien auf gegen die Formen. Die
materiellen Sinne wie die praktischen Triebe, die künstlerische
Phantasie wie das gläubige Herz wollen nicht eingehen in
den Intellekt. Die Dinge fordern ihre Realität, und die Zeit
verlangt statt blosser Gedanken das Wirkliche selber zu fassen,
und durch alles vermittelnde Denken hindurch lechzt sie nach
dem Unmittelbaren. Und soll heute die grosse Renaissance
des Lebens vergebens gekommen sein, nur als kurzer, leerer,
blinder Taumel? Hören wir nicht das gewaltige Rauschen der
Zeit, und sollen wir uns taub stellen gegen ihr Drängen und
Fordern? Soll alle Weltphilosophie heute mit aller Lebensbetonung
in die Irre gehen? Soll alle Schmiegsamkeit, alle
Variationsfülle modernen genetischen, psychologischen und
historischen Denkens, soll auch eines Nietzsche wie eines Bergson
Schwung der Lebenserfassung, soll alles Gott- und Weltgefühl
moderner Mystik und Romantik nichts sein als Entartung,
Zersetzung, Verflüchtigung des Denkens in Zweifel,
Spiel und Schwärmerei? Stehen den Rationalisten die Irrationalisten
wirklich nur wie Trunkene den Nüchternen gegenüber?
Hier erst stehn wir im Höhepunkt der heutigen Krisis, die
aus einer philosophischen sich zu einer geistigen überhaupt erweitert
und die innerste Seele der Zeit zerreisst zum Schaden
der Kultur. Zwei Schlachtreihen stehen sich heute auf dem
Felde des Geistes gegenüber: die Verfechter der Macht des
Denkens und die Verfechter der Macht des Lebens, des Seins
überhaupt. Den einen wird das Sein zur blossen Kategorie
des Denkens, den andern wird das Denken zur blossen Kreatur
des Seins. Die einen holen die Wirklichkeit erst aus der
Wahrheit, die andern holen die Wahrheit erst aus der Wirklichkeit,
und den einen verblasst darüber die Wirklichkeit, und
den andern zersetzt sich die Wahrheit. Den Verkündern des
Logos versinkt das Leben zum blossen, blassen Inhalt des
Denkens den Verkündern des Bios verarmt das Denken
zum blossen Mittel des Lebens.
Doch gibt es nun keine Rettung aus diesem Ringen der
Gegensätze, keine Versöhnung von Denken und Leben, die
beiden ihr Recht gibt? Ich glaube, es gibt eine Lösung der
Krisis, und sie muss kommen, weil die Gegensätze selber nach
ihr rufen, weil sie in Wahrheit nicht unversöhnlich sind, sondern
sich entgegenkommen, ja sich fordern. Die Krisis kam,
weil man das Leben als denkfremd verkannte und das Denken
als lebensfremd. Schuld tragen vor allem die Verfechter
des Lebens, die es dem Denken nur entgegenstellten als
rauschende Fülle und Buntheit gegenüber dem Gleichmass des
Allgemeinen, als wildes, unendliches Werden und Flucht der
Erscheinungen gegenüber den festen, bindenden Prinzipien;
aber Leben ist mehr als unendlicher Strom, als Wechsel und
Wandlung, als Buntheit und Fülle, ist mehr als Macht,
Schwung und Rausch, Leben ist auch Ordnung; denn Leben
ist organisch. Leben braucht zur Freiheit auch Bindung, zur
Variation auch Konstanz. Leben ertrinkt im chaotischen Wechsel,
zersetzt sich in blosser Zerstreuung. Denn alles Leben lebt
nur als Organismus d. h. in der Konstituierung zu einer
Ordnung. Ordnung aber ist gerade der Sinn der Vernunft.
Nur weil man den organischen Charakter des Lebens verkannte
, hat man Denken und Leben als Gegensätze auseinandergerissen.
Und wie das Leben als denkfremd hat man das Denken
als lebensfremd verkannt. Man hat die Begriffe des Denkens
starr und steril, kahl und kalt, abstrakt und leer gescholten
und darum die modernen Vernunftverfechter noch zu wenig
gewürdigt. Aber man mag von der Marburger Schule die
erzeugende Kraft und den unendlichen Fortschrittssinn des
Denkens lernen und jene Selbstbewegung der Begriffe, die
ihnen nach Hegel schon die "Rückkehr ins Leben" bringt, und
man mag in den Lehren der badischen Schule die kahlen,
kalten Formen vielmehr als hohe kulturbildende Werte und
in der Göttinger Phänomenologie die rationale Wesenserfassung
als "unmittelbare, originäre Anschauung" aufleuchten
sehen. Ja, entfaltungskräftig, zielstrebig und anschaulich wird
bei diesen Rationalisten das Denken, und so bieten sie im
Denken gerade die Eigenschaften, die ihre Gegner als spezifischen
Vorzug des Lebens gegen das Denken ausspielen.
Könnte man doch sogar in dem von den Marburgern gelehrten,
ohne absoluten Abschluss fortschreitenden Denkprozess
geradezu den Relativismus, in der Wegrichtung der badischen
Schule wiederum Nietzsche und den Pragmatismus, in der Göttinger
Phänomenologie ebenso Bergsons Intuition des Erlebnisstromes
20) enthalten und "aufgehoben" finden, d. h. ins Logische
umgeschlagen und dadurch zu objektiver Bestimmtheit gebracht.
