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RUDOLF STEINER Zeitgeschichtliche Betrachtungen Band 1

Wege zu einer objektiven Urteilsbildung

Sieben Vorträge, gehalten in Dornach zwischen 4. Dezember und 18. Dezember 1916

RUDOLF STEINER VERLAG

Zu dieser Ausgabe

Entstehung

Der Wortlaut der Vorträge, die Rudolf Steiner den Mitgliedern der Anthroposophischen Gesellschaft um die Jahreswende 1916/1917 in Dornach gehalten hatte, blieben über Jahrzehnte einer weiteren Öffentlichkeit unbekannt. Rudolf Steiner hatte ja im Bewußtsein der aufgeheizten nationalen Emotionen und der damit verbundenen Gefahren für die Anthroposophische Gesellschaft das Mitschreiben der Vorträge ausdrücklich verboten und nur der offiziellen Stenographin, Helene Finckh-Rall, das Nachschreiben erlaubt. Trotzdem zirkulierten verschiedene Zusammenfassungen, die einzelne Mitglieder aus dem Gedächtnis angefertigt hatten und die natürlich nur einen unvollständigen Eindruck der Ausführungen Rudolf Steiners gaben. Die besonderen Umstände dieser Vorträge beschrieb Robert Friedenthal, einer der maßgebenden Herausgeber der Rudolf Steiner Nachlassverwaltung, in seinen Ausführungen vom 15. Oktober 1959:

Es hat mit diesen Vorträgen bekanntlich eine besondere Bewandtnis. Sie wurden von Dr. Steiner in einem kritischen Moment des Krieges gehalten, nämlich in dem Augenblick, als für die Einsichtigen der für Deutschland unglückliche Ausgang des Krieges offenbar wurde. Bis dahin hatte wohl auch Dr. Steiner gehofft, daß Deutschland das Schlimmste erspart bleiben könnte. Die Einsicht, daß es nunmehr unaufhaltsam der Katastrophe zutreibe, hat wohl bei ihm die innere Erschütterung hervorgerufen, die aus allen diesen Vorträgen so deutlich herausspricht.

Diese Einmaligkeit der Situation hatte Marie Steiner dazu bewogen, die Vorträge in den Jahren nach dem Tode Rudolf Steiners vorerst niemandem zugänglich zu machen. Robert Friedenthal in den erwähnten Ausführungen:

Dies beruhte, soviel ich weiß, auf einer ausdrücklichen Anweisung Dr. Steiners.

Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges sah sich Marie Steiner dann aber doch veranlaßt, eine Herausgabe dieser «Zeitgeschichtlichen Betrachtungen» ins Auge zu fassen. Einerseits gab es Anthroposophen, die sich intensiv mit zeitgeschichtlichen Fragen auseinandersetzten und gerne Kenntnis vom vollständigen Wortlaut gehabt hätten und sich auch bereit erklärten, an einer Herausgabe dieser Texte mitzuarbeiten, so zum Beispiel Otto Palmer jun., dem Marie Steiner am 25. Oktober 1948 schrieb:

Ihr unermüdliches Tasten nach den geschichtlichen Zusammenhängen in Verbindung mit der Mission Dr. Steiners beweist mir, daß Sie berufen



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sind, in der ersten Reihe daran mitzuarbeiten, denn es sind ja nicht viele von uns, die diese dringende Verpflichtung fühlen.

Und «diese dringende Verpflichtung» fühlte niemand so sehr wie Marie Steiner. Angesichts der Katastrophe eines zweiten Weltkriegs schien es ihr nicht mehr gerechtfertigt, die Ausführungen Rudolf Steiners in jedem Fall der Öffentlichkeit vorzuenthalten. So schrieb sie im Vorwort, mit dem sie schließlich die erste Herausgabe von Rudolf Steiners zeitgeschichtlichen Vorträgen begleitete:

Jetzt, wo eine neue Generation herangewachsen ist, dürfen wir mit der Bekanntgabe jener Vorträge Dr. Steiners nicht länger warten. Drei Jahrzehnte sind seitdem verflossen, ein zweiter, noch grausigerer Weltkrieg ist darüber hinweggegangen. Die jungen Menschen, die in eine neue Welt hineingestellt sind, haben ein Recht auf dasjenige, was als objektive Wissenschaft und Seelenbildung aus der Betrachtungsweise Dr. Steiners für die Menschheit erwächst. Es ist frappierend, wie das Bedeutsamste an dieser Betrachtungsweise nicht die einzelnen Ereignisse sind, sondern das Symptomatische, das ihnen innewohnt und uns die geistigen Zusammenhänge der Geschehnisse erschließt. Dadurch werden sie zum Keim einer neuen Geschichtsforschung. Diese aber läßt uns greifbar erleben das Hereinwirken geistiger Mächte, die sich unserer als ihrer Werkzeuge bedienen und uns in diesem historischen Moment hineindrängen in Situationen, durch welche wir, solches erkennend, auf unsere Reife hin geprüft werden. Neue Ich-Bewußtseinskräfte werden aus solchem Studium erstehen und der werdenden Generation die Gesundung bringen, derer sie so sehr bedarf



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Das große Paket [mit dem Manuskript der «Zeitgeschichtlichen Betrachtungen»] habe ich heute bekommen und die von Ihnen getroffene Anordnung scheint mir eine sehr gute. Auch das Titelblatt ist durchaus befriedigend. [.1 Ich bin mir sehr bewußt, daß diese Arbeit eine höchst mühsame war und daß Sie außerordentlich viel Sorgfalt daran gewendet haben und danke Ihnen bestens.

Von welcher Form der Veröffentlichung ging Marie Steiner aus? Abgesehen vom grundsätzlichen Entscheid über die Veröffentlichung war es ja vor allem die Frage nach der angemessenen Publikationsform, die die Herausgeber beschäftigte, hatte Rudolf Steiner doch den Inhalt seiner Vorträge auf die Zusammensetzung seiner damaligen Zuhörerschaft abgestimmt. Die große Frage war: Auf welche Weise ließ sich bei der Fülle von zeitbedingten Anspielungen ein Mißbrauch dieser Texte vermeiden? Roman Boos, der persönliche Sekretär Rudolf Steiners in Dornach von 1920 bis 1921, trat zum Beispiel nur für eine Veröffentlichung in Form von «Referaten» ein. Robert Friedenthal umriß am 30. August 1948 seine Sicht der Dinge im Brief an Marie Steiner:

In den letzten Wochen habe ich mir fast täglich die Frage nach der geeigneten Publikationsform vorgelegt und bin zu der festen Überzeugung gelangt, daß eine weitere Verbreitung dieser Vorträge in gedruckter Form im gegenwärtigen Moment nicht ratsam ist. [.1 Mir scheint das Wesentliche, die Vorträge in der jetzigen, noch immer zum Teil verstümmelten Form einem beschränkten Personenkreis in einer Vervielfältigung zugänglich zu machen -unter Vermeidung des Druckes, der in diesem Falle zu sehr die Gefahr unrechter Verwendung in sich schließt.

Was er genau damit meinte, schrieb er Jahre später in einem Entwurf für ein Vorwort, das den Vorträgen im Rahmen der ersten Buchausgabe vorangehen sollte und das auch in leicht abgeänderter Form gedruckt wurde:

Der Grund, warum hier stets eine gewisse Zurückhaltung geübt wurde, ist einleuchtend: Es handelt sich um aphoristische Äußerungen, gesprochen in einer Zeit größter politischer Spannung. Ein höchst umstrittener Gegenstand, nämlich die Frage der sogenannten Kriegsschuld, spielt in die Ausführungen hinein, ist aber keineswegs ihr Hauptthema. Immerhin mußte und muß mit Mißverständnissen gerechnet werden, denn die Frage, wer eigentlich am Krieg von 1914 «Schuld» habe, ist heute noch - 1966 Gegenstand scharfer Auseinandersetzungen.Vom 7. September 1948 an weilte Robert Friedenthal - er war von Marie Steiner mit der Verantwortung für die Herausgabe der «Zeitgeschichtlichen Betrachtungen» betraut worden - zu Besuch bei Marie Steiner in Beatenberg. In den folgenden Tagen wurden die Texte der «Zeitgeschichtlichen Betrachtungen» durchgegangen; Marie Steiners Sehkraft hatte stark nachgelassen,



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und Robert Friedenthal mußte ihr die Texte vorlesen und nach eingehender Diskussion die entsprechenden Korrekturen anbringen. In diesen Tagen entschied Marie Steiner auch endgültig über die Form der Veröffentlichung: Nur einem Kreis von wenigen Menschen, von denen man hoffte, sie würden keinen Mißbrauch damit treiben, sollten die Texte zugänglich gemacht werden. Die Vorträge sollten nicht in Buchform in den allgemeinen Verkauf gelangen, sondern in Form von zwei Heften mit hektographiertem Text Persönlichkeiten des Vertrauens unentgeltlich überreicht werden. Außerdem war eine Limitierung der Auflage auf 100 Exemplare vorgesehen. Aber es sollte noch fast ein Jahr dauern, bis das erste Heft erschien. In einem Zirkularschreiben von Anfang November 1949 kündigte Robert Friedenthal im Namen der Rudolf Steiner Nachlassverwaltung einem ausgewählten Kreis von Menschen das baldige Erscheinen der «Zeitgeschichtlichen Betrachtungen» an:

Die Rudolf Steiner Nachlassverwaltung hat eine Anzahl von Exemplaren eines noch von Frau Marie Steiner bearbeiteten Vortragszyklus' in Vervielfältigung herstellen lassen. Es handelt sich um die vor einem geschlossenen Kreis von Mitgliedern gehaltenen Dornacher Vorträge zwischen dem 4. Dezember 1916 und 15. Januar 1917. Ein gewisses Bekanntwerden dieser Vorträge wurde von Frau Dr. Steiner wegen ihres in vieler Beziehung wichtigen Inhaltes als dringend erachtet. Auf der anderen Seite erlauben die Nachschriften und der intime Charakter der Vorträge, die Dr. Steiner selbst am liebsten als gesprochenes Wort bewahrt hätte, keine größere Verbreitung. Der Zyklus soll daher nicht in den Verkauf gelangen, sondern einzelnen Persönlichkeiten zu treuen Händen in Verwahrung gegeben werden, denen es freigestellt sein wird, auch andere davon Kenntnis nehmen zu lassen.

Das Echo war groß und von überall trafen zustimmende Antworten ein. So antwortete zum Beispiel Ehrenfried Pfeiffer -ein Pionier anthroposophischer Forschungsmethodik in den Bereichen Chemie und Biologie -in seinem Brief vom 24. November 1949 aus Spring Valley in den Vereinigten Staaten:

Ich bin sehr dankbar, diese Vorträge sowie auch weitere zu haben -unter den dafür festgesetzten Bedingungen. Lassen Sie mich bitte Ihre Unkosten wissen, und ich will einen entsprechenden Betrag dafür überweisen.

Oder der anthroposophische Historiker Karl Heyer am 9. November 1949 aus Kreßbronn in Deutschland:

Ich sehe der in Aussicht gestellten Vervielfältigung in dem gemeinten Sinne selbstverständlich gern entgegen. Seit sehr langer Zeit habe ich den Wunsch, ihren Inhalt weit gründlicher zur Kenntnis nehmen zu können, als mir dies immerhin vor langen Jahren wenigstens teilweise schon möglich war.



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Es dauerte aber noch einige Zeit, bis schließlich das erste Manuskriptheft ab Ende November 1949 in die Hände der einzelnen Berechtigten gelangte. Bis zur Auslieferung des zweiten Heftes brauchte es dann noch einmal ein Jahr. Aber der Schritt in die Öffentlichkeit war damit endgültig getan.

(Fortsetzung in GA 173b)

Textgestalt

Textgrundlagen: Alle Vorträge wurden von Helene Finckh-Rall mitstenographiert. Die Stenogramme sind im Original im Rudolf Steiner Archiv vorhanden wie auch die Übertragungen in Langschrift, die ebenfalls von Frau Finckh vorgenommen wurden. Ihre Ausschriften wurden von Rudolf Steiner nicht durchgesehen. Insgesamt von sehr guter Qualität, weisen sie vereinzelt kleine Lücken auf, und verschiedentlich sind einzelne von Rudolf Steiner genannte Namen schwierig zu entziffern. Für die Neuauflage wurde der gesamte, bisher in der GA vorliegende Text mit der Nachschrift verglichen; in fraglichen Fällen wurde der stenographische Wortlaut beigezogen. Es wurde versucht, sich dem ursprünglichen Wortlaut möglichst stark zu nähern, ohne die Lesbarkeit des Textes zu erschweren. Die Hinweise auf verschiedene Veranstaltungen zu Beginn oder am Ende eines Vortrages wurden jeweils auch in den Text aufgenommen. Das Ergebnis dieser Bearbeitung ist ein weitgehend neuer Wortlaut.

Zeichnungen: Die Wandtafelzeichnungen sind nicht erhalten. Sie wurden von Sven Boenicke rekonstruiert auf der Grundlage der Skizzen in den Stenogrammen.

Titel: Der Gesamttitel für die Vortragsreihe stammt von den ersten Herausgebern. Die Untertitel wurden von den neuen Herausgebern festgelegt.

Textkorrekturen und Textvarianten: Weil der gesamte Text überarbeitet wurde, werden die Abweichungen im Vergleich zum bisherigen Text nicht im einzelnen nachgewiesen. Einzelne textliche Unklarheiten oder Lücken sind in den Hinweisen zu den entsprechenden Stellen vermerkt. Alle sinngemäßen Ergänzungen durch die Herausgeber sind mit [...]-Klammern gekennzeichnet.

Schreibweise: Die Orts- und Personennamen sind in dem der jeweiligen Sprache entsprechenden Wortlaut, aber stets in lateinischer Schrift wiedergegeben. Eine Ausnahme bilden gängige Ortsnamen sowie die Herrschernamen, die in verdeutschter Form verwendet werden. Meist wird jedoch auch auf die originale Schreibweise hingewiesen. Die Rechtschreibung in den Zitaten entspricht dem heutigen Gebrauch, mit Ausnahme der bibliographischen Titelangaben,



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die in der Regel in der damals gebräuchlichen Rechtschreibung angegeben werden.

Hinweise zum Text: Auch die Hinweise wurden vollständig neu bearbeitet. Die Herausgeber waren bestrebt, die von Rudolf Steiner benutzten Quellen in umfassendem Sinn nachzuweisen und seine Aussagen in den zeitlichen Gesamtkontext zu stellen. Angesichts der großen Fülle der zu belegenden Sachverhalte ist es trotz des geleisteten großen zeitlichen Aufwandes nicht zu vermeiden, daß die Hinweise weiterer Ergänzung und Korrektur bedürfen. Auch konnten viele Zusammenhänge aus Platzgründen nur angedeutet werden und bedürfen deshalb noch der vertiefenden Forschung.

Die Werke Rudolf Steiners werden in den Hinweisen mit der Bibliographie-Nummer der Gesamtausgabe (GA) angegeben. Die Übersetzungen von fremdsprachigen Zitaten ins Deutsche stammen, wo nicht anders vermerkt, von den Herausgebern. Bei Daten, die auf verschiedenen Kalender systemen beruhen, wird zuerst das heute gebräuchliche Datum, anschließend das nach dem alten System berechnete Datum angeführt.



