Über Gegenwart und Zukunft
des schweizerischen
Zivil- und Handelsrechts
REKTORATSREDE GEHALTEN
AN DER 78. STIFTUNGSFEIER DER UNIVERSITÄT BERN
AM 29. NOVEMBER 1912
VON
PROFESSOR DR MAX GMÜR
BERN
AKADEMISCHE BUCHHANDLUNG VON MAX DRECHSEL 1913
Hochansehnliche Versammlung!Wenn ich mich der ehrenvollen Aufgabe entledigen
soll, beim heutigen festlichen Anlass zu Ihnen über einen
Gegenstand aus meinem Fachgebiet zu sprechen, so liegt
es wohl nahe, dass ich an ein Ereignis anknüpfe, welches
wir alle zu Anfang dieses Jahres miterlebt haben, nämlich
das Inkrafttreten des schweizer. Zivilgesetzbuches;
und dies um so eher, als mit diesem Gesetzeswerk,
mit seinem Werden und Entstehen unsere Universität
in besonders hervorragender Weise verbunden ist.
Viele Gesetze kommen und gehen, ohne dass die grosse
Menge etwas davon spürt; diesmal aber sind alle Volksgenossen
am 1. Januar dieses Jahres sich dessen bewusst
gewesen, dass ein bedeutsames Geschehnis sich vollziehe,
und mit der neuen Kodifikation auch eine neue Ordnung,
ein neuer Geist in unser Land Einzug halte. Und schon
vorher sind viele unter Ihnen mit den Vorboten des neuen
Rechtes in praktische Berührung getreten, als es sich
darum handelte, die Liegenschafts- und die Güterrechtsverhältnisse
für den Uebergang zu bereinigen. Ein jeder,
der ein Haus oder eine Hypothek besass, musste seine
Titel hervorziehen und dafür besorgt sein, dass seine
Rechte beim Amt neu verschrieben wurden. Und wer
immer ein teures Eheweib sein eigen nannte, der lief
zu den Juristen und in die Vorträge, um sich über die
schwierigsten Probleme des altbernischen und des eidgenössischen
ehelichen Güterrechtes und Erbrechtes Rat
zu holen. 1) Nie ist das altehrwürdige bernische Zivilgesetzbuch
so allseitig und gründlich von Gelehrten und
Ungelehrten, Mann und Frau studiert und diskutiert
worden, wie kurz vor seinem Ableben, im Jahre 1911;
ja es schien damals eine Zeitlang, als ob ganz Bern
sich die Erörterung privatrechtlicher Fragen zur Hauptaufgabe
gesetzt habe.
Bei diesem erwachten Interesse an zivilistischen
Materien möchte ich Sie nun fassen. Wohl weiss ich,
dass es mir nicht so leicht gelingen wird, Ihre Aufmerksamkeit
für meinen Gegenstand wachzurufen, wie z. B.
meinem kriminalistischen Kollegen, wenn er über die
Todesstrafe, oder meinem nationalökonomischen Kollegen,
wenn er über das Branntweinmonopol spricht, wo schon
das Thema an sich angenehm spannende Gefühle in der
Brust des Zuhörers auslöst. Wogegen es als ausgemachte
Sache gilt, dass dem Zivilrechtler die Aufgabe, vor einer
grösstenteils aus Nichtjuristen bestehenden Zuhörerschaft
über seine Wissenschaft zu sprechen, ausserordentlich
erschwert sei. 2) Ja, es ist sogar behauptet worden, dass
es heute keine Wissenschaft gebe, welche dem allgemeinen
Interesse und allgemeinen Bewusstsein ferner liege, als
die Privatrechtswissenschaft. 3)
Sogar aus Juristenmund ertönen derartige Weisen,
und da ist es denn auch nicht verwunderlich, wenn sie
im Volke aufgenommen und in verstärktem Masse reproduziert
werden. Nicht allzuselten wird von einer tiefen
Kluft gesprochen, die zwischen den Juristen und den
Laien klaffe; man klagt, dass die Juristen den übrigen
Bürgern als Repräsentanten einer fremden, menschenfeindlichen
Macht gegenüberstünden, man bezeichnet wohl
auch die Jurisprudenz als eine Art Geheimwissenschaft,
die unbekümmert um das Volksleben, unbekümmert um
die Gesetze von Ethik und Moral ihre Wege gehe.
Solche Anklagen dürfen nicht totgeschwiegen werden.
Lassen Sie mich daher näher auf sie eingehen.
Ein gewisser Antagonismus zwischen Juristen und
Laien, unter welch letztere auch die Angehörigen der
übrigen akademischen Berufsarten zu rechnen sind, besteht
allerdings schon seit ältester Zeit, man darf wohl
sagen, seit überhaupt der Juristenstand existiert. Besonders
stark tritt er hervor im 16. Jahrhundert. Bekanntlich
hat sich damals Martin Luther sehr scharf gegen
die Juristen gewendet, indem er u. a. sagte: "Es ist ein
ewiger Hader und Kampf zwischen den Juristen und
Theologen. Gleichwie das Gesetz und Gnade sich miteinander
nicht vertragen, denn sie sind widereinander,
also sind die Theologen und Juristen auch zwieträchtig,
denn eines will immer höher sein als das andere. Das
ist aber die Ursache, dass die Juristen wollen haben,
man solle ihr Ding für das Höchste halten." Luthers
Zorn lässt sich vor allem aus seiner Stellungnahme gegen
die von der kanonistisch-juristischen Wissenschaft
getragene Papstkirche erklären, wie er denn auch, als
er zu Wittenberg die päpstliche Bannbulle ins Feuer
warf, das corpus juris canonici gleich nachfolgen liess.
Im übrigen anerkannte der Reformator, dass es auch
unter den Rechtsgelehrten einige brave Leute gebe. Noch
weiter als Luther gingen die Aufständischen im Bauernkrieg,
welche in einem ihrer Programmpunkte die Abschaffung
der doctores juris verlangten; und wir können
diesem Begehren nicht einmal unsere Sympathien versagen,
hatten doch die Juristen in einseitigster Weise
ein völlig volksfremden Recht, das justinianische, in Aufschwung
gebracht, Hand in Hand mit dem absolutistischen
Fürstentum. Das Pandektenrecht hat in Deutschland
bis ins 19. Jahrhundert in ziemlich unduldsamer Weise
geherrscht, und da seine Anwendung ausschliesslich in
den Händen einer Berufskaste lag. so konnte sich denn
auch ein grosser Gegensatz zwischen Juristenrecht
und Volksrecht ausbilden.
Dann aber waren es die Juristen selber, welche das
Uebel an der Wurzel fassten, insbesondere die aufblühende
Schule der Germanisten, die das Recht wieder
an der Volksseele zu schöpfen und national zu gestalten
suchten. 1) Und diesem Beispiel, sowie der Einwirkung
des Naturrechtes konnten sich auch die Romanisten
nicht entziehen; in Anlehnung an die elegante Methode
der klassischen römischen Juristen, zugleich aber auch in
enger Fühlung mit der modernen Verkehrsentwicklung
ist ihre Wissenschaft immer noch das wertvollste zu
leisten im Stande. Wenn dessenungeachtet in Deutschland
sich viele Stimmen geltend machen, welche von der
Weltfremdheit der Juristen sprechen, so beruht dies
doch wohl grösstenteils auf üblen Erfahrungen aus früheren
Zeiten. Aber Vorurteile sind bekanntlich schwer auszurotten,
und es ist geradezu typisch, wie in den Erzählungen
und Romanen, die über die Grenze zu uns
kommen, der Jurist gewöhnlich eine sehr schlechte Rolle
spielt. Dass er ein herzloser und trockener Buchstabenmensch
ist, dürfte das mindeste sein, was man ihm nachzusagen
weiss. 2) Desgleichen kann man sich kaum genug
tun, seine Wissenschaft als total verknöchert zu schildern.
So zitiere ich aus der im übrigen sehr hübschen Novelle
"Der Rosendoktor" von Ludwig Finckh folgende Stelle,
wo ein junger Student sagt: "Es gab da ein Gebiet im
menschlichen Leben, an dem alle Entwicklung der Neuzeit
spurlos vorübergegangen war. Ueberall war Frühling
im geistigen Leben, es sprosste und trieb mit einer nie
geahnten Kraft, man riss die Fenster auf und liess Licht
und frische Luft herein..... aber die Juristerei sass
ruhig auf ihren Lorbeeren, aufgeblasen und dünkelhaft
und fühlte sich als Richter und Herrscher über die ganze
Welt. Rückständig bis in die Knochen und am toten
Buchstaben klebend."
Derartige zum mindesten veraltete Reflexionen werden
anscheinend von der Menge gerne gelesen, und auch bei
uns in der Schweiz übernimmt man sie, wo sie vollends
nicht passen. 1) Die Schweiz hat ja die unselige, von
der nationalen Schwäche Deutschlands zeugende Reception
gar nicht mitgemacht, sondern sie mit Waffengewalt
im Schwabenkrieg von sich fern gehalten. Das
gelehrte Recht vermochte das einheimische nicht zu
überwinden, 2) und als — erst im 19. Jahrhundert —
die romanistische Wissenschaft unsere Fakultäten zu beherrschen
anfing, war ihr Einfluss kein revolutionärer,
sondern wirkte abklärend auf das geltende Recht, ohne
ihm seine autochthone Färbung zu rauben. Dass einzelne
Missgriffe in der Gesetzgebung vorgekommen sind
und auch weiterhin vorkommen werden, soll gar nicht
in Abrede gestellt werden; ebensowenig das Faktum,
dass die menschlichen Schwächen, die den Juristen
anhaften, um so eher zur Kritik herausfordern,
als sie selber zu Richtern über andere gesetzt sind.
Wenn das Publikum ihrer nicht mit besonderer Liebe gedenkt,
so dürfen sie es ihm gar nicht so übel nehmen;
denn es ist ja richtig, wenn einer die Juristen nötig hat,
so ist dies gewöhnlich mit Aerger und Kosten verbunden,
und wenn zwei Parteien vor Gericht stehen, so wird.
sicher eine von beiden nachher über Richter und Anwalt
schimpfen. Die Rechtspflege ist nun einmal, ähnlich wie
die Heilpflege, ein Uebel, aber ein notwendiges
Uebel. Und, blind und unverständig müsste man
sein, wollte man nicht die gewaltige Summe geistiger
Arbeit anerkennen, die die Juristen in der täglichen
Praxis leisten, und wollte man nicht die grossen
Fortschritte zugeben, die im Rechts- und Staatsleben
von ihnen angeregt und durchgekämpft worden sind. 1)
Aber auch die Klagen über die Weltabgewandtheit
der Juristen haben bei uns wenig Boden. Gibt es
wohl einen andern Beruf, der ebenso sehr in die gründliche
Kenntnis der Menschen und der mannigfaltigsten
Lebensverhältnisse einführt, wie derjenige des Anwaltes?