Jedenfalls haben unsere Rationalisten die scholastische Starrheit
des alten, echten Rationalismus überwunden; aber nicht
minder haben unsere Irrationalisten die mechanistische Starrheit
des alten Naturalismus hinter sich gelassen, und wenn
sie die Natur dynamischer, die Welt lebendiger fassen, haben
sie, da ja im Lebendigen gerade Natur und Geist sich durchdringen,
die Welt dem Geiste nähergebracht, und sie dabei
nicht nur aufgelöst in Fluss und Fülle, in Wechsel und Buntheit,
nein, auch sie, die nicht umsonst vom Geiste Heraklits
berührt sind, der einst in allem Weltfluss den Logos lehrte,
sind, wenn auch nur in einzelnen Ansätzen dem Gedanken
der Welt als Ordnung und damit dem Rationalismus entgegengekommen.
Oder hat etwa die moderne Physik mit dem
Relativitätsprinzip und mit der Zersetzung des starren Atoms
die Welt ins Chaos gestürzt? Hat sich nicht dadurch das
Atom, bisher das Letzte der Weltauflösung, selber wieder als
ein schwingendes System erwiesen, oft genug dem Sonnensystem
verglichen, so dass man im Kleinsten das Grösste wiederfand
wie eben im Organismus und dadurch die "systematische
Verfassung" des Weltalls sich nicht zerstört, sondern erweitert
zeigte? Und zahllose, erst heut entdeckte Energieentsendungen
zeigen ja viel mehr als man geahnt die Welt als wirksamen
Zusammenhang, auf den auch die modernen Naturforscher
weisen, wenn sie von der "Evolution der Materie", vom
"Stammbaum" oder sicherer vom "periodischen System" der
Elemente, von der "organischen Einheit" unseres Sonnensystems
u. dgl. mehr handeln. Mögen auch für die moderne
Physik alte Naturgesetze sich wandelbar und vergänglich zeigen,
sie können es, weil hinter ihnen sich eine höhere, allgemeinere
Naturgesetzlichkeit auftut — so tröstet in einer seiner letzten
Reden der Relativist Poincaré.
Aber auch der radikalste Relativist betont ja in allem
Wechsel die Relationen und damit nicht nur das Lösende,
sondern auch das Bindende 21). Nicht minder bindet selbst der
Pragmatismus zugleich die wechselnde Wahrheit, indem er sie
kausal, nach den Folgen bestimmt. Pragmatisch in seiner
Weise kommt auch der Historismus und sucht wie alle genetischen
Erklärer heute kausale Bande oder feiner wie Dilthey
"Strukturzusammenhänge des geschichtlichen Lebens"; denn es
"gibt da keine isolierten Elemente" für ihn im "Nexus des
Lebens", in diesem "Gewebe von dunklen und bunten Fäden",
und "Kultursysteme beharren, während Individuen wechseln".
Noch weiter, als Kontinuität in allem Wechsel, als Ganzheit in
aller Fülle ward jetzt das Leben von Bergson erfasst, noch
tiefer als Einheit ward es von der modernen Mystik erfühlt,
noch höher als Steigerung in steter Selbstüberwindung ward
es von Nietzsche ergriffen. So haben unsere Lebensphilosophen
schon einzelne höhere Momente des Lebens beachtet. Sie
haben aber in allem, in Fluss und Fülle, in Beziehung und
Folge, in Kontakt und Konnex, in Kontinuität und Einheit,
in Steigerung und Überwindung am Leben, am Organischen,
das eben in aller Entwicklung zugleich Ordnung ist, doch
mehr die Entwicklung als die Ordnung gesehen, mehr die
Funktion als die Struktur, mehr den Strom als den Halt,
und darum haben sie das Leben hinwegrauschen lassen auch
über alle Ordnung, die das Denken fordert. Sie haben sozusagen
am Lebendigen mehr das strömende Blut und die
vibrierenden Nerven und die wachsenden Gewebe gesehen als
die gespannten Muskeln und die festen Knochen. Gewiss, der
Organismus ist zugleich Organisationsprozess; denn er ist in
beständiger Entfaltung; doch im blossen Prozess käme das
Leben nie zur Gestalt. Das Leben fordert seine Statik wie
seine Dynamik, und "auf dem Gleichgewicht von Beharrung
und Veränderung beruht die Möglichkeit der Welt" schon nach
Goethe, dem Organiker. Die Gegensätze bedingen sich im
Leben wie im Erkennen. Den Fluss der Massen und Inhalte
erleben und erkennen wir erst an den festen Formen und
die festen Formen erst am Strom des Werdens. Am Absoluten
erst messen wir das Relative, und im Relativen erst
entfaltet sich das Absolute. Und so ergänzen sich auch heute
Absolutisten und Relativisten, Rationalisten und Evolutionisten,
Statiker und Dynamiker des Geistes. Die einen substantivieren
gleichsam die Welt zu festen Begriffen, Werten und
Wesenheiten, die andern verbalisieren sie gleichsam im Flusse
wechselnden Geschehens. Doch zum vollen Ausdruck kommt
die Welt sozusagen erst im Satze, der beide vereinigt, Hauptwort
und Zeitwort, Substanz und Funktion.
