Zur Geschichte der mathematischen Wissenschaften an
der ehemaligen Akademie und der Hochschule Bern.
(Rektoratsrede gehalten den 25. November 1905.)
In unserer «Geschichte der Mathematik und der Naturwissenschaften
in bernischen Landen 1)» ist wohl der Beweis erbracht
worden, dass die Regierung der alten Republik Bern,
wenn auch die Signatur ihrer Tätigkeit vorzugsweise eine administrative
und kriegerische war, doch ganz wohl in ihrer Wirksamkeit
für die geistige Kultur des Volkes den Vergleich mit
andern zeitgenössischen Staatswesen aushalten kann. Sie hatte
seit der Reformation und der Eroberung der Waadt auf ihrem
Gebiete für zwei höhere Bildungsanstalten, die Akademie
in Bern und die Akademie in Lausanne zu sorgen und während
für die erstere erst im Jahre 1738 die Errichtung einer mathematischen
Professur beschlossen wurde, zählte die Akademie
in Lausanne lange schon vorher in ihrem Lehrkörper Vertreter
dieses Faches, ja sie hatte gerade zu diesen Zeiten in Jean Pierre
de Crousaz (1663-1750) einen ausgezeichneten Mathematiker,
der 1721 schon von der Akademie der Wissenschaften in Paris
wegen seiner Arbeit: «Discussion sur le principe, la nature et
la communication du mouvement» als Erster mit dem Preis
Rouillé de Messay gekrönt worden war. Im gleichen Jahr
1721 erschien sein «Commentaire sur l'analyse des enfiniments
petits de Mr de l'Hôpital», ein Band von 320 S. mit 4 Figurentafeln.
Vor nicht ganz vier Dezennien war nämlich die Differenzialrechnung
von Leibniz entdeckt worden, da gibt Crousaz
an der Hand des Werkes von de l'Hôpital eine Erklärung
der unendlich kleinen Grössen, Anwendungen des Calculs auf
Kurven, Maxima und Minima, auf das Auffinden von Reflexions-
Rückkehrpunkten, er lehrt das Aufsuchen von Developpen, Kaustiken
bei Reflexion und Refraktion. Der berühmte Johannes J.
Bernoulli urteilte wohlwollend über das Werk. 1726 publizierte
Crousaz seinen «Traité d'algèbre», ein Werk, das Réaumur
gewidmet ist, 489 Seiten mit 2 Figurentafeln, in welchem sich
insbesondere eine wegen ihrer Klarheit gelobte Darlegung
imaginären Wurzeln findet. In Bern dachte man damals
erst daran, eine ausserordentliche Professur für Mathematik zu
errichten; damit wurde 1738 der Theologe Samuel Koenig
der ältere (1670-1750) betraut. Der Unterricht war noch ein
sehr beschränkter, las er doch bloss 6 Stunden wöchentlich, es
war eben eine Art Provisorium. Zwei Jahre vor seinem Tode
wurde die Errichtung einer ständigen mathematischen Professur
warm empfohlen 1) und trotz kleinlicher Bedenken und nichtiger
Einwände beschloss der Rat der CC., und zwar noch entgegen dem
Antrag des Schulrats, eine ordentliche mathem. Professur mit
Sitz und Stimme ihres Inhabers im Schulrat und unter Ausrichtung
einer Besoldung von 1000 W in baarem Gelde ohne
Säumen zu errichten. Man mass dieser Angelegenheit eine solche
Bedeutung zu, dass der grosse Rat sich vorbehielt, für jetzt
und in alle Zukunft diesen Professor selbst zu wählen,
ein Beschluss, der dann allerdings bald darauf zurückgenommen
wurde. Der damalige Schulrat setzte das Pensum des neuen
Professors wie folgt fest: Zwei Stunden wöchentlich sollten der
Arithmetik, den Proportionen und Progressionen, dem Quadrat-
und Kubikwurzelausziehen, dem algebr. und trigonometrischen
Logarithmieren gewidmet sein, weitere zwei Stunden wöchentlich
für theoretische und praktische Geometrie und endlich zwei dem
Geographieunterricht, alles in einem zweijährigen Kursus. Man
sieht, die Anforderungen waren bescheidene, denn dieses Pensum
enspricht heutzutage demjenigen bis und mit der Tertia eines
Gymnasiums. Weiter wurde bestimmt, dass jährlich in diesen
Fächern zweimalige Examina abgehalten werden sollten, und
endlich sollte später dieses Pensum durch 2 Stunden für
Mechanik und zwei Stunden für zivile und militär. Architektur
erweitert werden. Damals hätte man auch einen ausgezeichneten
Kandidaten für diesen Lehrstuhl in Samuel Koenig dem Jüngern 1)
(1712-1757) gehabt. Koenig, der Sohn des gewesenen Inhabers
der ausserordentlichen Professur, hatte im Auslande umfassenden
Studien obgelegen. Er war ein Schüler von Johannes I.
Bernoulli und Daniel Bernoulli, die beide grosse Stücke auf
ihn hielten. Durch den Mathematiker Hermann wurde er in die
Ideen Leibniz eingeführt, was von grosser Tragweite für sein
späteres Leben sein sollte; der berühmte Leibnizianer Christ.