Und ist nicht die Volkswahl ein treffliches Mittel
gegen das Aufkommen eines Kastendünkels der Richter?
Wenn die Rechtspflege bei uns zu Lande oft nicht so
bestellt sein mag, wie sie sein sollte, so ist es nicht
dort, wo tüchtig ausgebildete Juristen ihr vorstehen,
sondern da, wo wir Halbjuristen oder Laien an der
Spitze der Gerichte haben.
Und wie steht es nun mit dem zweiten Punkte, mit
der Eigenart der Jurisprudenz als Wissenschaft?
Hat sie wirklich die angeborene Eigenschaft,
sich von den realen Tatsachen fern zu halten und sich
in ganz besondern Gedankengängen zu bewegen, die
nur ihren Adepten verständlich sind? 2) Dass dies jedenfalls
ganz und gar nicht in ihrer Natur liegt, wird
derjenige leicht erkennen, der sich über ihr Wesen
richtig orientiert.
Gegenstand der Rechtswissenschaft ist das Recht.
Das Recht aber steht im engsten und innigsten Zusammenhang
mit dem sozialen Leben. 1) Das letztere
wird durch zweierlei Arten von Regeln äusserlich bestimmt:
einmal durch die Konventional- und Moralregeln,
die Forderungen von Anstand und Sitte, von
Gesellschaftsübung und Sittlichkeit; sodann aber durch
die rechtlichen Regeln, welche zum Unterschied von
den vorgenannten selbstherrlich, ja grösstenteils mit
äusserm Zwang verbunden an die Menschen herantreten.
Die Rechtssätze enthalten stets und notwendigerweise
bestimmte Regelungen des wirtschaftlichen und
gesellschaftlichen Zusammenlebens der Menschen, Recht
und Wirtschaft stehen zu einander geradezu im Verhältnis
von Form und Stoff des sozialen Lebens. Wenn
also die Rechtswissenschaft ihre Aufgabe erfüllt, indem
sie die in den Gesetzen und in der Gewohnheit gefundenen
Rechtsregeln zu erfassen und zu beherrschen sucht,
so ist ihr Gegenstand kein anderer, als die formale Seite
des menschlichen Zusammenseins. Auch da, wo sie in
rein theoretischer Weise vorgeht, haben wir es mit einer
im Grund durchaus praktischen Wissenschaft zu
tun. Ja, die Abhängigkeit des Rechtes von der Wirtschaft,
der Umstand, dass die Jurisprudenz keine unverrückbaren
Gesetze und ewigen Wahrheiten kennt,
hat schon viele veranlasst, ihr den Charakter als
Wissenschaft überhaupt abzusprechen. 2) So Houston
Stuart Chamberlain, 1) in seinem sehr gescheiten, aber
doch oft recht oberflächlichen Buch über die Grundlagen
des 19. Jahrhunderts. Nach ihm ist die Jurisprudenz
"bloss eine Technik, d. h. eine Geschicklichkeit,
jedem noch so unbegabten Menschen erlernbar, wenn
er nur einiges Geschick besitzt; eine Methode, nicht ein
Künstlerisches, nicht selbst ein Wissen, ein Können oder
ein Schaffen."
Hieran ist wohl nur soviel richtig, dass die Handhabung
der Jurisprudenz in der Praxis, ähnlich
wie die der Heilkunde, keine rein wissenschaftliche Tätigkeit
ist, sondern der Hauptsache nach ins Gebiet der
Technik oder der Kunst gehört. Festgestellt mag
auch werden, dass mit der Philologie und ihren Gedankenoperationen
nur der rechtsgeschichtliche Zweig der Jurisprudenz
nahe Verwandschaft aufweist. Aber ebenso sehr
muss man sich davor hüten, die Methode des Juristen
derjenigen des Mathematikers oder Naturwissenschaftlers
gleichzusetzen. 2) Allerdings liegt es nahe, das sog. juristische
Denken als aus rein logischen und abstrakten
Gedankengängen zusammengesetzt zu betrachten, und
dieser Auffassung hat man auch in der früher herrschenden
scholastischen Richtung unserer Wissenschaft lange
gehuldigt. Aber sie ist heute gründlich in Misskredit
gekommen, man hat klipp und klar erkannt, dass der
Jurist, insbesondere der Richter, nicht allein mit dem
Intellekt auskommt, er braucht auch seine Phantasie-
und Willenskräfte; er muss wägen und wagen, er hat
sowohl den Inhalt der Rechtssätze, wie auch ihr Verhältnis
zum konkreten Fall zu werten, und danach zwischen
den sich oft ergebenden verschiedenen Möglichkeiten
eines Resultates eine Willensentscheidung zu treffen. Dabei
wirkt er also nicht bloss als eine Art Subsumptionsmaschine,
sondern schöpferisch, wenn auch in bescheidenerem
Masse als der Gesetzgeber. In trefflicher Weise
ist dies letzthin von M. Rumpf 1) folgendermassen charakterisiert
worden: "Die Tätigkeit des Richters ist zugleich
halb theoretisch und halb praktisch. Sie hat mehr Wärme
und weniger Sicherheit als das Denken des Theoretikers,
weniger Wärme und Leidenschaft, aber mehr Sinn und
Sorge für das Allgemeine, für die Interessen aller, als
die Arbeit des Mannes im praktischen Leben."
Wenn man sich dermassen darüber klar geworden
ist, dass die Jurisprudenz, weit davon entfernt, eine
weltabgewandte oder besonders geheimnissvolle Wissenschaft
zu sein, im Gegenteil aufs engste mit dem
sozialen Leben zusammenhängt, so wird damit auch
ihre Allgegenwart und ihre scheinbare Allmacht erklärlich
Aber auch für das Verhältnis der Juristen
zu den Laien lässt sich hieraus der richtige Standpunkt
gewinnen. Die erstem sind die Spezialisten,
welche der Pflege des Rechtes, der Inbetriebsetzung
der rechtlichen Einrichtungen ihre Lebensaufgabe widmen.
Aber auch die Laien sind in den wichtigsten Grundlagen
ihrer Existenz mit dem Rechte eng verbunden.
Dies springt vor allem in die Augen beim Kaufmann,
dessen Berufstätigkeit sich geradezu im Abschluss von
Rechtsgeschäften konzentriert. Aber selbst der stille Gelehrte
hängt an tausend Fäden mit der Rechtsordnung
zusammen, weit mehr als ihm selbst bewusst ist; so als
Staatsbürger, Familienvater, Mitglied unzähliger Vereine,
als Benutzer der vielen Arten von öffentlichen Einrichtungen,
als Träger von Forderungen und Schulden, als
Dienstherr, als Autor u. s. w.
Ein berühmter Hygieniker soll einmal gesagt haben,
es sei Pflicht eines jeden Menschen, gesund zu sein. Mit
dem gleichen Recht darf auch gefordert werden, es sei
Pflicht eines jeden, seine Rechtsverhältnisse in
Ordnung zu halten, um unnötige Ausgaben und Verluste
an Zeit und Geld zu vermeiden. Zu diesem
Zwecke muss sich aber auch der Laie um die Grundlagen
seines Rechtslebens kümmern, und da diese vor
allem im Zivilrecht niedergelegt sind, so darf er diesem
nicht aus dem Wege gehen. Es ist ja zuzugeben, der
moderne Staat hat eine solche Menge von Gesetzen und
Verordnungen auf seine glücklichen Untertanen niederprasseln
lassen, dass sich selbst der Fachmann nicht
vollständig in ihnen auskennen wird. Allein was die
Regelung der wichtigsten, den Burger am meisten angehenden
Materien anbelangt, so ist sie gewöhnlich in
einer nicht übermässig grossen und leicht erreichbaren
Anzahl von Gesetzen zu finden.
Damit sind wir bei unserm Hauptthema angelangt.
Wir wollen uns vor allem Rechenschaft geben
über den derzeitigen Stand des schweizerischen
Zivil- und Handelsrechtes. Nicht eine genaue Aufzählung
von Titeln und Daten, nicht eine Fülle trockener
Einzelheiten werden Sie von mir verlangen. Wohl dagegen
möchte ich einigermassen zum Bewusstsein bringen,
wie sehr unser positives Recht mit unserm Wirtschaftsleben
und unserer Kultur zusammenhängt,
als deren feste Unterlage und Form es geradezu
bezeichnet werden kann.
Die Schweizer späterer Generationen, wenn sie dereinst
auf den Ausgang des letzten und den Anfang des
20. Jahrhunderts zurückblicken, werden unserer Zeit
wohl kaum das Zeugnis gesetzgeberischer Kraft
und Grösse versagen. Neben vielen legislatorischen
Leistungen der 70er Jahre, die mehr auf dem Gebiete
des öffentlichen Rechtes liegen, steht. namentlich das
Obligationenrecht von 1881 als tüchtiges Werk auf privatrechtlichem
Boden da, ein Anfang zur Rechtseinheit,
aber doch nur ein Bruchstück. Von einer
Kodifikation grossen Stils, von der Vollendung der
Rechtseinheit kann man erst sprechen, seit im Jahre 1908
unser ZGB auch die übrig gebliebenen grössern Materien
des Privatrechtes unter eidgenössisches Dach gebracht
hat. Wie mühsam dieses Werk war, wie viel
guten Willen und hohe Geistesarbeit es forderte, das
haben die meisten von Ihnen mitangesehen. Freilich ist
es wahr, dass die historische und wirtschaftliche Entwicklung
zur Einheit drängte; die Zeit war erfüllet.
