Über Gegenwart und Zukunft des schweizerischen Zivil- und Handelsrechts

REKTORATSREDE GEHALTEN AN DER 78. STIFTUNGSFEIER DER UNIVERSITÄT BERN

AM 29. NOVEMBER 1912
VON
PROFESSOR DR MAX GMÜR
BERN
AKADEMISCHE BUCHHANDLUNG VON MAX DRECHSEL 1913

Hochansehnliche Versammlung!

Wenn ich mich der ehrenvollen Aufgabe entledigen soll, beim heutigen festlichen Anlass zu Ihnen über einen Gegenstand aus meinem Fachgebiet zu sprechen, so liegt es wohl nahe, dass ich an ein Ereignis anknüpfe, welches wir alle zu Anfang dieses Jahres miterlebt haben, nämlich das Inkrafttreten des schweizer. Zivilgesetzbuches; und dies um so eher, als mit diesem Gesetzeswerk, mit seinem Werden und Entstehen unsere Universität in besonders hervorragender Weise verbunden ist. Viele Gesetze kommen und gehen, ohne dass die grosse Menge etwas davon spürt; diesmal aber sind alle Volksgenossen am 1. Januar dieses Jahres sich dessen bewusst gewesen, dass ein bedeutsames Geschehnis sich vollziehe, und mit der neuen Kodifikation auch eine neue Ordnung, ein neuer Geist in unser Land Einzug halte. Und schon vorher sind viele unter Ihnen mit den Vorboten des neuen Rechtes in praktische Berührung getreten, als es sich darum handelte, die Liegenschafts- und die Güterrechtsverhältnisse für den Uebergang zu bereinigen. Ein jeder, der ein Haus oder eine Hypothek besass, musste seine Titel hervorziehen und dafür besorgt sein, dass seine Rechte beim Amt neu verschrieben wurden. Und wer immer ein teures Eheweib sein eigen nannte, der lief zu den Juristen und in die Vorträge, um sich über die schwierigsten Probleme des altbernischen und des eidgenössischen ehelichen Güterrechtes und Erbrechtes Rat

zu holen. 1) Nie ist das altehrwürdige bernische Zivilgesetzbuch so allseitig und gründlich von Gelehrten und Ungelehrten, Mann und Frau studiert und diskutiert worden, wie kurz vor seinem Ableben, im Jahre 1911; ja es schien damals eine Zeitlang, als ob ganz Bern sich die Erörterung privatrechtlicher Fragen zur Hauptaufgabe gesetzt habe.

Bei diesem erwachten Interesse an zivilistischen Materien möchte ich Sie nun fassen. Wohl weiss ich, dass es mir nicht so leicht gelingen wird, Ihre Aufmerksamkeit für meinen Gegenstand wachzurufen, wie z. B. meinem kriminalistischen Kollegen, wenn er über die Todesstrafe, oder meinem nationalökonomischen Kollegen, wenn er über das Branntweinmonopol spricht, wo schon das Thema an sich angenehm spannende Gefühle in der Brust des Zuhörers auslöst. Wogegen es als ausgemachte Sache gilt, dass dem Zivilrechtler die Aufgabe, vor einer grösstenteils aus Nichtjuristen bestehenden Zuhörerschaft über seine Wissenschaft zu sprechen, ausserordentlich erschwert sei. 2) Ja, es ist sogar behauptet worden, dass es heute keine Wissenschaft gebe, welche dem allgemeinen Interesse und allgemeinen Bewusstsein ferner liege, als die Privatrechtswissenschaft. 3)

Sogar aus Juristenmund ertönen derartige Weisen, und da ist es denn auch nicht verwunderlich, wenn sie

im Volke aufgenommen und in verstärktem Masse reproduziert werden. Nicht allzuselten wird von einer tiefen Kluft gesprochen, die zwischen den Juristen und den Laien klaffe; man klagt, dass die Juristen den übrigen Bürgern als Repräsentanten einer fremden, menschenfeindlichen Macht gegenüberstünden, man bezeichnet wohl auch die Jurisprudenz als eine Art Geheimwissenschaft, die unbekümmert um das Volksleben, unbekümmert um die Gesetze von Ethik und Moral ihre Wege gehe.

Solche Anklagen dürfen nicht totgeschwiegen werden. Lassen Sie mich daher näher auf sie eingehen.

Ein gewisser Antagonismus zwischen Juristen und Laien, unter welch letztere auch die Angehörigen der übrigen akademischen Berufsarten zu rechnen sind, besteht allerdings schon seit ältester Zeit, man darf wohl sagen, seit überhaupt der Juristenstand existiert. Besonders stark tritt er hervor im 16. Jahrhundert. Bekanntlich hat sich damals Martin Luther sehr scharf gegen die Juristen gewendet, indem er u. a. sagte: "Es ist ein ewiger Hader und Kampf zwischen den Juristen und Theologen. Gleichwie das Gesetz und Gnade sich miteinander nicht vertragen, denn sie sind widereinander, also sind die Theologen und Juristen auch zwieträchtig, denn eines will immer höher sein als das andere. Das ist aber die Ursache, dass die Juristen wollen haben, man solle ihr Ding für das Höchste halten." Luthers Zorn lässt sich vor allem aus seiner Stellungnahme gegen die von der kanonistisch-juristischen Wissenschaft getragene Papstkirche erklären, wie er denn auch, als er zu Wittenberg die päpstliche Bannbulle ins Feuer warf, das corpus juris canonici gleich nachfolgen liess. Im übrigen anerkannte der Reformator, dass es auch unter den Rechtsgelehrten einige brave Leute gebe. Noch weiter als Luther gingen die Aufständischen im Bauernkrieg, welche in einem ihrer Programmpunkte die Abschaffung der doctores juris verlangten; und wir können

diesem Begehren nicht einmal unsere Sympathien versagen, hatten doch die Juristen in einseitigster Weise ein völlig volksfremden Recht, das justinianische, in Aufschwung gebracht, Hand in Hand mit dem absolutistischen Fürstentum. Das Pandektenrecht hat in Deutschland bis ins 19. Jahrhundert in ziemlich unduldsamer Weise geherrscht, und da seine Anwendung ausschliesslich in den Händen einer Berufskaste lag. so konnte sich denn auch ein grosser Gegensatz zwischen Juristenrecht und Volksrecht ausbilden.

Dann aber waren es die Juristen selber, welche das Uebel an der Wurzel fassten, insbesondere die aufblühende Schule der Germanisten, die das Recht wieder an der Volksseele zu schöpfen und national zu gestalten suchten. 1) Und diesem Beispiel, sowie der Einwirkung des Naturrechtes konnten sich auch die Romanisten nicht entziehen; in Anlehnung an die elegante Methode der klassischen römischen Juristen, zugleich aber auch in enger Fühlung mit der modernen Verkehrsentwicklung ist ihre Wissenschaft immer noch das wertvollste zu leisten im Stande. Wenn dessenungeachtet in Deutschland sich viele Stimmen geltend machen, welche von der Weltfremdheit der Juristen sprechen, so beruht dies doch wohl grösstenteils auf üblen Erfahrungen aus früheren Zeiten. Aber Vorurteile sind bekanntlich schwer auszurotten, und es ist geradezu typisch, wie in den Erzählungen und Romanen, die über die Grenze zu uns kommen, der Jurist gewöhnlich eine sehr schlechte Rolle spielt. Dass er ein herzloser und trockener Buchstabenmensch ist, dürfte das mindeste sein, was man ihm nachzusagen weiss. 2) Desgleichen kann man sich kaum genug tun, seine Wissenschaft als total verknöchert zu schildern.

So zitiere ich aus der im übrigen sehr hübschen Novelle "Der Rosendoktor" von Ludwig Finckh folgende Stelle, wo ein junger Student sagt: "Es gab da ein Gebiet im menschlichen Leben, an dem alle Entwicklung der Neuzeit spurlos vorübergegangen war. Ueberall war Frühling im geistigen Leben, es sprosste und trieb mit einer nie geahnten Kraft, man riss die Fenster auf und liess Licht und frische Luft herein..... aber die Juristerei sass ruhig auf ihren Lorbeeren, aufgeblasen und dünkelhaft und fühlte sich als Richter und Herrscher über die ganze Welt. Rückständig bis in die Knochen und am toten Buchstaben klebend."

Derartige zum mindesten veraltete Reflexionen werden anscheinend von der Menge gerne gelesen, und auch bei uns in der Schweiz übernimmt man sie, wo sie vollends nicht passen. 1) Die Schweiz hat ja die unselige, von der nationalen Schwäche Deutschlands zeugende Reception gar nicht mitgemacht, sondern sie mit Waffengewalt im Schwabenkrieg von sich fern gehalten. Das gelehrte Recht vermochte das einheimische nicht zu überwinden, 2) und als — erst im 19. Jahrhundert — die romanistische Wissenschaft unsere Fakultäten zu beherrschen anfing, war ihr Einfluss kein revolutionärer, sondern wirkte abklärend auf das geltende Recht, ohne ihm seine autochthone Färbung zu rauben. Dass einzelne Missgriffe in der Gesetzgebung vorgekommen sind und auch weiterhin vorkommen werden, soll gar nicht in Abrede gestellt werden; ebensowenig das Faktum, dass die menschlichen Schwächen, die den Juristen anhaften, um so eher zur Kritik herausfordern, als sie selber zu Richtern über andere gesetzt sind. Wenn das Publikum ihrer nicht mit besonderer Liebe gedenkt,

so dürfen sie es ihm gar nicht so übel nehmen; denn es ist ja richtig, wenn einer die Juristen nötig hat, so ist dies gewöhnlich mit Aerger und Kosten verbunden, und wenn zwei Parteien vor Gericht stehen, so wird. sicher eine von beiden nachher über Richter und Anwalt schimpfen. Die Rechtspflege ist nun einmal, ähnlich wie die Heilpflege, ein Uebel, aber ein notwendiges Uebel. Und, blind und unverständig müsste man sein, wollte man nicht die gewaltige Summe geistiger Arbeit anerkennen, die die Juristen in der täglichen Praxis leisten, und wollte man nicht die grossen Fortschritte zugeben, die im Rechts- und Staatsleben von ihnen angeregt und durchgekämpft worden sind. 1) Aber auch die Klagen über die Weltabgewandtheit der Juristen haben bei uns wenig Boden. Gibt es wohl einen andern Beruf, der ebenso sehr in die gründliche Kenntnis der Menschen und der mannigfaltigsten Lebensverhältnisse einführt, wie derjenige des Anwaltes? Und ist nicht die Volkswahl ein treffliches Mittel gegen das Aufkommen eines Kastendünkels der Richter? Wenn die Rechtspflege bei uns zu Lande oft nicht so bestellt sein mag, wie sie sein sollte, so ist es nicht dort, wo tüchtig ausgebildete Juristen ihr vorstehen, sondern da, wo wir Halbjuristen oder Laien an der Spitze der Gerichte haben.