Wolf in Marburg nahm ihn mit offenen Armen auf. Schon
1733 publizierte Koenig seine mathem. Erstlingsarbeiten, auf welche
auch L. Euler aufmerksam wurde. Er unterlag in der Bewerbung
um das philosophische Katheder in Lausanne dem in
sein Vaterland zurückgekehrten Crousaz und musste sich in Bern
als Anwalt niederlassen. Dann ging er auf Reisen, machte die
Bekanntschaft seines nachmaligen erbitterten Freundes Maupertuis
und wohnte bei der Marquise Du Châtelet, welche er
eifrig in die Theorie Leibniz einführte; Réaumur wurde sein
Freund und 28 Jahre alt ernannte ihn die Pariser Akademie
zum korresp. Mitgliede. 1741 nach Bern zurückgekehrt, bewarb
er sich um das freigewordene juridische Katheder in Lausanne,
wo er wieder trotz aller Anerkennung übergangen wurde. Man
sprach von ihm, als Nachfolger, als L. Euler seine Stellung in
Petersburg verliess, um nach Berlin zu gehen. 1741 publizierte
er: «Figur der Erden, bestimmt durch die Beobachtungen des
H. Maupertuis», ein Werk, in dem er noch die Untersuchungen
von Celsius über die Cassini'schen Messungen beifügte. Das
Werk war Friedrich II. gewidmet. Leider unterschrieb er in
Bern mit andern Burgern, namentlich Samuel Henzi, das bekannte
Memorial an den Rat; die Unterzeichner wurden verbannt,
Haller nahm sich aber Königs warm an und suchte ihm
eine astron. Professur in Berlin oder die Stellung eines Akademikers
in St. Petersburg zu verschaffen; Koenig entschied
sich jedoch für die Berufung an eine mathem.-philosoph. Professur
an der kleinen holländischen Universität zu Franecker.
Der Erbstatthalter Prinz Wilhelm IV. schätzte Koenig hoch,
nahm ihn auf seinen Reisen mit und berief ihn später an die
Ritterakademie im Haag und ernannte ihn zum Hofrat und Bibliothekar.
Aber alle seine Ehrenstellen hätte Samuel Koenig,
der mit allen Fasern seines Wesens an seinem Vaterlande hing,
hingegeben, wenn er in Bern an die mathem. Professur berufen
worden wäre. Der Rat beschloss aber, dass keine Kandidatur -
solcher Personen, die ausser Landes weilen,
in Betracht kommen dürfe, er war eben in Regierungskreisen
nicht persona grata, trotzdem er zur nämlichen Zeit Mitglied
der Königlichen Gesellschaft der Wissenschaften in Göttingen
und der Royal Society in London wurde. Die letzte Phase
seines Lebens ist ausgefüllt durch den Streit mit dem Präsidenten
der Berliner Akademie, mit Maupertuis über
das Prinzip der kleinsten Aktion. Maupertuis hatte dieses
Prinzip höchst unklar formuliert, ihm bleibt das negative Verdienst
dasselbe verdunkelt und trotzdem glaubte er eine grosse Entdeckung
gemacht zu haben. Das Prinzip blieb nicht unwidersprochen,
jedoch sollte der heftigste Gegner ihm in Koenig entstehen,
welcher ebenfalls Mitglied der Berliner Akademie geworden
war. Seine Zweifel an der Richtigkeit des Prinzips, wie es
Maupertuis ausgesprochen hatte, fasste Koenig in seiner Arbeit:
«De universalia principio aequilibri et motus» zusammen, welche
er den Leipziger Akten zur Publikation eingesandt hatte; er zog
aber die Arbeit zurück, um Maupertuis brieflich mitzuteilen, dass
er eine Schrift gegen seine Anschauung zu veröffentlichen gedenke,
ja er gab die Arbeit selbst Maupertuis zur Prüfung, der
dies aber ablehnte mit der Versicherung, dass auch eine Publikation
gegen seine Ansichten nichts an seinem Wohlwollen und
an seiner Anhänglichkeit für Koenig ändern werde. Diese 1751
erschienene Schrift eröffnete den heftigsten wissenschaftlichen -
Streit des XVIII. Jahrhunderts. Koenig bestreitet,
dass das Prinzip der kleinsten Aktion allgemein gültig
sei, und behauptet, Leibniz habe bereits schon eine umfassende
Theorie der Dynamik besessen. Zum Beweise dafür stützt er
sich auf einen bezüglichen Brief, den Leibniz 1708 an den Mathematiker
Hermann geschrieben habe. Die Schrift Koenigs war
ein Ereignis. Maupertuis glaubte sich um eine wichtige Entdeckung
gebracht und drehte die Sache so, wie wenn es sich
um einen Prioritätsstreit handeln würde, und wollte das Original
des Briefes sehen. Koenig konnte ihm aber nur eine Kopie desselben
senden, da das Original in den Händen des hochgelehrten
Samuel Henzi gewesen sei, der bekanntlich 1749 hingerichtet
worden war. Henzi war ein Bibliophile ersten Ranges, der eine
reichhaltige Bibliothek und mehr als 300 Mssbände hinterlassen
hat. Sein ganzer Nachlass wurde von der Regierung konfisziert.
Die Mssbände, unter welchen sich wahrscheinlich der Leibniz'sche
Originalbrief befand, wurden verbrannt. Alle Nachforschungen,
welche auf Betreiben der preussischen Regierung und Koenigs angestellt
wurden, hatten ein negatives Resultat. Hierauf machte
Maupertuis die Streitsache bei der Akademie anhängig, obgleich
Koenig alles versucht hatte, die Angelegenheit persönlich zwischen
Maupertuis und ihm zum Austrag zu bringen. Die Akademie fällte
1752 ihr Urteil «Jugement sur une lettre prétendue de M. Leibniz»
und erklärte, der Leibniz'sche Brief sei falsch und nur angefertigt
worden, um Maupertuis zu schaden oder den erhabenen
Leibniz noch mehr zu loben. Maupertuis verlangte, dass Koenig
ein «silence éternel» auferlegt werde, und tat Schritte «pour faire
taire cet homme-là», was der Erbstatthalter aber ablehnte, da
er Koenig zu lange kenne, um zu wissen, dass er keiner schlechten
Absichten fähig sei. Die ganze Gelehrtenwelt spaltete sich in
zwei Lager und trotzdem der grosse Euler sich auf die Seite
von Maupertuis gestellt hatte, war doch die Mehrheit der Gelehrten
für Koenig und gegen Maupertuis. Bartholmèss
sagt: «Si Maupertuis a gagné son procès devant l'académie, il
l'avait perdu devant l'Europe!» und der grosse Historiker Montucla
meint, es sei mehr eine Sache des amour-propre gewesen
«et l'amour-propre ne pardonne jamais!» Wenn dieser Streit
Koenig, dessen angegriffener Gesundheit das holländische Klima
sehr zusetzte, für eine Zeit lang munter und frisch machte, so
kam doch nachher die Reaktion, er starb am 21. August 1757.