Aber nicht immer findet sich der zur sichern Leitung
prädestinierte Führer, nicht immer die Menge zur Folge
bereit. Eine grosse Kodifikation verlangt nicht nur das
heisse Bemühen der wissenschaftlichen Kräfte, sie ist auch
für den Gesetzgeber wie für das Volk — um mit Eugen
Huber zu sprechen 1) — "eine Tat der freien Ueberzeugung
und des lebendigen Rechtsbewusstseins." Schon
dreimal im Laufe der Zeiten ist die Aussicht nahe
gewesen, die verschiedenen Gaue unseres Landes unter
einem einheitlichen Privatrecht zu sehen; das erste Mal in
der karolingischen Periode, unter Ludwig dem Frommen,
da die geistliche Partei die Rettung des zerfallenden Reiches
in der Ausdehnung des fränkischen Rechtes über alle
Stämme erblickte; das zweite Mal zu Ausgang des Mittelalters,
wo von Italien und von Deutschland her die Rechtseinheit
in fremdem, römischem Gewande einzubrechen
drohte; und endlich in der Helvetik, die es bereits zu
einem Zivilgesetzprojekt brachte, über das Ihnen unser
Kollege Rossel vor 5 Jahren berichtet hat. 2) Aber immer
stunden ungünstige oder auch günstige Mächte entgegen,
und erst unserm Jahrhundert war es beschieden, das
Werk zu krönen.
Die hohe Bedeutung einer grossen Kodifikation
wird wohl am besten durch einen Ausspruch illustriert,
den Napoleon im Exil über seinen Code civil
getan hat: "Ma gloire n'est pas d'avoir gagné quarante
batailles, Waterloo effacera le souvenir de tant de victoires...
mais ce que rien n'effacera, ce qui vivra éternellement,
c'est mon code civil". 1) Und in der Tat, das
kriegerische Prestige Frankreichs ist seit 100 Jahren
gewaltig gesunken, als stolze Säule aber steht immer
noch sein Code da, zu der viele fremde Völker emporschauen.
Keine der vielen Kodifikationen des 19. Jahrhunderts
kann dem Code civil als ebenbürtige Arbeit
zur Seite gestellt werden, auch das deutsche BGB nicht
Wohl dagegen wird immer mehr anerkannt, dass ihm
das schweizerische Zivilgesetzbuch 2) an genialer Konzeption
als gleichstehend erachtet werden darf, und einen
Markstein in der europäischen Rechtsentwicklung darstellt,
ähnlich etwa wie auf prozessualem Gebiet die von
Franz Klein geschaffene österr. Zivilprozessordnung.
Dass unser Kodex für die Juristen von grösster
Tragweite und Bedeutung ist, braucht kaum gesagt zu
werden; aber auch seine hohe Wichtigkeit für
das ganze Volk und Land bedarf nur kurzer
Darlegung. Vor allem stellt er ein hervorragendes und
tiefgreifendes Geisteswerk dar, das allen schweizerischen
Sprachstämmen gemeinsam zu eigen sein wird, und für
sie ein starkes Band einheitlicher Kultur und
Nationalität bedeutet. Die Welschen sind für die
germanischen Rechtsanschauungen zurückgewonnen worden,
und zugleich die Deutschschweizer zur Selbständigkeit
gegenüber der übermächtig eindringenden deutschen
Jurisprudenz aufgerufen. Familie, Eigentum und Erbrecht,
diese alten Grundlagen unserer sozialen Ordnung,
sind in ihren Grundfesten unberührt geblieben,
aber einzelne Teile wurden beschnitten, andere verjüngt;
so werden diese Institute neu gekräftigt den
Stürmen der Zukunft entgegengehen. Das Zivilrecht
ist seiner Natur nach eher konservativ, vorn Verkehrsrecht
abgesehen wird das historisch gewordene nicht
leicht über Bord geworfen; so erscheint denn auch eine
Kodifikation, dank der Einheit und Abklärung, die sie
bringt, schon dann als wertvoll, wenn sie sich damit begnügt,
den Aenderungen der Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung
nachzufolgen, sie braucht ihnen nicht
notwendig voranzugehen. Allein das ZGB lässt nicht
bloss der zukünftigen Entwicklung Raum, es steckt die
Ziele für den Fortschritt ab, es fordert ihn häufig
und wird ihn erzwingen, so in Bezug auf die Stellung
der Ehefrau, den Schutz der Kinder, die Verbesserung
des Hypothekarwesens etc.
Selbstverständlich bedingt die Durchführung der
Rechtseinheit den Untergang der bisher geltenden
kantonalen Rechte, ein Prozess, der nicht ohne Unebenheiten
und Härten sich vollziehen kann. Dies
spüren wir in diesen Jahren, wir wissen es aber auch
von früheren Fällen her, wo eine grosse Liquidation
des bisherigen Rechtes zu Gunsten des neuen vorgenommen
worden ist. So im 12. und 13. Jahrhundert,
als die Stammesrechte und karolingischen Gesetze der
Vergessenheit anheimfielen und auf ihrem Grabe die
kleinen Herrschaftskreise und Genossenschaften der Bürger
und Bauern sich ihre autonomen Quellen schufen. Hinwiederum
in der Revolutionszeit; nicht das römische
Recht, sondern erst das Naturrecht hat in der Schweiz
dem Mittelalter im Rechte ein Ende gemacht, erst zu
Anfang des 19. Jahrhunderts wurde die auf der Basis
des Feudalwesens beruhende Rechtsordnung bei uns
liquidiert, oft gewaltsam, aber nicht immer durchgreifend.
Denn gerade gegenwärtig, bei der Grundbuchbereinigung,
hat es sich gezeigt, wie zäh manche
aus der Feudalzeit stammende Rechte, so Reallasten,
merkwürdige Servituten und Genossenrechte, Fischenzen
usw. am Leben geblieben sind; 1) und ähnlich wird es
auch bei einer heutigen Liquidation gehen. Dafür
sorgen vor allem auch die Uebergangsbestimmungen des
ZGB und der Kantone, welche z. B. der altbernischen
Witwe ihre eigenartige Stellung belassen.
Aber nicht bloss als Uebergangsrecht wird das bisherige
Recht weiter leben, das ZGB hat auch einzelne
Gebiete ganz dem alten, bezw. kantonalen Recht
überlassen, so vor allem das Recht der Allmendkorporationen.
Dem Städter sind diese eigenartigen Gebilde
ziemlich fremd, in den Wirtschafts- und Rechtsverhältnissen
des Berglandes aber —die, nebenbei gesagt,
erstaunlich kompliziert sind —spielen sie eine ganz gewaltige
Rolle, nirgends so, wie gerade in der Schweiz.
Sie ragen in unsere Welt hinein als lebendige Zeugen aus
der Jugendzeit unseres Volkes, wo die eindringenden
Allemannen nach germanischer Sitte das Land gemeinschaftlich
besetzten. Ihre alten, in bäuerlicher Treuherzigkeit
sprechenden Statuten und Satzungen gelten heute
Seite an Seite neben Gesetzen von modernster Technik,
und so findet sich in unserm Privatrecht auch weiterhin
die wundervolle Vielgestaltigkeit und Kontrastfülle,
durch welche sich das schweizerische Recht auch
in andern Gebieten, z. B. im Kirchenrecht auszeichnet.
Niemand wird daraus einen Vorwurf ableiten wollen,
dass trotz des Prinzips der Rechtseinheit von dem alten
Recht in altem Gewande so viel geschont worden ist,
als sich tief eingewurzelt und auf die lokal verschiedenen
agrarischen Verhältnisse passend zugeschnitten erwiesen
hat. Neben dem erhaltenen alten Recht ist übrigens die
Fülle des neuen eine gewaltige. Wenn Göthe seinen
Faust in unserer Zeit gedichtet hätte, so würde er sicher
seinem Mephisto das bekannte Wort, wonach Recht und
Gesetze sich wie eine ewige Krankheit forterben, 1) nicht
mehr in den Mund gelegt haben. Und doch ist die
legislative Tätigkeit auf unserm Gebiete nicht
abgeschlossen, noch stehen grosse Materien vor der
Tür und fordern Berücksichtigung. Insbesondere ist es
das immer wichtiger werdende Handels- und Industrierecht,
welches einer baldigen erneuten Inangriffnahme und
Ergänzung bedarf. Wohl hat bereits unser altes Obligationenrecht
das Recht des Handelsverkehrs geordnet,
aber die rasche und oft unvorhergesehene Entwicklung
hat manches als revisionsbedürftig erwiesen und
viele Lücken aufgezeigt. 2) Im Patent-, Marken-, Muster-
und Urheberrecht besitzen wir sodann Gebiete, welche
erst vor einigen Jahrzehnten richtig erschlossen worden
sind, denn auch im Reich des Juristen befinden sich
Wüsten und dunkle Erdteile. Sodann erheischt der
gesteigerte Konkurrenzkampf auf gewerblichem Boden,
und das gespannte Verhältnis zwischen den Unternehmern
und Arbeitern vermehrte Aufmerksamkeit und
Anstrengung für den Ausbau einer Gewerbe- und Arbeitergesetzgebung.
— Nicht bloss als eine Art Sport,
wie man etwa spottend sagt, betreiben die Juristen die
Vorarbeiten zu neuen Gesetzen, sondern weil sie sich
ihrer Verantwortung für die Instandhaltung der Rechtsordnung
bewusst sind, und weil die Interessenten ihre Beihilfe
dringend verlangen. In grossen Staaten stehen zur
Bearbeitung derartiger Materien Spezialisten in reicher
Auswahl zur Verfügung, bei uns aber bedarf es gewöhnlich
einer starken Anspannung der relativ seltenen
Kräfte. —
Mit der Erwähnung der uns noch bevorstehenden
weitern Gesetzgebungsarbeit bin ich auf den zweiten
Teil meines Themas, auf die Zukunft des schweizerischen
Zivil- und Handelsrechtes zu sprechen
gekommen. Die Gegenwart hat durch ihre Kodifikation
in der Hauptsache den festen Grund geschaffen, die
Zukunft wird in der richtigen Anwendung und
in der Fortbildung der geschaffenen Gesetze
beruhen.