Und wie steht es nun mit dem zweiten Punkte, mit der Eigenart der Jurisprudenz als Wissenschaft? Hat sie wirklich die angeborene Eigenschaft, sich von den realen Tatsachen fern zu halten und sich in ganz besondern Gedankengängen zu bewegen, die nur ihren Adepten verständlich sind? 2) Dass dies jedenfalls

ganz und gar nicht in ihrer Natur liegt, wird derjenige leicht erkennen, der sich über ihr Wesen richtig orientiert.

Gegenstand der Rechtswissenschaft ist das Recht. Das Recht aber steht im engsten und innigsten Zusammenhang mit dem sozialen Leben. 1) Das letztere wird durch zweierlei Arten von Regeln äusserlich bestimmt: einmal durch die Konventional- und Moralregeln, die Forderungen von Anstand und Sitte, von Gesellschaftsübung und Sittlichkeit; sodann aber durch die rechtlichen Regeln, welche zum Unterschied von den vorgenannten selbstherrlich, ja grösstenteils mit äusserm Zwang verbunden an die Menschen herantreten. Die Rechtssätze enthalten stets und notwendigerweise bestimmte Regelungen des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Zusammenlebens der Menschen, Recht und Wirtschaft stehen zu einander geradezu im Verhältnis von Form und Stoff des sozialen Lebens. Wenn also die Rechtswissenschaft ihre Aufgabe erfüllt, indem sie die in den Gesetzen und in der Gewohnheit gefundenen Rechtsregeln zu erfassen und zu beherrschen sucht, so ist ihr Gegenstand kein anderer, als die formale Seite des menschlichen Zusammenseins. Auch da, wo sie in rein theoretischer Weise vorgeht, haben wir es mit einer im Grund durchaus praktischen Wissenschaft zu tun. Ja, die Abhängigkeit des Rechtes von der Wirtschaft, der Umstand, dass die Jurisprudenz keine unverrückbaren Gesetze und ewigen Wahrheiten kennt, hat schon viele veranlasst, ihr den Charakter als Wissenschaft überhaupt abzusprechen. 2) So Houston

Stuart Chamberlain, 1) in seinem sehr gescheiten, aber doch oft recht oberflächlichen Buch über die Grundlagen des 19. Jahrhunderts. Nach ihm ist die Jurisprudenz "bloss eine Technik, d. h. eine Geschicklichkeit, jedem noch so unbegabten Menschen erlernbar, wenn er nur einiges Geschick besitzt; eine Methode, nicht ein Künstlerisches, nicht selbst ein Wissen, ein Können oder ein Schaffen."

Hieran ist wohl nur soviel richtig, dass die Handhabung der Jurisprudenz in der Praxis, ähnlich wie die der Heilkunde, keine rein wissenschaftliche Tätigkeit ist, sondern der Hauptsache nach ins Gebiet der Technik oder der Kunst gehört. Festgestellt mag auch werden, dass mit der Philologie und ihren Gedankenoperationen nur der rechtsgeschichtliche Zweig der Jurisprudenz nahe Verwandschaft aufweist. Aber ebenso sehr muss man sich davor hüten, die Methode des Juristen derjenigen des Mathematikers oder Naturwissenschaftlers gleichzusetzen. 2) Allerdings liegt es nahe, das sog. juristische Denken als aus rein logischen und abstrakten Gedankengängen zusammengesetzt zu betrachten, und dieser Auffassung hat man auch in der früher herrschenden scholastischen Richtung unserer Wissenschaft lange gehuldigt. Aber sie ist heute gründlich in Misskredit gekommen, man hat klipp und klar erkannt, dass der Jurist, insbesondere der Richter, nicht allein mit dem Intellekt auskommt, er braucht auch seine Phantasie- und Willenskräfte; er muss wägen und wagen, er hat sowohl den Inhalt der Rechtssätze, wie auch ihr Verhältnis zum konkreten Fall zu werten, und danach zwischen den sich oft ergebenden verschiedenen Möglichkeiten eines Resultates eine Willensentscheidung zu treffen. Dabei wirkt er also nicht bloss als eine Art Subsumptionsmaschine,

sondern schöpferisch, wenn auch in bescheidenerem Masse als der Gesetzgeber. In trefflicher Weise ist dies letzthin von M. Rumpf 1) folgendermassen charakterisiert worden: "Die Tätigkeit des Richters ist zugleich halb theoretisch und halb praktisch. Sie hat mehr Wärme und weniger Sicherheit als das Denken des Theoretikers, weniger Wärme und Leidenschaft, aber mehr Sinn und Sorge für das Allgemeine, für die Interessen aller, als die Arbeit des Mannes im praktischen Leben."

Wenn man sich dermassen darüber klar geworden ist, dass die Jurisprudenz, weit davon entfernt, eine weltabgewandte oder besonders geheimnissvolle Wissenschaft zu sein, im Gegenteil aufs engste mit dem sozialen Leben zusammenhängt, so wird damit auch ihre Allgegenwart und ihre scheinbare Allmacht erklärlich Aber auch für das Verhältnis der Juristen zu den Laien lässt sich hieraus der richtige Standpunkt gewinnen. Die erstem sind die Spezialisten, welche der Pflege des Rechtes, der Inbetriebsetzung der rechtlichen Einrichtungen ihre Lebensaufgabe widmen. Aber auch die Laien sind in den wichtigsten Grundlagen ihrer Existenz mit dem Rechte eng verbunden. Dies springt vor allem in die Augen beim Kaufmann, dessen Berufstätigkeit sich geradezu im Abschluss von Rechtsgeschäften konzentriert. Aber selbst der stille Gelehrte hängt an tausend Fäden mit der Rechtsordnung zusammen, weit mehr als ihm selbst bewusst ist; so als Staatsbürger, Familienvater, Mitglied unzähliger Vereine, als Benutzer der vielen Arten von öffentlichen Einrichtungen, als Träger von Forderungen und Schulden, als Dienstherr, als Autor u. s. w.

Ein berühmter Hygieniker soll einmal gesagt haben, es sei Pflicht eines jeden Menschen, gesund zu sein. Mit dem gleichen Recht darf auch gefordert werden, es sei Pflicht eines jeden, seine Rechtsverhältnisse in

Ordnung zu halten, um unnötige Ausgaben und Verluste an Zeit und Geld zu vermeiden. Zu diesem Zwecke muss sich aber auch der Laie um die Grundlagen seines Rechtslebens kümmern, und da diese vor allem im Zivilrecht niedergelegt sind, so darf er diesem nicht aus dem Wege gehen. Es ist ja zuzugeben, der moderne Staat hat eine solche Menge von Gesetzen und Verordnungen auf seine glücklichen Untertanen niederprasseln lassen, dass sich selbst der Fachmann nicht vollständig in ihnen auskennen wird. Allein was die Regelung der wichtigsten, den Burger am meisten angehenden Materien anbelangt, so ist sie gewöhnlich in einer nicht übermässig grossen und leicht erreichbaren Anzahl von Gesetzen zu finden.

Damit sind wir bei unserm Hauptthema angelangt. Wir wollen uns vor allem Rechenschaft geben über den derzeitigen Stand des schweizerischen Zivil- und Handelsrechtes. Nicht eine genaue Aufzählung von Titeln und Daten, nicht eine Fülle trockener Einzelheiten werden Sie von mir verlangen. Wohl dagegen möchte ich einigermassen zum Bewusstsein bringen, wie sehr unser positives Recht mit unserm Wirtschaftsleben und unserer Kultur zusammenhängt, als deren feste Unterlage und Form es geradezu bezeichnet werden kann.

Die Schweizer späterer Generationen, wenn sie dereinst auf den Ausgang des letzten und den Anfang des 20. Jahrhunderts zurückblicken, werden unserer Zeit wohl kaum das Zeugnis gesetzgeberischer Kraft und Grösse versagen. Neben vielen legislatorischen Leistungen der 70er Jahre, die mehr auf dem Gebiete des öffentlichen Rechtes liegen, steht. namentlich das Obligationenrecht von 1881 als tüchtiges Werk auf privatrechtlichem Boden da, ein Anfang zur Rechtseinheit, aber doch nur ein Bruchstück. Von einer

Kodifikation grossen Stils, von der Vollendung der Rechtseinheit kann man erst sprechen, seit im Jahre 1908 unser ZGB auch die übrig gebliebenen grössern Materien des Privatrechtes unter eidgenössisches Dach gebracht hat. Wie mühsam dieses Werk war, wie viel guten Willen und hohe Geistesarbeit es forderte, das haben die meisten von Ihnen mitangesehen. Freilich ist es wahr, dass die historische und wirtschaftliche Entwicklung zur Einheit drängte; die Zeit war erfüllet. Aber nicht immer findet sich der zur sichern Leitung prädestinierte Führer, nicht immer die Menge zur Folge bereit. Eine grosse Kodifikation verlangt nicht nur das heisse Bemühen der wissenschaftlichen Kräfte, sie ist auch für den Gesetzgeber wie für das Volk — um mit Eugen Huber zu sprechen 1) — "eine Tat der freien Ueberzeugung und des lebendigen Rechtsbewusstseins." Schon dreimal im Laufe der Zeiten ist die Aussicht nahe gewesen, die verschiedenen Gaue unseres Landes unter einem einheitlichen Privatrecht zu sehen; das erste Mal in der karolingischen Periode, unter Ludwig dem Frommen, da die geistliche Partei die Rettung des zerfallenden Reiches in der Ausdehnung des fränkischen Rechtes über alle Stämme erblickte; das zweite Mal zu Ausgang des Mittelalters, wo von Italien und von Deutschland her die Rechtseinheit in fremdem, römischem Gewande einzubrechen drohte; und endlich in der Helvetik, die es bereits zu einem Zivilgesetzprojekt brachte, über das Ihnen unser Kollege Rossel vor 5 Jahren berichtet hat. 2) Aber immer stunden ungünstige oder auch günstige Mächte entgegen, und erst unserm Jahrhundert war es beschieden, das Werk zu krönen.