Koenigs philosophische und mathematische Gelehrsamkeit war
ganz Europa bekannt und Bodmer nennt ihn den einzigen
Schweizer, der in Leibniz, algebraische Tiefen eingedrungen
sei. Die glänzendste Rechtfertigung fand aber Koenig am Ende
des vorigen Jahrhunderts. Am 28, Jan. 1892 hielt E. Du Bois-Reymond
als Vorsitzender der mathemat.-naturw. Klasse in
der öffentlichen Sitzung der Berliner Akademie zur Feier des
Geburtstages Friedrich II. und desjenigen des jetzigen Kaisers
und Königs die Festrede über Maupertuis. Er sagt über die
Einmischung der Akademie in den erwähnten Streit folgendes: 1)
«Nun geschah etwas ebenso Befremdliches wie Bedauerliches.
Die Akademie, von Maupertuis fortgerissen, setzt
sich zu Gericht in dieser Sache, in der sie doch auch zur
Partei gemacht war, und spricht am 13. April 1752 das
Urteil, «dass der von Koenig angeblich ans Licht gezogene
Brief Leibnizens an Hermann eine Fälschung sei, zu dem
Zwecke entweder Maupertuis zu schaden oder Leibnizens
Ruhm zu erhöhen.» Dann fährt er fort: «An diesem Urteil
hat allem Anschein nach Euler den grössten Anteil gehabt.
Nach ein hundert vierzig Jahren darf wohl
von dieser Stelle aus, von welcher es erging,
ohne die Pietät gegen unsere Vorgänger auf
diesen Sesseln zu verletzen, ausgesprochen
werden, dass sie bei dessen Fällung sich einer
schwer begreiflichen Übereilung schuldig gemacht
haben.» —
Der Sitzung wohnte der vorgeordnete Minister Graf Zedlitz-Trütschler
bei.
So steht das Andenken dieses expatriierten grossen
Berners fleckenlos da! Und diesen Mann hat man durch
jenen Beschluss des Rates von der Bewerbung um den mathemat..
Lehrstuhl ausgeschlossen und für die mit so grossen Erwartungen
errichtete Professur am 2. V. 1749 einen Niklaus
Blauner 2) (1713-1791) berufen, der im Gefühl seiner eigenen
Unzulänglichkeit zuerst einen zweijährigen Urlaub nehmen
musste, um in Paris und Turin seine Kenntnisse zu erweitern.
Sein Verdienst ist es zwar, dass ein Ratskredit von 1200 Thalern
gesprochen wurde, um physikal. Instrumente durch Vermittlung
des Physikers Abbé Nollet in Paris zu kaufen. Nach seiner
Rückkehr sollte Blauner wöchentlich eine Stunde Experimentalphysik
vortragen und alle 14 Tage ein Publice lesen, aber seinen
Stunden fehlten bald die Zuhörer, man musste die Studenten
förmlich zum Besuche seiner Vorlesungen verpflichten und zur
Überwachung des Besuchs einen Censor bestellen. Wie sein
mathemat. Unterricht, so war auch sein Geographieunterricht,
wir haben noch einige Vorlesungen von ihm, die Studenten wörtlich
notiert haben. Schon 1754 musste er sich verantworten, warum
er keine Zuhörer habe und sich durch Privatstunden Geld erwerbe
ja er scheint eine Zeitlang an der Akademie überhaupt
keine Vorlesungen mehr gehalten zu haben, da ihn der Kriegsrat
mit Kursen für Offiziere in Beschlag nahm. Es kam so
weit, dass die Frage erhoben wurde, ob denn seine Professur
von irgend welchem Nutzen für die studierende Jugend sei.
Mit seinem Ruf als physikalischer Experimentator war es schon
ein Jahr nach seiner eigentlichen Anstellung vorbei und so
stand 1784, als er auf seine Stelle resignierte, der mathematische
Lehrstuhl auf der untersten Stufe der Wertschätzung.
Wie Kollege Haag in seinem trefflichen Werke, Geschichte
der höh. Schule etc., richtig ausgeführt hat, ist es hauptsächlich
dem geistvollen Viktor von Bonstetten zu verdanken, dass am
14. Dez. 1785 als Nachfolger auf den mathem. Lehrstuhl Johann
Georg Tralles 1) von Hamburg (1763-1822) gewählt wurde,
ein junger Mann, der von Kästner und Lichtenberg warm
empfohlen war. Die Regierung behandelte Tralles bei seiner Anstellung
mit der ausgesuchtesten Freigebigkeit, das so lange vernachlässigte
physkal. Kabinet wurde auf seinen Vorschlag hin
mit neuen Instrumenten versehen. Er entfaltete denn auch sowohl
auf dem Katheder als auch ausserhalb des Lehrsaals eine
umfassende Tätigkeit, inspizierte und hob den math. Unterricht
der unteren Schule, drückte den Umbau des ehemaligen Bibliotheksaales
zum mathem.-physikal. Auditorium durch und publizierte
für den Gebrauch der Schulen ein «Lehrbuch der reinen
Mathematik 1788». Wir finden Tralles am 18. Dez. 1786 unter
den 7 Gründern der hiesigen naturforschenden Gesellschaft, ein
Kreis, in welchem er viele Vorträge hauptsächlich aus dem Gebiete
der Elektrizität hielt, besuchte er doch 1788 Aless. Volta
in Como. Dann fasste er, angeregt durch das Unternehmen des
Ratsherrn J. R. Meyer v. Aarau 1) die Schweiz in Relief darzustellen,
ein Unternehmen, dem wir die erste grössere Schweizerkarte
in 16 Blättern verdanken, den Plan, auch geodätisch und
kartographisch zu arbeiten. Er mass auf der Thuner Allmend eine
Basislinie, legte an dieselbe Dreiecke, berechnete Dreieckseiten
und Höhen und publizierte 1790 seine Resultate im Schriftchen
«Bestimmung der Höhen der bekannteren Berge des Kts. Bern».