Unsere Rationalisten wissen auch, dass die Gegensätze so
sich bedingen. Sie wissen es so gut, dass sie nicht mehr
Rationalisten sein wollen. Und sie sind es auch nicht mehr;
denn sie alle erkennen ein Jrrationales an 22), die Marburger
Schule wenigstens in der unendlichen Aufgabe für das Denken,
die badische breiter und voller als Seinsinhalt unter den
Vernunftformen, und sie wissen, die Formen sind leer ohne
die Inhalte. Sie strecken die Hand aus nach dem Leben
und wollen im Denken das Leben bilden und formen. 23) Sie
wollen das Denken erlösen aus der Kammer der Seele, aus
seiner blossen Subjektivität als menschliche Geistesfunktion. Sie
bauen über alles Menschliche und Individuelle, ja über Subjekt
und Objekt das "dritte Reich" der Vernunft. Der ganze
Weg des modernen Neukantianismus ist so ein heilsamer Fortschritt
über den Subjektivismus hinaus von der blossen Abwehr
des Materialismus, die das Recht des Subjekts festhalten
musste, zum positiven Ausbau einer objektiven und
doch idealen Sphäre. Unsere modernen Transzendentalisten
suchen insgesamt die innere Sachlichkeit, den objektiven Geist,
die konkrete Vernunft, sie greifen im Bewusstsein den Gegenstand,
ja in der Göttinger Schule sogar das Unmittelbare,
kurz, sie führen das Denken bis zur Schwelle der Wirklichkeit;
es fehlt nur das Letzte: der Schritt aus dem Bewusstsein
zur Welt hinaus, der Durchbruch zur Realität .
Es ist der notwendige Fortschritt von der Erkenntnistheorie
zur Metaphysik. Denn blosse Erkenntnistheorie kann nicht
leben, kann immer nur ein Übergang sein, immer nur das
Tor der Wahrheit, nicht die Wahrheit selbst, immer nur noch
so kunstvolle Propyläen zu ihrem Tempel, immer nur "Prolegomena
zu einer künftigen Metaphysik"! Die Metaphysik
aber, die viel verschrieene, weil viel verirrte, ist, richtig verstanden
, die eigentliche Wissenschaft von der Realität. In
ihr geschieht, was wieder geschehen soll: dass der Geist der
Welt selber wieder gegenübertritt und das Denken zum Sein
wieder in ein unmittelbares Verhältnis kommt. Dazu aber
müssen wir die Erbkrankheit moderner Philosophie überwinden,
den erkenntnistheoretischen Idealismus, der in Wahrheit
das Gegenteil eines Idealismus ist, der vielmehr nach dem
Vorbild Berkeleys gerade in der Linie jenes Positivismus
und Psychologismus liegt, den unsere Transzendentalisten
heute so glücklich niedergerungen haben. Doch in ihrem Ausgang
vom noch so reinen Bewusstsein, von der noch so allgemeinen
Vernunft bleibt ein letzter Rest von Subjektivismus.
Demgegenüber genügt nicht ihre Anerkennung eines unbestimmten
Jrrationalen. Denn indem sie das Denken trotz
seiner "bestimmenden" oder "hingeltenden" oder "intentionalen"
Bedeutung von diesem irrationalen Seinsstoff abscheiden,
rauben sie zugleich dem Logischen die Realität und der Realität
den Wert, und existenzlose Formen schweben ihnen
über bedeutungslosen Inhalten, Leeres über Totem.
Aber heisst so mit dem erkenntnistheoretischen Idealismus
brechen nicht Kant preisgeben? Kant verstehen heisst über
ihn hinausgehen — gerade an der Marburger Schule hat
sich dies Wort Windelbands bewährt. Doch auch sein weiteres
Wort gilt: "Das letzte Prinzip aller theoretischen Philosophie,
ja aller Philosophie überhaupt bildet seit Kants Kritik der
reinen Vernunft der Begriff der Synthesis." Ja, in der
Kraft der Synthesis liegt der Kern der Kantischen Lehre,
liegt seine Überwindung des Wolffschen Rationalismus wie
des Humeschen Skeptizismus, die beide in der Analyse hängen
blieben, liegt ja auch seine fortwirkende Kraft für seine spekulativen
Nachfolger. Die Synthesis als Kern des Kantianismus
ist namentlich von der Marburger Schule herausgeschält
worden, und dieser Kern wird bleiben, auch wenn die gebrechliche
Schale des erkenntnistheoretischen Idealismus von ihm
abgefallen ist, ja, dieser Kem wird sich als Keim von neuem
entfalten, wenn er von der lebten Schlacke und haltenden
Faser des Subjektivismus frei geworden, wenn die Synthesis
sich aus blosser Denkbedeutung zur Weltbedeutung enthüllt.
Denn die Welt ist nun einmal nicht nur ein "amorpher
Brei", der bloss vom Denken im Denken geformt wird.