Die hohe Bedeutung einer grossen Kodifikation wird wohl am besten durch einen Ausspruch illustriert,

den Napoleon im Exil über seinen Code civil getan hat: "Ma gloire n'est pas d'avoir gagné quarante batailles, Waterloo effacera le souvenir de tant de victoires... mais ce que rien n'effacera, ce qui vivra éternellement, c'est mon code civil". 1) Und in der Tat, das kriegerische Prestige Frankreichs ist seit 100 Jahren gewaltig gesunken, als stolze Säule aber steht immer noch sein Code da, zu der viele fremde Völker emporschauen. Keine der vielen Kodifikationen des 19. Jahrhunderts kann dem Code civil als ebenbürtige Arbeit zur Seite gestellt werden, auch das deutsche BGB nicht Wohl dagegen wird immer mehr anerkannt, dass ihm das schweizerische Zivilgesetzbuch 2) an genialer Konzeption als gleichstehend erachtet werden darf, und einen Markstein in der europäischen Rechtsentwicklung darstellt, ähnlich etwa wie auf prozessualem Gebiet die von Franz Klein geschaffene österr. Zivilprozessordnung.

Dass unser Kodex für die Juristen von grösster Tragweite und Bedeutung ist, braucht kaum gesagt zu werden; aber auch seine hohe Wichtigkeit für das ganze Volk und Land bedarf nur kurzer Darlegung. Vor allem stellt er ein hervorragendes und tiefgreifendes Geisteswerk dar, das allen schweizerischen Sprachstämmen gemeinsam zu eigen sein wird, und für sie ein starkes Band einheitlicher Kultur und Nationalität bedeutet. Die Welschen sind für die germanischen Rechtsanschauungen zurückgewonnen worden, und zugleich die Deutschschweizer zur Selbständigkeit gegenüber der übermächtig eindringenden deutschen Jurisprudenz aufgerufen. Familie, Eigentum und Erbrecht, diese alten Grundlagen unserer sozialen Ordnung, sind in ihren Grundfesten unberührt geblieben,

aber einzelne Teile wurden beschnitten, andere verjüngt; so werden diese Institute neu gekräftigt den Stürmen der Zukunft entgegengehen. Das Zivilrecht ist seiner Natur nach eher konservativ, vorn Verkehrsrecht abgesehen wird das historisch gewordene nicht leicht über Bord geworfen; so erscheint denn auch eine Kodifikation, dank der Einheit und Abklärung, die sie bringt, schon dann als wertvoll, wenn sie sich damit begnügt, den Aenderungen der Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung nachzufolgen, sie braucht ihnen nicht notwendig voranzugehen. Allein das ZGB lässt nicht bloss der zukünftigen Entwicklung Raum, es steckt die Ziele für den Fortschritt ab, es fordert ihn häufig und wird ihn erzwingen, so in Bezug auf die Stellung der Ehefrau, den Schutz der Kinder, die Verbesserung des Hypothekarwesens etc.

Selbstverständlich bedingt die Durchführung der Rechtseinheit den Untergang der bisher geltenden kantonalen Rechte, ein Prozess, der nicht ohne Unebenheiten und Härten sich vollziehen kann. Dies spüren wir in diesen Jahren, wir wissen es aber auch von früheren Fällen her, wo eine grosse Liquidation des bisherigen Rechtes zu Gunsten des neuen vorgenommen worden ist. So im 12. und 13. Jahrhundert, als die Stammesrechte und karolingischen Gesetze der Vergessenheit anheimfielen und auf ihrem Grabe die kleinen Herrschaftskreise und Genossenschaften der Bürger und Bauern sich ihre autonomen Quellen schufen. Hinwiederum in der Revolutionszeit; nicht das römische Recht, sondern erst das Naturrecht hat in der Schweiz dem Mittelalter im Rechte ein Ende gemacht, erst zu Anfang des 19. Jahrhunderts wurde die auf der Basis des Feudalwesens beruhende Rechtsordnung bei uns liquidiert, oft gewaltsam, aber nicht immer durchgreifend. Denn gerade gegenwärtig, bei der Grundbuchbereinigung, hat es sich gezeigt, wie zäh manche aus der Feudalzeit stammende Rechte, so Reallasten,

merkwürdige Servituten und Genossenrechte, Fischenzen usw. am Leben geblieben sind; 1) und ähnlich wird es auch bei einer heutigen Liquidation gehen. Dafür sorgen vor allem auch die Uebergangsbestimmungen des ZGB und der Kantone, welche z. B. der altbernischen Witwe ihre eigenartige Stellung belassen.

Aber nicht bloss als Uebergangsrecht wird das bisherige Recht weiter leben, das ZGB hat auch einzelne Gebiete ganz dem alten, bezw. kantonalen Recht überlassen, so vor allem das Recht der Allmendkorporationen. Dem Städter sind diese eigenartigen Gebilde ziemlich fremd, in den Wirtschafts- und Rechtsverhältnissen des Berglandes aber —die, nebenbei gesagt, erstaunlich kompliziert sind —spielen sie eine ganz gewaltige Rolle, nirgends so, wie gerade in der Schweiz. Sie ragen in unsere Welt hinein als lebendige Zeugen aus der Jugendzeit unseres Volkes, wo die eindringenden Allemannen nach germanischer Sitte das Land gemeinschaftlich besetzten. Ihre alten, in bäuerlicher Treuherzigkeit sprechenden Statuten und Satzungen gelten heute Seite an Seite neben Gesetzen von modernster Technik, und so findet sich in unserm Privatrecht auch weiterhin die wundervolle Vielgestaltigkeit und Kontrastfülle, durch welche sich das schweizerische Recht auch in andern Gebieten, z. B. im Kirchenrecht auszeichnet.

Niemand wird daraus einen Vorwurf ableiten wollen, dass trotz des Prinzips der Rechtseinheit von dem alten Recht in altem Gewande so viel geschont worden ist, als sich tief eingewurzelt und auf die lokal verschiedenen agrarischen Verhältnisse passend zugeschnitten erwiesen hat. Neben dem erhaltenen alten Recht ist übrigens die Fülle des neuen eine gewaltige. Wenn Göthe seinen Faust in unserer Zeit gedichtet hätte, so würde er sicher

seinem Mephisto das bekannte Wort, wonach Recht und Gesetze sich wie eine ewige Krankheit forterben, 1) nicht mehr in den Mund gelegt haben. Und doch ist die legislative Tätigkeit auf unserm Gebiete nicht abgeschlossen, noch stehen grosse Materien vor der Tür und fordern Berücksichtigung. Insbesondere ist es das immer wichtiger werdende Handels- und Industrierecht, welches einer baldigen erneuten Inangriffnahme und Ergänzung bedarf. Wohl hat bereits unser altes Obligationenrecht das Recht des Handelsverkehrs geordnet, aber die rasche und oft unvorhergesehene Entwicklung hat manches als revisionsbedürftig erwiesen und viele Lücken aufgezeigt. 2) Im Patent-, Marken-, Muster- und Urheberrecht besitzen wir sodann Gebiete, welche erst vor einigen Jahrzehnten richtig erschlossen worden sind, denn auch im Reich des Juristen befinden sich Wüsten und dunkle Erdteile. Sodann erheischt der gesteigerte Konkurrenzkampf auf gewerblichem Boden, und das gespannte Verhältnis zwischen den Unternehmern und Arbeitern vermehrte Aufmerksamkeit und Anstrengung für den Ausbau einer Gewerbe- und Arbeitergesetzgebung. — Nicht bloss als eine Art Sport, wie man etwa spottend sagt, betreiben die Juristen die Vorarbeiten zu neuen Gesetzen, sondern weil sie sich ihrer Verantwortung für die Instandhaltung der Rechtsordnung bewusst sind, und weil die Interessenten ihre Beihilfe dringend verlangen. In grossen Staaten stehen zur Bearbeitung derartiger Materien Spezialisten in reicher Auswahl zur Verfügung, bei uns aber bedarf es gewöhnlich einer starken Anspannung der relativ seltenen Kräfte. —

Mit der Erwähnung der uns noch bevorstehenden weitern Gesetzgebungsarbeit bin ich auf den zweiten Teil meines Themas, auf die Zukunft des schweizerischen Zivil- und Handelsrechtes zu sprechen gekommen. Die Gegenwart hat durch ihre Kodifikation in der Hauptsache den festen Grund geschaffen, die Zukunft wird in der richtigen Anwendung und in der Fortbildung der geschaffenen Gesetze beruhen.