Dieses Werklein enthält nicht nur ziemlich genaue Angaben über
die Höhen der Jungfrau, des Mönch und des Eigers etc., sondern
als Beilage ein Kärtchen, in welchem zum ersten Male, gestützt
auf Vermessungen, die richtige Lage des Thuner-
des Brienzersees angegeben wird; es bezeichnet dies
den Beginn der II. Periode in der schweizerischen Kartographie,
der Periode, wo trigonometrische Vermessungen aufkommen und
die alten Methoden allmählich verdrängt werden, das Werk
Tralles leitet so recht eigentlich die kartographische Uebergangsperiode
zur wissenschaftlichen Kartographie ein,
wie sie durch den Dufouratlas inauguriert worden ist. Tralles
trug sich mit dem Plan, mit Hülfe der ökonomischen Gesellschaft
des Kantons eine genaue geometrische Vermessung des
Kantons und die Herstellung einer Karte desselben in 6 Blättern
vorzunehmen. Ihm wurde die Leitung übertragen, er bestellte bei
Ramsden in London einen grossen Horizontalkreis und mass
mit Hülfe seiner Schüler Hassler und Trechsel auf dem
grossen Moos eine Basislinie an der Stelle, welche schon 1753
Micheli du Crest 2) vorgeschlagen hatte; an diese Basis wollte
er ein den ganzen damaligen Kanton bedeckendes Dreiecksnetz
anlegen; alles war im besten Zuge, um dem Kanton ein hervorragendes
Kartenwerk, das erste in seiner Art, zu verschaffen,
als die Stürme der Revolution hereinbrachen und die Arbeiten
lahm legten. Tralles wurde von der helvetischen Regierung
sodann nach Paris gesandt, um an der Feststellung der Fundamentaleinheiten
für die neuen Masse und Gewichte
mitzuwirken; in dieser Kommission spielte er bald vermöge seiner
Erfahrungen und seines Genie eine Hauptrolle; nachher hatte er
die Aufgabe, in der Schweiz selbst die Einführung der neuen
Masseinheiten vorzubereiten und durchzuführen; seine ausgezeichnete
Arbeit «Schriften, Masse und Gewichte betreffend» bildet
noch heute eine der gründlichsten Untersuchungen des metrischen
Systems. Während seiner Abwesenheit von Bern nörgelte man
an ihm herum, weil er sich der neuen Ordnung der Dinge angeschlossen
hatte, man verleidete ihm seine Stellung, mit seinen
alten ehemaligen Freunden überwarf er sich und so gab er 1803
seine Demission und siedelte nach Neuenburg über, wo er an
der Zihl eine neue Basis mass und sich der Hoffnung hingab,
man werde ihm die damals geplante Vermessung der Schweiz
übertragen, was dann aber die französische Regierung, deren
Mitwirkung notwendig war, ablehnte. Nachdem er noch mit
Jean-Frédéric Osterwald 1) die Grundlagen zu der 1806
erschienen «Carte de la principauté de Neuchâtel» aufgenommen
hatte, erhielt er 1801 einen Ruf nach Berlin als Professor und
Mitglied der Akademie, dem er dann auch Folge leistete. So
ging wieder für Bern und die Schweiz ein Mann verloren, der bei günstigeren
Zeiturnständen Grosses für das Land hätte wirken können.
Tralles starb am 18./19. Nov. 1822 in London, wohin er im Auftrage
der Akademie wegen eines Pendelapparates gereist war.
Er war ein Mann von ganz hervorragender mathematischer Begabung,
ausgerüstet mit Kenntnissen und praktischem Sinn, in
Fragen der Landesvermessung ein Bahnbrecher, massgebend für
die Untersuchungen der Refraktion, auch ist er lange Zeit allen
Schülern der Physik auf dem Gebiete der Aräometrie wegen des
nach ihm benannten Aräometers bekannt gewesen. Bern
kann sich glückwünschen. 17 Jahre lang diesen Mann als mathematischen
Lehrer besessen zu haben. Wenn auch sein Unterricht
über die Köpfe wegging und vielfach zu hoch war, so
haben doch seine Ideen bei uns Wurzel gefasst und vor Allem
hatte er zwei Schüler ausgebildet, welche von hoher Bedeutung
werden sollten; es sind dies
1) Rudolf Hassler 2) von Aarau, der als Chef der nordamerikanischen
Küstenvermessung Grossartiges leistete, und
2) Job. Friedrich Trechsel 1) von Burgdorf, der sein
Nachfolger auf dem Lehrstuhl wurde. Trechsel (1776-1849)
entstammte einem der ältesten Burgergeschlechter von Burgdorf,
kam 1781 zum Studium der Theologie nach Bern. Nach dem
Rate von Professor Ith wandte er sich der Mathematik zu; er
genoss den Unterricht bei Tralles, war Lehrer im Knabenwaisenhaus,
machte 1798 sein theolog. Staatsexamen und wurde kurze
Zeit nachher Pfarrer in Aubonne und Morges. Nach Bern zurückgekehrt,
gründete er mit Emanuel Zehnder eine wissenschaftliche
Lehranstalt zur Vorbereitung auf die akademischen Studien,
eine Anstalt, deren mathem. Unterricht Tralles sehr gelobt hat.