Ein sonst sehr gescheiter Arzt hat mir unlängst
gesagt, die Juristen hätten es eigentlich doch sehr bequem,
sie brauchten nur einige Gesetzbücher einmal gründlich
durchzunehmen, und damit sei ihr wissenschaftlicher Betrieb
mehr oder weniger erledigt. So einfach liegt nun
jedenfalls die Sache nicht, ganz abgesehen davon, dass
das Rüstzeug, welches der moderne Jurist benötigt, nicht
bloss in einzelnen Codices, sondern verstreut in einer
Anzahl von Bänden liegt, die Rücken an Rücken gestellt,
nach Dutzenden von Metern messen. Schon eine
gute Orientierung in diesem Material bedeutet keine Kleinigkeit,
wenn auch für sich allein ein armseliges Ding. Das
Gesetz ist allerdings, wenn man so sagen will, die Bibel
des Juristen; er muss seinen Sätzen Treue halten, selbst
wenn er nicht unbedingt von ihrer Richtigkeit überzeugt
ist. Er kann dies ohne Heuchelei tun, denn das Gesetz
wendet sich nicht an den innern, sondern nur an den
äussern Menschen; sein Diener weiss, dass es nicht ewige
Wahrheiten aufstellen will, sondern oft auf Kompromissen
zwischen entgegengesetzten Interessenströmungen
beruht, die nach dem Willen der Mehrheit festgelegt
wurden. Zudem gibt das Gesetz oft nur allgemeine
Anordnungen und Anweisungen, es hat bei der
unerschöpflichen Fülle der Erscheinungen darauf
verzichtet, die einzelnen Fälle zu reglieren. So steht es
vor allem dem Juristen zu, das Gesetz in Funktion
zu setzen und seine Weisungen mit den ihm unterstellten
Abschnitten des sozialen Lebens in den richtigen Zusammenhang
zu bringen. Darin liegt eben bei der
Jurisprudenz die Grösse und Schönheit der
Aufgabe, dass sie über die Worte und Sätze des positiven
Rechtes weit hinausführt in die ungeheure Fülle
der Beziehungen der Menschen zu einander, in den gewaltigen
Strom des Verkehrslebens. Freudig anerkennen
wir den Hochflug, den die moderne Naturwissenschaft
genommen, das riesige Gebiet, das sie sich unterworfen
hat. Aber hinwiederum darf auch die Einsicht wachsen,
dass die Arbeitsgründe des Juristen nicht minder vornehme,
nicht minder unerschöpfliche sind.
Welches mögen nun die Faktoren sein, die bei
der Infunktionsetzung unserer Rechtssätze die
Hauptrolle spielen werden, welche geistige
Potenzen haben bei der Fortbildung unseres Privatrechts
als Träger und Förderer zu walten?
Billigerweise darf man hier die Wissenschaft zuerst
nennen; hat sie doch bei der Schaffung der Kodifikation
das härteste geleistet, und auch in der Zukunft
wird sie sich die stille Herrschaft über die Geister stets
neu erringen müssen. Freilich, der rechtsgeschichtliche
Betrieb mag wohl zunächst etwas zu kurz kommen;
es ist dies bedauerlich, aber erklärlich in einer
Periode, wo man selbst in Rechtsgeschichte gemacht
hat. 1) Wie wertvoll im übrigen die rechtsgeschichtliche
Arbeit sein kann, zeigen am besten die einschlägigen
Arbeiten unseres Zivilgesetzredaktors, die das sichere
Fundament gewesen sind, auf welchem der Entwurf sich
aufbauen konnte. Gleichzeitig ist mit ihnen auch der
eigentliche Anfang einer selbständigen schweizerischen
Privatrechtswissenschaft gemacht worden,
während wir bisher allzu sehr im Banne der ausländischen
Jurisprudenz standen. Das Inkrafttreten des ZGB
hat denn auch den Ansporn zum Erscheinen einer überaus
starken literarischen Produktion gebildet, die
sich teilweise sogar im Vergleich zu derjenigen unserer
grossen Nachbarstaaten sehen lassen darf und gutes für
die Zukunft verspricht. Dass die heutige Literatur
vor allem praktisch gerichtet ist, ergibt sich aus den
Bedürfnissen der Zeit. Die Gefahr, hierbei zu verflachen
und zu einer kraftlosen Auslegung der Gesetzesworte herabzusinken,
braucht nicht allzuhoch eingeschanzt zu werden. 1)
Haben wir doch das glänzende Beispiel der Franzosen
vor Augen, deren Doktrin und Praxis dem alten Code
civil stets neuen Geist und lebendiges Wachstum einzuhauchen
wussten. Zudem weht gegenwärtig von Deutschland
her ein frischer Wind zu uns herüber. An Stelle der
historisch-philologischen und der scholastischen Schule
sind in den letzten Jahren zwei neue, unter sich verwandte
Richtungen führend geworden, die eine mehr
philosophisch geartet, indem sie die Verbindung des
positiven Rechtes mit den darüber und daneben stehenden
Mächten aufsucht, die andere mit dem Ziel, auf die
angemessene Entwicklung des Rechtsleben nach den
Bedürfnissen der Gegenwart hinzuwirken, und damit
die allfälligen Gegensätze zwischen Theorie und Praxis,
zwischen Juristen und Laien zu versöhnen. 2) In letzter
Hinsicht verspricht auch die selbständig auftretende
Rechtssoziologie fruchtbar zu werden. Sie setzt sich
zur besondern Aufgabe, das soziale Leben auf seine
Beziehungen zu den Rechtsnormen hin zu untersuchen. 3)
Freilich ist diese Methode nicht neu, schon bis anhin
konnte kein rechter Gesetzgeber ihrer Verwendung
entraten, und vor einiger Zeit ist sie in dem epochemachenden
Werk von Lotmar über den Arbeitsvertrag
mit besonderem Erfolg verwendet worden. Dazu steckt
das Fach hinsichtlich seiner Abgrenzung und seiner selbständigen
Leistungen noch in den Kinderschuhen. Allein
dennoch haben wir vom Standpunkt der Rechtsdogmatik
aus keinen Grund, den neuen Zweig nicht freudig zu begrüssen.
Kann er doch als Hilfswissenschaft die wertvollsten
Winke über die Wirkung der Rechtsnormen,
sowie über ihre Handhabung und weitere Ausgestaltung
erteilen. 1)
Wenn wir die Wissenschaft als Fortbildnerin unseres
Rechtes zuerst genannt haben, so soll damit in
keiner Weise übersehen werden, dass der Praxis hiefür
eine eben so hohe Bedeutung zukommt, ja dass sie
jedenfalls quantitativ noch bedeutend mehr zu leisten
haben wird, als die Theorie. Sind es doch unsere Richter,
Verwaltungsbeamte, Anwälte und Notare, welche
unmittelbar und unablässig die zur Erhaltung des Rechtsfriedens
nötige Maschinerie in Gang setzen. Sie sind
die eigentlichen Mittler zwischen Recht und Volk,
indem sie in den tausend Unstimmigkeiten und Zwistigkeiten,
die der Alltag erzeugt, ihren Scharfsinn und
ihre ordnende Hand walten lassen. Freilich steht ihnen
hierbei die Doktrin als Führerin zur Seite, aber oft
kommt es auch vor, dass die Praxis, indem sie direkt
aus dem Leben schöpft, der Wissenschaft voraneilt und
Raum für neue theoretische Gesichtspunkte, ja für eine
ganze Entwicklung bahnt.
Von grösster Wichtigkeit ist hierbei, wie die Stellung
des Richters zum Gesetz aufgefasst wird. Soll
er sklavisch an den Buchstaben des allmächtig und
lückenlos gedachten Gesetzes gebunden sein, oder aber
ist er berechtigt, das Gesetz nur als allgemeine Anweisung
zu behandeln und frei Recht zu suchen, wo ihm
das geschriebene unpassend oder lückenhaft erscheint.
Dies sind die beiden entgegengesetzten Standpunkte.
Wir stehen hier vor einer Frage von zentralster Bedeutung,
die wie kaum eine zweite in den letzten Jahren die
Juristen in Atem gesetzt und zu heissem Wortkampf entflammt
hat, namentlich in Deutschland; und die deutschen
Dogmatiker wissen zu fechten. Noch ist der Schlachtlärm
nicht verstummt, aber fast auf der ganzen Linie
zeigt sich der Sieg der zweitgenannten, jüngern Richtung
hold. 1) Während die herrschende Meinung früher
annahm, es sei Hauptaufgabe des Richters, den sog.
Willen des Gesetzgebers zu eruieren, und wo dies
nicht möglich sei, da höre überhaupt die Rechtsanwendung
auf, ist sie nunmehr nach links gerückt, und huldigt,
ohne in einzelne subjektivistische Uebertreibungen
zu verfallen, einer freiem und fruchtbarem Auffassung,
die dem Richter eine höhere und würdigere Stellung
zuweist. Nicht zum wenigsten bildete den Anstoss
zu dieser Reformation das schweizerische Zivilgesetzbuch,
dessen technischer Aufbau in seiner alle Kasuistik vermeidenden
Kürze Hand in Hand geht mit einem ausgedehnten
freien Ermessen des Rechtsprechenden, und
dessen berühmter Art. 1 nicht bloss die Lücken des
gesetzten Rechtes offen zugibt, sondern auch die freie
Rechtsfindung auf festen Boden stellt. Welch grosse
praktische Bedeutung dieser Anerkennung der rechtschöpferischen
Kraft des Richteramtes inne wohnt, 2) darüber
gehen auch bei uns allmählig die Augen auf. 1)
Möge man aber auch in weitern Kreisen einsehen, dass
mit der gesteigerten Machtfülle des Richtertums nur
noch die Tüchtigsten hierfür gut genug sind, ein Postulat,
das allerdings mit der meist zurückgebliebenen
Kärglichkeit unserer Beamtenbesoldungen sehr wenig
in Harmonie steht.
Jedoch wir sind hier auf ein Gebiet geraten, dessen
nähere Erörterung wohl besser passt, wenn die Juristen
unter sich sind. Gemeinsam dagegen wird uns die
Frage interessieren, inwieweit neben der theoretischen
und praktischen Jurisprudenz das Laienelement als
Faktor der Rechtsfortbildung in Betracht fällt.
Für den Laien besteht, wie schon berührt wurde,
zunächst die Aufgabe, sich mit dem gesetzten Recht
insoweit vertraut zu machen, als dies zur Einrichtung
und sichern Führung seines Geschäfts- und Privatlebens
nötig erscheint, eine Aufgabe, die kaum unübersteigliche
Hindernisse bietet. 2) Allerdings gibt es nun einzelne
Gesetzespartien, die ziemlich abstrakt und daher wenig
anmutend gehalten sind, so z. B. im allgemeinen Teil
unseres Obligationenrechtes; aber zum Glück weisen
gerade solche Teile bei näherem Zusehen sozusagen nichts
andeies auf, als das was die Franzosen mit "raison
écrite" bezeichnen. Dem Geschäftsmann, der geschäftlich
korrekt handelt, werden diese Stellen nie gefährlich werden,
auch wenn er sich im Gesetz nicht auskennt, wogegen
ihm die Unkenntniss der gesetzlichen Formen und
Fristen zu grösstem Schaden gereichen kann.