Ein sonst sehr gescheiter Arzt hat mir unlängst gesagt, die Juristen hätten es eigentlich doch sehr bequem, sie brauchten nur einige Gesetzbücher einmal gründlich durchzunehmen, und damit sei ihr wissenschaftlicher Betrieb mehr oder weniger erledigt. So einfach liegt nun jedenfalls die Sache nicht, ganz abgesehen davon, dass das Rüstzeug, welches der moderne Jurist benötigt, nicht bloss in einzelnen Codices, sondern verstreut in einer Anzahl von Bänden liegt, die Rücken an Rücken gestellt, nach Dutzenden von Metern messen. Schon eine gute Orientierung in diesem Material bedeutet keine Kleinigkeit, wenn auch für sich allein ein armseliges Ding. Das Gesetz ist allerdings, wenn man so sagen will, die Bibel des Juristen; er muss seinen Sätzen Treue halten, selbst wenn er nicht unbedingt von ihrer Richtigkeit überzeugt ist. Er kann dies ohne Heuchelei tun, denn das Gesetz wendet sich nicht an den innern, sondern nur an den äussern Menschen; sein Diener weiss, dass es nicht ewige Wahrheiten aufstellen will, sondern oft auf Kompromissen zwischen entgegengesetzten Interessenströmungen beruht, die nach dem Willen der Mehrheit festgelegt wurden. Zudem gibt das Gesetz oft nur allgemeine Anordnungen und Anweisungen, es hat bei der unerschöpflichen Fülle der Erscheinungen darauf verzichtet, die einzelnen Fälle zu reglieren. So steht es vor allem dem Juristen zu, das Gesetz in Funktion zu setzen und seine Weisungen mit den ihm unterstellten

Abschnitten des sozialen Lebens in den richtigen Zusammenhang zu bringen. Darin liegt eben bei der Jurisprudenz die Grösse und Schönheit der Aufgabe, dass sie über die Worte und Sätze des positiven Rechtes weit hinausführt in die ungeheure Fülle der Beziehungen der Menschen zu einander, in den gewaltigen Strom des Verkehrslebens. Freudig anerkennen wir den Hochflug, den die moderne Naturwissenschaft genommen, das riesige Gebiet, das sie sich unterworfen hat. Aber hinwiederum darf auch die Einsicht wachsen, dass die Arbeitsgründe des Juristen nicht minder vornehme, nicht minder unerschöpfliche sind.

Welches mögen nun die Faktoren sein, die bei der Infunktionsetzung unserer Rechtssätze die Hauptrolle spielen werden, welche geistige Potenzen haben bei der Fortbildung unseres Privatrechts als Träger und Förderer zu walten?

Billigerweise darf man hier die Wissenschaft zuerst nennen; hat sie doch bei der Schaffung der Kodifikation das härteste geleistet, und auch in der Zukunft wird sie sich die stille Herrschaft über die Geister stets neu erringen müssen. Freilich, der rechtsgeschichtliche Betrieb mag wohl zunächst etwas zu kurz kommen; es ist dies bedauerlich, aber erklärlich in einer Periode, wo man selbst in Rechtsgeschichte gemacht hat. 1) Wie wertvoll im übrigen die rechtsgeschichtliche Arbeit sein kann, zeigen am besten die einschlägigen Arbeiten unseres Zivilgesetzredaktors, die das sichere Fundament gewesen sind, auf welchem der Entwurf sich aufbauen konnte. Gleichzeitig ist mit ihnen auch der eigentliche Anfang einer selbständigen schweizerischen Privatrechtswissenschaft gemacht worden, während wir bisher allzu sehr im Banne der ausländischen Jurisprudenz standen. Das Inkrafttreten des ZGB

hat denn auch den Ansporn zum Erscheinen einer überaus starken literarischen Produktion gebildet, die sich teilweise sogar im Vergleich zu derjenigen unserer grossen Nachbarstaaten sehen lassen darf und gutes für die Zukunft verspricht. Dass die heutige Literatur vor allem praktisch gerichtet ist, ergibt sich aus den Bedürfnissen der Zeit. Die Gefahr, hierbei zu verflachen und zu einer kraftlosen Auslegung der Gesetzesworte herabzusinken, braucht nicht allzuhoch eingeschanzt zu werden. 1) Haben wir doch das glänzende Beispiel der Franzosen vor Augen, deren Doktrin und Praxis dem alten Code civil stets neuen Geist und lebendiges Wachstum einzuhauchen wussten. Zudem weht gegenwärtig von Deutschland her ein frischer Wind zu uns herüber. An Stelle der historisch-philologischen und der scholastischen Schule sind in den letzten Jahren zwei neue, unter sich verwandte Richtungen führend geworden, die eine mehr philosophisch geartet, indem sie die Verbindung des positiven Rechtes mit den darüber und daneben stehenden Mächten aufsucht, die andere mit dem Ziel, auf die angemessene Entwicklung des Rechtsleben nach den Bedürfnissen der Gegenwart hinzuwirken, und damit die allfälligen Gegensätze zwischen Theorie und Praxis, zwischen Juristen und Laien zu versöhnen. 2) In letzter Hinsicht verspricht auch die selbständig auftretende Rechtssoziologie fruchtbar zu werden. Sie setzt sich zur besondern Aufgabe, das soziale Leben auf seine Beziehungen zu den Rechtsnormen hin zu untersuchen. 3) Freilich ist diese Methode nicht neu, schon bis anhin

konnte kein rechter Gesetzgeber ihrer Verwendung entraten, und vor einiger Zeit ist sie in dem epochemachenden Werk von Lotmar über den Arbeitsvertrag mit besonderem Erfolg verwendet worden. Dazu steckt das Fach hinsichtlich seiner Abgrenzung und seiner selbständigen Leistungen noch in den Kinderschuhen. Allein dennoch haben wir vom Standpunkt der Rechtsdogmatik aus keinen Grund, den neuen Zweig nicht freudig zu begrüssen. Kann er doch als Hilfswissenschaft die wertvollsten Winke über die Wirkung der Rechtsnormen, sowie über ihre Handhabung und weitere Ausgestaltung erteilen. 1)

Wenn wir die Wissenschaft als Fortbildnerin unseres Rechtes zuerst genannt haben, so soll damit in keiner Weise übersehen werden, dass der Praxis hiefür eine eben so hohe Bedeutung zukommt, ja dass sie jedenfalls quantitativ noch bedeutend mehr zu leisten haben wird, als die Theorie. Sind es doch unsere Richter, Verwaltungsbeamte, Anwälte und Notare, welche unmittelbar und unablässig die zur Erhaltung des Rechtsfriedens nötige Maschinerie in Gang setzen. Sie sind die eigentlichen Mittler zwischen Recht und Volk, indem sie in den tausend Unstimmigkeiten und Zwistigkeiten, die der Alltag erzeugt, ihren Scharfsinn und ihre ordnende Hand walten lassen. Freilich steht ihnen hierbei die Doktrin als Führerin zur Seite, aber oft kommt es auch vor, dass die Praxis, indem sie direkt aus dem Leben schöpft, der Wissenschaft voraneilt und Raum für neue theoretische Gesichtspunkte, ja für eine ganze Entwicklung bahnt.

Von grösster Wichtigkeit ist hierbei, wie die Stellung des Richters zum Gesetz aufgefasst wird. Soll er sklavisch an den Buchstaben des allmächtig und lückenlos gedachten Gesetzes gebunden sein, oder aber

ist er berechtigt, das Gesetz nur als allgemeine Anweisung zu behandeln und frei Recht zu suchen, wo ihm das geschriebene unpassend oder lückenhaft erscheint. Dies sind die beiden entgegengesetzten Standpunkte. Wir stehen hier vor einer Frage von zentralster Bedeutung, die wie kaum eine zweite in den letzten Jahren die Juristen in Atem gesetzt und zu heissem Wortkampf entflammt hat, namentlich in Deutschland; und die deutschen Dogmatiker wissen zu fechten. Noch ist der Schlachtlärm nicht verstummt, aber fast auf der ganzen Linie zeigt sich der Sieg der zweitgenannten, jüngern Richtung hold. 1) Während die herrschende Meinung früher annahm, es sei Hauptaufgabe des Richters, den sog. Willen des Gesetzgebers zu eruieren, und wo dies nicht möglich sei, da höre überhaupt die Rechtsanwendung auf, ist sie nunmehr nach links gerückt, und huldigt, ohne in einzelne subjektivistische Uebertreibungen zu verfallen, einer freiem und fruchtbarem Auffassung, die dem Richter eine höhere und würdigere Stellung zuweist. Nicht zum wenigsten bildete den Anstoss zu dieser Reformation das schweizerische Zivilgesetzbuch, dessen technischer Aufbau in seiner alle Kasuistik vermeidenden Kürze Hand in Hand geht mit einem ausgedehnten freien Ermessen des Rechtsprechenden, und dessen berühmter Art. 1 nicht bloss die Lücken des gesetzten Rechtes offen zugibt, sondern auch die freie Rechtsfindung auf festen Boden stellt. Welch grosse praktische Bedeutung dieser Anerkennung der rechtschöpferischen Kraft des Richteramtes inne wohnt, 2) darüber

gehen auch bei uns allmählig die Augen auf. 1) Möge man aber auch in weitern Kreisen einsehen, dass mit der gesteigerten Machtfülle des Richtertums nur noch die Tüchtigsten hierfür gut genug sind, ein Postulat, das allerdings mit der meist zurückgebliebenen Kärglichkeit unserer Beamtenbesoldungen sehr wenig in Harmonie steht.

Jedoch wir sind hier auf ein Gebiet geraten, dessen nähere Erörterung wohl besser passt, wenn die Juristen unter sich sind. Gemeinsam dagegen wird uns die Frage interessieren, inwieweit neben der theoretischen und praktischen Jurisprudenz das Laienelement als Faktor der Rechtsfortbildung in Betracht fällt.

Für den Laien besteht, wie schon berührt wurde, zunächst die Aufgabe, sich mit dem gesetzten Recht insoweit vertraut zu machen, als dies zur Einrichtung und sichern Führung seines Geschäfts- und Privatlebens nötig erscheint, eine Aufgabe, die kaum unübersteigliche Hindernisse bietet. 2) Allerdings gibt es nun einzelne Gesetzespartien, die ziemlich abstrakt und daher wenig anmutend gehalten sind, so z. B. im allgemeinen Teil unseres Obligationenrechtes; aber zum Glück weisen gerade solche Teile bei näherem Zusehen sozusagen nichts andeies auf, als das was die Franzosen mit "raison écrite" bezeichnen. Dem Geschäftsmann, der geschäftlich korrekt handelt, werden diese Stellen nie gefährlich werden, auch wenn er sich im Gesetz nicht auskennt, wogegen ihm die Unkenntniss der gesetzlichen Formen und Fristen zu grösstem Schaden gereichen kann.