Zeigt sie doch synthetische und das heisst konstituierende,
bildende Kraft, systematischen Zug und innere Zusammenhänge
bis in die Elemente und Atome hinein. Und sind
denn Synthese und Analyse durchaus nur Methoden der
Logik und nicht gerade auch der Chemie? Durch die Zusammenhänge
und Entwicklungen, die man heute in der
anorganischen Natur entdeckt hat, ist sie eben der organischen
näher gerückt, gewissermassen selber lebendig geworden; denn
das Lebendige ist ein sich entwickelnder Zusammenhang.
Und nun zeigt ja die eigentliche Welt des "Organischen"
noch in höherer Deutlichkeit den synthetischen Zug im Sinne
der Vernunft. Denn was ist 's, das die drei Schulen moderner
Transzendentalphilosophie als Privileg der Vernunft so klar
herausarbeiten? Gegenüber dem "Gewühl der Empfindungen",
dem unbestimmten Sinnesmaterial, den seienden
Gegebenheiten, den wechselnden Erscheinungen bietet das
Denken den einheitlich bestimmten Zusammenhang, die geltende
Form, das bleibende Wesen. Doch all dies mit
seinen Gegensätzen kommt ja im Organismus zugleich zum
Ausdruck und Ausgleich. Im Organismus stellt sich ein
einheitlicher innerer Zusammenhang sinnlich dar; im Organismus
ist ein Seiendes selber zur Form gebildet; im Organismus
zeigt sich durch alle Variation der Entwicklung ein
bleibendes Wesen in Selbsterhaltung und Arterhaltung.
System, Form und Typus, die von unseren drei Schulen
als Leistungen der Vernunft aufgedeckt wurden, zeigen sich
schon verwirklicht im Organismus.
Und mehr! Man mache nur vollen Ernst mit der grossen
Kantischen Entdeckung der Denkformen als "Organisationsformen",
und man wird sie am Leben selber verwirklicht
finden. Denn das Lebendige eben als Organismus, als
gegliederte Einheit ist Einheit einer Vielheit als Ganzheit,
ist Bindung und Scheidung, beides in der Beschränkung,
ist ein Wesen mit Zuständen, das wirkend seine Glieder
beherrscht, die in Wechselwirkung stehen, ist ein Wirkliches
voll Fähigkeiten und Bedürfnissen, also ein Dasein mit
Möglichkeit und Notwendigkeit. Sieht man nicht, dass so
im Organismus alle Kantischen Kategorien in jener Einheit
sich finden, die Kant selber vergebens gesucht hat? 24)
Unsere Neukantianer haben die Ordnung erfasst, aber erst
in der Vernunft, noch nicht im Leben; unsere Lebensphilosophen
haben das Leben erfasst, aber noch nicht .in
seinem höchsten Wert, noch nicht als Ordnung. Denn sie
haben es nicht als Organismus begriffen, als Einheit der
Gliederung. Ihnen versinkt entweder die Einheit in der
Fülle des Einzelnen oder das Einzelne in der mystischen
Einheit. So ertränken sie gleichsam eine Kategorie des
Lebens in der anderen. Der Organismus aber lebt als
Einheit des Wesens in der Vielheit der Glieder; er lebt in
Verbindung und Zerlegung, und das heisst gerade in den
Funktionen, die auch das Denken ausmachen als Synthese
und Analyse. Goethe schon, der ewig Lebendige, wusste es:
Synthese und Analyse, "beide zusammen, wie Aus- und Einatmen,
machen das Leben der Wissenschaft".
Wenn ferner das Denken unter Gattungen ordnet und nach
Arten sondert, so entspricht auch hier die logische Systematik
der biologischen, weil eben Denken und Leben sich entsprechen
. Das Denken eine höhere Formung, Organisierung
des selber schon formenden, organisierenden Lebens!
Soll aber damit etwa das Denken biologisch erklärt werden
als blosses Naturprodukt? Das hiesse in die naturalistische Einseitigkeit
der Lebensverfechter zurückfallen, während doch eine
Hegelsche Deutung des Lebens als Ausdruck des Denkens
mindestens ebenso berechtigt wäre. Doch es gilt nicht das
eine einseitig und fremd aus dem andern zu erklären, sondern
das Gemeinschaftliche im Leben und Denken zu erkennen.
Schon das Leben ist Ordnung und noch das
Denken Entwicklung. Schon im Leben ist das Denken vorgebildet
und noch im Denken das Leben ausgebildet. Das
Leben denkt und das Denken lebt. Im Leben gestaltet
sich, realisiert sich das Denken, im Denken idealisiert sich,
klärt sich das Leben. Und darum erstarrt das lebensfremde
Denken zur Scholastik und das denkfremde, bewusstseinsarme
Leben zum Mechanismus. Und darum müssen die Begriffe
aus dem Leben schöpfen wie das Leben sich in Begriffen
reinigen und festigen. Und darum darf das Denken nicht
als leere Abstraktionsform über dem Leben schweben und
das Leben nicht bloss als dumpfer Rest und stummer Inhalt
auf das Denken warten, sondern sie müssen sich entgegenkommen,
sich durchdringen, wie eben der Inhalt wieder zur
Form wird für einen niederen Inhalt und die Form wieder
zum Inhalt für eine höhere Form. Sonst bleibt ihre Beziehung
ein unlösbares Rätsel, ein Wunder wie einst den
Okkasionalisten die Beziehung von Seele und Leib.