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Hinweise zum Text

Zum Vortrag vom 4. Dezember 1916:

23 Wir werden ja dann am nächsten Sonnabend mit unseren fortlaufenden Betrachtungen weiterfahren: Wenn Rudolf Steiner in diesen Kriegsjahren in Dornach war, sprach er meist am Samstag- und Sonntagabend, öfters auch am Montagabend, zu den Mitgliedern. Die den «Zeitgeschichtlichen Betrachtungen» vorangehenden Ausführungen vom Juli bis November 1916 sind in Bänden GA 170, 171 und 172 zusammengefaßt. Am Schluß des Mitgliedervortrages vom 27. November (in GA 172), dem letzten den «Zeitgeschichtlichen Betrachtungen» vorangehenden Mitgliedervortrag, wird bereits eine Frage berührt, die in den nun folgenden Vorträgen eine wichtige Rolle spielen sollte: das gezielte, aus dem Hintergrund heraus operierende Wirken bestimmter okkulter Bruderschaften. So schloß Rudolf Steiner seinen Vortrag mit den Worten: «Es ist nicht gleich durchsichtig, aber es gibt ja namentlich zahlreiche Bruderschaften, welche auf diese Weise ihre Sonderzwekke erreichen wollen, und man erreicht mehr auf diese Weise, als man gewöhnlich glaubt. » Und er versprach: «Doch auch von diesen Dingen werden wir ja noch weiter sprechen. »Mit solchen im Verborgenen arbeitenden Gesellschaften rechnete auch der konservative Staatsmann und mehrfache britische Premierminister Benjamin Disraeli, Earl of Beaconsfield (1804-1881). In seiner Rede vom 20. September 1876 in Aylesbury sagte er, von der Kriegserklärung Serbiens an die Türkei im Jahre 1876 (siehe Hinweis zu 5. 66) ausgehend (zitiert nach: John Mill, The Ottomans in Europe, or Turkey in the present crisis, London 1876, Chapter VI, «Secret Societies»): «Serbien erklärte der Türkei den Krieg - das heißt, die Geheimgesellschaften Europas erklärten durch Serbien der Türkei den Krieg. Ich kann Ihnen versichern, meine Herren, daß bei der Bemühung, die Regierung über diese Welt zu führen, ganz andere Elemente zu berücksichtigen sind als jene, mit denen unsere Vorfahren zu tun hatten. Wir haben es nicht nur mit Herrschern, Prinzen und Ministern zu tun, sondern hier geht es um Geheimgesellschaften - ein Element, das wir ins Kalkül ziehen müssen -, die im letzten Moment alle unsere Vorkehrungen in Frage stellen könnten, die ihre Agenten überall haben, ruchlose Agenten, die zum Mord anstiften und notfalls auch ein Massaker hervorrufen könnten.» 1 Disraeli, aus einer reichen jüdischen Familie italienischer Herkunft stammend, war ein konservativer Politiker und überzeugter Imperialist; wie viele maßgebende britische Politiker gehörte er einer Freimaurerloge an.

Der große emotionale Widerhall, den der Vortrag Rudolf Steiners hervorrief, führte dazu, daß er von seinem ursprünglichen Vorhaben abrücken mußte und die «Zeitgeschichtlichen Betrachtungen» zeitlich viel mehr Raum einnahmen als ursprünglich geplant.



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23 Durch all die Auseinandersetzungen, die wir hier schon seit Jahren pflegen: Seinen ersten Mitgliedervortrag in Dornach hielt Rudolf Steiner am 7. Juni 1914 (in GA 286).

24 gerade in diesen Tagen: Am 21. November 1916 war Kaiser Franz Joseph von Österreich-Ungarn gestorben. Galt er aufgrund seiner Persönlichkeit als Garant für den Zusammenhalt des österreichisch-ungarischen Vielvölkerstaates, so war es völlig ungewiß, ob sein Nachfolger, Kaiser Karl I. (1887-1922), diese Aufgabe in gleichem Maße würde erfüllen können. In Großbritannien zeichnete sich in diesen Tagen ein Regierungswechsel ab. Die Regierung unter der Leitung von Herbert Henry Asquith (siehe Hinweis zu 5. 206) — zu der auch der langjährige Außenminister Sir Edward Grey gehörte - trat am 5. Dezember 1916 zurück, und am 7. Dezember 1916 wurde David Lloyd George (siehe Hinweis zu 5.258) zum neuen Premierminister ernannt; er hatte -obwohl auch der Liberalen Partei zugehörig - entschieden auf den Sturz von Asquith hingearbeitet. In der Folge bildete Lloyd George ein fünfköpfiges Kriegskabinett auf der Basis einer umfassenden Parteien-koalition. Dieser Regierungswechsel unterstrich den Willen Großbritanniens zu einer verschärften Fortsetzung der bisherigen Kriegsanstrengungen (siehe Hinweis zu 5. 133).Auf dem Kriegsschauplatz schien sich - nachdem sich ein Gleichgewicht der Kräfte zwischen den beiden Kriegsallianzen herausgebildet hatte - für die Mittelmächte eine günstige Wendung abzuzeichnen. Am 25. November 1916 überschritten die deutschen Truppen die Grenzen zu Rumänien. Rumänien hatte am 16. August 1916 —veranlaßt durch seine Gegnerschaft gegen Österreich-Ungarn und Bulgarien -mit den Ententemächten einen Bündnisvertrag geschlossen. Aufgrund dieser Konvention hatte Rumänien am 27. August 1916 Österreich-Ungarn den Krieg erklärt, worauf Deutschland am folgenden Tag den Kriegszustand mit Rumänien proklamierte. Den gleichen Schritt unternahmen am 31. August die Türkei und am 1. September 1916 Bulgarien. Der rumänische Vorstoß ins ungarische Siebenbürgen kam bald zum Stehen, da die Truppen der Mittelmächte von Süden her angriffen und in die rumänische Dobrudscha einfielen. Der Ende November 1916 einsetzenden Offensive der deutschen Truppen vermochte Rumänien, obwohl von russischen Truppen unterstützt, keinen wirksamen Widerstand entgegenzusetzen. Am 6. Dezember 1916 wurde Bukarest besetzt, und schließlich fiel ganz Rumänien mit Ausnahme der Moldau in die Hand der deutschen Truppen, die eine Militärverwaltung einrichteten. Die rumänische Regierung mit dem König an der Spitze zog sich nach Jassy (rumänisch Iasi) in die Moldau zurück.

Mit dem Fall von Bukarest hatten sich die Mittelmächte in den Besitz der fünften Entente-Hauptstadt gesetzt; von Truppen der Mittelmächte bereits erobert waren Brüssel (Belgien), Warschau (Polen), Belgrad (Serbien) und Cetinje (Montenegro). Dieser militärische Erfolg der Mittelmächte bildete den Hintergrund des deutschen Friedensangebots vom 12. Dezember 1916 (siehe Hinweis zu 5. 147).

24 Wir haben vor einigen Jahren gewissermaßen zu unserem Geleitspruch das Goethe'sche Wort gewählt: Dieses Motto steht auf der Titelseite des «Entwurfes der Grundsätze einer Anthroposophischen Gesellschaft» —der vorläufigen Statuten der Anthroposophischen Gesellschaft. Diese Grundsätze waren von Rudolf Steiner verfaßt und am 3. Februar 1913 von der ersten Generalversammlung der Mitglieder der Anthroposophischen Gesellschaft in Berlin zur Arbeitsgrundlage erklärt worden. Sie galten trotz ihres provisorischen Charakters bis 1923, dem Zeitpunkt der Neubegründung der Anthroposophischen Gesellschaft. Dem Motto liegt ein Satz Goethes aus den «Sprüchen in Prosa» (1. Abteilung, «Das Erkennen») zugrunde. Die «Sprüche in Prosa» sind im Band IV/2 der von Rudolf Steiner im



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25 katexochen: im eigentlichen Sinne

27 Mehr als zu irgendeiner Zeit erleben wir heute, daß gilt: Mephistopheles in «Faust. Erster Teil» (Studierzimmer, erste Schülerszene) von Johann Wolfgang von Goethe. Der genaue Wortlaut ist (Verse 1995 bis 2000): «Denn eben wo Begriffe fehlen, /da stellt ein Wort zur rechten Zeit sich ein. / Mit Worten läßt sich trefflich streiten, / mit Worten ein System bereiten, / an Worte läßt sich trefflich glauben, / von einem Wort läßt sich kein Iota rauben.»

27 So konnte ich in diesen Tagen auf Sätze stoßen: Es handelt sich um den Aufsatz «Kriegsphrasen» von Rosa Mayreder, der in zwei Teilen in der schweizerischen Monatsschrift «Internationale Rundschau» erschien (2. Jg. 13. und 14. Heft, 15. Oktober und 15. November 1916). Die von Rudolf Steiner verwendeten Zitate stehen im November-Heft der «Internationalen Rundschau». Die «Internationale Rundschau» erschien im Verlag «Art. Institut Orell Füssli», Zürich.

27 So neulich von Professor Kjellén: In seiner Schrift «Die Ideen von 1914. Eine weltgeschichtliche Perspektive» (Leipzig 1915) stellte der schwedische Staatswissenschafter und Politiker Rudolf Kjellén (1864-1922) fest (II. Kapitel, «Morgenröte»): «So glaubt noch heute die alte Menschheit in den Ideen von 1789 die gesamte Wahrheit zu erblicken. Sie kann nicht anders, denn sie hat Augen und Sinn der Seite der Wahrheit angepaßt, die aus der großen Krise des 18. Jahrhunderts hervorging. In Wirklichkeit ist diese allgemeine Ansicht ein Sklave einer so großen Einseitigkeit, wie sie die Geschichte kaum in irgendeinem Zeitalter gesehen hat. » Uber die beiden Kapitel seiner Schrift hatte Kjellén die Überschrift «Götterdämmerung» und «Morgenröte» gesetzt -entsprechend den Schlußzeilen seiner «Einleitung»: «So wird die Zeit mit ihren beiden Seiten nacheinander erscheinen wie Götterdämmerung und Morgenröte; das eine für die, welche noch auf 1789 zurückstarren, das andere für die, welche den Mut und die Kraft haben, jetzt vorwärts zu sehen. » Als die beiden neuen Hauptideen anstelle von Freiheit und Gleichheit bezeichnete Kjellén «Ordnung» und «Gerechtigkeit»; das mehr «seitwärts stehende» Ideal der Brüderlichkeit glaubte er durch die Idee der «Kindschaft in einem Vaterhause» ersetzen zu können.Kjellén bekleidete von 1916 bis zu seinem Tode den altehrwürdigen Posten des Professors Skytteanus für Politik und Rhetorik an der Universität Uppsala, nachdem er vorher seit 1901 an der Universität Göteborg als Professor für Geographie gelehrt hatte. Von 1905 bis 1908 und 1911 bis 1917 war als Vertreter der konservativen Richtung Mitglied des schwedischen Reichstags, zunächst der Zweiten Kammer («andra kammaren»), später der elitären Ersten Kammer («första kammaren»). Gegenüber den Bestrebungen von Rudolf Steiner zeigte er eine gewisse Sympathie. Aber Rudolf Steiner in seinem Vortrag vom 13. Mai 1917 in Stuttgart (in GA 174b): «Lassen Sie mich eine erfreulich-unerfreuliche Erfahrung anführen. Ein sonderbares Wort, nicht wahr, aber es ist schon so. Erfreulich deshalb, weil ich den Namen eines Mannes erwähnen muß, der sehr freundlich meiner Schrift <Gedanken während der Zeit des Krieges> [siehe Hinweis zu 5. 133] entgegengekommen ist, aus den nördlichen Ländern, ein Mensch, der gerne, soweit er kann, sich in die Welt hineinfindet -Kjellén, der Staatsforscher, der jetzt in Uppsala ist. Ich will nicht den Mann angreifen, nicht abkritisieren, sondern im Gegenteil, ich wähle dieses Beispiel, weil Kjellén einer unserer Freunde ist. Er hat nun ein interessantes Buch geschrieben in der letzten Zeit. <Der Staat als Lebensformen [Leipzig 1917]. Da will er darstellen, wie



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man eine gewisse tiefere Auffassung vom Staate haben könnte. Ja, da versucht nun Kjellén wiederum so eine Art Ansicht zu gewinnen, wie der Staat ein Organismus sein sollte. Für denjenigen, der nun diese Dinge durchschaut und der aus der geisteswissenschaftlichen Untersuchung heraus weiß, wie eine Staatswissenschaft, wenn es eine solche jetzt gäbe, aufgebaut werden müßte, damit sie fruchtbar werden könnte im praktischen Staatsleben, für den ist das Lesen des Kjellén'schen Buches, wenn man auch den Verfasser sehr gerne hat, geradezu eine Qual, eine richtige Qual. Warum? Ja, sehen Sie, Kjellén bringt es auch nicht weiter, als zu fragen: Wenn man nun den Staat als einen ganzen Organismus auffaßt, dann lebt der Mensch innerhalb des Staates. Was ist denn dann der Mensch? Es liegt nahe: eine Zelle! Also der Mensch ist eine Zelle des Staatsorganismus für Kjellén. Auf diesem Gedanken wird nun in dem Buche <Der Staat als Lebensformen viel von Kjellén aufgebaut. Der Mensch ist eine Zelle, wie wir die Zellen in uns haben, und der Staat ist der ganze Organismus, der durch seine verschiedenen Zellen sich organisiert.» Für Rudolf Steiner ist ein solcher Vergleich völlig falsch, denn: «In einem Organismus sind die Zellen nebeneinander, eine grenzt an die andere, und dadurch, daß sie aneinandergrenzen und damit eine Wirksamkeit haben, ist der Organismus ein Organismus. Das läßt sich schon auf das Zusammenwirken der Menschen im sogenannten Staatsorganismus nicht mehr anwenden. » Und trotzdem: «Ich empfehle Ihnen, lesen Sie das Buch, es ist ein repräsentatives Buch der jetzigen Zeit. Kaufen Sie es, und lesen Sie es, und empfinden Sie diese Qual, von der ich gesprochen habe. Es kommt mit dazu, daß einem der Gedanke herausspringt. Was darf man denn nun dem Organismus vergleichen, wenn man den Gedanken vom Organismus auf das soziale Leben der Menschheit anwenden will? Nur das Leben der Menschheit auf der ganzen Erde. Und die einzelnen Staaten darf man nur mit Zellen vergleichen. »

28 von einer alten Freundin von mir, von Rosa Mayreder: Mit Rosa Mayreder-Obermayer (1858-1938), einer österreichischen Malerin, Schriftstellerin und Frauenrechtlerin, pflegte Rudolf Steiner vor allem in den Jahren, in denen seine «Philosophie der Freiheit» Gestalt annahm, das heißt in der ersten Hälfte der neunziger Jahre des 19. Jahrhunderts, eine intensive geistige Freundschaft. Davon zeugen die zahlreichen Briefe zwischen den beiden (siehe GA 38 und 39). Rudolf Steiner in «Mein Lebensgang» (GA 28, IX. Kapitel): «Es war dies die Zeit, in der in meiner Seele sich meine <Philosophie der Freiheits in immer bestimmteren Formen ausgestaltete. Rosa Mayreder ist die Persönlichkeit, mit der ich über diese Formen am meisten in der Zeit des Entstehens meines Buches gesprochen habe. Sie hat einen Teil der innerlichen Einsamkeit, in der ich gelebt habe, von mir hinweggenommen. Sie strebte nach der Anschauung der unmittelbaren menschlichen Persönlichkeit, ich nach der Weltoffenbarung, welche diese Persönlichkeit auf dem Grunde der Seele durch das sich öffnende Geistesauge suchen kann. Zwischen beiden gab es manche Brücke. Und oft hat im weiteren Leben in dankbarster Erinnerung vor meinem Geiste das eine oder das andere Bild der Erlebnisse gestanden von der Art wie ein Gang durch die herrlichen Alpenwälder, auf dem Rosa Mayreder und ich über den wahren Sinn der menschlichen Freiheit sprachen. »Später, als Rudolf Steiner sich mit Theosophie und Anthroposophie auseinanderzusetzen begann, trennten sich ihre Wege. Rosa Mayreder schrieb in ihrem Manuskript «Mein Pantheon. Lebenserinnerungen» (Dornach 1988, Kapitel «Mein Pantheon»): «Seine Anschauungen über die Freiheit der Persönlichkeit stimmten völlig mit dem überein, was ich erstrebte, und er war es, der mir in seinen ersten philosophischen Schriften zu völliger Klarheit darüber verhalf Leider konnte ich auch ihn auf den Platz in meinem Pantheon, den er durch diese Schriften erwarb,



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nicht dauernd halten, denn nach einer Reihe vergeblicher Versuche, im profanen Leben seine Begabung zur Geltung zu bringen, schloß er sich selbst der theosophischen Bewegung an, wurde Adlatus der Annie Besant [siehe Hinweis zu S. 222 in GA 1 Wb]und schließlich Haupt einer Sekte, die sich vom Mutterstamm unter seiner Führung ablöste. » Neben den zahlreichen Briefen, die zwischen Rudolf Steiner und Rosa Mayreder gewechselt wurden (in GA 38 und 39), gibt es auch einen im Jahre 1900 erschienenen Aufsatz von Rudolf Steiner über das Werk von «Rosa Mayreder» (in GA 32).