Jedoch nicht bloss passiv, als scheuer Untertan kommt der Laie mit dem Recht zusammen. Wenn auch vor dem innersten Heiligtum desselben die Wissenschaft und die juristische Praxis stehen, so sind dies doch keine Erzengel mit dem Flammenschwert, bereit, jeden Ungelehrten auszuschliessen. Vielmehr ist der Einfluss und die Mitwirkung des Laienelementes bei der Infunktionsetzung und Fortbildung des Privatrechtes ein ganz gewaltiger. Um Ihnen dies klar zu legen, möchte ich einige Punkte herausgreifen.

Im frühern namentlich auch im kantonalen Rechte, herrschte grösstenteils die absolutistische Anschauung, der Gesetzgeber habe die einzelnen Institute mit Rücksicht auf die Lage der Mehrheit der Volksgenossen einheitlich auszugestalten, ohne auf die abweichenden Bedürfnisse einer Minderheit Rücksicht zu nehmen; so z. B. duldete das altbernische Zivilgesetzbuch nur das eine Ehegüterrechtssystem der Gütereinheit und nahm zudem der Ehefrau fast jede Testierfreiheit. Das moderne Zivilrecht dagegen (wenngleich es ohne viele absolute Vorschriften nicht auskommen kann) steht grundsätzlich auf dem Boden der Freiheit. Das Recht des einzelnen, über seine wichtigsten Interessen frei zu verfügen, wird in hohem Masse anerkannt, und damit hat denn auch die Persönlichkeit gegenüber früher bedeutend an Wert und Aktionskraft gewonnen. Heute können sowohl Familienväter wie Familienmütter über einen bestimmten Teil ihres Vermögens frei testieren. Die freie Vereinsbildung, vielerorts mühsam erkauft, ist uns etwas selbstverständliches, währenddem die neu proklamierte Stiftungsfreiheit sich in der westlichen Schweiz erst noch einleben muss. Wer sein Gut verpfänden will, dem stellt das Gesetz verschiedene Formen zur Verfügung; es nimmt damit in Kauf, dass einzelne derselben in gewissen Gegenden vielleicht gar nicht benutzt werden. Die Ehegatten sind

nach modernem Recht nicht mehr an einen einzigen Güterstand gebunden, sie haben vielmehr die Wahl, ihre vermögensrechtlichen Beziehungen sozusagen nach Belieben einzurichten. Das deutsche BGB wie das schweizerische ZGB haben die Güterverbindung als ordentlichen Güterstand, als Normaltypus bezeichnet; nichts hindert jedoch ein Ehepaar, einen andern Güterstand vertraglich zu vereinbaren, nichts steht im Wege, dass im Laufe von zehn Jahren die Gütertrennung bei der Mehrheit der Ehepaare ohne jede Gesetzesänderung eingeführt sein wird. Während sodann die Römer nur ganz bestimmte Vertragstypen kannten und alle Abmachungen schutzlos liessen, die nicht in das Modell hineinpassten, haben wir heute das Prinzip der Vertragsfreiheit, und dank desselben können sozusagen alle schutzwürdigen menschlichen Verhältnisse rechtlich festgelegt werden; nicht bloss die gegenwärtigen, auch die zukünftigen, heute noch unausdenkbaren werden hier ihr Unterkommen finden. Wie segensreich dies für die Verankerung des künftigen Kulturfortschrittes sein mag, wird einem erst klar, wenn man in die frühern Zeiten zurückschaut. "Während" — wie der Oesterreicher Joseph Ehrlich, eindrucksvoll sagt —1)"in vergangenen Jahrhunderten jede neue gesellschaftliche Einrichtung hart um ihr Dasein kämpfen, bei fremden Gewalten, bei dem Richter, dem Juristen, dem Gesetzgeber um Anerkennung und um die Entscheidungsnormen betteln musste, die sie brauchte, um ihr Leben zu fristen, gibt das moderne Recht in einem ungeheuren Umfange neuen Lebensformen die Anerkennung im vornherein, und überlässt es der Gesellschaft, selbst die Entscheidungsnormen zu finden, die sie darauf angewendet wissen will." So ist es denn auch heutzutage weder möglich, noch zum Glück nötig, alles Recht, welches die

rasche Entwicklung innerhalb der Interessengruppen hervorwachsen lässt, in Gesetzesform überzuführen. 1)

Verwandt mit dem Prinzip der Vertragsfreiheit ist das Postulat der Formlosigkeit der Verträge. Oft hört man klagen über den Formalismus der Juristen, oft beschuldigt man sie, dass ihnen die Form mehr gelte als das gute Recht. Mögen auch einzelne dieser Klagen Grund haben, mag es auch richtig sein, dass immer wieder einzelne Juristen in ihrer Berufstätigkeit hinuntersinken von Jüngern der lebensfrischen Göttin Justitia zu Knechten des verknöcherten St. Bureaukratius, jedenfalls ist soviel sicher, dass man im Rechtsleben ohne feste und starre Formen gar nicht auskommen könnte. Wo Formen vorgesehen sind, geschieht dies in der Regel zum Schutze gegen Uebervorteilung und Uebereilung. Und vollends dem modernen Geld- und Kreditwesen sind strenge Formen unentbehrlich. 2) Hier ist die Form geradezu die Mutter der Freiheit, sie erst schafft Sicherheit und rasche Dispositionsmöglichkeit. Das Privatrecht hat mit seinen Formen Schritt für Schritt die feste Basis geschaffen, auf Grund deren, —infolge der vermehrten Verkäuflichkeit der Kapitalanlagen, — der industriellen und landwirtschaftlichen Produktion immer mehr Kapital zufloss, wodurch sie erst zur heutigen Höhe aufsteigen konnte. 3) Also Formen müssen sein, der Jurist hat sie zu handhaben, auch wenn sie demjenigen, der sich nicht auf sie vorsieht, hie und da als unnötige und harte Fesseln erscheinen; der Geschäftsmann wird sich leicht mit ihnen abfinden und sich bald ihre grossen Vorteile zu Nutzen ziehen.

Ganz anders verhält es sich nun mit der oft von den Laien gegen die Juristen erhobenen Beschwerde,

dass sie auch da, wo keine Formvorschriften binden, das Recht in formalistischer, rein mechanischer Weise handhaben, und mit dem Buchstaben des Gesetzes das gesunde Rechtsgefühl mit Füssen treten. Eine schwerere Anklage gegen den Geist der Jurisprudenz hat nie erhoben werden können. Und leider muss zugestanden werden, dass es Perioden gab, wo der Pfeil des Vorwurfs ins Schwarze oder wenigstens nicht weit daneben traf. So in Deutschland nach der Reception, aber auch wieder in einzelnen Abschnitten des 19. Jahrhunderts, indem damals in der Wissenschaft die Anschauung herrschte, man könne jedes Urteil durch rein logische oder philologische Operationen aus dem Gesetz ableiten. Wenn da ein Richter ein Wort von gesundem Menschenverstand oder Billigkeitsgefühl in den Motiven einfliessen liess, galt dies als unjuristisch und unfein. Da diese Zustände einen gewissen Abglanz auch bei uns gefunden haben. und da sie nicht allzufern zurückliegen, darf sich die heutige Juristengeneration auch nicht zu sehr beklagen, wenn die Sünden der Vorfahren immer noch zu Unrecht auf ihr Konto gebucht werden. Dies um so weniger, als heute noch gelegentlich einzelne Juristen sich den Anschein geben, als ob ihre Wissenschaft turmhoch über allem Menschlichen in einsamen Höhen trone; so z. B. wenn ein Anwalt im Eifer des Plädoyers von seiner Behauptung sagt: "Dies ist richtig vom Standpunkt der Menschlichkeit und Vernunft, aber sogar vorn juristischen Standpunk aus unanfechtbar".

In Tat und Wahrheit war jedoch die Zulassung einer tiefen Kluft zwischen Gesetzeswort und Ethik, zwischen Juristenrecht und Volksüberzeugung eine vorübergehende Verirrung, ein Nebel, der von der Sonne einer geläuterten Rechtsauffassung siegreich hinweggefegt worden ist. Nicht etwa, dass die ältern Juristen das Gesetz als eine niederstehende, rein menschliche Ordnung aufgefasst hätten; im Gegenteil, die Rechtsordnung

galt ihnen als etwas Heiliges und Göttliches, aber gerade darum glaubten sie der Heranziehung anderweitiger Normen entbehren zu dürfen. Seither ist man weniger einseitig, man ist praktischer, aber sogleich auch feiner fühlend geworden. Nicht bloss die Doktrin anerkennt nunmehr, dass Sitte und Anstand die ultima ratio legis bilden, 1) sondern auch die Gesetzgebung ist von diesem Gedanken durchtränkt. Unser ZGB proklamiert sozusagen als obersten Grundsatz für Richter und Parteien, dass sie Treu und Glauben im Rechtsleben zu wahren haben. In zahlreichen Fällen stellt ferner das Gesetz auf die Grundsätze der Billigkeit, der Sittlichkeit und des anständigen Verkehrs ab. Damit werden diese Grundsätze zu Rechtsregeln erhoben, wobei wohl beachtet werden darf, dass sie zwar vom Juristen für den einzelnen Fall festgestellt werden; aber nicht er schafft sie, sondern er hat sie da aufzusuchen, wo sie entspringen, im Volksbewusstsein und in der Verkehrssitte. Immer mehr wird auch die hohe Bedeutung derjenigen Rechtsregeln anerkannt, welche von autonomen Kreisen und von der Handelswelt als Usancen und in gewohnheitsrechtlicher Bildung geschaffen werden. Die Entwicklung der Gesetzestechnik scheint sogar dahin zu gehen, in dem Gesetze nur kurze, allgemeine Regeln aufzustellen, und deren nähere Ausführung den autonomen Festsetzungen der Interessengruppen oder aber dem richterlichen Weisheitsrecht zu überlassen. 2)

Aber noch in einer andern ähnlichen Richtung hat die Renaissance in der Jurisprudenz eingesetzt und Wandel geschaffen. Bekanntlich operieren die Juristen gerne mit termini technici und abstrakten Begriffen; zum Teil ist dies beinahe unerlässlich, jedenfalls muss man es ihnen zu gute halten; denn schliesslich

haben auch die Mediziner oder die Börsenleute, ja sogar die Theologen ihren besondern Jargon. Nur besteht bei den Juristen die grosse Gefahr, dass sie in ihren Begriffen stecken bleiben, indem ihnen das Konkrete uninteressant und gering erscheint, und dass sie die Lebensformen auf grobschlächtige Art und Weise in ihre Schemata einzuzwängen suchen. Gute Richter haben jederzeit diese Gefahr zu vermeiden gewusst, dennoch ist es von nicht zu unterschätzender Bedeutung, wenn von kompetenter Seite 1) der Grundsatz ausgeprägt worden ist, der Richter habe bei der Beurteilung der Rechtsgeschäfte, insbesondere bei der Auslegung der Parteierklärungen vom hohen Begriffskothurn herabzusteigen und die Deutung nach dem Laienverstand vorzunehmen.