Denn wie Seele und Leib, ia als Seele und Leib
scheiden und finden sich Form und Inhalt im Organischen
als Lebendigen. Nur im Lebendigen fassen wir ihre Vereinigung,
aber auch ihre Scheidung und Unterordnung, die
Macht der bleibenden Form über die wechselnden Stoffe,
die Macht der Einheit über die Vielheit, der Seele über
den Leib. So kamen sie ja alle auf die Betonung des
Organischen, Aristoteles für den Ausgleich von Form und
Stoff, Leibniz für den Ausgleich von Seele und Leib und
Kant für den Ausgleich von Sein und Sollen. So gehen
auch wir wieder den Weg Kants, des einstigen Physikers
und späteren Moralisten, der schliesslich in der Kritik der
Urteilskraft die Notwendigkeit jenes Ausgleichs entdeckt hatte.
Es ist das Verdienst der badischen Schule auch heute, nach
allem nivellierenden Monismus wieder die ideale Spannung
aufgetan zu haben zwischen Form und Inhalt, Wert und
Sein. Doch es geschah in der richtigen Voraussicht, dass
der Spannung auch die Lösung folgen müsse. 25) Denn ist
jener Dualismus ein realer und absoluter, dann leistet er
nichts, weil er starr ist und die Gegensätze sich fremd bleiben.
Bleibt er nur ein abstrakter, dann leistet er nichts, weil er
nur im Denken da ist, für die Wirklichkeit aber leer und
versagend in den Monismus zurückfällt.
Doch im Lebendigen ist Scheidung und Ausgleich der
Gegensätze. Das Leben allein ist Sein und Wert zugleich,
ist die einzige Realität, die ihre Idealität in sich trägt wie
der organische Keim den Trieb zur Pflanze, und darum
taugt das Leben heute zum Weltprinzip für ein Zeitalter
stärksten Realsinns und doch wieder erwachten Idealtriebs.
Das voll verstandene Leben — nicht das nur natürlich
gegebene des Positivismus oder Biologismus, dem Eucken
mit Recht jetzt entgegenruft: "Das Leben ist kein Datum,
sondern ein Problem," und seine "Beschränkung auf das
gegebene Dasein" wäre seine "Einschliessung in einen Käfig" .
Ja, das Leben ist in beständiger Entfaltung und Steigerung,
Überwindung und Ergänzung. Im Erkennen überwindet
sich das Leben selbst, macht sich selber zum Objekt, und in
seinem organischen Zug zum Ganzen drängt dies Leben
als Erkennen zur letzten Ergänzung, zur Allerfassung, zur
Metaphysik. Es kann nicht anders sein, es muss eine
lebendiges, ein organisierendes Prinzip der Welt zugrunde
liegen, das sie dem toten Gleichgewicht, der leeren Zerstreuung
enthob; denn der synthetische Zug, der Ruf zur
Formung, Systembildung, Entwicklung zieht durch die Welt
von den tiefsten Tiefen der Natur bis zu den höchsten
Höhen des Geistes.
Ja, auch die Kultur, die, wie Riekert so schön gezeigt,
die Werte in der Geschichte verwirklicht, auch die Kultur —
dies sei zum Schluss wenigstens in raschen Andeutungen
gezeigt — ist Organisierung oder, wie Windelband es nennt,
"schöpferische Synthesis" . "In dem Bewusstsein der schöpferischen
Synthesis ist die Kultur zur Selbsterkenntnis gelangt:
denn sie ist ihrem Wesen nach nichts anderes." "Dies Selbstbewusstsein
der schöpferischen Synthesis muss der zentrale
Punkt sein für die Gestaltung der Weltanschauung, welche
unsere heutige, so unübersehbar vielfältige und zerrissene
Kultur sucht und welche sie braucht." "Diese Vernunfttätigkeit
aber, die als Wissenschaft eine Neuschöpfung der
Welt aus dem Gesetz des Intellekts bedeutet, ist von genau
derselben Struktur wie alles praktische und ästhetische Verhalten
des Kulturmenschen."26) Doch eben darum sehe ich in der
schöpferischen Synthesis nicht nur das Gesetz des Intellekts,
nicht nur das Prinzip des Bewusstseins, der Vernunft, der
Logik, sondern allgemein und unmittelbar das Prinzip der
Kultur, der Weltanschauung, weil des Lebens überhaupt, ein
Prinzip, das in der geistigen Kultur, diesem potenzierten
Leben, nur stärker sich ausprägen muss. Schöpferische Synthesis
heisst Organisierung. Wenn sich uns die Denkformen
schon als Organisationsformen ergaben, so sind neben der
Wissenschaft die anderen geistigen Lebensformen, die Praxis
insgesamt wie die Kunst und die Religion, der Logik nicht
untergeordnet, wie der Rationalismus will, noch ihr übergeordnet,
wie der Irrationalismus will, vielmehr gehen sie
mit der Logik, weil auch sie Organisierungen sind, auch sie
in organischer Einigung und Gliederung sich entfalten. Wenn
dabei in den einen das Leben mehr zentrifugal in die
peripherische Vielheit sich ausbreitet, so kehrt es dafür in
den andern mehr zentripetal zu seiner Einheit zurück. Wenn
es in der Arbeitsteilung der Praxis wie im Spezialismus
der Wissenschaft sich gliedernd und verzweigend in die Ferne
und Weite ausgreift, so ruft es in Kunst und Religion zur
Heimkehr und fühlt sich in ihnen als Lebensergänzungen
zur Einheit zurück. Wie aber in jedem organischen Teil
gleichzeitig das Ganze lebt, so schwingt schon in jeder Seite
des Lebens zugleich die ergänzende, ausgleichende Gegenrichtung
. Auch Kunst und Religion brauchen Spannungen
und Scheidungen, auch Praxis und Wissenschaft brauchen
Einigungen, um wahrhaft zu leben.