31 daß in gewissen okkulten Bruderschaften des Westens: So zum Beispiel im Vortrag vom 18. März 1916 in München (in GA 174a), wo Rudolf Steiner sagt: «In solchen okkulten Orden sprach man seit vielen, vielen Jahren immer von jenem Kriege, in dem wir jetzt leben. Man malte diesen Krieg nicht etwa weniger schrecklich aus, als er sich jetzt vollzogen hat. Es ist nur ein naiver Glaube, daß dieser Krieg so hereingebrochen wäre, ohne daß ihn viele Menschen vorausgesehen hätten, als ob nicht viel geredet worden wäre über diesen Krieg.» Oder am 28. März 1916 in Berlin (in GA 167): «Das heißt, man lehrte überall den großen europäischen Krieg, der alles durcheinander bringen wird. »Der Ausbruch eines großen Krieges war in den Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg ein ständiges Thema. Auf der einen Seite war er Gegenstand von Prophezeiungen (siehe Hinweis zu 5. 237) oder fiktiven Kriegsschilderungen (siehe Hinweis zu 5. 239 in GA 173b), auf der andern Seite stand man in Europa mehrfach vor einem unmittelbaren Kriegsausbruch - zum Beispiel im Jahre 1888 als Folge der österreichisch-russischen Spannungen auf dem Balkan und des Wunsches von Frankreich nach Revanche oder im Jahre 1913 aufgrund des österreichischen Ultimatums an Serbien nach dem zweiten Balkankrieg (siehe Hinweis zu 5. 262 in GA 173b).

31 für mich nachweisbar in den neunziger Jahren: Anklänge an solche Vorstellungen finden sich zum Beispiel im zweiten Kapitel der Schrift von Charles George Harrison «The Transcendental Universe. Six Lectures on Occult Science, Theosophy and the Catholic Faith». Dieses Büchlein erschien erstmals 1894 in London, 1896 in zweiter Auflage. Rudolf Steiner benützte nicht die englische Originalausgabe, sondern die nicht immer bis in alle Einzelheiten exakte deutsche Übersetzung von Karl Graf zu Leiningen-Billigheim (1823 —1900). Diese war 1897 in Leipzig unter dem Titel «Das Transcendentale Weltenall. Sechs Vorträge über Geheimwissen, Theosophie und den katholischen Glauben» erschienen. 1918 wurde eine «autorisierte, zweite verbesserte Auflage» vom «Theosophischen Verlagshaus» in Leipzig herausgebracht. Wer der neue Herausgeber war, wird in dieser zweiten Auflage nicht genannt, aber sehr wahrscheinlich handelte es sich um Hugo Vollrath (siehe Hinweis zu 5. 163 in GA 173b), der ja auch die Werke von Max Heindel aus dem Englischen ins Deutsche übersetzte. Es ist möglich, daß Rudolf Steiner durch den österreichischen Theosophen Friedrich Eckstein (1861-1939) auf die Schrift von Harrison aufmerksam gemacht wurde. Eckstein war ein guter Kenner der okkulten Szene in Europa. Er war mit Karl Wenzeslaus Graf zu Leiningen-Billigheim (1823-1900) befreundet, der eine Zeitlang als bayrischer Gesandschaftssekretär in Wien weilte und ein überzeugter Theosoph war.Harrisons Schrift besteht aus einer Reihe von sechs Vorträgen, die er zu Beginn des Jahres 1893 vor einer kleinen Gruppe von Leuten gehalten hatte, die im Zusammenhang mit dem Oriel College der Universität Oxford standen und zur sogenannten «Berean Society» gehörten. Die Beröer (englisch «Bereans»), die Bewohner der Stadt Beröa (in Griechenland, heute Veria genannt), werden in der



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«Apostelgeschichte» als besonders schriftengläubige Leute geschildert (17,10-11, zitiert nach: Luther-Bibel von 1912). «Als sie [Paulus und Silas] dahin [nach Beröa]kamen, gingen sie in die Synagoge der Juden. Diese aber waren edler als die zu Thessaloniki; sie nahmen das Wort mit aller Bereitwilligkeit auf und forschten täglich in den Schriftent, ob sich's so verhielte.» Im Protestantismus nahmen besonders evangelikale Gruppierungen, die sich als besonders bibeltreu betrachteten, die Bezeichnung «Beröer» für sich in Anspruch. Im Fall von Harrisons «Berean Society» trifft diese Deutung jedoch nicht zu, handelt es sich doch um Menschen, die -bestrebt, die tieferen spirituellen Seiten des Christentums zu ergründen -mit dem okkulten Traditionsumfeld gut vertraut waren. Von besonderem Interesse war für sie die Frage nach der Bedeutung der theosophischen Weltanschauung. Dazu Harrison in seinem Vorwort über die «Berean Society»: «Es war dies ein Verein von Forschern in theoretischem Okkultismus, der seinen Namen von Apostelgeschichte XVII, 10-11 ableitete, welcher angemessen erachtet wurde, nicht so sehr die Wesenheit als die Richtung ihrer Forschung zu bezeichnen. » Es scheint klar zu sein, daß sie die von den Theosophen vertretene Idee der Wiederverkörperung ablehnten. Bei den Mitgliedern der «Berean Society» handelte sich um Leute aus dem Umkreis der anglikanischen Hochkirche, die sich als sogenannte «Anglo-Catholics» auf die katholische Tradition innerhalb der anglikanischen Hochkirche beriefen. Beim Anglo-Katholizismus handelt es sich um eine 1833 entstandene, von Oxford ausgehende innerkirchliche Reformbewegung. Der Förderung dieser Reformbestrebungen hatte sich auch die «Berean Society» verschrieben, die gegründet worden war, um jungen Menschen mit einer Beziehung zur katholischen Tradition die Ausbildung zu Geistlichen finanziell zu ermöglichen.

Uber Charles George Harrison (1855—unbekannt) ist biographisch nur wenig bekannt. Er war zum Zeitpunkt seiner Vorträge ein Senior Fellow am Oriel College in Oxford. 1894 war er laut Angaben in seiner späteren Schrift «The Fourth Mystery. Birth and Death» (London 1929) Präsident der «Berean Society». In dieser Spätschrift schrieb Harrison rückblickend: «Im Jahre 1894 veröffentlichte ich eine Reihe von Vorträgen, die ich vor der <Berean Society's, deren Präsident ich in jenem Jahr war, unter dem Titel «Das Transzendentale Weltenall» gehalten hatte. Beim erneuten Lesen im Jahre 1929 finde ich nichts Bedeutendes zu revidieren und wenig zu korrigieren, außer vielleicht ein oder zwei Details. Zweck dieser Vorträge war, einige falsche Lehren zu widerlegen, für die Madame Blavatsky in ihrem monumentalen Werk «Die Geheimlehre» (Band I und II, Band III ist wertlos) verantwortlich war. Es scheint, daß jenes okkulte Wissen, das Madame Blavatsky zweifellos hatte, mit ihr gestorben ist und die Theosophen der späteren Zeit hauptsächlich damit beschäftigt waren, aus seinen Einzelteilen imponierende Gebäude zu errichten, aber ohne über den okkult-wissenschaftlichen Mörtel zu verfügen, der erforderlich ist, um sie wirklich zusammenzufügen. »1 Laut Aussage von Robert Friedenthal will der nach England ausgewanderte Anthroposoph George Adams (Kaufmann) Harrison kurz vor dessen



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Tod in London besucht haben. Er soll in ärmlichen Verhältnissen in einer Dachkammer gelebt haben. Wer Adams auf Harrison aufmerksam gemacht haben könnte - dieser war ja in der anthroposophischen Bewegung ein völlig Unbekannter -, weiß man nicht; möglicherweise handelt es sich gemäß Günther Schubert um den dänischen Anthroposophen Carl Vett (1871-1956), der ein guter Kenner okkulter Gruppierungen und Strömungen war.

Auffällig ist, daß Rudolf Steiner in seinen Mitgliedervorträgen nie den Namen von Harrison erwähnt hat, obwohl eindeutig nachgewiesen werden kann, daß er seine Schrift gut kannte - die von ihm mit vielen Anstreichungen versehene deutsche Erstausgabe befindet sich in seiner Bibliothek - und deren Inhalte öfters darstellte. Das ist insofern außergewöhnlich, als er in der Regel die Quellen angibt, die er für seine Forschungen benutzte. Die Frage, warum er dies im Fall von Harrison nicht getan hat, ist nicht geklärt. Möglich ist, daß er Harrison zwar als guten Kenner der okkulten Szene schätzte, aber davon ausging, daß es sich in seinem Fall aber nicht um einen eigentlichen Okkultisten handelte. Die Frage bleibt, ob Rudolf Steiner die okkulte Szene, auf die sich Harrison bezog, auch kannte. Das kann durchaus angenommen werden, gab es doch englische Theosophen wie zum Beispiel Bertram Keightley (siehe Hinweis zu S.224 in GA 173c), der über die verschiedenen okkulten Strömungen in England gut im Bilde war und Rudolf Steiner anläßlich seiner Besuche in England entsprechend unterrichtet haben muß. Auch durch seine Bekanntschaft mit dem gelehrten Theosophen George Robert Stow Mead (1863-1933), der eine Zeitlang als Blavatskys Privatsekretär wirkte, muß Rudolf Steiner vieles über die Hintergründe der okkulten Szene in Großbritannien erfahren haben, ebenso aufgrund seiner Kontakte mit den Theosophen und Freimaurern Robert William Felkin (1853 —1926) und Harry Collison (1868-1945). Felkin war der Gründer der Nachfolgeorganisation «Stella Matutina», die sich 1903 vom Orden des «Golden Dawn» (siehe unten) abgespalten hatte, und Collison war seit der Konstitution der britischen Landesgesellschaft deren Generalsekretär.

In den achtziger und neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts gab es in England eine verhältnismäßig breite Strömung, die sich den Ideen des praktischen Okkultismus (siehe Hinweis zu 5. 75) aufgeschlossen zeigte. Die Vertreter dieser Richtung versuchten, sich ihre Erkenntnisse über die geistige Welt mit Hilfe von Medien zu verschaffen. Das galt zum Beispiel für die Anhänger des «Hermetic Order of the Golden Dawn» — eines rosenkreuzerisch inspirierten Ordens, der im Jahre 1888 begründet worden sein soll. Die Mitgliedschaft rekrutierte sich zum Teil aus der 1866 gegründeten «Societas Rosicruciana in Anglia» («S.R.I.A.») oder der 1875 ins Leben gerufenen «Theosophical Society» (siehe Hinweis zu S. 89 in GA 173b). Viele dieser Okkultisten standen auch in Verbindung mit der britischen Freimaurerei oder, was zunächst überraschend scheint, mit der anglikanischen Kirche. Hans-Dietrich Leuenberger in seinen «Biographische Skizzen» (zitiert nach: Israel Regardie, Das magische System des Golden Dawn, Freiburg i. Br. 1988, Anhang): «Bei Durchsicht der Mitgliederverzeichnisse des Golden Dawn fällt die relativ hohe Anzahl von Geistlichen der anglikanischen Kirche auf die dem Orden angehören - etwas, das auf dem Kontinent sicher nicht möglich gewesen wäre. » Prägende Persönlichkeiten des «Golden Dawn» waren zum Beispiel William Wynn Westcott (1848-1925) und Samuel Liddle (Mac Gregor) Mathers (1854-1918). Eine wichtige Rolle für die Arbeit spielten auch die beiden Medien Anna Kingsford (1846 —1888) und Moina Mathers-Bergson (1865-1928), die Schwester des Philosophen Henri Bergson (siehe Hinweis zu 5. 221), sowie Annie Hornimann (1860-1937), die die Arbeit des Ordens materiell unterstützte. Für all diese Zusammenhänge gilt, daß



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vieles in scheinbar phantastische Mythen gekleidet ist und deshalb, weil schwer faßbar, als wenig ernst zu nehmend eingestuft wird. Auf diese Weise ist aber das Mittel gegeben, versteckt in alle möglichen Zusammenhänge hineinzuwirken, ohne selber in Erscheinung treten zu müssen.

Viel klarer faßbar sind dagegen die für die Öffentlichkeit bestimmten Schriften und Aufsätze, in denen die von Harrison erwähnten historisch-politischen Vorstellungen vertreten werden. Solche Vorstellungen finden sich bei Leuten aus ganz verschiedenen politischen Lagern, wie zum Beispiel bei Brooks Adams (siehe Hinweis zu 5. 151), Sir Rowland Blennerhassett (siehe Hinweis zu 5. 101 in GA 173b) oder Charles Repington (siehe Hinweis zu 5. 224 in GA 173b).