Aus alle dem wolle man entnehmen, dass das Publikum und die Verkehrswelt heute einen viel grössern Einfluss auf die Rechtsbildung und die Rechtssprechung ausüben, als man im allgemeinen zu glauben scheint. Durch die vermehrte Berücksichtigung der Laien als Faktoren der Rechtsbildung ist zwar die Aufgabe der Juristen keineswegs leichter geworden, wohl aber dankbarer; sind sie doch in den Stand gesetzt, unter ausdrücklicher Billigung des Gesetzes stetsfort für ihre Entscheidungen neue Rechtsnormen am frischen Quell des sittlichen und wirtschaftlichen Lebens ihres Volkes schöpfen zu können.

Soviel über die Hauptträger der Rechtsfortbildung

Das Bild das wir uns von der Zukunft unseres Privatrechtes machen wollen, wäre nun aber unvollständig, wenn wir nicht zum Schlusse noch die Frage ins Auge fassen würden: In welcher Richtung wird sich die künftige Entwicklung bewegen, welches

sind ihre treibenden Kräfte und ihre absehbaren Zielpunkte? Allerdings treten wir damit auf schweren und heissen Boden, auf welchem nur Hypothesen gedeihen. Dessenungeachtet werden wir uns doch nicht bloss in vagen Prophezeiungen bewegen müssen, denn einerseits haben wir gelernt, dem Werdegang der Geschichte gewisse Gesetze der gesellschaftlichen Entwicklung abzulauschen, anderseits können wir in der Gegenwart eine Reihe von Mächten erkennen, von welchen vernehmlich die Geschicke der Zukunft geflochten und gewoben werden. Diese dunklen und hellen Machte richtig einzuschätzen, sie einzudämmen, wo sie Unheil drohen, ihnen freien Lauf zu lassen, wo sie zum Segen gereichen, ist vor allem Aufgabe des Politikers. Allein selten wird er hierbei der abklärenden und ordnenden Mithilfe, sowie der von keiner Parteischablone befangenen Kritik des Juristen entraten können.

Drei Richtungen, die teils nebeneinandergehen, teils sich kreuzen, sind hier besonders beachtenswert, einmal der Zug nach Differenzierung, nach ständischer Gliederung des Rechtes; in zweiter Linie die Richtung auf Ausbildung des Gegensatzes zwischen staatlicher Organisation und Organisation der Weltwirtschaft, und drittens die Tendenz nach Internationalisierung des Rechtes.

Wenden wir uns vorab der erstgenannten Strömung zu.

Unser heutiges Privatrecht ist seiner Natur nach bürgerliches Recht; es fusst vornehmlich auf der Voraussetzung ungefähr gleichartiger Verhältnisse der Bevölkerung, und es fasst insbesondere die mittleren Schichten ins Auge. Des fernern wird es von dem Bestreben geleitet, eine möglichst grosse Zahl von Rechtssätzen in einer Kodifikation zu vereinigen. Wohl ist nun eine gute Kodifikation einem rocher de bronze vergleichbar, der die Generationen überdauert und das

Verkehrswesen sogar dann zeitweise unter seine Vorschriften zu zwingen vermag, wenn diese nicht mehr ganz passen. Sofern jedoch die gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklung derart dem Gesetz voraneilt, dass das Interesse grosser Berufsklassen gefährdet erscheint, so werden dieselben regelmässig die Ergänzung oder Abänderung der Kodifikation zu erwirken vermögen. Das in Zukunft zu schaffende Recht wird daher namentlich Spezialrecht einzelner Berufsgruppen, wird Standesrecht sein. Dieses Wort hat zwar seit der Revolution einen üblen Klang, dennoch bedingt die steigende Differenzierung der Lebensverhältnisse immer mehr eine teilweise ständisch gerichtete Gliederung nach der besondern Rechtslage der Bauern, der Arbeiter, der Gewerbsleute und der Handeltreibenden.

Man wird hier vielleicht die Forderung erwarten, das kommende Recht habe vor allem sozial zu sein, 1) oder wie man oft so schön (?) sagt, der künftige Gesetzgeber müsse mit einem oder mehreren Tropfen sozialen Oeles gesalbt sein. Jedoch wir wollen uns hüten, diese Phrase nachzusprechen; denn schliesslich ist doch alles moderne Recht, auch das private, seiner Natur nach stets sozial, indem es selbstverständlich neben den Individualinteressen auch die Interessen der Gesamtheit berücksichtigt. Der richtige Kern der Forderung eines sozialen Rechtes liegt wohl darin, dass die Gesetzgebung den neu auftauchenden Bedürfnissen der wirtschaftlichen Gruppen Rechnung zu tragen hat, dass der Gesetzgeber stets wissen muss, wo die Leute "der Schuh drückt". Ebenso darf man auch nicht in den Glauben verfallen, dass eine Gesetzgebung in diesem Sinne nur für die untern Klassen nötig sei; für Staat und Volkswirtschaft sind alle Stände wichtig, und bei allen kann die dringende Notwendigkeit auftauchen, für

die wirtschaftlichen Neugestaltungen neue Rechtsfundamente zu schaffen.

Am wenigsten wird dies wohl in der nächsten Zeit beim Bauernstand der Fall sein; wohl ist dessen Lage nachgerade von den Schwankungen und Umgestaltungen in der Weltwirtschaft keineswegs unabhängig. Allein das ZGB hat in hohem Masse auf die bäuerlichen Verhältnisse Rücksicht genommen, es stellt vor allem Bauernrecht dar. Wenn auf zivilrechtlichem Boden hier noch weiter gegangen werden soll, so ist es vielleicht in der Richtung der vermehrten Beförderung der geschlossenen Hofgüter, der Belastung mit Renten anstatt mit Hypotheken und der Minoratserbfolge; letztere war allerdings lange als veraltetes Institut verschrien, allein die guten Erfahrungen die man mit ihr machte, haben ihr u. a. die Fortexistenz in Art. 72 des bern. E G gesichert.

In Bezug auf die Handwerker und kleinen Gewerbsleute dürfte sich immer und immer wieder die Notwendigkeit ergeben, ihnen durch gewerberechtliche Massnahmen Ordnung und Schutz gegen unlautern Wettbewerb und unsolide Erscheinungen zu verschaffen. Nur nebenbei soll gesagt werden, dass in diesen Kreisen oft eine Gläubigernot existiert, an welcher unser übertrieben kompliziertes Schuldbetreibungs- und Konkursrecht und dessen unpraktische Handhabung nicht den geringsten Teil der Schuld trägt.

Am unabgeklärtesten ist jedenfalls die Frage, wo hinaus es mit dem Spezialrecht des Arbeiterstandes führen soll. Er hat schon seit längerer Zeit sein privates Sonderrecht, insbesondere in der Haftpflichtgesetzgebung besessen; bekanntlich jedoch ist diese nunmehr durch das Unfallversicherungsgesetz in die Materien des öffentlichen Rechtes versetzt worden. 1)

Zur Zeit tobt namentlich der Kampf um den Arbeitslohn und die Arbeitsbedingungen. Aber auch hier werden allmählig aus dem gegenwärtigen, in volkswirtschaftlicher Beziehung so nachteiligen Chaos die Grundzüge einer festen Abgrenzung und Ordnung aufwachsen. Was sich als bleibendes Resultat aus der Entwicklung und den Machtkämpfen ergeben wird, ist successive in Rechtsform niederzuschlagen, so dass wir ein Arbeitervertragsrecht erhalten werden, welches weit systematischer und eingehender als das bisherige auf die verschiedenartigen Arbeitsverhältnisse Rücksicht zu nehmen vermag. 1) Gleichzeitig dürfte sich aber auch das Bedürfniss zeigen, die einzelnen Arbeitsordnungen der grossen Unternehmen, Verwaltungen und Berufsverbände aus dem Range von bloss privaten Abmachungen herauszunehmen und sie zu richtigen, autonomen Rechtsnormen emporzuheben. 2) Bei einem grossen Fabrikunternehmen z. B. ist nicht bloss die Frage von Lohn und Arbeitszeit für den Konkurrenzkampf von ausschlaggebender Bedeutung, sondern auch die Stärke der innern Organisation, in welcher Disziplin, Verantwortlichkeit und Kompetenzen eine genaue Regelung zu erfahren haben. Einer derartigen Anerkennung von autonomem Recht ist zwar die herrschende Auffassung zuwider, allein seine Bildung ist stets bei solchen herrschaftlichen Verbänden naturgemäss eingetreten; der Staat wird demnach besser tun, sie zu kontrollieren, als ihr gegenüber die Augen zu verschliessen. 3)

Neben der Industrie dürfte es vor allem der Handel sein, der immer und immer wieder mit dem Begehren

auftreten muss, dass ihm neue Rechtsformen zur Verfügung gestellt werden. Es wurde bereits berührt, dass der Stand unseres Handelsrechtes momentan ein zurückgebliebener ist, ein Mangel, der um so auffallender und empfindlicher erscheint, als die Mehrheit der schweizerischen Bevölkerung von Handel und Industrie abhängt. Wohl wendet sich der richtige Kaufmann nur ungern an den Richter, wohl hilft er sich, wo Gesetze fehlen, mit den Usancen und mit fremden Vorbildern aus, aber schliesslich bedarf kein Stand so sehr, wie der sich stets in Rechtsgeschäften bewegende Handelsstand, eines sichern und schneidigen Rechtes, das in klarer Form gefasst vorliegt. Ebenso wird kein anderer Stand in die Lage kommen. so oft die Revision oder Ergänzung der bisherigen Gesetze verlangen zu müssen, weil die rasche Entwicklung der Weltwirtschaft über dieselben hinausgewachsen ist. Mit Rücksicht hierauf dürfte es als ein Fehler bezeichnet werden, wenn man weiterhin das Spezialrecht des Handels mit demjenigen des bürgerlichen Verkehres im selben Kodex verquikt, wie wir Schweizer es bis anhin im Gegensatz zu den andern Nationen gemacht haben.