Aus Dissonanzen erst führt uns die Kunst zur Harmonie,
aus der Entfremdung erst zur "Einfühlung", aus dem objektiven
Eindruck der Wahrheit erst zum subjektiven der
Schönheit, und wahres Kunstwerk ist doch immer und ewig
nur, was lebendig ist als Organismus und das heisst seine
Teile zugleich als Glieder hat, die frei sich entfalten und
doch notwendig sind im Ganzen.
So geht ja auch die Religion nicht auf in der mystischen
Einheit, ja sie versandet im Pantheismus; denn erst
aus der Scheidung führt sie den weltlichen Menschen zur
Einigung mit Gott, den der Fromme als den lebendigsten
fühlt und darum als den persönlichsten und den auch Fichte
das allgemeine Leben nennt. Ja, man kann Campanellas
Wort verstehen: mundus dei viva statua; denn das Leben
selber zieht zur Religion. Das Leben selber ist transzendent,
beständig aufstrebend, sich steigernd, sich überwindend und
über sich hinausweisend. Im Leben selber ist der Höhenzug,
ja der Jenseitszug der Religion schon angelegt und bezeugt,
und sie entspricht dem Lebenstrieb zu immer höherer Organisierung,
wenn die Religion das Menschenleben einordnet
in ein höheres Leben und schliesslich den Gläubigen hebt
zum Organ des göttlichen Willens.
"Mache aus dir ein Organ." "Es ist im Menschen auch ein
Dienenwollendes." So sprach der freieste, der grösste Lebenskünstler
und der selbstherrlichste Lebensverklärer Goethe. Und
sein Wort gilt für die Religion wie für die Moral. Denn
auch die Moral ist Organisierung wie nicht minder die
Politik; darum suchen sie Ausgleich der Gegensätze. Das
Einzelne bewahrt sich im Ganzen, und was Windelband
von der logischen Synthesis sagt, 27t "dass dabei die mannigfaltigen
Elemente trotz ihrer Vereinheitlichung in ihrer ganzen
Bestimmtheit aufrecht erhalten werden", das gilt wieder von
aller Synthesis, die eben Organisierung ist. Individualismus
und Sozialismus ringen im heutigen Staatsleben zu immer
höherem Ausgleich, und aus allen Kämpfen ringt sich der
ideale Staat wiederum als Organismus heraus, der die
Selbständigkeit der Glieder wahrt in der Geschlossenheit des
Ganzen und möglichste Einheit verträglich macht mit möglichster
Freiheit.
Solchen organischen Ausgleich sucht noch innerlicher die
Moral, deren wesentlich soziale Ausdeutung ihr heute einen
individualistischen Gegner erweckt hat, der sich als wahrer Immoralist
geberdet. Und wunderbar! Beide Parteien im
moralischen Kampf der Gegenwart betonen das Leben, die
Immoralisten als egoistisches Ausleben, die sozial denkenden
als Lebensschutz um jeden Preis, als Abwehr von aller Gefahr,
Krankheit und Not, von Krieg und Todesstrafe. Doch
Leben als blosses gerettetes Dasein ist wahrlich der Güter
höchstes nicht. Im Leben aber wohnt wiederum auch der
Trieb zur Entwicklung, Steigerung, Überwindung, zuletzt zur
Opferung seines niederen Lebens für ein höheres. Leben ist
mehr Leben: so sprach gerade der moralische Immoralist Nietzsche,
der auch durch Opfer das Leben steigern wollte und der nur
blind blieb für das organische Prinzip des Lebens. In diesem
Prinzip aber liegt nicht nur, dass der Mensch sein Eigenleben
ausbilde zur Persönlichkeit, d. h. zur organischen Individualität,
die sich harmonisch zur Vielseitigkeit in der Einheit des
Charakters entfalte; in diesem organischen Prinzip liegt auch
die Forderung, dass der Mensch sein Eigenleben einstelle in
das Gemeinschaftsleben, in die höhere organische Einheit und
sich fühle und betätige als Glied der Familie und Gemeinde,
der Nation und der Menschheit, die alle ihr Lebensrecht und
ihre Lebensforderung haben. Denn alles Organische lebt sozusagen
konzentrisch, der grössere Lebenskreis lebt aus den
kleineren und die kleineren aus dem grösseren.
Und zeigt nicht auch das äusserlich praktische, ökonomische
Leben immer mehr dieselbe organische Bedingtheit der Gegensätze
in Sonderung und Gemeinschaft? In den Berufen
immer spezialistischer, in den Leistungen immer differenzierter,
in den Interessen immer individualistischer wird es zugleich
immer sozialer, immer breiter in Austausch und Verkehr. Das
Privatinteresse steigt mit dem öffentlichen und allgemeinen;
die gesteigerte Arbeitsteilung ruht auf gesteigerter Arbeitsgemeinschaft,
und die ganze staunenswerte früher ungeahnte
Hochblüte des modernen Wirtschaftslebens stammt aus der
Zauberkraft der Organisierung.