31 daß dazumal die Schüler dieser okkulten Bruderschaften unterrichtet wurden durch Landkarten: Eine entsprechende Karte zeichnete Rudolf Steiner während seines Vortrages vom 14. Januar 1917 auf die Wandtafel (siehe Hinweis zu 5. 80 in GA 173c). Die Wandtafelzeichnung ist allerdings nicht mehr erhalten, sondern nur eine Skizze der Stenographin Helene Finckh (siehe: Anhang I, «Dokumente von der Hand Rudolf Steiners», «Karten zur Neugestaltung Europas», in GA 173c).Meist wird in diesem Zusammenhang auf eine Karte hingewiesen, die am 25. Dezember 1890 in der sogenannten «Christmas Number» der satirischen Zeitschrift «Truth» erschienen ist (siehe: Beilagentasche in GA 173c). In dieser Nummer wird ein Professor befragt, dem es gelingt, auf hypnotischem Wege die Träume des jungen, seit kurzem, das heißt seit Juni 1888, herrschenden deutschen Kaisers Wilhelm II. zu enthüllen. Der deutsche Kaiser, der seine Traumbilder in Versform beschreibt, sagt unter anderem: And then, to end my dreaming, An awful picture came: I saw the Kings of Europe Bowed down with age and shame, And heard them hoarsely cursing My fatal love of gore, As one by one they hobbled In through the workhouse door. Und schließlich, meinen Traum zu enden, Kam ein furchtbares Bild: Ich sah Europas Könige, Gebeugt von Alter und Schande, Und hörte sie mit rauher Stimme fluchen Meiner fatalen Lust am Blutvergießen, Während sie hintereinander humpelten Hinein durch die Tür ins Armenhaus. Then from the wall before me There slowly was unrolled A brand-new map of Europe, On which, in type of gold; I read how Kings and Kaisers Had wholly passed away, In the effulgent sunlight Of democratic day! Dann vor mir auf der Wand Wurde langsam entrollt Eine nagelneue Karte Europas, Auf der, in goldenen Buchstaben, Las ich, wie Könige und Kaiser Vollständig hingeschwunden waren Im strahlenden Tageslicht der Demokratie! Yes; sick at heart I studied That renovated map, With its allied Republics, The fruit of my mishap. And as «Potztausend Teufel!» From me in fury broke; Your summons, Truth, aroused me, And with a start I woke! Ja, mit wehem Herzen studierte ich Die erneuerte Karte Mit ihren vereinten Republiken, Die Frucht meines Fehlers. Und als ein wütendes «Potztausend Teufel» Sich mir im Zorn entrang, Riß mich Dein Ruf Wahrheit, aus dem Schlaf Und schreckerfüllt erwachte ich.



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Der Schilderung des Kaisers unter dem Titel «The Kaiser's Dream» ist eine kolorierte Illustration seiner Traumbilder beigegeben. Dort ist auch eine Landkarte von Europa mit den neuen Staatsgrenzen nach dem Krieg zu sehen.

Auf diese Karte machte in Deutschland erstmals Ludwig Müller (von Hausen) aufmerksam, der unter dem Pseudonym «Gottfried zur Beek» die Protokolle der Weisen von Zion veröffentlichte und dabei in einem Anhang diese Karte abdruckte. Der Titel seiner Schrift lautete «Die Geheimnisse der Weisen von Zion», und sie erschien 1919 in Berlin-Charlottenburg. Müller war deutschvölkisch gesinnt und sollte sich in der Folge als ein fanatischer Gegner Rudolf Steiners erweisen. Das Buch war also noch nicht erschienen, als Rudolf Steiner die angestrebte territoriale Neuordnung in Europa skizzierte.

In anthroposophischen Kreisen war es Arthur Graf von Polzer-Hoditz (siehe Hinweis zu 5. 50 in GA 173c), der auf diese Karte in der Weihnachtsnummer des «Truth» hinwies. In seinem Buch «Kaiser Karl. Aus der Geheimmappe seines Kabinettchefs» (Wien 1929) schrieb er in einer Anmerkung (Erstes Kapitel, «Österreich-Ungarn und seine Todeskrankheit»): «Ich abstrahiere von der Tatsache, daß die Zertrümmerung der Habsburgermonarchie seit langer Zeit beschlossene Sache jener Politiker war, die -beiläufig gesprochen - nach dem Zusammenbruch der Mittelmächte die Hauptrollen der Weltpolitik unter sich verteilten. Es sei hierbei verwiesen auf die Karte über die Aufteilung Europas, welche der Engländer Labouchère in der von ihm herausgegebenen satirischen Wochenschrift <Truths im Jahre 1890 also vierundzwanzig Jahre vor Ausbruch des Weltkriegs -veröffentlichte. Sie ist nahezu identisch mit der heutigen Karte Europas: Österreich ist als Monarchie verschwunden und hat einer Völkerbundsrepublik Platz gemacht; Böhmen ist in der beiläufigen Gestalt der Tschechoslowakei ein selbständiger Staat, Deutschland in seine heutigen engen Grenzen gezwängt und in republikanische Kleinstaaten aufgelöst. Uber dem Raum Rußlands steht das Wort <deserta Staaten für sozialistische Experimente. Das Programm hätte jedoch gewiß nicht so leicht verwirklicht werden können, wenn dessen Vorkämpfer nicht so willige, meist unbewußte Helfer unter den <Staatsmännern> Mitteleuropas gefunden hätten.» Es ist klar: Wenn Polzer-Hoditz den «russischen Raum als Ort für sozialistische Experimente» bezeichnete, so mischte er in seine Schilderung des Karteninhaltes eigene Deutungen bei, die sicher auf Gespräche mit seinem Bruder Ludwig Graf von Polzer-Hoditz (siehe Hinweis zu S. 280 in GA 173b) zurückgingen. Bemerkenswert ist, daß in der englischen Auflage seiner Erinnerungen, «The Emperor Karl» (London 1930), der Hinweis auf die Truth-Karte fehlt.

Ob Rudolf Steiner die Truth-Karte gekannt hat, ist unklar. Es ist zwar durchaus möglich, daß er -zum Beispiel von englischen Mitgliedern -auf diese Karte aufmerksam gemacht wurde. Auffallend ist aber, daß die von Rudolf Steiner stammenden Karten über eine künftige Gestaltung Europas -die Karte von 1917 aus den «Zeitgeschichtlichen Vorträgen» in ihren verschiedenen Versionen und jene von 1919 aus der Schrift von Karl Heise, «Entente-Freimaurerei und Weltkrieg» (siehe Anhang I, «Dokumente aus der Hand Rudolf Steiners», in GA 173c)—wesentlich von der Karte im «Truth» abweichen. Entscheidend war für ihn auf der einen Seite die Bildung einer Slawenföderation unter russischer Führung, mit Einschluß der Tschechen und Polen, sowie auf der anderen Seite die Schaffung einer Donau-Balkanföderation, bestehend aus den verschiedenen Balkanvölkern. Deutschland wird um die slawischen Gebiete verkleinert, aber um Deutsch-Österreich vergrößert. Aufgrund dieser Unterschiede ist sehr gut möglich, daß Rudolf Steiner noch ganz andere Karten kannte, die in bestimmten Kreisen der britischen Machtelite zirkulierten.

Wie weit Henry du Pré Labouchère (1831-1912), der Herausgeber des «Truth», ein Sprachrohr dieser Kreise war, ist schwierig auszumachen. Der Text und die Karte



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stammen jedenfalls mit Sicherheit nicht von ihm. Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung war er wieder sehr stark mit Tagespolitik beschäftigt - er arbeitete auf den Sturz der konservativen Regierung hin - und hatte nicht immer viel Zeit für seine Zeitschrift. Es ist durchaus möglich, daß eine andere Persönlichkeit im Hintergrund ihre Hand im Spiel hatte. Eine wichtige Stellung für den Kurs der Zeitung nahm zum Beispiel Horace Voulnes als Mitherausgeber ein. Im «Internationalen Freimaurer-Lexikon» von Eugen Lennhoff und Oskar Posner (München 1932) heißt es dazu (unter dem Stichwort «Bodung-Verlag - Des Kaisers Traum»): «Dieser politische Witz, gezeichnet von Sir E Carruthers Gould und mit einem Bänkelsängerlied von Dowty, erwies sich teilweise von verblüffender Prophetie. Dem Verlage Bodung blieb es vorbehalten, daraus Zusammenhänge mit der Freimaurerei zu finden, trotzdem feststeht, daß weder die beiden Obengenannten noch der Redakteur Voulnes jemals Freimaurer gewesen sind. » Tatsächlich hatte der antisemitisch orientierte «U. Bodung-Verlag» in Erfurt - er gehörte Ulrich Fleischhauer, Oberstleutnant a. D. — 1927 unter dem Titel «Des Kaisers Traum» den Text und das Bildmaterial aus der Weihnachtsnummer des «Truth» erneut veröffentlicht. Die Karte wird mit den Worten erklärt: «Ausschnitt aus der berühmten Landkarte der Eingeweihten (Drahtzieher) aus dem Jahre 1890».

Die Familie Labouchère war eine Hugenottenfamilie, die über die Niederlande nach England einwanderte und in dieser Zeit zu großem Reichtum gelangte. Labouchère genoß eine standesgemäße Erziehung in Eton und an der Universität Cambridge. Von seiner Familie für eine diplomatische Laufbahn bestimmt, versah er in den Jahren zwischen 1854 und 1864 verschiedene diplomatische Posten. Aber da er sich zu wenig angepaßt verhielt, wurde er aus dem diplomatischen Dienst entlassen. Labouchère entschied sich für die Politik und saß von 1864 bis 1906 — mit einer Unterbrechung von zwölf Jahren in der Zeit zwischen 1868 und 1880 — im britischen Unterhaus. Er stand der radikalen Richtung innerhalb der Liberalen Partei nahe, aber da er über viele Feinde verfügte, gelang ihm nie der Eintritt in die britische Regierung. Besonders groß war seine Enttäuschung, als er 1892 — trotz seiner Beziehung zu William Ewart Gladstone (siehe Hinweis zu S. 129 in GA 173b), dem neuen Premierminister -keinen Kabinettsposten erhielt; der neue Außenminister, Archibald Primrose, Earl of Rosebery (siehe Hinweis zu S. 134) wußte seine Ernennung zu hintertreiben. 1906, als er wieder übergangen wurde, zog er sich aus dem politischen Leben zurück. Diese Zurücksetzung Labouchères mag auch damit zusammengehangen haben, daß er ein Anhänger eines «Little England» und damit ein Gegner eines weltumspannenden britischen Empire war, wie es die Mitglieder der von Rosebery gegründeten «Liberal League» (siehe Hinweis zu 5. 134) anstrebten. Für ihn standen vor allem politische und soziale Reformen im Innern im Vordergrund. Diese Grundhaltung Labouchères spricht nicht unbedingt dafür, in ihm einen Hauptexponenten eines britischen Weltherrschaftsstrebens zu sehen.

In den zwölf Jahren, wo Labouchère sich von der Politik fernhielt, betätigte sich Labouchère mit großem Erfolg als Journalist. In diese Zeit fällt auch die Gründung der satirischen Zeitschrift «Truth». 1876 wurde mit den Vorbereitungen begonnen, und 1877 erschien die erste Nummer. Schnell fand sie ein großes Lesepublikum und entwickelte sich zu einem finanziell erfolgreichen Unternehmen. Diesen Erfolg hatte Labouchère zu einem Großteil seinem Partner Horace Voulnes zu verdanken. Labouchère benutzte seine Zeitschrift als große öffentliche Plattform, die seiner Stimme im Parlament großes Gewicht verlieh. Die angriffige Sprache seines Wochenblatts brachten Labouchère viele Verleumdungsklagen ein. Labouchères Zeitschrift überlebte ihn um viele Jahre; sie konnte sich bis 1957 halten.



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31 Nun rechneten diese okkulten Bruderschaften und alles, was sich an sie angliederte, durchaus auf große Umwälzungen: Solche Gedanken finden sich zum Beispiel in der bereits erwähnten Schrift von Harrison, der auf Vorstellungen über die künftige politische Gestaltung nach dem nächsten großen europäischen Krieg und über das Schicksal der sechsten -slawisch geprägten - «Unterrasse» hinweist. Harrison schreibt (II. Vortrag, zitiert nach der deutschen Ausgabe von 1897): «Wenden wir uns dem slawischen Volke zu, welches der sechsten arischen Unterrasse angehört, und was finden wir? Ein mächtiges Reich, das unter einer despotischen Regierung eine Anzahl örtlicher Gemeinden zusammenhält -Rußland. Die Überbleibsel eines Königreichs - Polens -, dessen einzige Kraft des Zusammenhanges in seiner Religion liegt und welches trotz derselben schließlich wieder in das russische Reich einbezogen werden wird. Eine Reihe von Volksstämmen, von den fremden Türken unterdrückt, haben das Joch abgeschüttelt und sind künstlich zu kleinen Staaten befestigt worden, deren Unabhängigkeit bis zum nächsten europäischen Krieg und nicht länger dauern wird. »1 Diese Vorstellungen, die von einer großen Bedeutung der slawischen Völker für die Zukunft ausgingen, fanden auch Eingang in die öffentliche Diskussion (siehe Hinweis zu 5. 110 in GA 173b).

31 Wenn nur ein wenig weiter sein werden die Träume der Panslawisten: Solche politischen Vorstellungen lagen zum Beispiel der Landkarte zugrunde, die im Dezember 1889 in den «Slawischen Mitteilungen» («Slavjanskija Izwestija») von einem gewissen «N. C. Zarjanko» veröffentlicht worden sein soll -die «Slawischen Mitteilungen» waren ein Organ der Petersburger «Slawischen Wohltätigkeitskomitees» (siehe Hinweis zu 5. 32). In diesem Zusammenhang findet sich in Alfred Fischels Buch «Der Panslawismus bis zum Weltkrieg» (Stuttgart/Berlin 1919) ein wichtiger Hinweis (9. Abschnitt, «Die Befreiung der Balkanslawen und Rußlands Wendung zum Fernen Osten»): «Nach der farbigen Darstellung bildete dort das Slawentum eine einzige zusammenhängende Masse, welche sich im Süden über Bessarabien, die Donaumündung und die Dobrudscha vordringend, über die ganze Balkanhalbinsel, Griechenland und Albanien ausgenommen, bis Triest ausbreitet und von da über die slowenischen Landesteile fortsetzt, im Nordwesten die tschechisch-slowakischen und im Norden die polnischen Gebiete bis Danzig umfaßt. Die Südslawen sind darnach mit den nördlichen Stammesgenossen räumlich verbunden. Nur ein schmaler Streifen, Deutsch-Österreich mit Ungarn und Rumänien, ragt wie eine vorspringende Landzunge in dieses unermeßliche slawische Meer, das keine Inseln kennt. Die Veranschaulichung des allslawischen Gedankens, welche behufs Einwirkung auf naive Gemüter jeden Hinweis auf politische Grenzen oder anderssprachige Bestandteile innerhalb der ethnischen Riesenmasse austilgte, ermangelte nicht der Erläuterung durch statistische Tabellen, welche der gern in großen Verhältnissen schwelgenden Einbildungskraft der Slawen die Summe von 98 Millionen Stammesbrüdern, wovon auf die Russen der Löwenanteil entfiel, genau vorrechneten. » Alfred von Fischel (1853-1926) war ein österreichischer Jurist und Verfasser einer Reihe von rechtshistorischen und politischen Schriften.