Fragt man sich, in welchen Materien hauptsächlich auf die Fortbildung des Handelsrechtes tendiert werden muss, so ist vor allem beachtenswert, dass uns für viele Gesellschaftstypen, die im Ausland mit Vorteil verwendet werden oder sogar bei uns eine grosse Rolle spielen, die besondern gesetzlichen Formen fehlen, so für die Kartelle und für manche der so verschiedenartigen Beteiligungsverhältnisse der Neuzeit. 1) Wohl kann man sich häufig mit den Instituten des bürgerlichen Rechtes behelfen, aber hie und da sind diese ganz ungeeignet; z. B. erscheint es ganz in der Ordnung, wenn der

Richter Konventionalstrafen, die im gewöhnlichen Verkehr eingegangen worden sind, ermässigen darf; dagegen ist schon die blosse Existenz des Ermässigungsrechtes für den Aufbau höherer kaufmännischer Organisationsformen das grösste Hemmnis. Des weitern fällt hier das Recht der Aktiengesellschaften ins Auge; seit der Schaffung unseres alten Obligationenrechtes sind sie riesig angewachsen und so eigentlich die Hauptträger von Handel und Industrie geworden. An ihrer richtigen Organisation und an ihrer seriösen Führung sind nicht bloss die Grosskapitalisten interessiert, sondern oft auch kleine Leute, und vor allem die Industriearbeiter; denn wo die Grossindustrie leidet, da geht auch der Arbeitsverdienst zurück. 1) Es ergibt sich daher als dringende Notwendigkeit, den innern Ausbau dieser so. wichtigen und mannigfaltigen Korporationen zu erweitern, und gleichzeitig dem Publikum vermehrten Schutz vor ihren Organen zu gewähren. Wir haben in letzterer Hinsicht in den vergangenen Jahren sehr wenig erfreuliche Erfahrungen gesammelt, wobei sich leider die Waffen der Juristen als betrübend stumpf erwiesen. In der Periode des Effektenkapitalismus, in der wir stehen, wo alles, auch der Bauer und Arbeiter mit dem Bankwesen in Berührung kommt, ist auch die offen zu Tage liegende Rückständigkeit unserer nur ganz embryonal vorhandenen Bank- und Börsengesetzgebung sehr bedenklich. —

Fassen wir nun den zweiten von uns erwähnten Punkt ins Auge. Wer klar in die Weltwirtschaft hineinsieht, dem wird die Tatsache nicht entgehen, dass die Welt von heute nicht mehr bloss von den staatlichen Organisationen in Schranken gehalten und beherrscht wird. Der Staat erscheint zwar mächtiger als je, tausend Mittel und Hilfskräfte stehen ihm zu Gebote, die den frühern Staatswesen fehlten. Und dennoch ist neben

ihm eine zweite machtvolle Organisation aufgewachsen, die internationale Besitzesordnung, der Kapitalismus. 1) Zum Teil stützt sich derselbe auf die staatlichen Normen, insbesondere mit dem Handelsrecht ist er eng verbunden, zum Teil aber ist er unabhängig vom Staat und ihm gelegentlich an Kräften überlegen. Nehmen sie z. B. an, in einem kleinen Kanton lasse sich ein grosses gewerbliches Unternehmen nieder. Dieses wird jedenfalls weit besser bezahlte und im Grund mächtigere Leiter haben als der Kanton, und seine Angestellten und Arbeiter sind in ihrer Existenz enger an dasselbe geknüpft, als an die kantonale Organisation. Des fernern ist auch der moderne Bürger nicht mehr wie früher vollständig vorn Schutze seines Wohnsitzstaates abhängig; er hat vielleicht Grundbesitz in Italien und Effekten in London liegend; er kann sein Gewerbe leicht dahin verlegen, wo ihm das Gedeihen winkt. Zahllos sind die Niederlassungen ausländischer Geschäfte bei uns, aber auch die Unternehmungen und Beteiligungen schweizerischer Firmen im Ausland; denn das moderne Geschäftsleben kennt die Grenzpfähle kaum mehr.

Die Existenz der internationalen Besitzesordnung neben der staatlichen Organisation hat, wie alles auf der Welt, ihre Licht- und Schattenseiten. 2) Unzweifelhaft bildet das Vorhandensein der weitgehendsten Handels- und Kreditbeziehungen unter den grossen Nationen die beste Gewähr für den Weltfrieden, fester und

belastungsfähiger als alle Staatsverträge. Der Kapitalismus sorgt sodann in ausgedehntem Masse für die Kolonisation und Kultivierung zurückgebliebener Erdteile und Staaten, indem er fast automatisch aus den gesättigten Ländern das Geld dahin abfliessen lässt, wo der grösste Gewinn winkt. Er fördert die Unternehmungslust im grossen Stil und stellt aus ihren Früchten in einer bisher ganz ungeahnten Weise die Mittel für die Kunst und für humanitäre Anstalten zur Verfügung. Und endlich darf auch zu Gunsten der internationalen Organisation gesagt werden, :dass ihr als einem Horte der individuellen Freiheit gegenüber der Staatsomnipotenz die grösste Bedeutung zukommt; 1) der moderne Staat, namentlich wenn er industrialisiert ist, tendiert oft in einem für den Nichtsozialisten beinahe unerträglichen Masse dahin, sich in alles und jedes zu mischen und seine Untertanen nur noch als Glieder im Dienste seiner Organisation aufzufassen; dass ihm hier eine Schranke gesetzt ist, die ihn immer wieder auf seine Hauptaufgaben zurückdrängt, muss als Wohltat empfunden werden, ebenso wie im Mittelalter der Gegensatz zwischen Kaiser und Papst die Leute davor bewahrte, der einen oder der andern Macht bedingungslos ausgeliefert zu sein.

Es gibt Länder, in denen der Kapitalismus sich weit mächtiger als der Staat erwies, und diesen zeitweise in seine Abhängigkeit gebracht hat, so in der Union, wo fast jeder Politiker als käuflich gilt und beinahe jeder Jurist für die Kapitalorganisation arbeitet. Aber auch da, wo die Dinge nicht so weit gediehen sind, kann nicht bestritten werden, dass der internationale Kapitalismus in gewissen, später noch näher zu skizzierenden Beziehungen auf die staatlichen Institutionen zersetzend wirkt, wodurch er den Widerspruch und die Gegenwehr der Träger der Staatsidee herausfordert. Und insbesondere ist

es die Grosszahl unserer Juristen, welche sich im Widerstreit der Gegensätze auf die Seite der Tradition und der Staatsmacht stellt, sei es aus sachlichen Gründen, sei es. aus persönlicher Neigung. Die signalisierte Koordination zwischen der staatlichen Organisation und der internationalen Besitzesordnung ist nämlich von grösstem Einfluss auf die Stellung und Rangordung der Juristen. Der moderne Staat ist am Beamtenstaat, und daher sind naturgemäss hauptsächlich die Juristen seine Lenker und Beherrscher. Allein, so ketzerisch dies in einer Beamtenstadt und in einem eher agrarischen Kanton klingen mag, so muss doch gesagt werden, dass es mit der Alleinherrschaft der Juristen vorbei ist; je mehr sich Handel und Industrie entwickeln, desto stärker treten andere, inoffizielle Organe an die Spitzen der gesellschaftlichen Ordnung. Immer mehr sind es die Leute, welche den wirtschaftlichen Verbänden und den grossen Geschäften und Betrieben vorstehen, denen der grösste Einfluss. und die grösste Bedeutung zukommt, die Fabrikanten, Grosskaufleute und Grossbankiers, Generaldirektoren und Verbandssekretäre. Selbst der Staat bringt dies zum Ausdruck, indem er in seinen Gehaltsansätzen die Leiter seiner wichtigsten Gewerbebetriebe allen voranstellt. Es war den Juristen möglich, den Staat der Bauern und Handwerker zu beherrschen, im Land des Handels und der Industrie müssen sie notgedrungen mit dem zweiten Range vorlieb nehmen, wenngleich ihre Zahl infolge der steigenden Spezialisierung der Arbeit noch erheblich wachsen wird. Am weitesten werden diejenigen Juristen kommen, die mit tüchtiger Fachkenntnis organisatorische Energie und lebendiges Interesse am Wirtschaftsleben verbinden.