Wenn so heute aller praktische Drang der Zeit auf Organisierung
zielt, die heute wie noch nie in der Weltgeschichte
die Arme ausbreitet bis zur Umfassung der Menschheit, sollte
dann nicht mit der Praxis die Theorie zusammengehen und
in diesem Organisierungstrieb der Zeit auch der Reim ihrer
Weltanschauung liegen, die nun die Welt selber als Organisierung
erkennt? Sollten sich so unser Leben und unser Denken
nicht endlich zusammenfinden zum Heile unserer Kultur?
Solche Weltanschauung der Organisierung würde zugleich ihren
Gegensatz, die Mechanisierung, diese Grundgefahr unseres Zeitalters,
erst wahrhaft überwinden, indem sie ihre Geltung und
Wirksamkeit nicht ausschliesst, sondern einschliesst und sich dienstbar
macht, wie eben jeder Organismus seinen dienenden
Mechanismus in sich trägt. Einst als sich das Weltbild aus
grober Mechanistik und massiver Körperlichkeit löste und verfeinerte,
einst im Zeitalter der Entdeckung der Naturkräfte,
der Unendlichkeitsrechnung und der Mikroben, im Zeitalter
Newtons, Leeuwenhoecks, Swammerdams begründete Leibniz
eine organische Weltanschauung — sollte nach einer solchen
nicht wieder die Stunde rufen heute im Zeitalter der Mikrobiologie
und der Thermodynamik? Heisst das hinter Kant
zurückgehen und nicht vielmehr über ihm weiterbauen, wie
seine Nachfolger vor hundert Jahren seine Lehre ins Objektive
ausbauten —auch gerade zu einer organischen Weltanschauung,
in der nicht zum wenigsten die innere Kraft und das hohe
Glück jenes grossen Zeitalters lag, auf das heute unsere Säkularfeiern
bewundernd und nachfühlend zurückschauen? Kant
war der Newton des Geistes, doch er forderte eine Ergänzung,
und seine Nachfolger leisteten sie ihm, wie er sie selber einst
Newton geleistet hatte, indem sie die von ihm erkannte Ordnung
hinausführten zur realen Entwicklung. Kant war's, der
in der synthetischen Funktion der Vernunft das Denken selber
als bildende Kraft erfasst und die Wissenschaft als Organisation
der Erfahrung erkannt hatte. Denn Organisierung ist unsere
Theorie wie unsere Praxis. Oder ist nicht jede Wissenschaft
Streben zum System, zu einer Ordnung, in der organisch die
Teile zugleich ihre Begründung im Ganzen haben? Doch mit
dem systematischen Zug ist ja weder der spezialistische noch der
genetisch-historische Zug abgelehnt, sondern vielmehr gefordert,
wenn die Wissenschaft wahrhaft lebendig bleiben soll. Denn
alles Organische lebt ja nicht weniger in der Gliederung und
Entwicklung wie in der Einheit und Ordnung, und die Synthesis
ist eben Struktur bildende Funktion und hat zur Kehrseite
die Analyse.
Wer aber so die Wissenschaft als Organisierung begreift,
der begreift, dass sie sich gliedern und differenzieren muss im
Spezialismus, aber auch konzentrieren muss zur Philosophie,
der begreift, dass sie hinauswachsen muss zur Fülle der Erkenntnisobjekte,
aber auch hineinwachsen ins Erkenntnissubjekt
gemäss der Konstitution des Bewusstseins zur Einheit des
Geistes. Reine Geisteswissenschaft ist die Philosophie, doch zugleich
Einheitswissenschaft, weil der Geist selber Einheit ist.
Darin aber liegt, dass die Philosophie nicht stehen bleiben
kann bei der Selbstbeschauung der Erkenntnis, bei der Analyse
des Geistes, dass sie die Brücke schlagen muss vom Geist zur
Welt, vom Denken zum Leben, dass sie in lebendigen Kontakt
treten muss mit den Weltwissenschaften zur wirklichen Organisierung
der Erkenntnis in der Einheit einer Weltanschauung.
Nur der die Erkenntnis mechanisch nimmt, nur der Handlanger
der Wissenschaft findet die Philosophie überflüssig und das
Wachstum der Allgemeinwissenschaft gefährlich für die Spezialwissenschaft;
sieht er doch nicht, dass die Gegensätze sich bedingen
im Erkennen wie im Leben, weil eben das wahrhafte
Erkennen selber ein Leben ist. Auch in der Wissenschaft leben
die Teile aus dem Ganzen und das Ganze aus den Teilen.