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Eine Schilderung solcher territorialen Vorstellungen unter Abbildung der entsprechenden Landkarten findet sich auch im Werk des britischen Historikers John Mill (1818-1881, siehe Hinweis zu S. 117). Dieser weist allerdings auf den Gegensatz zwischen einer stark russizistisch gefärbten (siehe Hinweis zu S. 110) und einer mehr panslawistisch (siehe Hinweis zu S. 69) ausgerichteten Konzeption hin, die in zwei sehr gegensätzlichen Auffassung gipfelt: slawisches Großreich unter russischer Vorherrschaft oder slawische Großföderation unter Ausschluß Rußlands.

32 Es gab durch Jahrzehnte hindurch ein «Slawisches Wohltätigkeitskomitee»: Das «Slawische Wohltätigkeitskomitee» war im Mai 1857 in Moskau als Antwort auf die Niederlage Rußlands im Krim-Krieg von panslawistisch-russizistisch gesinnten Kreisen, an deren Spitze der glühende Panslawist, Journalist und Geschichtsprofessor Michail Petrovic Pogodin (1800-1875) stand, gegründet worden. Er wurde dessen erster Präsident. Nach seinem Tode übernahm Ivan Sergeevic Aksakov (siehe Hinweis zu 5. 110), der bisher das Sekretariat geführt hatte, die Präsidentschaft bis zur Auflösung des Komitees. Dem Moskauer Slawischen Wohltätigkeitskomitee («Moskovskij slavjanskij blagovoritelnij komitet») wurde im Februar/Januar 1858 die staatliche Genehmigung für die Gründung erteilt; zugleich wurde das Komitee dem auch für den Balkan zuständigen Asiatischen Departement des Ministeriums des Äußeren unterstellt, was für eine reine Privatorganisation eigentlich erstaunlich war. Der Kronprinz, der spätere Zar Alexander III. (siehe Hinweis zu 5. 63), übernahm das Patronat, und in der Folge erhielt das Komitee finanziell erhebliche Zuwendungen von höchster Seite. Bald entstanden weitere Zweigstellen des Slawischen Wohltätigkeitskomitees: 1868 in St. Petersburg, 1869 in Kiew, 1870 in Odessa. Moskau blieb jedoch für die nächsten zwanzig Jahre das Zentrum des Panslawismus. Obwohl das Moskauer Komitee sich staatlicher Protektion erfreute, beanspruchte es durchaus Handlungsfreiheit, was später zu Konflikten mit dem russischen Staat führen sollte.Diese unter staatlicher Protektion stehende private Wohltätigkeitsgesellschaft war ursprünglich zur Unterstützung der Südslawen gegründet worden. Sie weitete ihre Tätigkeit bald auf alle slawischen Brudervölker aus. Aufgrund dieser panslawistischen Orientierung veranstaltete sie zum Beispiel 1867 einen gesamtslawischen Kongreß in Moskau (siehe Hinweis zu 5. 69). Hinter der Betonung der blutsmäßigen und kulturellen Verwandtschaft aller slawischen Völker verbarg sich aber im Grunde der Anspruch auf eine Vormachtstellung des russischen Volkes. Nach der Darstellung Alfred Fischels (siehe Hinweis zu 5. 31) verfolgte das Slawische Wohltätigkeitskomitee drei konkrete Ziele (8. Abschnitt, «Panslawismus und Nationalismus in Rußland bis zum Berliner Frieden»): «1. Kirche, Schule und Literatur der Südslawen durch Geldunterstützungen zu fördern, 2. den orthodoxen Kirchen und Schulen im slawischen Süden mit Kirchengeräten und Büchern auszuhelfen, 3. jungen Slawen, die ihrer Ausbildung wegen nach Moskau kommen, jeden Beistand zu gewähren». Diese Institution entfaltete zwar durchaus eine solche Förderung der slawischen Kultur, aber sie wurde auch für die weitreichende politische Agitation bis zur Entfachung von bewaffneten Aufständen benutzt. Deshalb die ironische Bemerkung von Samuel Rado, einem ungarischen Hofrat, in seinem Büchlein «Der Sturz des Zarismus» (Leipzig 1915, Kapitel «Geheime Akten der russischen Diplomatie»): «Es ist doch eine schöne Sache um das gute Herz der Slawischen Wohltätigkeitsgesellschaft, dem amtlich ein so gutes herrliches Zeugnis ausgestellt wird. Ja, im Zarenreich nimmt auch die Wohltätigkeit eine andere Gestalt an als im <verfaulten Westen>, wo die Wohltätigkeit mit Verabfolgung von Nahrung und Kleidung, aber nicht mit Gewehren und Revolvern geübt wird. »



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Daß die Wohltätigkeitskomitees in den Dienst des russischen Imperialismus gestellt wurden, war insofern gegeben, als zum Beispiel Nikolaj Pavlovic Graf Ignatev - einer der wichtigen Drahtzieher des Russizismus (siehe Hinweis zu S. 110) — von 1863 bis 1864 als Direktor des Asiatischen Departements wirkte und in dieser Eigenschaft die Tätigkeit des Slawischen Wohltätigkeitskomitees aus dem Hintergrund beeinflussen konnte. So unterstützte dieses mit Geld und Waffen die verschiedensten Aufstandsbewegungen im Balkan, die die Ausdehnung des russischen Einflusses zum Ziele hatten. Wie weit dabei gegangen wurde, zeigt Alfred Fischel am Beispiel des Südslawisch-Türkischen Krieges, der 1876 mit der serbisch-montenegrinischen Kriegserklärung ausgebrochen war (siehe Hinweis zu 5. 66). Fischel (9. Abschnitt, «Die Befreiung der Balkanslawen und Rußlands Wendung zum Fernen Osten»): «Tatsächlich betrachtete ein namhafter Teil der russischen Gesellschaft diesen Krieg als den seinigen und wandte den Kämpfern seine werktätige Teilnahme zu. Insbesondere brachten die slawischen Komitees durch Sammlungen bedeutende Mittel auf und kamen den Serben durch Sendung von Mannschaften, Kriegsgeräten und Geldspenden zu Hilfe. Sie warben sogar öffentlich Freiwillige für den heiligen Krieg, ohne von der Regierung irgendwie behindert zu werden. Hunderte von Offizieren und Unteroffizieren, ja, ganze Sotnien [Hundertschaften] von Kosaken, welche von diesen Ausschüssen mit den nötigen Waffen, Geldmitteln und Pässen ausgerüstet worden waren, verstärkten das serbische Heer. Die genannten Vereinigungen nahmen auf Veranlassung der Regierung den unverfänglich klingenden Namen der <slawischen Wohltätigkeitsgesellschaften> an. »

Daß schließlich 1877 Rußland selber auch in diesen Krieg hineingezogen wurde, geschah unter Mithilfe dieser gemeinnützigen Organisation, indem in der russischen Öffentlichkeit für die aktive militärische Intervention geworben wurde. Und wie sehr sie sich dabei als Instrument im Dienste des Russizismus (siehe Hinweis zu 5. 110) erwies, schildert Alfred Fischel im Zusammenhang mit dem weiteren Verlauf des Russisch-Türkischen Krieges (gleicher Ort): «Die Moskauer Wohltätigkeitsgesellschaft entsandte besondere Vertreter, um ihre Ziele in den zu besetzenden Provinzen der Türkei und in Serbien zu fördern. Ihr Vertrauensmann, der Fürst V Cerkasskij, wurde zum Vorstand der Zivilangelegenheiten bei dem Oberbefehlshaber des Heeres und zum Statthalter des zu erobernden Bulgarien ernannt. Er sollte als Hauptvermittler zwischen den slawischen Wohltätigkeitsgesellschaften und ihren Beauftragten sowie den örtlichen Bedürfnissen der Blutsfreunde jenseits der Donau tätig sein. So sehr wurde dieser Krieg als ein Unternehmen des Panslawismus gesehen. »

Für die russizistisch gesinnten Anhänger des Slawischen Wohltätigkeitskomitees bedeutete der in den Berliner Kongreßakten von 1878 (siehe Hinweis zu 5. 79) festgeschriebene endgültige Ausgang des Russisch-Türkischen Krieges eine große Enttäuschung, und dementsprechend groß war auch die Agitation der Slawischen Wohltätigkeitskomitees gegen den Friedensvertrag von Berlin. Auch wenn die russische Regierung mit dem Zaren an der Spitze die Enttäuschung teilte (siehe Hinweis zu 5. 79), wurde die entstehende Unruhe als bedrohlich für die innere Sicherheit betrachtet. So wurde im August 1878 das Moskauer Slawische Wohltätigkeitskomitee aufgelöst. Mite Kremnitz, der Chronist von König Carol I. von Rumänien («Aus dem Leben König Karls von Rumänien», Band IV, VI. Kapitel «Rückgabe Bessarabiens. Einzug des Heeres in Bukarest») verzeichnete unter dem Datum «5/17. August 1878»: «In Rußland nimmt die nihilistische Bewegung allenthalben zu; auch die Panslawisten sind unzufrieden mit den Resultaten des letzten Krieges und bringen dies zum Ausdruck. Infolgedessen ist Aksakov aus Moskau ausgewiesen und die panslawistischen Wohltätigkeitskomitees dort aufgelöst worden. »



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Das bedeutete aber nicht das Ende der Slawischen Wohltätigkeitsgesellschaft, blieb doch das Petersburger Komitee unter dem Namen «Petersburger Slawische Wohltätigkeitsgesellschaft» («Sanktpeterburgskoe slavjanskoe blagotovoritelnoe obscestvo») bestehen. Deren Handlungsfähigkeit wurde nun stark eingeschränkt; sie wurde zu einer Art halbstaatlichen Organisation. Ein Zeichen dafür war, daß seit 1900 die Wahl des Präsidenten der Genehmigung des Innenministeriums bedurfte. Auch die Zusammensetzung der Mitgliedschaft hatte sich geändert. Bestand sie zu Zeiten des Moskauer Komitees vor allem aus Intellektuellen und Vertretern der Wirtschaft, so gehörten ihr neben den Intellektuellen nun vor allem auch Vertreter der staatlichen Verwaltung und des Bildungswesens sowie auch des Hochadels und der Kirche an. Wichtige Mitglieder waren zum Beispiel der Dichter Fedor Michailovic Dostoevskij (1828-1881), der Politiker Nikolaj Pavlovic Graf Ignatev (siehe Hinweis zu 5. 110), der bereits im Moskauer Komitee eine wichtige Rolle gespielt hatte - er war von 1888 bis 1908 Präsident der Slawischen Wohltätigkeitsgesellschaft -, der Militär Aleksei Nikolaeevic Kuropatkin (siehe Hinweis zu 5. 247 in GA 173b). Auch Olga Alekseevna Novikova-Kireeva (Novikoff-Kireff, 1840 —1 925), die seit 1868 weitgehend in London lebte und mit großem Einsatz für die russischen Interessen im Westen Europas eintrat, war Mitglied der Wohltätigkeitsgesellschaft. In ihrem Londoner Salon verkehrten solche bekannten Leute wie zum Beispiel die Historiker Thomas Carlyle und Edward Augustus Freeman (siehe Hinweis zu 5. 257 in GA 173b) oder der Publizist William Thomas Stead (siehe Hinweis zu 5. 258 in GA 173b), mit dem die Novikova befreundet war. Zu den einflußreichen Mitgliedern gehörte auch der Kirchenhistoriker Ivan Saavic Palmov (1856-1920), der von 1888 bis 1917 als Sekretär der Gesellschaft tätig war.

Die Wohltätigkeitsgesellschaft entwickelte sich immer mehr zu einem Instrument der reaktionären russizistischen Richtung, besonders nach der Unterdrückung der revolutionären Bewegung von 1905 bis 1906. Dies stellte zum Beispiel der tschechische Nationalistenführer Karel Kramar (siehe Hinweis zu 5. 50 in GA 173c) fest, als er im Jahre 1908 St. Petersburg besuchte und von den russizistisch gesinnten Kreisen umschwärmt wurde (zitiert nach: Paul Vysny, Neo-Slavism and the Czechs. 1898-1914, Cambridge 1977, Chapter 3, «The rise of the Neo-Slav movement, 1905 —1908»): «Die russische Slawenpolitik wurde halb-offiziell von der Slawischen Wohltätigkeitsgesellschaft aus geleitet, die vollständig von reaktionären Elementen kontrolliert wurde, die, was den Bereich der innenpolitischen Angelegenheiten betraf, die Russifizierung Polens und der baltischen Provinzen befürworteten. »1 Im Zusammenhang mit der Julikrise von 1914 nach der Ermordung des österreichischungarischen Thronfolgers (siehe Hinweis zu 5. 100) übte die Slawische Wohltätigkeitsgesellschaft durch deren Mitglied Aleksandr Vasilevic Krivosein (1857-1921) einen nicht unerheblichen Einfluß auf die Haltung der russischen Regierung aus. Krivosein war zwar bloß Landwirtschaftsminister, aber infolge seiner langjährigen Amtstätigkeit - vom Mai 1908 bis Oktober 1915 —gehörte er zu den höchst einflußreichen Mitgliedern der Regierung. Er befürwortete eine unnachgiebige Haltung gegenüber den Mittelmächten und die entschiedene Unterstützung der serbischen Sache. Da seine Haltung mehrheitlich vom Ministerrat geteilt wurde, ließ sich der Konflikt zwischen Serbien und Österreich-Ungarn nicht lokalisieren. Die Petersburger Slawische Wohltätigkeitsgesellschaft bestand bis zum Ausbruch der Russischen Revolution im März/Februar 1917.



173a-283 Hinweise zum Vortrag vom 4. Dezember 1916 Flip  arpa

32 ein kleines Briefchen vorlesen: Es handelte sich um ein chiffriertes Telegramm, das der Direktor des Asiatischen Departements des russischen Außenministeriums [genauer Name nicht bekannt] am 17/5. Dezember 1887 an den russischen Gesandten Mihail Aleksandrovic Gitrovo (Hitrovo) in Bukarest geschickt hatte. Das von Rudolf Steiner angegebene Datum beruht auf der alten russischen Zeitrechnung des Julianischen Kalender; das heutige Datum auf der Grundlage des Gregorianischen Kalenders erhält man durch Hinzuzählung von 12 Tagen (für das 19. Jahrhundert, von 13 Tagen für das 20. Jahrhundert). Rado zitiert dieses Telegramm in seinem Büchlein (Kapitel «Geheime Akten der russischen Diplomatie», siehe Hinweis zu 5. 32).Den Wortlaut dieser Mitteilung hatte Rado dem Werk «Geheime Documente der russischen Orientpolitik 1881-1890» (Berlin 1893), entnommen, das von einem gewissen R. Leonow «nach dem in Sofia erschienenen russischen Original» herausgegeben worden war. Es handelt sich um eine Sammlung von diplomatischen Schriftstücken, die ein zunächst beim russischen Konsulat in Ruscuk (siehe Hinweis zu 5. 33), später bei der russischen Botschaft in Sofia tätiger Dolmetscher (Dragoman), ein gewisser Jacobsohn, im geheimen angelegt haben soll und deshalb später vom russischen Staat rechtlich belangt wurde. Die Sammlung wurde 1892 in russischer Sprache in Sofia herausgebracht und später von Leonow bearbeitet und auf deutsch herausgegeben. Zum Zweck der Veröffentlichung schrieb Leonow im «Vorwort des Herausgebers der deutschen Ausgabe»: «Die Veröffentlichung ist eine Tat der Notwehr Bulgariens gegen die ihm von einem mächtigen Feinde, dem russischen Reiche, aufgedrungenen Kämpfe auf Tod und Leben. Indem die Waffen dieses Gegners aufgedeckt und dem Urteil unserer Zeit preisgegeben werden, glauben wir beitragen zu können, daß die Sympathie, mit welcher die gebildete Welt Bulgariens Streben nach friedlichem Fortschritt ehrt, vertieft und befestigt werde. » Das von Rudolf Steiner erwähnte Dokument findet sich im Kapitel «Documente aus dem Jahre 1887» (Nr. 170). Mit dem im Text genannten «Minister des Äußeren» ist Nikolaj Karlovic Girs (siehe Hinweis zu 5. 66) gemeint; der Name des damaligen Präsidenten des Petersburger Wohltätigkeitskomitees konnte nicht herausgefunden werden.