Infolge der Reorganisation der höhern Schulen wurde 1805 die
Lehranstalt überflüssig, Trechsel wurde mit der mathematischen
Professur an der Akademie betraut, ein anderer Schüler von
Tralles, Joh. Heinrich Beck, erhielt die Professur für Chemie und
Physik, und als Beck 1811 starb, wurde auf Trechsel die Professur
für Mathematik und Physik vereinigt. Schon im Jahre
1808 begann er das Vermessungswerk Tralles, fortzusetzen und
dann 1811 mit offiziellem Auftrag die Aufnahme des Kantons
vorzubereiten. Wir erhalten darüber Auskunft im Schriftchen:
«Nachricht von der 1811 angefangenen trigonom. Aufnahme des
Kantons Bern», eine Arbeit, die dann von J. J. Frey von
Knonau fortgesetzt wurde. Trechsel war Mitglied der I. und II.
eidgenössischen Kommission, welche unter W. H. Dufour die
Landesaufnahme vorzubereiten und die vorhandenen Materialien
zu sammeln hatte. Schon 1817 wurde er auch unter Oberst
Tulla Mitglied der I. Kommission für das grossartige Werk der
Juragewässerkorrektion, wo er die nötigen Nivellements- und Profilaufnahmen
leitete. Als eifriges Mitglied der bernischen und
der schweizerischen naturforschenden Gesellschaft kam er auch in
die metereolog. Kommission, wo er die korresp. Barometerbeobachtungen
bearbeitete und die Schrift publizierte: «Mittel- und
Hauptresultate aus den metereolog. Beobachtungen in Bern von
1826-1836». Schon 1812 war auf die Initiative der von Napoleon
in die Schweiz gesandten Ingenieure Henry und Delcros
auf der grossen Schanze, da wo jetzt das tellur. Observatorium
und phys. Institut steht, mit fremdem Gelde eine Bretterhütte
für astron. Beobachtungen errichtet worden, da man Bern als
Zentrum der trigonomischen Vermessung der Schweiz ansah.
Hier bestimmten Henry, Delcros und Trechsel zum ersten Male
mit ziemlicher Genauigkeit die geograph. Lage von Bern. Man
vergleiche die Schrift: «Observations astronomiques pour déterminer
la latitude de Berne, faites en 1812 par le colonel Henry,
le commandant Delcros et le Prof. Trechsel». Hier unterrichtete
Trechsel seine Schüler in der Astronomie, dann setzte er 1820
einen Neubau durch, bei welchem der Fixpunkt, für den man 1812
die Azimutalbeobachtungen gemacht hatte, genau festgehalten
wurde. Das Observatorium war für die damalige Zeit mit Instrumenten
ordentlich ausgerüstet und förderte Resultate zu Tage,
welche Trechsel in der Schrift: «Nachrichten von der in den
Jahren 1821 und 1822 in Bern errichteten Sternwarte» festlegte.
Bei der Umwandlung der Akademie in die Hochschule wurde
Trechsel trotz Anfeindungen zum ordentlichen Professor für
Mathematik und Physik gewählt. Die Hochschule 1) wurde Samstag
den 15. Nov. 1834 Morgens 9 Uhr mit einer Feier in der Hl.
Geistkirche eröffnet. Trechsel begann seine Tätigkeit an derselben
mit Vorlesungen über analyt. Geometrie, Differenzialrechnung
und spezielle Physik. Neben ihm unterrichtete Bernhard
Studer als ausserordentlicher Professor über Arithmetik, Algebra
und Geometrie, ausserordentlicher Professor Ernst Vollmar
über Elemente der Algebra und Geometrie mit Anwendungen
auf physikal. und mechan. Untersuchungen sowie über Reihen und
Funktionen veränderlicher Grössen, Major v. Sinner las über
die Anfangsgründe der Mathematik in Bezug auf militärische
Ballistik. Die Gründung der Hochschule fiel in jene Zeit, wo
die aufstrebenden technischen Wissenschaften sich dadurch Geltung
zu verschaffen suchten, dass überall technische Vorbereitungsanstalten
wie Realschulen, Gewerbeschulen etc. gegründet und
die technischen Wissenschaften im Unterricht der Hochschulen
Berücksichtigung verlangten, und wo man sich auch der Täuschung
hingab, dass die Hochschulen in ihrer bisherigen Einrichtung
auch diesen Studien genügen könnten. Es wurde damals auch dem
naturwissenschaftlichen Unterricht volle Aufmerksamkeit zugewendet.
Professor C. Brummer trug Chemie, Prof. Perty allgemeine
Naturgeschichte, Prof. B. Studer ausserdem noch Geognosie,
Dr. Wydler Organographie und Physiologie der Pflanzen,
Prof. Kasthofer schweiz. Forstwissenschaft vor. Wir sehen also,
wie gleich von Anfang an die Naturwissenschaften sich abgetrennt
hatten. B. Studer liess bald die Mathemathik fallen, später,
als Wild zum ersten Professor der Physik ernannt wurde, auch
die Physik und zog sich auf sein eigentliches Gebiet, die Geognosie
und Geologie, zurück, worin er ja Grosses leistete. Für Militärwissenschaften
wurde 1835/36 ein ausserordentlicher Professor
in der Person des Herrn Lohbauer angestellt, der eine Reihe
von Jahren diese Fächer mit Erfolg vortrug. Für Mathematik
kam ein tüchtiger Privatdozent B. Gerber; er und Vollmar
vertraten mit Erfolg die technischen Wissenschaften, so las Vollmar
über industrielle Mechanik, den Bau grosser Wasserwerke, über
die Festigkeit der Baumaterialien, über Kettenbrücken, Elemente
der Hydraulik, die Lehre von den Räderwerken etc. Gerber
brachte die darstellende Geometrie in Aufschwung und Trechsel
las speziell zur Ausbildung der ingenieure Hydrographie,
Nivellement, trigonometr. und barometrische Höhenmessung.
So sehen wir im Prinzip alle Abteilungen vorhanden,
welche später der eidgen. technischen Hochschule, dem
Polytechnikum, als Lehrplan zu Grunde gelegt wurden.
Ein junger Privatdozent, Dr. Gensler, beschäftigte sich mit der
höhern Analysis, ein anderer, H. Beck, las allgemeine Grössenlehre
oder Algebra und Arithmetik nach eigenem System. In der
Physik war 1837 eine neue Hilfskraft in der Person des in sein
Vaterland zurückgekehrten Prof. v. Tscharner entstanden, der
besonders über eine für damalige Zeit reiche Zahl von Instrumenten
verfügte. 1836 wurde Trechsel Dr. phil. honoris
causa den Hochschule. Vom Stand der exakten Wissenschaften
mag die akadem. Preisfrage pro 1842 Kenntnis geben: «Das
Parallelogramm der Kräfte, Beweis dafür, Kritik und Durchführung
dieses Prinzips als Grundlage der Statik und Dynamik.»