Wissen gibt's nur im Zusammenhang des Einzelnen und des
Allgemeinen. Wissen des Einzelnen ist kein Wissen; denn es
ist blind; aber auch Wissen des Allgemeinen nur ist kein
Wissen; denn es ist leer. Wie alles Lebendige zerfällt das
Wissen in der Zerstreuung, in der Vereinzelung und erstarrt
im Gleichmass des Allgemeinen. Und darum fördern und
fordern sich Allgemeinwissenschaft und Einzelwissenschaft gegenseitig,
wenn sie lebendig bleiben sollen, weil eben lebendig
alle Erkenntnis nur ist, wenn sie organisch ist, wenn sie in aller
Einheit sich gliedert und in aller Gliederung sich einigt. Und
so mögen die Wissenschaften auch in ihrer Organisierung als
Universität die Fülle des Speziellen pflegen an ihren Werktagen,
aber auch in philosophischer Selbstbesinnung ihrer
organischen Einheit bewusst werden an ihrem Festtage.
Anmerkungen.
Vorbemerkung. Diese Rede wurde am 14. November 1913 zur
Rektoratsfeier der Basler Universität gehalten — natürlich in gekürzter Form.
Doch selbst mit den hier gebotenen Erweiterungen mußte sie, um solches Thema
mit einiger Klarheit und Knappheit zu bewältigen, die Linien vereinfachen,
die Gegensätze schärfen, die Lösung nur skizzieren. Um die Krisis im grossen
Gruppenkampf voll zu beleuchten, konnten nur Haupttypen modernen Denkens
vorgeführt werden, deren Stellungnahme offenkundig ist. Manche aber, besonders
Einzelne, deren Einstellung erst ausführlich und dann vielleicht subjektiv hätte
begründet werden müssen, zumal sie z. T. hart an der Grenze der Parteien,
fast schon im Übergang stehen, sind zurückgestellt, ohne dass darum ihre Bedeutung
unterschätzt werden soll. Ich denke vor allem an Wundt, Riehl und
die österreichische Schule, soweit sie nicht in Husserl sich emanzipierte, und von
Lehren aus jüngster Zeit, in denen schon der Realismus oder die Zurückdrängung
der Erkenntnistheorie kräftig hervortritt, z. B. an Rehmke, Külpe und die
neue Friessche Schule. Eine dem hier gebotenen Versuch verwandte Tendenz
zur Vermittlung der Gegensätze Leben und Denken finde ich einerseits in
Berthold Kerns philosophischen Schriften, andererseits bei Eucken am klarsten und
schönsten in seinem jüngsten, erst nachträglich hier berücksichtigten Buche "Erkennen
und Leben" . Vgl. noch Anm. 21. Die hier nur in knapper Skizze
angedeutete Lösung habe ich zunächst, wie sie sich mir aufdrängte, in bekenntnismäßiger
Fassung in dem Buche "Seele und Welt. Versuch einer organischen
Auffassung", Jena 1912 entwickelt. Eine spätere systematische Ausführung soll
auch näher zeigen, wie sich Leben und Denken auseinanderzweigen, deren
Stammesgemeinschaft hier erst einmal hervorgekehrt werden musste.
Husserl seine Philosophie "als strenge Wissenschaft" von der "Weltanschauungsphilosophie",
die er Künstlern, Theologen, Juristen, Technikern und entsprechenden
Schriftstellern überlässt (Logos I 334) und die ihm nur zeitliche und individuelle
Bedeutung hat — recht im Gegensatze zu Spinozas species aeternitatis und
zum baconischen Motto der "Kritik der reinen Vernunft". Husserl hat offenbar
bei der "Philosophie als Wissenschaft" wesentlich seine "Phänomenologie"
im Auge, die er als "Bewusstseinsforschung" , also deutlich als spezielle Geisteswissenschaft
bestimmt. Aber ist ihm wirklich die Phänomenologie die Philosophie
und nicht vielmehr die "Fundamentalwissenschaft der Philosophie, die Eingangspforte
in die echte Metaphysik des Geistes, der Natur, der Ideen" (ib. 319
Anm.)— und gibt diese keine Wissenschaft oder keine Weltanschauung?
—— die Fragen beantworten kann, die wir alle an die
Philosophie zu richten haben", wie aber das "Antlitz des Lebens"— so "widerspruchsvoll"
und "rätselhaft", "nie in allgemein gültigen Begriffen", sondern
"nur durch wechselnde Lebens- und Weltansichten reflektiert wird. "Das Gefühl
des Lebens in dem wahrhaftigen, natürlich starken Menschen und der ihm
gegebene Gehalt der Welt liessen sich nicht in den logischen Zusammenhang
einer allgemeingültigen Wissenschaft erschöpfen." "So zerstört die Ausbildung
des geschichtlichen Bewusstseins —— den Glauben an die Allgemeingültigkeit
irgend einer der Philosophien ——." Ist doch das Seelenleben "in beständiger
Entwicklung, unberechenbar in seinen weiteren Entfaltungen, — an jedem
Punkte geschichtlich relativ". So kann B. Groethuysen seinen schönen Nachruf
auf Dilthey (Deutsche Rundschau 1913 S. 270) schliessen mit der doch wohl
tragischen Perspektive des geschichtlichen Bewusstseins, das erlöst von dem
starren Glauben an eine eindeutige Wahrheitsform sich den unendlichen Möglichkeiten
der Weltauffassung hingibt und frei vom Zwang stets endlicher Deutung
das Leben schaut in dem, was — andere dachten und schufen.
Phänomenalismus" (1912 S. 3 f.), wo die Einschränkung auf Erkenntnistheorie
ausgegeben und in "Hegels Spuren" eine Ergänzung gesucht wird.