In dem von Rudolf Steiner vorgelesenen Telegramm heißt es weiter: «Auf die Anfrage über die Möglichkeit des Durchmarsches der Expedition Nabokov durch türkisches Gebiet und über den zu erwartenden Erfolg dieser Expedition, welche wir an unsere Botschaft in Konstantinopel richtete, hat der [russische Botschafter] Geheimrat Nelidov [siehe Hinweis zu 5. 65] den Staatssekretär [russischen Außenminister] Girs benachrichtigt, daß, da die Expedition des Kapitän Nabokov aus Bulgaren und Montenegrinern besteht, der geheime Durchmarsch durch die Türkei anstandslos möglich ist. Was den von dieser Unternehmung zu erwartende Erfolg anbetrifft, so rechnet Herr Nelidov auf einen günstigen Ausgang, indem er sich auf die Meinung des in Konstantinopel lebenden Bulgaren Dragan Cankov stützt, nach welche die Garnison von Burgas unbedeutend ist und die Bevölkerung nicht zu der jetzigen bulgarischen Regierung hinneigt. » Der liberale bulgarische Politiker Dragan Kiriakov Cankov (siehe Hinweis zu 5. 65) trat für eine enge Bindung Bulgariens mit Rußland ein.

32 für eine gewisse Expedition, die dazumal zusammengehangen hat mit der Erregung von Revolutionen: Hauptmann N. A. Nabokov (unbekannt-1888) —ein Bekannter des russischen Außenministers Girs (siehe Hinweis zu 5. 66) —gehörte zu den russischen Offizieren, die in den achtziger Jahren als Instruktoren in der bulgarisch-ostrumelischen Armee tätig waren. Politisch vertraten diese die Interessen der russischen Regierung und waren als verlängerter Arm Rußlands in Bulgarien zu



173a-284 Hinweise zum Vortrag vom 4. Dezember 1916 Flip  arpa

Nach der Absetzung Alexanders wurde der russische General Nikolaj Vasiljevic Kauljbars (Nikolai Reinhold Friedrich Baron von Kaulbars (1842-1905) im September 1886 als Sondergesandter nach Bulgarien geschickt, um den russischen Einfluß wiederherzustellen. Sein schroffes Auftreten verstärkte den Widerstand gegen die russische Bevormundung. Nach dem Fehlschlag eines weiteren von Nabokov ausgehenden Aufstandsversuchs im November 1886 —Nabokov wurde gefangengenommen und zum Tode verurteilt, mußte aber auf russischen Druck der diplomatischen Vertretung Rußlands überstellt werden, was ihm das Verlassen Bulgariens ermöglichte -wurde Kaulbars noch im selben Monat wieder nach St. Petersburg zurückberufen. Rußland hatte sein Ziel nicht erreicht. Dies zeigte sich offen, als am 7. Juli/25. Juni 1887 der deutsche Prinz Ferdinand von Sachsen-Coburg-Gotha-Kohary (1861-1948), einer der «westlichen» Kandidaten, zum neuen Fürsten von Bulgarien gewählt wurde und im August 1887 die Herrschaft antrat. Von Rußland wurde er allerdings vorerst geschnitten, und Nabokov unternahm im Dezember 1887 auf russisches Anstiften einen weiteren Aufstandsversuch gegen die bulgarische Regierung (siehe Hinweis zu 5. 33, mit Wortlaut des von Rudolf Steiner erwähnten Telegramms), der allerdings mit der Vernichtung seiner Freischärlertruppe endete. Nabokov wurde von der lokalen Bevölkerung gefangengenommen und getötet. Erst 1896 bequemte sich Rußland, Ferdinand als neuen Fürsten Bulgariens anzuerkennen. Am 5. Oktober/22. September 1908 nahm Ferdinand J. den Königstitel an und erklärte die volle Unabhängigkeit Bulgariens. Ferdinand mußte dann aber am 4. Oktober 1918 zugunsten seines Sohnes Boris III. abdanken, nachdem Bulgarien sich auf die Seite der Mittelmächte gestellt und am 30. September 1918 hatte kapitulieren müssen.



173a-285 Hinweise zum Vortrag vom 4. Dezember 1916 Flip  arpa

33 An der Spitze einer gewissen Regierung des Balkans stand im Jahre 1914: Nikola Pasic (1846-1926) war insgesamt fünfmal Ministerpräsident Serbiens, auch in den entscheidenden Tagen des österreichischen Ultimatums und der damit verbundenen Juli-Krise, nämlich Februar 1891 bis August 1892, Dezember 1904 bis Mai 1905, April 1906 bis Juli 1908, Oktober 1909 bis Juli 1911, September 1912 bis Dezember 1918. Er war auch für kurze Zeit Außenminister, vom Februar 1904 bis Mai 1905. Pasic gehörte zu den Begründern der Radikalen Partei (siehe Hinweis zu 5. 123); nach ihrer Spaltung vertrat er die gemäßigte Richtung. Auch nach der Gründung des Vereinigten Königreichs der Serben, Kroaten und Slowenen am 1. Dezember 1918 spielte Pasic als Verfechter eines zentralistischen Einheitsstaates und damit einer großserbischen Machtpolitik eine überragende Rolle. Bis zu seinem Tode bekleidete er noch dreimal das Amt des Ministerpräsidenten des neuen südslawischen Staates: Dezember 1918,Januar 1921 bis Juli 1924, November 1924 bis April 1926. Pasic war durch seine opportunistische, hintergründig-schlaue und auf seinen persönlichen Vorteil gerichtete Haltung bekannt, was sich zum Beispiel in seinem Verhalten gegenüber seinem politischen Rivalen, Dragutin Dimitrijevic (siehe Hinweis zu 5. 111), zeigte.

33 als noch die Obrenovici in Serbien regierten: Siehe Hinweis zu 5. 122.

33 aber ich möchte Ihnen wiederum ein kleines Briefchen vorlesen: Auch dieses ebenfalls im ersten Kapitel seines Büchleins zitierte Dokument entnahm Rado dem Werk von Leonow (siehe Hinweis zu 5. 8). Die bulgarische Stadt Rustschuk (Ru~uk) heißt heute Ruse und liegt an der Grenze zu Rumänien. Das angegebene Briefdatum beruht auf dem julianischen Kalender und entspricht nach unserer heutigen Zeitrechnung dem 15. Dezember 1885.

34 die Memoiren des verstorbenen Königs Carol: Carol I. (1839-1914), geboren als Prinz Karl von Hohenzollern-Sigmaringen - der katholisch gebliebenen Nebenlinie der Hohenzollern -wurde nach einer Volksabstimmung am 13./i. Mai 1866 von der Konstituierenden Versammlung in Bukarest zum regierenden Fürsten von Rumänien proklamiert. Carol regierte als konstitutioneller, an die Verfassung gebundener Monarch. Im März 1881 wurde er zum König von Rumänien erhoben (siehe Hinweis zu 5. 219). Ursprünglich Befürworter einer engen Zusammenarbeit mit den Mittelmächten - am 30/18. Oktober 1883 hatte sich Rumänien durch den Abschluß eines Geheimvertrages dem Bündnissystem des Dreibundes (siehe Hinweis zu 5. 84) angeschlossen -, trat er bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs für die Aufrechterhaltung der rumänischen Neutralität ein; am 3. August 1914 erfolgte die offizielle Erklärung der Neutralität Rumäniens. Nach seinem Tod im Oktober 1914 schloß sich Rumänien unter dem neuen König Ferdinand I. (1865-1927) — er war ein Neffe Carols I. und regierte von Oktober 1914 bis Juli 1927—nach einigem Zögern dem Lager der Entente an und erklärte schließlich Österreich-Ungarn den Krieg (siehe Hinweise zu 5. 24). Bei den von Rudolf Steiner erwähnten Memoiren des Königs Carol handelt es sich um die von Mite Kremnitz verfaßten vierbändigen «Aufzeichnungen eines Augenzeugen», die zwischen 1894 bis 1900 in Stuttgart unter dem Titel «Aus dem Leben König Karls von Rumänien» erschienen.

35 welche bedeutungsvolle Rolle die rumänische Armee gespielt hat in dem Russisch-Türkischen Krieg: In die Vorgänge des achten Russisch-Türkischen Krieges von 1877 bis 1878 wurde auch Rumänien verwickelt. Da die Neutralität Rumäniens keine vertragliche Anerkennung durch die europäischen Mächte gefunden hatte, zum Beispiel im Rahmen der Pariser Konferenz von 1856 zur Beendigung des Krim-Krieges (siehe Hinweis zu 5. 141), sah sich Rumänien gezwungen, am



173a-286 Hinweise zum Vortrag vom 4. Dezember 1916 Flip  arpa

In der Schilderung der Vorgänge in Rumänien stützt sich Rudolf Steiner vorwiegend auf das Büchlein von Samuel Rado; im Kapitel «König Carol und der Zar» beschrieb dieser eingehend die russischen Pressionsversuche auf den rumänischen König Carol.

35 er spielte damals, in diesem Kriege, [wie sein gleichnamiger Sohn heute], eine wichtige Rolle: Im Stenogramm heißt es «schon damals», was darauf hindeutet, daß Rudolf Steiner den Großfürsten Nikolaj Nikolaevic Romanov den Älteren (1831-1891) mit seinem Sohn, dem Großfürsten Nikolaj Nikolaevic Romanov den Jüngeren (1856 —1 929), verwechselte. Der ältere Nikolaj war Oberbefehlshaber der russischen Truppen im Russisch-Türkischen Krieg von 1877 bis 1878, während der jüngere Nikolaj das Amt des Höchstkommandierenden zu Beginn des Weltkrieges, von 1914 bis 1915, innehatte, bis der Zar Nikolaus II. im September 1915 persönlich den Oberbefehl übernahm, was ihn schwer brüskierte. Der jüngere Nikolaj gehört zu den überzeugten Vertretern der russischen Kriegspartei (siehe Hinweis zu 5. 130).

35 ungefähr so nach Rumänien schrieb: Das Zitat ist ebenfalls dem Büchlein von Samuel Rado über entnommen (Kapitel «König Carol und der Zar»).

35 Danach wollte König Carol von Rumänien auch an der Festlegung der Friedensentscheide teilnehmen: Die Vorgänge in der Schilderung Rados (Kapitel «König Carol und der Zar»): «Carol [siehe Hinweis zu 5. 34] war ein Staatsmann von großer Umsicht und dann - er kannte seine Russen auch in ihrer liebenswürdigsten Erscheinung nur zu gut. Er nahm daher die Gelegenheit wahr, um eine Bitte vorzubringen, die eigentlich ganz selbstverständlich war und die man einem Alliierten, dem man in hochtrabenden Worten soeben den Dank ausgedrückt, kaum abschlagen konnte. Der Fürst bat, man sollte doch Rumänien zu den künftigen Friedensverhandlungen zulassen. Und was sagte hierauf der Zar? Er erwiderte, daß Rußland die Interessen Rumäniens stets vor Augen halten werde. Carol entfernte sich tief gekränkt. In den Memoiren heißt es. In dieser Antwort lag ein <liebenswürdiges Ausweichen>. Nun, was die Liebenswürdigkeit betrifft, so sollte es bald besser kommen, wie dies der arme Carol zu seinem Schaden erfahren mußte. Denn der Zar hatte allerdings die triftigste Ursache, den treuen Alliierten und Retter in der Not nicht zu den Friedensverhandlungen einzuladen. In den Verhandlungen zu Kazanlik und Adrianopel, wo die Bevollmächtigten Carols vergebens zugelassen zu werden wünschten, wurden die Interessen Rumäniens in der rücksichtslosesten



173a-287 Hinweise zum Vortrag vom 4. Dezember 1916 Flip  arpa

35 der damalige Minister Gorcakov eine außerordentlich brüske, eigentlich scheußliche Antwort gegeben: Das weitere Geschehen nach Rado (Kapitel «König Carol und der Zar»): «Es kam so weit, daß die Minister dem Fürsten rieten, Bukarest zu verlassen, da die Russen dort bedrohliche Truppenzusammenziehungen unternommen hatten. Aber der Fürst weigerte sich, vor den Soldaten des einstigen Bundesgenossen zu fliehen und seinen Sitz nach Craiova [Stadt in der <Kleinen Walachei>, historische Landschaft im Südwesten Rumäniens] zu verlegen. Gorcakov setzte die Manöver f Ort und drohte dem rumänischen Gesandten: Wenn Rumänien mit Protesten gegen den Frieden von San Stefano fortfährt, durch Spezialgesandte bei Hafen gegen uns agitiert und in Bessarabien eine Protestbewegung der Bevölkerung gegen uns inszeniert, so werden wir schärfere Maßregeln ergreifen, wir werden die rumänische Armee entwaffnen und das Land okkupieren müssen! Da wallte das Hohenzollernblut [siehe Hinweis zu 5. 34] Carols auf er ließ den russischen Gesandten in Bukarest kommen und erwiderte: Ich weiß nicht, ob der Zar den Fürsten Gorcakov bevollmächtigt hat, eine solche Sprache zuführen. Jedenfalls sagen Sie dem Fürsten. eine Armee, die den Sieg bei Pleven [Stadt in Bulgarien]erfochten, an die der Zar fünfhundert Georg-Kreuze verteilt, wird vernichtet, aber nicht entwaffnet!»Aleksandr Michailovic Fürst Gorcakov (Alexander Michailowitsch Fürst Gortschakow, 1798 —1883), aus altem russischen Hochadel stammend, zählte zu den maßgebenden russischen Außenpolitikern in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Von Beruf Diplomat, war er unter anderem als Gesandter Rußlands in Frankfurt und in Wien tätig. Er nahm auch an den Verhandlungen in Paris zur Beendigung des Krim-Krieges teil, vermied es jedoch, den Friedensvertrag vom 20. März 1856 zu unterschreiben. Im April 1856 wurde er zum russischen Außenminister ernannt - ein Amt, das er über lange Jahre bis April 1883 ausübte. Im Juli 1863 wurde er ehrenhalber zusätzlich in den Rang eines «Kanzlers» des Russischen Reiches erhoben. Gorcakov war ein entschiedener Verfechter der nationalen Interessen Rußlands und ein überzeugter Gegner Österreichs auf dem Balkan. Außenpolitisch suchte er -seit 1850 mit Otto von Bismarck, dem preußischen Ministerpräsidenten und späteren deutschen Reichskanzler, befreundet - die Unterstützung Preußens. So setzte er sich während des Deutsch-Französischen Krieges entschieden für die österreichische Neutralität ein. Auch war er maßgeblich am Abschluß des Dreikaiserbundes von 1873 (siehe Hinweis zu 5. 79) beteiligt. Die Ergebnisse des Berliner Kongresses (siehe Hinweis zu 5. 79) bedeutete für ihn aber eine große Enttäuschung. Er fühlte sich von Bismarck nur ungenügend unterstützt. Trotz beträchtlicher russischer Gebietserwerbungen und der Schaffung selbständiger Balkanstaaten sah er seine expansionistischen Ziele nicht in dem Maße erfüllt, wie er es sich aufgrund der Rückendeckung durch Deutschland erhofft hatte und wie es im Frieden von San Stefano festgelegt worden war (siehe Hinweis zu 5. 66). So ging der «Ohrfeigenbrief» des russischen Zaren an den deutschen Kaiser (siehe Hinweis zu 5. 79) im wesentlichen auf seine Initiative zurück. In der Folge legte Gorcakov den Grundstein für eine vollständige Umorientierung der russischen Außenpolitik, indem er eine Allianz mit Frankreich ins Auge zu fassen begann und entsprechende Geheimverhandlungen einleitete. Die spürbare Abkehr Rußlands veranlaßte Bismarck schließlich zum Abschluß einer Defensivallianz mit Österreich-Ungarn, dem Zweibund von



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1879 (siehe Hinweis zu S. 173). Auch wenn die Entfremdung zwischen Rußland und Deutschland durch die Erneuerung des Dreikaiserabkommens von 1881 (siehe Hinweis zu S. 79) oder durch den Abschluß des Rückversicherungsvertrages von 1887 (siehe Hinweis zu S. 175) scheinbar wieder beseitigt wurde, ließ sich der Abschluß einer Allianz zwischen Frankreich und Rußland schließlich nicht mehr verhindern.