Jedoch nicht bloss passiv, als scheuer Untertan
kommt der Laie mit dem Recht zusammen. Wenn auch
vor dem innersten Heiligtum desselben die Wissenschaft
und die juristische Praxis stehen, so sind dies doch
keine Erzengel mit dem Flammenschwert, bereit, jeden
Ungelehrten auszuschliessen. Vielmehr ist der Einfluss
und die Mitwirkung des Laienelementes bei der
Infunktionsetzung und Fortbildung des Privatrechtes
ein ganz gewaltiger. Um Ihnen dies klar
zu legen, möchte ich einige Punkte herausgreifen.
Im frühern namentlich auch im kantonalen Rechte,
herrschte grösstenteils die absolutistische Anschauung,
der Gesetzgeber habe die einzelnen Institute mit Rücksicht
auf die Lage der Mehrheit der Volksgenossen
einheitlich auszugestalten, ohne auf die abweichenden
Bedürfnisse einer Minderheit Rücksicht zu nehmen;
so z. B. duldete das altbernische Zivilgesetzbuch nur
das eine Ehegüterrechtssystem der Gütereinheit und
nahm zudem der Ehefrau fast jede Testierfreiheit. Das
moderne Zivilrecht dagegen (wenngleich es ohne viele
absolute Vorschriften nicht auskommen kann) steht
grundsätzlich auf dem Boden der Freiheit. Das Recht
des einzelnen, über seine wichtigsten Interessen frei
zu verfügen, wird in hohem Masse anerkannt, und damit
hat denn auch die Persönlichkeit gegenüber
früher bedeutend an Wert und Aktionskraft gewonnen.
Heute können sowohl Familienväter wie Familienmütter
über einen bestimmten Teil ihres Vermögens
frei testieren. Die freie Vereinsbildung, vielerorts
mühsam erkauft, ist uns etwas selbstverständliches, währenddem
die neu proklamierte Stiftungsfreiheit sich
in der westlichen Schweiz erst noch einleben muss.
Wer sein Gut verpfänden will, dem stellt das Gesetz
verschiedene Formen zur Verfügung; es nimmt damit
in Kauf, dass einzelne derselben in gewissen Gegenden
vielleicht gar nicht benutzt werden. Die Ehegatten sind
nach modernem Recht nicht mehr an einen einzigen
Güterstand gebunden, sie haben vielmehr die Wahl,
ihre vermögensrechtlichen Beziehungen sozusagen nach
Belieben einzurichten. Das deutsche BGB wie das
schweizerische ZGB haben die Güterverbindung als
ordentlichen Güterstand, als Normaltypus bezeichnet;
nichts hindert jedoch ein Ehepaar, einen andern Güterstand
vertraglich zu vereinbaren, nichts steht im Wege,
dass im Laufe von zehn Jahren die Gütertrennung bei
der Mehrheit der Ehepaare ohne jede Gesetzesänderung
eingeführt sein wird. Während sodann die Römer nur
ganz bestimmte Vertragstypen kannten und alle Abmachungen
schutzlos liessen, die nicht in das Modell
hineinpassten, haben wir heute das Prinzip der Vertragsfreiheit,
und dank desselben können sozusagen
alle schutzwürdigen menschlichen Verhältnisse rechtlich
festgelegt werden; nicht bloss die gegenwärtigen, auch
die zukünftigen, heute noch unausdenkbaren werden hier
ihr Unterkommen finden. Wie segensreich dies für die
Verankerung des künftigen Kulturfortschrittes
sein mag, wird einem erst klar, wenn man in die
frühern Zeiten zurückschaut. "Während" — wie der
Oesterreicher Joseph Ehrlich, eindrucksvoll sagt —1)"in
vergangenen Jahrhunderten jede neue gesellschaftliche
Einrichtung hart um ihr Dasein kämpfen, bei fremden
Gewalten, bei dem Richter, dem Juristen, dem Gesetzgeber
um Anerkennung und um die Entscheidungsnormen
betteln musste, die sie brauchte, um ihr Leben zu fristen,
gibt das moderne Recht in einem ungeheuren Umfange
neuen Lebensformen die Anerkennung im vornherein,
und überlässt es der Gesellschaft, selbst die Entscheidungsnormen
zu finden, die sie darauf angewendet
wissen will." So ist es denn auch heutzutage weder möglich,
noch zum Glück nötig, alles Recht, welches die
rasche Entwicklung innerhalb der Interessengruppen
hervorwachsen lässt, in Gesetzesform überzuführen. 1)
Verwandt mit dem Prinzip der Vertragsfreiheit ist
das Postulat der Formlosigkeit der Verträge.
Oft hört man klagen über den Formalismus der Juristen,
oft beschuldigt man sie, dass ihnen die Form
mehr gelte als das gute Recht. Mögen auch einzelne dieser
Klagen Grund haben, mag es auch richtig sein, dass
immer wieder einzelne Juristen in ihrer Berufstätigkeit
hinuntersinken von Jüngern der lebensfrischen Göttin
Justitia zu Knechten des verknöcherten St. Bureaukratius,
jedenfalls ist soviel sicher, dass man im Rechtsleben
ohne feste und starre Formen gar nicht auskommen
könnte. Wo Formen vorgesehen sind, geschieht
dies in der Regel zum Schutze gegen Uebervorteilung
und Uebereilung. Und vollends dem modernen Geld-
und Kreditwesen sind strenge Formen unentbehrlich. 2)
Hier ist die Form geradezu die Mutter der Freiheit, sie
erst schafft Sicherheit und rasche Dispositionsmöglichkeit.
Das Privatrecht hat mit seinen Formen Schritt für Schritt
die feste Basis geschaffen, auf Grund deren, —infolge der
vermehrten Verkäuflichkeit der Kapitalanlagen, — der
industriellen und landwirtschaftlichen Produktion immer
mehr Kapital zufloss, wodurch sie erst zur heutigen
Höhe aufsteigen konnte. 3) Also Formen müssen sein,
der Jurist hat sie zu handhaben, auch wenn sie demjenigen,
der sich nicht auf sie vorsieht, hie und da als
unnötige und harte Fesseln erscheinen; der Geschäftsmann
wird sich leicht mit ihnen abfinden und sich bald
ihre grossen Vorteile zu Nutzen ziehen.
Ganz anders verhält es sich nun mit der oft von
den Laien gegen die Juristen erhobenen Beschwerde,
dass sie auch da, wo keine Formvorschriften binden,
das Recht in formalistischer, rein mechanischer
Weise handhaben, und mit dem Buchstaben des Gesetzes
das gesunde Rechtsgefühl mit Füssen treten. Eine
schwerere Anklage gegen den Geist der Jurisprudenz hat
nie erhoben werden können. Und leider muss zugestanden
werden, dass es Perioden gab, wo der Pfeil des Vorwurfs
ins Schwarze oder wenigstens nicht weit daneben traf.
So in Deutschland nach der Reception, aber auch wieder
in einzelnen Abschnitten des 19. Jahrhunderts, indem
damals in der Wissenschaft die Anschauung herrschte,
man könne jedes Urteil durch rein logische oder philologische
Operationen aus dem Gesetz ableiten. Wenn
da ein Richter ein Wort von gesundem Menschenverstand
oder Billigkeitsgefühl in den Motiven einfliessen
liess, galt dies als unjuristisch und unfein. Da diese
Zustände einen gewissen Abglanz auch bei uns gefunden
haben. und da sie nicht allzufern zurückliegen, darf
sich die heutige Juristengeneration auch nicht zu sehr
beklagen, wenn die Sünden der Vorfahren immer noch
zu Unrecht auf ihr Konto gebucht werden. Dies um
so weniger, als heute noch gelegentlich einzelne Juristen
sich den Anschein geben, als ob ihre Wissenschaft turmhoch
über allem Menschlichen in einsamen Höhen trone;
so z. B. wenn ein Anwalt im Eifer des Plädoyers von
seiner Behauptung sagt: "Dies ist richtig vom Standpunkt
der Menschlichkeit und Vernunft, aber sogar vorn
juristischen Standpunk aus unanfechtbar".
In Tat und Wahrheit war jedoch die Zulassung
einer tiefen Kluft zwischen Gesetzeswort und
Ethik, zwischen Juristenrecht und Volksüberzeugung
eine vorübergehende Verirrung, ein Nebel, der
von der Sonne einer geläuterten Rechtsauffassung siegreich
hinweggefegt worden ist. Nicht etwa, dass die ältern
Juristen das Gesetz als eine niederstehende, rein menschliche
Ordnung aufgefasst hätten; im Gegenteil, die Rechtsordnung
galt ihnen als etwas Heiliges und Göttliches,
aber gerade darum glaubten sie der Heranziehung anderweitiger
Normen entbehren zu dürfen. Seither ist man
weniger einseitig, man ist praktischer, aber sogleich auch
feiner fühlend geworden. Nicht bloss die Doktrin anerkennt
nunmehr, dass Sitte und Anstand die ultima ratio legis
bilden, 1) sondern auch die Gesetzgebung ist von diesem
Gedanken durchtränkt. Unser ZGB proklamiert sozusagen
als obersten Grundsatz für Richter und Parteien,
dass sie Treu und Glauben im Rechtsleben zu wahren
haben. In zahlreichen Fällen stellt ferner das Gesetz auf
die Grundsätze der Billigkeit, der Sittlichkeit
und des anständigen Verkehrs ab. Damit werden
diese Grundsätze zu Rechtsregeln erhoben, wobei
wohl beachtet werden darf, dass sie zwar vom Juristen
für den einzelnen Fall festgestellt werden; aber nicht
er schafft sie, sondern er hat sie da aufzusuchen, wo
sie entspringen, im Volksbewusstsein und in der Verkehrssitte.
Immer mehr wird auch die hohe Bedeutung
derjenigen Rechtsregeln anerkannt, welche von autonomen
Kreisen und von der Handelswelt als Usancen und
in gewohnheitsrechtlicher Bildung geschaffen werden.