Trechsel begann aber allmählig die Beschwerden des Alters
zu fühlen, er wurde 1847 pensioniert und behielt bloss die Oberbibliothekarstelle
der Stadtbibliothek, die er schon lange inne
hatte, bei, bis er am 20. Nov. 1849 starb.
Die ordentliche Professur für Mathematik und Physik wurde
einige Zeit nicht mehr besetzt, es war aber schon Ersatz herangewachsen.
1845 habilitierte sich nämlich für Mathematik
Rudolf Wolf, seit 1839 Lehrer an der Realschule, und 1847/48
Ludwig Schläfli, ehemals Lehrer am Progymnasium in Thun.
und zwar der letztere direkt auf die Aufforderung der Erziehungs-Direktion
hin. Für Physik entstand zu gleicher Zeit ein geeigneter
Vertreter im jungen Herrn Brunner der heute noch als eifriger
Mann der Wissenschaft in Wien lebt und dem österreich. Staatswesen
als Telegraphendirektor die wertvollsten Dienste geleistet hat.
Wir finden den Einfluss Schlaefli's und Wolf's wohl schon bei
der Fassung der mathem. Preisfrage pro 1849: «Die Bewegung
zweier nach dem Gesetze der Schwere sich anziehender Punkte
von gegebenen Massenverhältnissen zu bestimmen, wenn für einen
gegebenen Zeitmoment ihre Orte und ihre Geschwindigkeiten
nach Grösse und Richtung sowie der konstante Fehler der Anziehung
gegeben sind. Erschöpfende Diskussion des Zusammenhanges
zwischen diesen gegebenen Constanten und den gewöhnlichen
Bahnelementen.»
Rudolf Wolf 1) (1816-1893) war ein Schüler Gräffe's in
Zürich, dann Raabe's, Mousson's und Eschmann's, er beteiligte
sich als Dritter mit Eschmann und Wild 1834 an der Nachmessung
der Basis auf dem grossen Moos, welche die Grundlage
des schweizerischen Dreiecknetzes bildet. Dann studierte er in
Wien bei Ettinghausen, Petzvall und Littrow, dann in
Berlin bei Encke, Dirchlet und Steiner, in Göttingen bei
Gauss und Stern, machte in Paris die Bekanntschaft von
Arago, Biot, Bernard und Sturm und wurde 1839 als Lehrer
der Mathematik an die Realschule in Bern berufen. Eines der
tätigsten Mitglieder der bernischen und schweiz. naturforschenden
Gesellschaft begründete er 1843 die Mitteilungen der naturforsch.
Gesellschaft, er vermehrte als Bibliothekar die Bibliothek, ordnete
das Archiv, legte eine Autographensammlung berühmter
Naturforscher an. Als Trechsel 1817 die Sternwarte abgab, übernahm
Wolf ihre Leitung. Es müssen damals patriarchalische
Zustände geherrscht haben. Der Erziehungsdirektor z. B. getraute
sich nicht, vom Regierungsrat zu verlangen, dass der Erlass aufgehoben
werde, wonach der Landjäger beim Aarbergertor verpflichtet
war, jeden Morgen das Tor des Sternwartgärtchens für
das Publikum zu öffnen. Wolf wurde nur ermächtigt, dem Landjäger
zu insinuieren, er möge das Oeffnen vergessen, was dieser
sich nicht zweimal sagen liess. Auf diese Weise hatte er erreicht,
dass das Territorium der Sternwarte wieder dem Publikum
abgeschlossen und die Beobachtungen ungehindert aufgenommen
werden konnten. Hier in dieser kleinen Sternwarte
führte Wolf seine Schüler in die praktische Astronomie ein, indem
er ihnen Instrumentenkunde, Astrognosie, Einleitung zum
Beobachten und Rechnen vortrug und Uebungen mit den Instrumenten
abhielt. Mehr als 60 Aufsätze «Nachrichten von der Sternwarte
Bern» finden sich von ihm, da er der Meinung Olbers
war: «Eine Beobachtung ist erst gerettet, wenn sie gedruckt ist.»
Wolf wurde 1854 mit L. Schlaefli zum ausserordentlichen Professor
der Mathematik ernannt, er verliess aber Bern schon im folgenden
Jahre, um einem Rufe an das neugegründete eidgen. Polytechnikum
Folge zu leisten, wo er die Professur der Astronomie
und dann die Direktion der neuerbauten Sternwarte bis zu seinem
am 6. Dez. 1893 erfolgten Tode behielt. Wir wollen aus der
Wirksamkeit dieses bedeutenden Mannes nur dasjenige erwähnen,
was er während seines Berner Aufenthaltes geleistet hat. Schon
in Bern hat er sich zum hervorragenden Kenner der Geschichte
der Mathematik, Astronomie und Naturwissenschaften ausgebildet,
davon zeugen seine zahlreichen Aufsätze und Arbeiten aus dieser
Zeit. Dann hat er mit den ihm zur Verfügung stehenden Instrumenten
und stets bewaffnet mit seinem kleinen Taschenfernrohr
seinen Namen bei der Untersuchung der Sonnenflecken für
alle Zeiten in die Annalen der Wissenschaften eingetragen. Lassen
wir hier einem kompetenten Kenner, Sigismund Günther, 1) das
Wort: «Wolf war wohl schon von Beginn der 40er Jahre einer der
eifrigsten Forscher auf diesem Felde. Er erkannte, dass die von
zwei verschiedenen Beobachtern vorgenommenen Fleckenzählungen
noch der so wichtigen Vergleichbarkeit ermangelten und führte
infolgedessen die seitdem dem Sonnenforscher so vertraut gewordenen
Relativzahlen ein. Der sehr einfach aufgebaute mathem.