36 So schrieb er denn an den Zaren: Zum Brief des rumänischen Königs Carol I. an den russischen Zaren Alexander (Aleksandr) II. (Romanov, 1855-1881) und dessen Antwort schrieb Rado (Kapitel «König Carol und der Zar»): «Ob der Zar von den Drohungen Gorcakovs etwas wußte? Vielleicht war das nur eine Privatroheit des Kanzlers, die der ritterliche dankbare Zar miß billigte! An diese Hoffnung klammerte sich der edle Fürst und schrieb einen mannhaften und doch beweglichen [bewegenden]Appell an seine Majestät den Zaren aller Reußen. Die Antwort war niederschmetternd. Denn unter den schönen Redeblumen fand sich ein Satz, der sich wie die blutrünstige Tatze des nordischen Bären anfühlte. » Die entscheidenden Sätze aus der Antwort des Zaren las Rudolf Steiner seinen Zuhörern wörtlich vor.

37 dasjenige, was ringsherum wohnt: Gemeint sind diejenigen Länder, die sowohl vom Westen wie vom Osten als Deutschlands Gegner auftreten, das heißt vor allem die Ententemächte Frankreich und Großbritannien sowie Rußland.

37 was man das Britische Reich nennt, ein Viertel der ganzen gegenwärtigen trockenen Erde in seinen Herrschaftsbereich einbezogen hat: Zu Beginn des Ersten Weltkrieges umfaßte das englische Herrschaftsgebiet 29,04 Millionen Quadratkilometer, wobei 0,31 Millionen auf das Vereinigte Königreich von Großbritannien und Irland und 28,73 auf die englischen Kolonien entfielen. Diese Angaben entsprechen dem damaligen Kenntnisstand. Nach damaliger Auffassung betrug die gesamte Landfläche der Erde 136 Millionen Quadratkilometer, heute geht man von einer Landfläche von 149 Millionen Quadratkilometer aus.

38 daß Deutschland ein Dreiunddreißigstel des Bodens der Erde besitzt: Die deutschen Kolonien wurden bis zu ihrer Abtretung amtlich als «Schutzgebiete» bezeichnet, auch wenn die ursprünglich Absicht, die Kolonien in Form von konzessionierten Handelskompanien zu organisieren, sich nicht durchsetzen ließ. Die Schutzgebiete waren durch kaiserliche Schutzbriefe unter die Oberhoheit (Protektorat) des Deutschen Reiches gestellt worden. Die deutschen Kolonialgebiete wurden von deutschen Gouverneuren als abhängige Gebiete ohne politische Mitbestimmungsrechte verwaltet. Das Deutsche Reich besaß bei Ausbruch des Ersten Weltkrieges insgesamt sieben Schutzgebiete: Togo, Kamerun, Deutsch-Südwestafrika, Deutsch-Ostafrika, Deutsch-Neuguinea (mit Marianen und Karolinen), Deutsch-Samoa und Kiautschou. Kiautschou war ein Pachtgebiet, das China für die Dauer von 99 Jahren an das Deutschen Reich abgetreten hatte. Insgesamt umfaßte der deutsche Kolonialbesitz ungefähr 2,60 Millionen Quadratkilometer; die Fläche des Mutterlandes betrug 0,54 Millionen Quadratkilometer. Damit gebot die deutsche Regierung über eine Landfläche von ungefähr 3,14 Millionen Quadratkilometer und war damit etwa neunmal kleiner als das englische Herrschaftsgebiet. Nach seiner Niederlage im Ersten Weltkrieg mußte Deutschland aufgrund des Versailler Vertrages alle seine Kolonien abtreten, nachdem diese bereits im Laufe des Krieges von den Ententemächten besetzt worden waren.

38 was vorhin in dem Aufsatze «Imperialismus» genannt worden ist: Im Aufsatz «Kriegsphrasen» von Rosa Mayreder (siehe Hinweis zu 5. 28).



173a-289 Hinweise zum Vortrag vom 4. Dezember 1916 Flip  arpa

38 es trat ein Aufholen Deutschlands gegenüber dem britischen Export ein: Mitte des 19. Jahrhunderts besaß Großbritannien als Pionier der industriellen Entwicklung unangefochten die wirtschaftliche Vormacht. In den folgenden Jahrzehnten büßte es diese überragende Stellung durch nachdrängende Industrienationen, insbesondere Deutschland, aber auch die Vereinigten Staaten, immer mehr ein. In der britischen Öffentlichkeit entstand zunehmend der Eindruck eines erbitterten Konkurrenzkampfes mit Deutschland um begrenzte Märkte. Aber auch in Deutschland bestand zum Teil die irrige Vorstellung, daß eine Volkswirtschaft nur auf Kosten einer andern wachsen könne. Daß die Weltwirtschaft als gesamtes wachsen könnte, wurde dabei überhaupt nicht in Betracht gezogen.Diese Meinung von einem Kampf auf Leben oder Tod zwischen der britischen und der deutschen Volkswirtschaft stimmte aus heutiger Sicht mit dem tatsächlichen Sachverhalt nicht überein. Auch wenn die Ähnlichkeiten der beiden Volkswirtschaften einerseits zu einer gewissen wirtschaftlichen Rivalität und damit gegenseitigen Verdrängung führte, bestand andererseits zwischen ihnen ein intensiver, für beide Seiten vorteilhafter Handelsaustausch, auch im Bereich der technischen Neuerungen, und damit eine gewisse gegenseitige Abhängigkeit. So wurde durch diese gegenseitigen Beziehungen das Wachstum der eigenen Volkswirtschaften eher stimuliert als gebremst. Auch wenn die deutsche Wirtschaft ein prozentual stärkeres Wachstum -allerdings aufgrund einer bescheidenen Ausgangslage -aufweisen konnte, wuchs auch die britische Volkswirtschaft kräftig. Die britische Regierung setzte dabei wirtschaftspolitisch mehr auf den Freihandel, die deutsche Regierung mehr auf eine Schutzzollpolitik, wobei es auch in Deutschland stark freihändlerisch eingestellte Wirtschaftskreise gab.

Für die öffentliche Meinung in den beiden Ländern spielten nicht nur wirtschaftliche Faktoren, sondern überhaupt die Angst vor einer machtpolitischen, insbesondere kolonialpolitischen Dominanz des jeweiligen Gegners eine ausschlaggebende Rolle; die grundsätzliche Berechtigung dieser Angst wurde dabei nicht hinterfragt.

38 die Exportzahlen Deutschlands: Diese Zahlen entnahm Rudolf Steiner dem Band mit Aufsätzen des irischen Freiheitskämpfers Sir Roger Casement (1864 —1916), der unter dem Titel «Gesammelte Schriften. Irland, Deutschland und die Freiheit der Meere und andere Aufsätze» (München 1916) auf deutsch erschienen war. Im Aufsatz «Die Ursachen des Krieges und die Grundlagen für den Frieden» (Zweiter Teil, «Aufsätze, die meist während des Krieges verfaßt sind») schrieb Casement: « Wie Sir Edward Grey vor drei Jahren zugestanden hat, war er selber nur <die Fliege am Rad>. Jenes Rad versinnbildlichte die immer mehr beschleunigte Absicht Englands, die wachsende Seemacht und den Handel Deutschlands zu vernichten. Die Spannung hatte ihren Höhepunkt erreicht. Während der ersten sechs Monate 1914 war der Außenhandel Deutschlands dem Englands fast gleich. Hätte der Friede noch ein Jahr gedauert, dann hätte der Außenhandel Deutschlands den von England sicher übertroffen, und zum ersten Male in der Geschichte des Welthandels wäre England auf den zweiten Platz gedrängt worden Von Januar bis Juni 1914 war der deutsche Export auf die enorme Gesamtsumme von £ 1045000000 gegenüber £ 1075000000 für England angeschwollen. Ein Krieg gegen solche Zahlen konnte nicht auf die Weltmärkte beschränkt bleiben, er mußte auf die Meere übertragen werden. » Und Casement kam zum Schluß: «England kämpft nicht mehr, um die Neutralität Belgiens zu verteidigen, nicht mehr um den deutschen Militarismus zu vernichten, sondern es kämpft jetzt, um seine unbedingte und unbestrittene Herrschaft über die Meere aufrecht zu erhalten, auch wenn die ganze Welt in den Krieg verwickelt werden müßte.» Casement wurde am 3. August 1916 wegen seines Einsatzes für die



173a-290 Hinweise zum Vortrag vom 4. Dezember 1916 Flip  arpa

Auch aus heutiger Sicht wird von einem zunehmenden Gleichstand zwischen der deutschen und der britischen Volkswirtschaft ausgegangen. Allerdings werden die vorhandenen Zahlen mit einer gewissen Zurückhaltung behandelt, weiß man doch um die unterschiedlichen methodischen Verfahren bei der Erhebung von Statistiken. Die offiziellen britischen Statistiken ergeben zum Beispiel nach heutiger Auffassung folgendes Bild (zitiert nach: Hartmut Berghoff, Großbritannien und Deutschland 1880-1914: Wirtschaftliche Rivalität oder internationale Arbeitsteilung?, in: Wolfgang Mommsen, Die ungleichen Partner. Deutsch-britische Beziehungen im 19. und 20. Jahrhundert, Stuttgart 1999):

Ausfuhren Deutschland Ausfuhren Großbritannien

Ausfuhren Deutschland Ausfuhren Großbritannien 1875 125 Mio. Pfund Sterling 1875 281 Mio. Pfund Sterling 1913 505 Mio. Pfund Sterling 1913 635 Mio. Pfund Sterling

Selbst wenn sich heute aufgrund der Zahlen ein etwas weniger dramatisches Bild ergibt, so ist doch von den damaligen Befürchtungen auszugehen.

Charakteristisch für die damalige Stimmung ist zum Beispiel die Aussage Kaiser Wilhelms II. gegenüber «Colonel House» (eigentlich Edward Mandell House, 1858-1938), dem Berater des amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson, am 1. Juni 1914 anläßlich eines Empfangs in Potsdam (zitiert nach: Charles Seymour, The intimate papers of Colonel House, Volume I, London 1926, IX. The Great Adventure): «Er erklärte, den Frieden zu wollen, weil das im Interesse Deutschlands sei. Deutschland sei arm gewesen, es sei jetzt auf dem Wege, reich zu werden, und einige weitere Jahre Frieden würden es tatsächlich reich machen. Es würde von allen Seiten bedroht. Europas Bajonette wären gegen es gerichtet, und vieles mehr von dieser Art tischte er mir auf Von England sprach er freundlich und mit Bewunderung. England, Amerika und Deutschland seien verwandte Völker und sollten näher zusammenrücken. Von anderen Völkern hatte er nur eine geringe Meinung. »1

39 ich will auch vom okkultistischen Standpunkt in der nächsten Zeit noch etwas tief er auf diese Dinge eingehen: In den Mitgliedervorträgen zu den «Zeitgeschichtlichen Betrachtungen» zog Rudolf Steiner immer wieder Parallelen zwischen bestimmten Tagesgeschehnissen und gewissen okkulten Hintergründen. So zum Beispiel in den Vorträgen vom 24. und 26. Dezember 1916 (in GA 173b), wo er das Auftreten des italienischen Dichters und Nationalisten Gabriele D'Annunzio am 17. Mai 1915 in Rom beleuchtete. Durch den Auftritt D'Annunzios und die dadurch entfesselten Emotionen war der Widerstand gegen den Kriegseintritt



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Italiens weitgehend gebrochen; die italienische Kriegserklärung folgte am 23. Mai 1915 (siehe Hinweis zu S. 248).