Die Entwicklung der Gesetzestechnik scheint sogar dahin
zu gehen, in dem Gesetze nur kurze, allgemeine Regeln
aufzustellen, und deren nähere Ausführung den autonomen
Festsetzungen der Interessengruppen oder aber
dem richterlichen Weisheitsrecht zu überlassen. 2)
Aber noch in einer andern ähnlichen Richtung hat
die Renaissance in der Jurisprudenz eingesetzt und
Wandel geschaffen. Bekanntlich operieren die Juristen
gerne mit termini technici und abstrakten Begriffen;
zum Teil ist dies beinahe unerlässlich, jedenfalls
muss man es ihnen zu gute halten; denn schliesslich
haben auch die Mediziner oder die Börsenleute, ja sogar
die Theologen ihren besondern Jargon. Nur besteht
bei den Juristen die grosse Gefahr, dass sie in ihren
Begriffen stecken bleiben, indem ihnen das Konkrete uninteressant
und gering erscheint, und dass sie die Lebensformen
auf grobschlächtige Art und Weise in ihre
Schemata einzuzwängen suchen. Gute Richter haben
jederzeit diese Gefahr zu vermeiden gewusst, dennoch
ist es von nicht zu unterschätzender Bedeutung, wenn
von kompetenter Seite 1) der Grundsatz ausgeprägt worden
ist, der Richter habe bei der Beurteilung der Rechtsgeschäfte,
insbesondere bei der Auslegung der Parteierklärungen
vom hohen Begriffskothurn herabzusteigen
und die Deutung nach dem Laienverstand vorzunehmen.
Aus alle dem wolle man entnehmen, dass das
Publikum und die Verkehrswelt heute einen viel
grössern Einfluss auf die Rechtsbildung und die Rechtssprechung
ausüben, als man im allgemeinen zu glauben
scheint. Durch die vermehrte Berücksichtigung der Laien
als Faktoren der Rechtsbildung ist zwar die Aufgabe
der Juristen keineswegs leichter geworden, wohl aber
dankbarer; sind sie doch in den Stand gesetzt, unter
ausdrücklicher Billigung des Gesetzes stetsfort für ihre
Entscheidungen neue Rechtsnormen am frischen Quell
des sittlichen und wirtschaftlichen Lebens ihres Volkes
schöpfen zu können.
Soviel über die Hauptträger der Rechtsfortbildung
Das Bild das wir uns von der Zukunft unseres
Privatrechtes machen wollen, wäre nun aber unvollständig,
wenn wir nicht zum Schlusse noch die Frage
ins Auge fassen würden: In welcher Richtung wird
sich die künftige Entwicklung bewegen, welches
sind ihre treibenden Kräfte und ihre absehbaren
Zielpunkte? Allerdings treten wir damit auf schweren
und heissen Boden, auf welchem nur Hypothesen gedeihen.
Dessenungeachtet werden wir uns doch nicht
bloss in vagen Prophezeiungen bewegen müssen, denn
einerseits haben wir gelernt, dem Werdegang der Geschichte
gewisse Gesetze der gesellschaftlichen Entwicklung
abzulauschen, anderseits können wir in der Gegenwart
eine Reihe von Mächten erkennen, von welchen
vernehmlich die Geschicke der Zukunft geflochten und
gewoben werden. Diese dunklen und hellen Machte
richtig einzuschätzen, sie einzudämmen, wo sie Unheil
drohen, ihnen freien Lauf zu lassen, wo sie zum Segen
gereichen, ist vor allem Aufgabe des Politikers. Allein
selten wird er hierbei der abklärenden und ordnenden
Mithilfe, sowie der von keiner Parteischablone befangenen
Kritik des Juristen entraten können.
Drei Richtungen, die teils nebeneinandergehen,
teils sich kreuzen, sind hier besonders beachtenswert,
einmal der Zug nach Differenzierung, nach ständischer
Gliederung des Rechtes; in zweiter Linie die
Richtung auf Ausbildung des Gegensatzes zwischen
staatlicher Organisation und Organisation
der Weltwirtschaft, und drittens die Tendenz nach
Internationalisierung des Rechtes.
Wenden wir uns vorab der erstgenannten Strömung
zu.
Unser heutiges Privatrecht ist seiner Natur nach
bürgerliches Recht; es fusst vornehmlich auf der Voraussetzung
ungefähr gleichartiger Verhältnisse der Bevölkerung,
und es fasst insbesondere die mittleren
Schichten ins Auge. Des fernern wird es von dem Bestreben
geleitet, eine möglichst grosse Zahl von Rechtssätzen
in einer Kodifikation zu vereinigen. Wohl ist
nun eine gute Kodifikation einem rocher de bronze vergleichbar,
der die Generationen überdauert und das
Verkehrswesen sogar dann zeitweise unter seine Vorschriften
zu zwingen vermag, wenn diese nicht mehr
ganz passen. Sofern jedoch die gesellschaftliche und
wirtschaftliche Entwicklung derart dem Gesetz voraneilt,
dass das Interesse grosser Berufsklassen gefährdet
erscheint, so werden dieselben regelmässig die
Ergänzung oder Abänderung der Kodifikation zu erwirken
vermögen. Das in Zukunft zu schaffende Recht
wird daher namentlich Spezialrecht einzelner Berufsgruppen,
wird Standesrecht sein. Dieses Wort
hat zwar seit der Revolution einen üblen Klang, dennoch
bedingt die steigende Differenzierung der Lebensverhältnisse
immer mehr eine teilweise ständisch gerichtete
Gliederung nach der besondern Rechtslage der
Bauern, der Arbeiter, der Gewerbsleute und der Handeltreibenden.
Man wird hier vielleicht die Forderung erwarten,
das kommende Recht habe vor allem sozial zu sein, 1)
oder wie man oft so schön (?) sagt, der künftige Gesetzgeber
müsse mit einem oder mehreren Tropfen sozialen
Oeles gesalbt sein. Jedoch wir wollen uns hüten,
diese Phrase nachzusprechen; denn schliesslich ist doch
alles moderne Recht, auch das private, seiner Natur nach
stets sozial, indem es selbstverständlich neben den
Individualinteressen auch die Interessen der Gesamtheit
berücksichtigt. Der richtige Kern der Forderung
eines sozialen Rechtes liegt wohl darin, dass die Gesetzgebung
den neu auftauchenden Bedürfnissen der wirtschaftlichen
Gruppen Rechnung zu tragen hat, dass
der Gesetzgeber stets wissen muss, wo die Leute "der
Schuh drückt". Ebenso darf man auch nicht in den
Glauben verfallen, dass eine Gesetzgebung in diesem
Sinne nur für die untern Klassen nötig sei; für Staat
und Volkswirtschaft sind alle Stände wichtig, und bei
allen kann die dringende Notwendigkeit auftauchen, für
die wirtschaftlichen Neugestaltungen neue Rechtsfundamente
zu schaffen.
Am wenigsten wird dies wohl in der nächsten
Zeit beim Bauernstand der Fall sein; wohl ist dessen
Lage nachgerade von den Schwankungen und Umgestaltungen
in der Weltwirtschaft keineswegs unabhängig.
Allein das ZGB hat in hohem Masse auf die bäuerlichen
Verhältnisse Rücksicht genommen, es stellt vor
allem Bauernrecht dar. Wenn auf zivilrechtlichem Boden
hier noch weiter gegangen werden soll, so ist es vielleicht
in der Richtung der vermehrten Beförderung der
geschlossenen Hofgüter, der Belastung mit Renten anstatt
mit Hypotheken und der Minoratserbfolge; letztere
war allerdings lange als veraltetes Institut verschrien,
allein die guten Erfahrungen die man mit ihr machte,
haben ihr u. a. die Fortexistenz in Art. 72 des bern.
E G gesichert.
In Bezug auf die Handwerker und kleinen
Gewerbsleute dürfte sich immer und immer wieder
die Notwendigkeit ergeben, ihnen durch gewerberechtliche
Massnahmen Ordnung und Schutz gegen unlautern
Wettbewerb und unsolide Erscheinungen zu verschaffen.
Nur nebenbei soll gesagt werden, dass in
diesen Kreisen oft eine Gläubigernot existiert, an welcher
unser übertrieben kompliziertes Schuldbetreibungs-
und Konkursrecht und dessen unpraktische Handhabung
nicht den geringsten Teil der Schuld trägt.
Am unabgeklärtesten ist jedenfalls die Frage,
wo hinaus es mit dem Spezialrecht des Arbeiterstandes
führen soll. Er hat schon seit längerer Zeit sein
privates Sonderrecht, insbesondere in der Haftpflichtgesetzgebung
besessen; bekanntlich jedoch ist diese
nunmehr durch das Unfallversicherungsgesetz in die
Materien des öffentlichen Rechtes versetzt worden. 1)
Zur Zeit tobt namentlich der Kampf um den Arbeitslohn
und die Arbeitsbedingungen. Aber auch hier werden
allmählig aus dem gegenwärtigen, in volkswirtschaftlicher
Beziehung so nachteiligen Chaos die Grundzüge
einer festen Abgrenzung und Ordnung aufwachsen.
Was sich als bleibendes Resultat aus der Entwicklung
und den Machtkämpfen ergeben wird, ist successive
in Rechtsform niederzuschlagen, so dass wir ein
Arbeitervertragsrecht erhalten werden, welches
weit systematischer und eingehender als das bisherige
auf die verschiedenartigen Arbeitsverhältnisse Rücksicht
zu nehmen vermag. 1) Gleichzeitig dürfte sich aber auch
das Bedürfniss zeigen, die einzelnen Arbeitsordnungen
der grossen Unternehmen, Verwaltungen und Berufsverbände
aus dem Range von bloss privaten Abmachungen
herauszunehmen und sie zu richtigen, autonomen
Rechtsnormen emporzuheben. 2) Bei einem
grossen Fabrikunternehmen z. B. ist nicht bloss die
Frage von Lohn und Arbeitszeit für den Konkurrenzkampf
von ausschlaggebender Bedeutung, sondern auch
die Stärke der innern Organisation, in welcher Disziplin,
Verantwortlichkeit und Kompetenzen eine genaue Regelung
zu erfahren haben. Einer derartigen Anerkennung
von autonomem Recht ist zwar die herrschende Auffassung
zuwider, allein seine Bildung ist stets bei solchen
herrschaftlichen Verbänden naturgemäss eingetreten;
der Staat wird demnach besser tun, sie zu kontrollieren,
als ihr gegenüber die Augen zu verschliessen. 3)
Neben der Industrie dürfte es vor allem der Handel
sein, der immer und immer wieder mit dem Begehren
auftreten muss, dass ihm neue Rechtsformen zur Verfügung
gestellt werden. Es wurde bereits berührt, dass der
Stand unseres Handelsrechtes momentan ein zurückgebliebener
ist, ein Mangel, der um so auffallender und
empfindlicher erscheint, als die Mehrheit der schweizerischen
Bevölkerung von Handel und Industrie abhängt.