Ausdruck nimmt in sich für jede einzelne Beobachtung die Anzahl
der wahrgenommenen Einzelsonnenflecken, die Anzahl der wahrgenommenen
Fleckengruppen und einen von der Eigenart des
verwendeten Instrumentes abhängigen Erfahrungsfehler auf. Diese
Relativzahlen konnten nun die in Frage stehende Periodizität
sicher stellen; gibt es eine solche, so muss sie sich dadurch
offenbaren, dass die Relativzahlen nach Verfluss eines gewissen
Zeitraumes immer in der gleichen Folge wiederkehren. Merkwürdigerweise
kam der unmittelbare Anstoss zur Aufdeckung
dieser Regelmässigkeit nicht von der Sonne selbst, sondern von
einer terrestrischen Erscheinung, die zu jener zunächst auch
nicht im entferntesten Abhängigkeitsverhältnis zu stehen schien.
Von 1845 an hatte Lamont in Bogenhausen den Tagesgang der
magnet. Deklinationsnadel aufmerksam verfolgt und gefunden,
dass die mittlere tägliche Bewegung der Nadel keine konstante
ist, sondern im Laufe des Jahres Verstärkungen und Verringerungen
ausgesetzt scheint. Eine ebenfalls beiläufig zehnjährige
Periode hielt er für das beste Mittel, die Veränderungen zutreffend
darzustellen, und ganz auf denselben Zeitraum verfiel
fast gleichzeitig Sabine, indem er die Eintrittszeiten der
magnetischen Störungen auf ihre chronologische Anordnung
prüfte. Da nun Wolf zu Beginn der 50er Jahre, als die
Resultate des deutschen und des britischen Forschers bekannt
wurden, mit sich bereits über die Periodizität der Fleckenwiederkehr
im Reinen war, so gab er dem glücklichen Gedanken
Raum, die Zahlenreihen von Lamont und Sabine
mit seinen eigenen zu vergleichen. In gleicher Zeit war
auch A. J. Gautier (1793-1883) in Genf auf den gleichen Gedanken
gekommen, beide machten ihre vorläufigen Mitteilungen
1852 in den betr. naturforsch. Gesellschaften von Bern und Genf'
völlig unabhängig von einander und nur mit einem Zeitunterschiede
von wenigen Tagen. Wolf griff jedoch mit der ganzen
Energie seiner Person die Sache in der grössten Allgemeinheit an,
indem er bei allen ältern Sonnenbeobachtern, mit Chr. Scheiner
1630 angefangen, das einschlägige Material zusammen suchte
und kritisch auf seine Verwendbarkeit für das ihm vorschwebende
Ziel prüfte. Die Periode der Sonnenfleckenhäufigkeit.
muss nach Wolf auf 11,111 Jahre angesetzt werden.
Seit dem Schlusse des Jahres 1852, in welchem dieses wichtige
Gesetz zuerst von Wolf der Oeffentlichkeit kundgegeben wurde,
hat Wolf in Bern und dann in Zürich kein Jahr vorübergehen
lassen ohne neue Daten zur Bekräftigung und Ausgestaltung seiner
Entdeckung meistens in den Astronomischen Mitteilungen
erscheinen zu lassen, und hat dann sein ganzes Vermögen beim
Tode 1893 diesen Zwecken gewidmet. Viele Forscher haben geholfen,
die Wolf'sche Theorie sicher zu stellen und heutzutage werden
kaum noch ernstliche Bedenken gegen das Vorhandensein dieser
11jährigen Sonnenfleckenperiode aufgebracht werden können,
wiewohl Wahrscheinlichkeitsgründe vorliegen, dass diese Periode
nicht die einzige ist und andere grosse Perioden sich überlagern.
Das wird die Zukunft noch festzustellen haben, denn dazu braucht
es vor allem Zeit. —Unzweideutig hat Bern mit der Uebersiedelung
Wolfs nach Zürich einen enormen Verlust erlitten; das sieht
man daran, was er für die Astronomie in Zürich getan hat.
Nicht vergessen sei ihm aber seine grosse Anhänglichkeit an
Bern, er hat in den 16 Jahren seines Wirkens in Bern treffliche
Schüler gebildet, die ihm ein bleibendes und dankbares Andenken
bewahrt haben.
Sein nur zwei Jahre älterer Genosse Ludwig Schläfli 1)
(1814-1895), gleichzeitig mit ihm 1854 zum ausserordentlichen
Professor der Mathematik ernannt, der 1872 zum Ordinarius
befördert wurde, war gleichfalls wie sein Vorgänger auf
dem Lehrstuhl von Burgdorf gebürtig. Ursprünglich studierte er
Theologie, aber schon während dieses Studiums trat eine eminente
Begabung für Mathematik hervor, er machte zwar das
theolog. Staatsexamen, wurde ordiniert, hat aber niemals als Pfarrer
geamtet, sondern nahm 1836 eine Lehrstelle der Mathematik
und Naturlehre an der Bürgerschule (Progymn.) in Thun an.
In seinen Studien war er Autodidakt, bis er mit Steiner,
Jakobi, Lejeune-Dirichlet 1843 einen Aufenthalt in Rom
machen und den Umgang dieser Mathematiker geniessen konnte,
ja Dirichlet unterrichtete ihn in Rom jeden Vormittag in der
Zahlentheorie. Nach Bern zurückgekehrt sehnte er sich bald
nach einem höhern Wirkungskreis, wurde 1817 Privatdozent mit
Aussicht auf Honorar und wirklich erhielt er 1848 das übliche
Dozentenhonorar mit 400 Fr. a. W. Mit dieser Besoldung musste
er sich bis zur Ernennung zum ausserordentlichen Professor begnügen,
wo seine Besoldung auf 1200 Fr. festgesetzt wurde. In
diesen Jahren hat Schlaefli eigentlich Not gelitten und wenn er
nicht die Liquidationsrechnungen der Nationalvorsichtskasse
bekommen hätte, so würde er kaum gewusst haben
sich durchzubringen. Er hatte es nicht gern, an diese Zeit erinnert
zu werden, und sprach nicht viel davon. 1863 wurde er
zum Ehrendoktor der Hochschule ernannt und wurde seine Besoldung
auf 1400 Fr. erhöht, 1872 auf 2000 Fr. mit der Beförderung
zum Ordinarius, 1873 wurde er mit 3000 Fr. honoriert
und eigentlich erst 1879 auf Betreiben seiner Schüler den
übrigen Ordinarien gleich gehalten! So schätzte man in Bern
diesen Gelehrten von Weltruf, der schon 1868 korresp. Mitglied
des Istituto Lombardo, der 1870 von der Berliner Akademie den
Steiner-Preis erhielt und der 1871 von der Gesellschaft der
Wissenschaften in Göttingen zum korresp. Mitglied ernannt worden
war. Die Reale Academia dei Lincei in Rom ernannte ihn 1883
zu ihrem Mitgliede. Allerdings machte die Regierung dann den
frühern Fehler dadurch wieder etwas gut, dass sie ihm von 1890
bis zu seinem Lebensende einen schönen Ruhegehalt ausrichtete.