Die heutigen Zustände haben im übrigen eine gewisse Aehnlichkeit mit denen des frühern Mittelalters, wo neben den Staatsorganen die Grundherren, sowie ihre Vögte und Meier auftraten, und wo innerhalb

und sodann neben den staatlichen Verbänden die Grundherrschaften aufwuchsen, die sich ihre eigene, selbstherrliche Organisation gaben. Wie damals infolge der wirtschaftlichen und politischen Verhältnisse der Mittelstand sank und einzelne aus den untersten Klassen emporkamen, so auch heute durch die industrielle Entwicklung. Und wie damals die Feudalherren, so sind es heute die grossen Unternehmer und Geschäftsleute, welche eine neue, optimatische, höchste Schicht der sozialen Gliederung bilden, unter ihnen die Direktoren und Ingenieure als moderne Ministerialen. 1) Diese Erscheinung ist trotz ihres gewissen Gegensatzes zur modernen Demokratie keine unnatürliche, denn schliesslich geht alle Neuschöpfung in der Kultur von aristokratischer Schichtung aus, von einer auserwählten Zahl heller und eiserner Köpfe. Zu einer Erstarrung in dem Sinne, dass die sozial leitenden Stände zu Geburtsständen werden, kann es nicht mehr kommen. 2) Wohl ist das heutige Kapital unpersönlich und fällt, im Widerspruch zur germanischen Auffassung, auch dem Untüchtigen zu, dessen Hand nicht bewehrt ist zu seiner richtigen Verwaltung; aber dank seiner Mobiliarisierung ist das Vermögen auch ein viel unsicherer Besitz geworden als früher, und fliesst schliesslich immer wieder den starken Händen zu. Sodann sind wohl alle Voraussetzungen vorhanden, dass den grossen untern Schichten der wirtschaftlichen Organisation der Weg zu einer befriedigenden Stellung innerhalb derselben nicht so lange und mühevoll werde, wie den abhängigen Bauern des Mittelalters; um so mehr als die Idee der Solidarität in alle Kreise gedrungen ist, 3) nicht zum

wenigsten in die der grössten gewerblichen Unternehmer, welche am ehesten für ausgedehnte Wohlfahrtseinrichtungen und Beteiligung der Angestellten und Arbeiter in Form von Aktien- oder Tantiemenverteilung zu haben sind. Im übrigen dürfte allmählich auch den Arbeiterführern die nötige Einsicht zugetraut werden, die Konkurrenzfähigkeit der einheimischen Industrie im Kampfe mit der auswärtigen nicht zu untergraben, wie es durch unnötige Streiks und die Verbreitung der Tendenz auf ebenso kurze wie schlechte Arbeitsleistung oft geschieht.

Wie hat sich die staatliche Gesetzgebung gegenüber dem Anwachsen der internationalen Besitzesordnung zu verhalten? Diejenigen Länder, die sich dem Industrialismus und Kapitalismus entgegenstemmten, und den privaten Unternehmungsgeist damit lähmten, haben regelmässig den kürzern gezogen und sich in ihrem Wachstum geschädigt. Ein Staat, der sich auf das blosse Zuschauen beschränkt, wird jedenfalls viele Missgriffe und unnötige Massnahmen vermeiden, und eine gewisse Ausgleichung der Gegensätze innerhalb der industriellen Organisation wird auch ohne sein Zutun eintreten, 1) so früher in England. Namentlich wird der passiv bleibende Staat es umgehen können, von sich aus in die Besitzesordnung einzugreifen und damit das Vertrauen auf die Festigkeit der Eigentumsverhältnisse zu erschüttern. Man braucht sich deshalb noch lange nicht auf den Standpunkt zu stellen, dass die heutige Eigentumsordnung eine absolut richtige und unantastbare sei. Zwar ist das Eigentum an produktiven Werten seit dem Anfang der Kultur der festeste Mittelpunkt der gesellschaftlichen Ordnung gewesen. Und dennoch,

wieviel Veränderungen und protheusartige Wandlungen hat es schon durchgemacht, von dem gesamthänderischen Gemeineigentum der germanischen Einwanderer zu dem markgenossenschaftlich beschränkten Besitz der mittelalterlichen Dörfler, hindurch wohl auch durch die lehnrechtlichen Besitzesformen zu dem prinzipiell unbeschränkten und unbelasteten Eigentum des Naturrechtes und weiter zu dem mobiliarisierten und mechanisierten Besitz von heute. Himmelweit ist die heutige Eigentumsordnung von derjenigen des 15. oder auch des Anfangs vom 19. Jahrhundert verschieden, wenngleich dies in unserm jetzigen positiven Recht noch nicht offen zu Tage tritt; 1) und namentlich darin zeigt sich diese Verschiedenheit, dass die Mehrzahl der produktiven Güter sich gar nicht mehr im Besitze der Privatleute befinden; sie gehören dem Staat, den Gemeinden, den Aktiengesellschaften, den Banken; der einzelne ist vielfach an diesen Sachen nur indirekt, auf dem Kreditweg interessiert; er kann das grösste Vermögen in Aktien, Obligationen und Schuldbriefen besitzen, ohne einen Schuh Boden, ohne irgend ein Arbeitsgerät zu eigen zu haben. Eine neue Art von Kollektiveigentum besteht also bereits in grösstem Massstab, wenn auch dies selbst von der Jurisprudenz nicht immer klar erkannt wird.

Noch ist diese Entwicklung im Fluss begriffen, und typisch erscheint namentlich, dass Staat und Gemeinden in steigendem Masse sich die Vorteile des Kapitalismus zu eigen machen, indem sie selbst als grosse Unternehmer auftreten oder sich — was meist praktischer sein dürfte — bei formell privaten Unternehmen stark beteiligen. Aber eben aus diesem Grunde ist es auch dem

modernen Staate versagt, in den Interessekämpfen zwischen Kapital (resp. Unternehmertum) und Arbeit die Rolle des uninteressierten Zuschauers zu spielen; der Staat ist häufig auch selbst Partei seine zahllosen Angestellten und Arbeiter fordern von ihm gleichwie von einem privaten Unternehmer vorteilhaftere und sicherere Arbeitsbedingungen. Sodann dürfte es für den Staat auch ein Gebot der Selbstachtung sein, wenn er sich da scharf zur Wehre setzt, wo die ethischen oder ökonomischen Interessen der Bevölkerungsmehrheit bedroht erscheinen, so durch internationale Monopolvereinigungen, durch ausländische Finanzkombinationen, welche einen politischen Druck ausüben, des weitern durch den unnötigen .Bau von Bergbahnen, die unsere schönsten Gegenden dem Moloch Fremdenindustrie opfern. Das Hauptziel wird vorerst wohl darin liegen, ein gewisses Gleichgewicht Gleichgewicht zwischen dem Staate und der internationalen Besitzesorganisation aufrechtzuerhalten; weiterzugehen und den selbständigen Versuch machen zu wollen, den Kapitalismus unter die Vorherrschaft des Staates zu zwingen, wäre für uns ein zu gewagtes Experiment, das wir grössern und von der Natur reicher ausgestatteten Staaten überlassen müssen. Solange Kapitalismus und Industrialismus die Grundlagen der Weltwirtschaft bilden, bedeutet ihre unnötige Schwächung im eigenen Lande zugleich die Schwächung der nationalen Wirtschaftskraft diese Gefahr heraufzubeschwören, besteht kein Bedürfniss in einem kleinen Exportstaat, wo die Trusts wenig Boden haben und sozusagen unangreifbar sind, und wo über einen unlautern Einfluss des Kapitalismus auf die Politik nicht geklagt werden kann. —

In dritter und letzter Linie soll noch auf eine hochinteressante Erscheinung hingewiesen werden, die sich vorerst bloss beim Handels- und Verkehrsrecht zeigt, und hier die Nachteile der ständischen und differenzierten

Rechtsbildung ausgleicht; es ist dies der Zug nach Vereinheitlichung im internationalen Rahmen, 1) nach Schaffung eines Welthandelsrechtes. Schon seit geraumer Zeit sind hiezu Ansätze im Frachtrecht und Markenrecht vorhanden, vor allem aber macht das nächstens zur Einführung gelangende Weltwechselrecht einen grossen Schritt in dieser Richtung, und ihm werden sicherlich auch ähnliche Institute wie Checkrecht, Musterrecht, Firmenrecht usw. folgen. Wir haben keinen Grund, angesichts dieser Entwicklung wehmütig zu werden; ist doch unser eigenes Handelsrecht weder sehr originell, noch tief eingewurzelt, sondern schon seiner Natur und Bestimmung nach international veranlagt. Ein Anderes wäre es, wenn auch unser autochthones, national gestaltetes Zivilrecht von der Bewegung ergriffen werden sollte. Vorderhand ist nicht die geringste Gefahr hierfür vorhanden; aber in unserer Zeit erscheint auch das momentan unerwartete innerhalb weniger Jahrzehnte als möglich, so z. B. die Bildung eines engern Rechtsverbandes zwischen den europäischen Staaten, unter Schaffung eines gemeinsamen Zivilrechtes. Aber gerade hier eröffnet sich die mit diesem Gedanken einigermassen aussöhnende, ja in gewisser Hinsicht geradezu glänzende Perspektive, dass das schweizerische Zivilgesetzbuch nicht unwahrscheinlich zur Grundlage eines solchen völkerverbindenden Kodex genommen werden würde; dies dank seiner erwiesenen Tauglichkeit zur Herrschaft über mehrere Volksstämme und dank seiner in ganz Europa anerkannten hervorragenden Eigenschaften. —

Wie ich zu hoffen wage, werden Sie alle die Ueberzeugung teilen, dass das Privatrecht, wenn es

in einer grosszügigen Gesetzgebung gefasst vorliegt, eines der wichtigsten Elemente des Friedens, des Fortschrittes und der Gesittung bildet. In diesem Sinne dürfen wir denn auch mit Stolz sagen: wir sitzen hier in Bern im Mittelpunkt eines neu geschaffenen Kulturkreises, der nicht bloss unser Land umfasst, sondern seine Ausstrahlungen weit hinaus sendet über die Grenze. Und ebenso können wir uns rühmen, dass wohl bei keinem andern Volk bessere Grundbedingungen Grundbedingungen vorhanden sind zur Lösung des alten Problems, Gesetze und Menschen, Juristen und Laien einander näher zu rücken und ins richtige Verhältniss zu setzen. Mit Freuden werden die schweizerischen Juristen an dieser Aufgabe arbeiten, mit dem Leben und für das Leben, aber gleichzeitig auch unentwegt den Leitsternen einer verfeinerten Gerechtigkeit einer vertieften Kultur und einer höhern Ordnung entgegen.

reden.arpa-docs.ch
Rektorats Reden © Prof. Schwinges
Vol
Rate