Wohl wendet sich der richtige Kaufmann nur ungern an den
Richter, wohl hilft er sich, wo Gesetze fehlen, mit den
Usancen und mit fremden Vorbildern aus, aber schliesslich
bedarf kein Stand so sehr, wie der sich stets in Rechtsgeschäften
bewegende Handelsstand, eines sichern und
schneidigen Rechtes, das in klarer Form gefasst vorliegt.
Ebenso wird kein anderer Stand in die Lage kommen.
so oft die Revision oder Ergänzung der bisherigen Gesetze
verlangen zu müssen, weil die rasche Entwicklung
der Weltwirtschaft über dieselben hinausgewachsen
ist. Mit Rücksicht hierauf dürfte es als ein Fehler bezeichnet
werden, wenn man weiterhin das Spezialrecht
des Handels mit demjenigen des bürgerlichen Verkehres
im selben Kodex verquikt, wie wir Schweizer es bis
anhin im Gegensatz zu den andern Nationen gemacht
haben.
Fragt man sich, in welchen Materien hauptsächlich
auf die Fortbildung des Handelsrechtes tendiert
werden muss, so ist vor allem beachtenswert, dass
uns für viele Gesellschaftstypen, die im Ausland mit
Vorteil verwendet werden oder sogar bei uns eine grosse
Rolle spielen, die besondern gesetzlichen Formen fehlen,
so für die Kartelle und für manche der so verschiedenartigen
Beteiligungsverhältnisse der Neuzeit. 1) Wohl kann
man sich häufig mit den Instituten des bürgerlichen
Rechtes behelfen, aber hie und da sind diese ganz ungeeignet;
z. B. erscheint es ganz in der Ordnung, wenn der
Richter Konventionalstrafen, die im gewöhnlichen Verkehr
eingegangen worden sind, ermässigen darf; dagegen
ist schon die blosse Existenz des Ermässigungsrechtes
für den Aufbau höherer kaufmännischer Organisationsformen
das grösste Hemmnis. Des weitern fällt hier
das Recht der Aktiengesellschaften ins Auge; seit der
Schaffung unseres alten Obligationenrechtes sind sie riesig
angewachsen und so eigentlich die Hauptträger von Handel
und Industrie geworden. An ihrer richtigen Organisation
und an ihrer seriösen Führung sind nicht bloss die
Grosskapitalisten interessiert, sondern oft auch kleine
Leute, und vor allem die Industriearbeiter; denn wo die
Grossindustrie leidet, da geht auch der Arbeitsverdienst
zurück. 1) Es ergibt sich daher als dringende Notwendigkeit,
den innern Ausbau dieser so. wichtigen und mannigfaltigen
Korporationen zu erweitern, und gleichzeitig
dem Publikum vermehrten Schutz vor ihren Organen
zu gewähren. Wir haben in letzterer Hinsicht in den
vergangenen Jahren sehr wenig erfreuliche Erfahrungen
gesammelt, wobei sich leider die Waffen der Juristen als
betrübend stumpf erwiesen. In der Periode des Effektenkapitalismus,
in der wir stehen, wo alles, auch der Bauer
und Arbeiter mit dem Bankwesen in Berührung kommt,
ist auch die offen zu Tage liegende Rückständigkeit
unserer nur ganz embryonal vorhandenen Bank- und
Börsengesetzgebung sehr bedenklich. —
Fassen wir nun den zweiten von uns erwähnten
Punkt ins Auge. Wer klar in die Weltwirtschaft hineinsieht,
dem wird die Tatsache nicht entgehen, dass die
Welt von heute nicht mehr bloss von den staatlichen
Organisationen in Schranken gehalten und beherrscht
wird. Der Staat erscheint zwar mächtiger als je, tausend
Mittel und Hilfskräfte stehen ihm zu Gebote, die
den frühern Staatswesen fehlten. Und dennoch ist neben
ihm eine zweite machtvolle Organisation aufgewachsen,
die internationale Besitzesordnung, der Kapitalismus. 1)
Zum Teil stützt sich derselbe auf die staatlichen
Normen, insbesondere mit dem Handelsrecht ist er
eng verbunden, zum Teil aber ist er unabhängig vom
Staat und ihm gelegentlich an Kräften überlegen. Nehmen
sie z. B. an, in einem kleinen Kanton lasse sich
ein grosses gewerbliches Unternehmen nieder. Dieses
wird jedenfalls weit besser bezahlte und im Grund mächtigere
Leiter haben als der Kanton, und seine Angestellten
und Arbeiter sind in ihrer Existenz enger an dasselbe
geknüpft, als an die kantonale Organisation. Des fernern
ist auch der moderne Bürger nicht mehr wie früher
vollständig vorn Schutze seines Wohnsitzstaates abhängig;
er hat vielleicht Grundbesitz in Italien und
Effekten in London liegend; er kann sein Gewerbe leicht
dahin verlegen, wo ihm das Gedeihen winkt. Zahllos
sind die Niederlassungen ausländischer Geschäfte bei
uns, aber auch die Unternehmungen und Beteiligungen
schweizerischer Firmen im Ausland; denn das moderne
Geschäftsleben kennt die Grenzpfähle kaum mehr.
Die Existenz der internationalen Besitzesordnung
neben der staatlichen Organisation hat, wie alles auf
der Welt, ihre Licht- und Schattenseiten. 2) Unzweifelhaft
bildet das Vorhandensein der weitgehendsten
Handels- und Kreditbeziehungen unter den grossen Nationen
die beste Gewähr für den Weltfrieden, fester und
belastungsfähiger als alle Staatsverträge. Der Kapitalismus
sorgt sodann in ausgedehntem Masse für die Kolonisation
und Kultivierung zurückgebliebener Erdteile
und Staaten, indem er fast automatisch aus den gesättigten
Ländern das Geld dahin abfliessen lässt, wo der
grösste Gewinn winkt. Er fördert die Unternehmungslust
im grossen Stil und stellt aus ihren Früchten in
einer bisher ganz ungeahnten Weise die Mittel für die
Kunst und für humanitäre Anstalten zur Verfügung. Und
endlich darf auch zu Gunsten der internationalen Organisation
gesagt werden, :dass ihr als einem Horte der
individuellen Freiheit gegenüber der Staatsomnipotenz
die grösste Bedeutung zukommt; 1) der moderne Staat,
namentlich wenn er industrialisiert ist, tendiert oft in
einem für den Nichtsozialisten beinahe unerträglichen
Masse dahin, sich in alles und jedes zu mischen und
seine Untertanen nur noch als Glieder im Dienste seiner
Organisation aufzufassen; dass ihm hier eine Schranke
gesetzt ist, die ihn immer wieder auf seine Hauptaufgaben
zurückdrängt, muss als Wohltat empfunden werden,
ebenso wie im Mittelalter der Gegensatz zwischen
Kaiser und Papst die Leute davor bewahrte, der einen
oder der andern Macht bedingungslos ausgeliefert zu sein.
Es gibt Länder, in denen der Kapitalismus sich weit
mächtiger als der Staat erwies, und diesen zeitweise
in seine Abhängigkeit gebracht hat, so in der Union,
wo fast jeder Politiker als käuflich gilt und beinahe
jeder Jurist für die Kapitalorganisation arbeitet. Aber
auch da, wo die Dinge nicht so weit gediehen sind, kann
nicht bestritten werden, dass der internationale Kapitalismus
in gewissen, später noch näher zu skizzierenden Beziehungen
auf die staatlichen Institutionen zersetzend
wirkt, wodurch er den Widerspruch und die Gegenwehr der
Träger der Staatsidee herausfordert. Und insbesondere ist
es die Grosszahl unserer Juristen, welche sich im Widerstreit
der Gegensätze auf die Seite der Tradition und der
Staatsmacht stellt, sei es aus sachlichen Gründen, sei
es. aus persönlicher Neigung. Die signalisierte Koordination
zwischen der staatlichen Organisation und der
internationalen Besitzesordnung ist nämlich von grösstem
Einfluss auf die Stellung und Rangordung
der Juristen. Der moderne Staat ist am Beamtenstaat,
und daher sind naturgemäss hauptsächlich die Juristen
seine Lenker und Beherrscher. Allein, so ketzerisch dies
in einer Beamtenstadt und in einem eher agrarischen
Kanton klingen mag, so muss doch gesagt werden, dass
es mit der Alleinherrschaft der Juristen vorbei ist; je
mehr sich Handel und Industrie entwickeln, desto stärker
treten andere, inoffizielle Organe an die Spitzen der
gesellschaftlichen Ordnung. Immer mehr sind es die
Leute, welche den wirtschaftlichen Verbänden und den
grossen Geschäften und Betrieben vorstehen, denen der
grösste Einfluss. und die grösste Bedeutung zukommt,
die Fabrikanten, Grosskaufleute und Grossbankiers, Generaldirektoren
und Verbandssekretäre. Selbst der Staat
bringt dies zum Ausdruck, indem er in seinen Gehaltsansätzen
die Leiter seiner wichtigsten Gewerbebetriebe
allen voranstellt. Es war den Juristen möglich, den Staat
der Bauern und Handwerker zu beherrschen, im Land des
Handels und der Industrie müssen sie notgedrungen mit
dem zweiten Range vorlieb nehmen, wenngleich ihre
Zahl infolge der steigenden Spezialisierung der Arbeit
noch erheblich wachsen wird. Am weitesten werden
diejenigen Juristen kommen, die mit tüchtiger Fachkenntnis
organisatorische Energie und lebendiges Interesse am
Wirtschaftsleben verbinden.
Die heutigen Zustände haben im übrigen eine
gewisse Aehnlichkeit mit denen des frühern Mittelalters,
wo neben den Staatsorganen die Grundherren,
sowie ihre Vögte und Meier auftraten, und wo innerhalb
und sodann neben den staatlichen Verbänden die
Grundherrschaften aufwuchsen, die sich ihre eigene, selbstherrliche
Organisation gaben. Wie damals infolge der wirtschaftlichen
und politischen Verhältnisse der Mittelstand
sank und einzelne aus den untersten Klassen emporkamen,
so auch heute durch die industrielle Entwicklung.