Schlaefli starb am 20. März 1895, er hat bis in die letzten Tage seine
volle Geistesfrische behalten. Schlaefli hatte neben seiner genialen
mathemat. Begabung ein grossartiges Sprachentalent, griechisch,
latein, hebräisch, persisch, arabisch, syrisch, französisch, englisch
und italienisch handhabte er mit gleicher Fertigkeit und wenn er
auch nicht eine systematische Behandlung mathematischer Gegenstände
in Buchform herausgegeben hat, so ist doch die Zahl seiner
Beiträge in den bekanntesten mathematischen Zeitschriften der
modernen Zeit eine bedeutende. Seine Korrespondenz mit den
hervorragendsten Mathematikern seiner Zeit ist höchst interessant
und zum Teil schon publiziert (vergl. den Briefwechsel Steiner-Schlaefli,
Steiner-Cayley). Schlaefli's eminente Bedeutung liegt
sowohl auf dem Gebiete der Analysis, als auch der Geometrie,
hat es doch, wie C. F. Geiser sagte, seit Leonhard Euler keinen
Schweizer gegeben, der alle Gebiete der Mathematik in dieser
gleichmässigen Weise beherrscht und schöpferisch bearbeitet hat. In
der Handhabung des freien Integrationsweges war er ebenso
genial und erfinderisch wie in der Theorie der einzelnen
Funktionen. Seine Arbeiten über die Theorie der Gammafunktion,
der Bernoullischen Funktion und der Besselschen
Funktionen müssen stets als hervorragende Leistungen
angesehen werden. Die Verallgemeinerung der Theorie der
Kugelfunktionen, welche er als Programmarbeit der Hochschule
publiziert hat, wird noch auf Jahre hinaus massgebend
sein. Die Theorie der elliptischen Funktionen und der
Abel'schen Integrale sind von ihm nach eigenen Gesichtspunkten
und Methoden durchgeführt worden. Die erst 1901 publizierte
Arbeit, die schon 1852 fix und fertig vorhanden war und
nur wegen ihres Umfangs nicht von einem Fachjournal gedruckt
werden konnte, die Theorie der vielfachen Kontinuität,
eine Geometrie von n-Dimensionen hat heute noch ihre Bedeutung.
Er war es, der die singulären Punkte der cubischen Flächen
studiert, die 27 Geraden auf einer Fläche 3ten Grades
bestimmt, die Flächen selbst nach der Realität dieser Geraden
eingeteilt, die 36 Doppelsechs entdeckt, eine Funktion ist nach
ihm als Schlaefli'sche Funktion bezeichnet, die Doppelsechser
heissen die Schlaefli'schen Doppelsechs.
Schlaefli's Unterricht war ungemein tiefgründig, er stellte
aber grosse Anforderungen an die Fassungskraft seiner Zuhörer,
dabei war er der aufopferndste Lehrer und der Freund seiner
Schüler in und ausser dem Hörsaal, gewöhnlich fürs Leben.
Alle seine Schüler wären für ihn durchs Feuer gegangen. So
steht er noch vor uns, zwar ungelenk in der Person, doch voll
heiligen Feuers für die Förderung seiner Wissenschaft.
Es ist grosse Hoffnung vorhanden, dass seine vielfachen,
aber überall zerstreuten, gedruckten mathematischen Arbeiten
gesammelt herausgegeben und dass auch eine Auswahl seiner
ungedruckten auf der Landesbibliothek befindlichen Manuskripte
zur Veröffentlichung gelangen können.
Ludwig Schlaefli war ein mathematisches Genie: Solche sind
nach Zeit und Ort selten und sehr dünn gesät. Es muss, wenn
auch mit schwachen Kräften, in seinem Geist fortgewirkt werden.
Darum wurde mit Autorisation der Behörden ein mathematisches
und ein mathematisch-versicherungswissenschaftliches Seminar
gegründet und für beide eine Fachbibliothek angelegt.
Den Gang der Entwicklung des mathematischen Studiums an
der Akademie und der Hochschule zu verfolgen ist ausserordentlich
interessant schon deshalb, weil das anno 1749 gegründete mathematische
Katheder bis und mit Schlaefli in fast steter Folge nur vier
Vertreter gehabt hat, demnach scheint es eine ausserordentlich
konservierende Wirkung auf die Inhaber auszuüben. Aus dem
einen Lehrstuhl sind im Laufe der 150 Jahre mehrere Katheder
für das nämliche Fach geworden, die Physik hat sich schon seit
fast einem halben Jahrhundert abgetrennt, und der Staat sollte
die Mittel gewähren, dass auch die Astronomie zu ihrem Rechte
kommen kann. Auf dem betretenen Pfad muss fortgeschritten
werden und das Studium der Mathematik, dieser exaktesten der
exakten Wissenschaften, muss für alle, die sich dafür interessieren,
zu einem begehrten und fruchtbringenden gemacht werden.
Es ist dies zwar keine leichte Aufgabe. Möge sie stets zur
Förderung der Wissenschaft und zur Ehre unserer alma mater
bernensis und zu Nutz und Frommen unseres Vaterlandes gelöst
werden. —