Und wie damals die Feudalherren, so sind es heute die
grossen Unternehmer und Geschäftsleute, welche eine
neue, optimatische, höchste Schicht der sozialen Gliederung
bilden, unter ihnen die Direktoren und Ingenieure
als moderne Ministerialen. 1) Diese Erscheinung
ist trotz ihres gewissen Gegensatzes zur modernen Demokratie
keine unnatürliche, denn schliesslich
geht alle Neuschöpfung in der Kultur von aristokratischer
Schichtung aus, von einer auserwählten
Zahl heller und eiserner Köpfe. Zu einer Erstarrung
in dem Sinne, dass die sozial leitenden Stände zu Geburtsständen
werden, kann es nicht mehr kommen. 2)
Wohl ist das heutige Kapital unpersönlich und fällt,
im Widerspruch zur germanischen Auffassung, auch dem
Untüchtigen zu, dessen Hand nicht bewehrt ist zu seiner
richtigen Verwaltung; aber dank seiner Mobiliarisierung
ist das Vermögen auch ein viel unsicherer Besitz
geworden als früher, und fliesst schliesslich immer
wieder den starken Händen zu. Sodann sind wohl alle
Voraussetzungen vorhanden, dass den grossen untern
Schichten der wirtschaftlichen Organisation der Weg
zu einer befriedigenden Stellung innerhalb derselben
nicht so lange und mühevoll werde, wie den abhängigen
Bauern des Mittelalters; um so mehr als die Idee der
Solidarität in alle Kreise gedrungen ist, 3) nicht zum
wenigsten in die der grössten gewerblichen Unternehmer,
welche am ehesten für ausgedehnte Wohlfahrtseinrichtungen
und Beteiligung der Angestellten und Arbeiter in
Form von Aktien- oder Tantiemenverteilung zu haben sind.
Im übrigen dürfte allmählich auch den Arbeiterführern
die nötige Einsicht zugetraut werden, die Konkurrenzfähigkeit
der einheimischen Industrie im Kampfe mit der
auswärtigen nicht zu untergraben, wie es durch unnötige
Streiks und die Verbreitung der Tendenz auf ebenso
kurze wie schlechte Arbeitsleistung oft geschieht.
Wie hat sich die staatliche Gesetzgebung gegenüber
dem Anwachsen der internationalen Besitzesordnung
zu verhalten? Diejenigen Länder, die
sich dem Industrialismus und Kapitalismus entgegenstemmten,
und den privaten Unternehmungsgeist damit
lähmten, haben regelmässig den kürzern gezogen
und sich in ihrem Wachstum geschädigt. Ein Staat, der
sich auf das blosse Zuschauen beschränkt, wird jedenfalls
viele Missgriffe und unnötige Massnahmen vermeiden,
und eine gewisse Ausgleichung der Gegensätze innerhalb
der industriellen Organisation wird auch ohne sein Zutun
eintreten, 1) so früher in England. Namentlich wird
der passiv bleibende Staat es umgehen können, von
sich aus in die Besitzesordnung einzugreifen und damit
das Vertrauen auf die Festigkeit der Eigentumsverhältnisse
zu erschüttern. Man braucht sich deshalb noch
lange nicht auf den Standpunkt zu stellen, dass die heutige
Eigentumsordnung eine absolut richtige und unantastbare
sei. Zwar ist das Eigentum an produktiven
Werten seit dem Anfang der Kultur der festeste Mittelpunkt
der gesellschaftlichen Ordnung gewesen. Und dennoch,
wieviel Veränderungen und protheusartige Wandlungen
hat es schon durchgemacht, von dem gesamthänderischen
Gemeineigentum der germanischen Einwanderer
zu dem markgenossenschaftlich beschränkten
Besitz der mittelalterlichen Dörfler, hindurch wohl auch
durch die lehnrechtlichen Besitzesformen zu dem prinzipiell
unbeschränkten und unbelasteten Eigentum des
Naturrechtes und weiter zu dem mobiliarisierten und mechanisierten
Besitz von heute. Himmelweit ist die heutige
Eigentumsordnung von derjenigen des 15. oder
auch des Anfangs vom 19. Jahrhundert verschieden,
wenngleich dies in unserm jetzigen positiven Recht noch
nicht offen zu Tage tritt; 1) und namentlich darin zeigt
sich diese Verschiedenheit, dass die Mehrzahl der
produktiven Güter sich gar nicht mehr im Besitze
der Privatleute befinden; sie gehören dem Staat,
den Gemeinden, den Aktiengesellschaften, den Banken;
der einzelne ist vielfach an diesen Sachen nur indirekt,
auf dem Kreditweg interessiert; er kann das grösste
Vermögen in Aktien, Obligationen und Schuldbriefen
besitzen, ohne einen Schuh Boden, ohne irgend ein
Arbeitsgerät zu eigen zu haben. Eine neue Art von
Kollektiveigentum besteht also bereits in grösstem Massstab,
wenn auch dies selbst von der Jurisprudenz nicht
immer klar erkannt wird.
Noch ist diese Entwicklung im Fluss begriffen, und
typisch erscheint namentlich, dass Staat und Gemeinden in
steigendem Masse sich die Vorteile des Kapitalismus
zu eigen machen, indem sie selbst als grosse Unternehmer
auftreten oder sich — was meist praktischer sein
dürfte — bei formell privaten Unternehmen stark beteiligen.
Aber eben aus diesem Grunde ist es auch dem
modernen Staate versagt, in den Interessekämpfen zwischen
Kapital (resp. Unternehmertum) und Arbeit die
Rolle des uninteressierten Zuschauers zu spielen; der
Staat ist häufig auch selbst Partei seine zahllosen
Angestellten und Arbeiter fordern von ihm gleichwie
von einem privaten Unternehmer vorteilhaftere und
sicherere Arbeitsbedingungen. Sodann dürfte es für den
Staat auch ein Gebot der Selbstachtung sein, wenn er
sich da scharf zur Wehre setzt, wo die ethischen
oder ökonomischen Interessen der Bevölkerungsmehrheit
bedroht erscheinen, so durch internationale Monopolvereinigungen,
durch ausländische Finanzkombinationen,
welche einen politischen Druck ausüben, des weitern
durch den unnötigen .Bau von Bergbahnen, die unsere
schönsten Gegenden dem Moloch Fremdenindustrie opfern.
Das Hauptziel wird vorerst wohl darin liegen, ein
gewisses Gleichgewicht Gleichgewicht zwischen dem Staate und
der internationalen Besitzesorganisation aufrechtzuerhalten;
weiterzugehen und den selbständigen Versuch machen
zu wollen, den Kapitalismus unter die Vorherrschaft
des Staates zu zwingen, wäre für uns ein
zu gewagtes Experiment, das wir grössern und von der
Natur reicher ausgestatteten Staaten überlassen müssen.
Solange Kapitalismus und Industrialismus die Grundlagen
der Weltwirtschaft bilden, bedeutet ihre unnötige
Schwächung im eigenen Lande zugleich die Schwächung
der nationalen Wirtschaftskraft diese Gefahr heraufzubeschwören,
besteht kein Bedürfniss in einem kleinen
Exportstaat, wo die Trusts wenig Boden haben und
sozusagen unangreifbar sind, und wo über einen unlautern
Einfluss des Kapitalismus auf die Politik nicht
geklagt werden kann. —
In dritter und letzter Linie soll noch auf eine
hochinteressante Erscheinung hingewiesen werden, die
sich vorerst bloss beim Handels- und Verkehrsrecht zeigt,
und hier die Nachteile der ständischen und differenzierten
Rechtsbildung ausgleicht; es ist dies der Zug
nach Vereinheitlichung im internationalen
Rahmen, 1) nach Schaffung eines Welthandelsrechtes.
Schon seit geraumer Zeit sind hiezu Ansätze
im Frachtrecht und Markenrecht vorhanden, vor allem aber
macht das nächstens zur Einführung gelangende Weltwechselrecht
einen grossen Schritt in dieser Richtung,
und ihm werden sicherlich auch ähnliche Institute wie Checkrecht,
Musterrecht, Firmenrecht usw. folgen. Wir haben
keinen Grund, angesichts dieser Entwicklung wehmütig
zu werden; ist doch unser eigenes Handelsrecht weder
sehr originell, noch tief eingewurzelt, sondern schon
seiner Natur und Bestimmung nach international veranlagt.
Ein Anderes wäre es, wenn auch unser autochthones,
national gestaltetes Zivilrecht von der Bewegung
ergriffen werden sollte. Vorderhand ist nicht
die geringste Gefahr hierfür vorhanden; aber in unserer
Zeit erscheint auch das momentan unerwartete innerhalb
weniger Jahrzehnte als möglich, so z. B. die Bildung
eines engern Rechtsverbandes zwischen
den europäischen Staaten, unter Schaffung
eines gemeinsamen Zivilrechtes. Aber gerade hier
eröffnet sich die mit diesem Gedanken einigermassen
aussöhnende, ja in gewisser Hinsicht geradezu glänzende
Perspektive, dass das schweizerische Zivilgesetzbuch
nicht unwahrscheinlich zur Grundlage eines solchen
völkerverbindenden Kodex genommen werden
würde; dies dank seiner erwiesenen Tauglichkeit zur
Herrschaft über mehrere Volksstämme und dank seiner
in ganz Europa anerkannten hervorragenden Eigenschaften.
—
Wie ich zu hoffen wage, werden Sie alle die
Ueberzeugung teilen, dass das Privatrecht, wenn es
in einer grosszügigen Gesetzgebung gefasst vorliegt,
eines der wichtigsten Elemente des Friedens,
des Fortschrittes und der Gesittung bildet.
In diesem Sinne dürfen wir denn auch mit Stolz sagen:
wir sitzen hier in Bern im Mittelpunkt eines neu
geschaffenen Kulturkreises, der nicht bloss
unser Land umfasst, sondern seine Ausstrahlungen weit
hinaus sendet über die Grenze. Und ebenso können wir
uns rühmen, dass wohl bei keinem andern Volk bessere
Grundbedingungen Grundbedingungen vorhanden sind zur Lösung
des alten Problems, Gesetze und Menschen,
Juristen und Laien einander näher
zu rücken und ins richtige Verhältniss zu setzen. Mit
Freuden werden die schweizerischen Juristen an dieser
Aufgabe arbeiten, mit dem Leben und für das
Leben, aber gleichzeitig auch unentwegt den
Leitsternen einer verfeinerten Gerechtigkeit
einer vertieften Kultur und einer höhern
Ordnung entgegen.