40 daß ein Schriftchen erschienen ist hier in der Schweiz: Der Berner Sekundarlehrer Jacob (Jakob) Ruchti (1878-1959) studierte nebenberuflich Geschichte an der Universität Bern und hatte unter dem Titel «Zur Geschichte des Kriegsausbruchs. Nach den amtlichen Akten der Königlich Großbritannischen Regierung dargestellt» (Bern 1916) eine Seminararbeit verfaßt, die veröffentlicht wurde und Rudolf Steiner bekannt war. Die 2. Auflage dieser Schrift von 1917 besprach dieser sogar in der «Neuen Badischen Landes-Zeitung» vom 17. April 1917 (62. Jg. Nr. 193). Unter der Überschrift «Eine preisgekrönte wissenschaftliche Arbeit über die Geschichte des Kriegsausbruches» (in GA 24, künftig in GA 255) faßte er sein Urteil über Ruchtis Schrift zusammen: «Gewiß, das von Ruchti als Ergebnis Vorgebrachte ist oft und in der verschiedensten Form schon gesagt worden. Aber das Bedeutsame seiner Schrift liegt erstens in seiner wissenschaftlichen Bearbeitung des Tatbestandes und zweitens darin, daß ein Angehöriger eines neutralen Staates seine Ergebnisse rückhaltlos mitteilt und daß ein Wissenschaftliches Seminar dieses Staates die Schrift für so den wissenschaftlichen Anforderungen entsprechend findet, daß es sie preiskrönt.» Und zu den Forschungsergebnissen Ruchtis: «Denn es ist gewiß klar, daß England, ja wohl auch Frankreich und sogar Rußland der Friede lieber gewesen wäre als der Krieg, wenn es ohne diesen auf diplomatischem Wege gegangen wäre, Deutschland und Österreich gegenüber der Entente zur politischen Bedeutungslosigkeit herabzudrücken und es dazu zu bringen, sich dem Machtwillen der Entente zu fügen. Nicht darauf kommt es an, ob Grey Frieden oder Krieg gewollt habe, sondern darauf, wie er sich zu den Ansprüchen derjenigen Mächte bei Kriegsausbruch gestellt hat, die im Kriege Englands Bundesgenossen sind. Und Ruchti beweist, daß Grey sich so gestellt hat, daß durch sein Verhalten der Krieg notwendig herbeigeführt werden mußte. »Die Arbeit von Ruchti stützte sich zum Großteil auf die Aktensammlung der englischen Regierung, das sogenannte englische «Weißbuch» vom 6. August 1914 (siehe Hinweis zu 5. 132), später in seiner erweiterten Fassung «Blaubuch» genannt. Ruchti in der «Einleitung» über die Bedeutung des englischen Weißbuches: «Diese englischen Dokumente werden für alle Zeiten als Hauptquelle zu gelten haben, wenn es sich um die Erklärung der Veranlassung zum europäischen Kriege handeln wird. » Und als Begründung führte er an: «Diese britischen Aktensammlungen zeichnen sich -solange nicht die Lebensinteressen des Inselreiches in Frage kommen -durch große Wahrhaftigkeit und Genauigkeit aus, so daß der Historiker sie mit Vertrauen benutzen kann. Es ist aber auch bekannt, daß die englische Regierung von allen über die Weltlage am besten informiert ist, desgleichen die englische Presse. » Aber er warnte auch: «So ist es wohl möglich, daß man sich beim raschen Durchlesen von allerlei schönen Wendungen gefangen nehmen läßt, die Hauptsache dabei übersieht und dann zu unrichtigen Ergebnissen gelangt.» Denn: «Allerdings ist das englische Weißbuch eine gegen die Zentralmächte gerichtete Publikation, Österreich ist darin als <imbécile> behandelt, Deutschland aber ist der Satan, der eigentliche Urheber des Krieges. Trotzdem ist die englische Aktensammlung nicht tendenziös genug, um als historische Quelle unbrauchbar zu erscheinen. » Seine Arbeit gliederte Ruchti in drei Kapitel: «1. Der österreichisch-serbische Konflikt, 2. Die Vermittlungsaktion, 3. Der europäische Krieg». Aufgrund der ihm zur Verfügung stehenden Dokumente sah er in der russischen und englischen Regierung die Hauptverantwortlichen für den Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Um ihre kriegerischen Absichten zu verschleiern, habe die englische Regierung selbst vor



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Fälschungen von Dokumenten in ihrem Weißbuch nicht zurückgeschreckt - eine These, die bereits von Friedrich Siegmund-Schultze im November 1914 vertreten wurde. Dieser hatte in seiner Vierteljahresschrift «Die Eiche» (2. Jg. Nr. 4 vom November 1914) das Englische Weißbuch in deutscher Übersetzung herausgebracht.

Eine gegenteilige Ansicht vertrat der Zürcher Historiker und Redakteur Samuel Zurlinden (1861 —1926) in seinem Werk «Der Weltkrieg. Vorläufige Orientierung von einem schweizerischen Standpunkt aus», Band I (Zürich 1917), das sich in der Bibliothek Rudolf Steiners befindet. Zurlinden war ursprünglich Lehrer, aber seit 1890 als Journalist tätig, verteidigte die Sache der Entente und wirkte von 1921 bis zu seinem Tode als Sekretär der «Schweizerischen Vereinigung für den Völkerbund». Er warf Ruchti vor, er habe sich vom «vermutlich reichsdeutschen Leiter» des Historischen Seminars beeinflussen lassen und in seiner Argumentation die Möglichkeit eines Versehens gar nicht berücksichtigt. Im Zusammenhang mit dem von Ruchti erhobenen Vorwurf der Fälschung (Viertes Kapitel, Die geheime Diplomatie) schreibt er: «Für [diese]Annahme stützt sich Ruchti auf den schwerwiegenden, mit Fettdruck und Ausrufungszeichen hervorgehobenen Verdachtsgrund, daß der Brief Greys an seinen Botschafter in Paris vom 30. Juli, die verdächtige Beilage aber vom 31. Juli datiert ist. Nun, eine solche <Fälschungen ist mir auch schon etwa vorgekommen. Ich schreibe einen Brief warte aber noch mit dem Absenden, bis ein noch ausstehender Bericht da ist, den ich dann beilege. Wenn diese Beilage nun auch ein späteres Datum trägt als der Brief selbst, so braucht deswegen noch keine Fälschung begangen worden zu sein.»Was den «vermutlich reichsdeutschen Leiter» des Historischen Seminars der Universität Bern betrifft, so war der Lehrstuhl für Kirchengeschichte und Allgemeine Geschichte durch Prof. Philipp Woker - er war von 1888 bis 1924 im Amt - und derjenige für Schweizergeschichte durch Prof. Gustav Tobler - er lehrte von 1888 bis 1921 — besetzt. Während Tobler Schweizer war, besaß Woker tatsächlich die deutsche Staatsbürgerschaft. Neben seiner Tätigkeit als Geschichtsprofessor lehrte Woker auch noch an der Christkatholischen Fakultät der Universität Bern. Ruchti promovierte am 19. Januar 1916 im Fach Allgemeine Geschichte bei Prof. Woker mit einer Dissertation, die «Die Reformaktion Österreich-Ungarns und Rußlands in Mazedonien 1903 —1908» (Gotha 1918) behandelte. Später veröffentlichte er eine zweibändige «Geschichte der Schweiz während des Weltkrieges 1914-1919. Politisch, wirtschaftlich und kulturell» (Bern 1928/1930). Dazu schrieb er im «Vorwort»: «Im Jahre 1917 erging -angeregt durch meine früheren Schriften - an mich die Anfrage, ob ich bereit wäre, die Stellung der Schweiz im Weltkriege historisch zu bearbeiten. Meine hochverehrten, inzwischen verstorbenen akademischen Lehrer, die Herren Drs. Gustav Tobler und Philipp Woker, ordentliche Professoren der Geschichte an der Universität Bern, ermutigten mich, der Aufgabe näherzutreten. Die beiden Gelehrten haben das Manuskript, das bis zum Jahre 1920 in den Hauptabschnitten fertig war, in Plan und Ausführung begutachtet. »

40 Und am Schluß steht. Dieses Zitat steht im 3. Kapitel von Ruchtis Schrift. Dieser Schlußbemerkung unmittelbar vorangehend schrieb Ruchti: «Am 3. August hielt Grey im Unterhaus seine große Rede zur Vorbereitung der Gemüter auf die englische Kriegserklärung [siehe Hinweis zu 5. 143]. Er verschwieg dabei die letzten Vorschläge Deutschlands und rechnete aus, daß England, wenn es in den Krieg eingreife, nicht viel mehr geschädigt werde, als wenn es beiseite stehe.» Und weiter: «Am 6. August trat der Premier Asquith vor das Parlament zur Begründung der Kriegserklärung. Er baute diese Begründung auf die Vorschläge des deutschen Reichskanzlers vom 29. Juli, wies im Brustton der tiefsten sittlichen Empörung das



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40 eine sehr interessante Diskussion zwischen Monsieur Clemenceau, Mister Archer und Georg Brandes: In den Jahren 1915/1916 wurde in der Öffentlichkeit eine heftige Kontroverse zwischen dem dänischen Professor und Schriftsteller Georg Brandes, dem französischen Ministerpräsidenten Georges Clemenceau, mit dem Brandes seit vielen Jahren befreundet war, sowie dem englischen Journalisten William Archer, der Teile des Werkes von Brandes ins Englische übersetzt hatte, ausgetragen. Während Brandes versuchte, als Angehöriger eines neutralen Landes einen möglichst objektiven Standpunkt einzunehmen, und auch ein gewisses Verständnis für die Haltung Deutschlands zeigte, vertraten seine Kontrahenten mit Entschiedenheit einen nationalistischen Standpunkt, der das Recht einzig auf der Seite der Entente sah. Die Kontroverse wurde in Form von offenen Briefen und Appellen ausgetragen. Georg Brandes hatte einen schweren Stand, da ihm Befangenheit vorgeworfen wurde, zumal sein Schwiegersohn, Reinhold Philipp, aktiver deutscher Offizier war. Georges Clemenceau erwartete von seinem Freund eine klare Stellungnahme zugunsten Frankreichs und zeigte sich zunehmend enttäuscht, als diese ausblieb.Am 17. März 1915 veröffentlichte Brandes im dänischen «Politiken» eine «Antwort an Georges Clemenceau» («Svar til Georges Clemenceau»), wo er seine Weigerung bekräftigte, sich einseitig für die Sache Frankreichs einzusetzen. Er schrieb (zitiert nach: Hanns Grössel, Georg Brandes. Der Wahrheitshaß, Berlin 2007): «Ich betrachte die Verhältnisse und bemühe mich, sie zu verstehen. Wenn Sie mich danach fragen, wer Recht hat, dann simplifizieren Sie die Verhältnisse derart, daß ich nicht folgen kann. Ich wünsche zum Beispiel dem französischen Volk Glück und Gedeihen, aber der Sieg der Alliierten schließt zugleich den Sieg Rußlands ein, und ich würde es als eines der größten Unglücke für die Zivilisation ansehen, wenn die russische Regierung mit den Palmen des Sieges dastünde. Das würde eine Stärkung der russischen Reaktion bedeuten, über die ein Liebhaber der Freiheit von Völkern und Individuen verzweifeln muß. Für Sie ist das Ganze simpel und klar: Recht, Wahrheit, Freiheit auf der einen Seite, Unrecht, Zwang, Barbarei auf der anderen. Wenn ich Sie stark enttäuscht habe, so liegt es vielleicht daran, daß mein Name nicht <Simplicon> ist wie der des Schulmeisters in Renans <Caliban>.» Und schließlich ganz grundsätzlich über die Aufgabe eines Schriftstellers: «Wenn er nicht der geweihte Priester der Wahrheit ist, kann man ihn ebensogut auf einen Misthaufen werfen. Er darf seine Ideale, wie unpopulär sie auch sein mögen, nicht verleugnen oder Abstriche an ihnen vornehmen oder so tun, als fände er sie verwirklicht, wo sie erst nur zu erahnen sind, bloß um sich bei einer Klasse oder einem Volk beliebt zu machen, auch bei seinem eigenen nicht. Die Berufung des Schriftstellers ist nicht, zur Zeit und zur Unzeit zu reden, damit man nicht vergesse, daß er da ist. Seine Berufung ist nicht zu applaudieren, zu protestieren, zu kondolieren, auch wenn er sich selbst sagen kann, daß seine Worte ohne Gewicht und ohne Macht sind. Er muß schweigen, wo Schweigen Gold ist. Und wenn er spricht, muß er sich an die schlichte Wahrheit halten, die im Frieden von Gefasel, im Krieg vom Donner der Kanonen übertönt wird.»

Clemenceau hatte gar kein Verständnis für das Anliegen von Brandes und verfaßte unter dem Titel «Adieu Brandes» einen Artikel, der am 29. März 1915 in seiner Tageszeitung «L'Homme Enchîné» (2. Jg. Nr. 175) und tags darauf auch in der dänischen Zeitung «Politiken» erschien und in dem er öffentlich mit Brandes



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brach. Clemenceau schrieb: «Rußland, England und Frankreich, deren Verbindung unauflöslich sein muß, auch nach dem Krieg, kämpfen gegen Deutschland um ihr Recht auf Unabhängigkeit; das ist so grundlegend für die Existenz, daß alles andere nur eine Entwürdigung darstellt. Die Kleinstaaten werden davon profitieren, ob sie sich nun am Kampfe beteiligt haben oder nicht. Um so schlimmer für diejenigen, die es nicht verstehen. Sie machen mich darauf aufmerksam, mit einer gewissen köstlichen Ironie, daß wir bis jetzt noch nicht gesiegt haben. Das ist wahr. Lassen Sie uns aber einfach machen. Es genügt nicht, unser Land bereist zu haben, um es zu kennen. Es gibt da eine Macht in uns, die Ihre Intelligenz nur begreifen könnte, wenn sie sich den Herzenskräften öffnen würde. Ein Monat vor dem Krieg schrieb ich einem Journalisten nach Wien. «Ich sähe Frankreich lieber am Boden vernichtet als unterworfen. » Jeder hat diese Wahl für sein Land zu treffen. Unsere ist unwiderruflich. Wenn das Schicksal anders entscheidet, werden Sie erfahren, was das heißt. Sie sehen, von nun an ist das Gespräch zwischen uns zwecklos. Lebewohl, Brandes. »1 Brandes seinerseits ging auf die wüsten Anschuldigungen Clemenceaus nicht ein.

Angeregt durch die Friedensbemühungen des amerikanischen Industriellen Henry Ford richtete Brandes am 22. Mai 1916 einen «Appell» («En Appel») an die kriegführenden Mächte. Er begann mit den Worten (zitiert nach: Hanns Grössel, Georg Brandes. Der Wahrheitshass, Berlin 2007): «Jede der kämpfenden Großmächte behauptet, daß der Krieg, den sie führt, Notwehr sei. Jede ist die Überfallene, jede kämpft für ihr Dasein. Für jede ist der Mord Notwehr, wie sie jede ihrer Lügen Notlüge nennt. Da also keine der Mächte den Krieg gewünscht hat, so laßt sie denn Frieden schließen! Nach einem Krieg von bald zweiundzwanzig Monaten scheint indessen der Frieden ferner als je. Einer jeden der kämpfenden Mächte ist es darum zu tun, vor allem die Zivilisation zum Siege zu führen, und diese Zivilisation wird genannt. entweder geistige Überlegenheit oder das Recht oder die Freiheit oder der Sieg des bürgerlichen Geistes über den Militarismus. ». Dieser Appell veranlaßte den englischen Journalisten William Archer, öffentlich gegen Brandes aufzutreten (siehe Hinweis zu 5. 41).

41 er gehört für mich zu den allerunsympathischsten Schriftstellern: Die Abneigung Rudolf Steiners gegenüber Brandes mag sich aus dessen starker Ich-Bezogenheit, verbunden mit einem Hang zur Schnellschreiberei, ergeben haben. Vermutlich spielte auch dessen agnostische Grundhaltung für Rudolf Steiner eine Rolle. So bezeichnete er in einer Besprechung für das «Magazin für Litteratur», das die «Deutsche Literatur und Gesellschaft im neunzehnten Jahrhundert» zum Gegenstand hatte (in GA 32), Brandes als «geistreich», nicht aber als «geistvoll». Im Berliner Mitgliedervortrag vom 4. März 1915 (in GA 64) meinte Rudolf Steiner, Brandes sei «weniger ein Gärtner der Geisteskultur», denn er sei ein Mensch, «der es nicht liebt, Anpflanzungen zu machen, der es aber versteht, überall die Blüten abzuschneiden



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und Phantasie-Bukette zusammenzustellen, die den Leuten dann sehr geistreich vorkommen können. »Der dänische Schriftsteller Georg Brandes (1842-1927) war auch in Deutschland weitherum bekannt. Er war von jüdischer Herkunft und hieß ursprünglich Morris Cohen. Er hatte in Kopenhagen Rechtswissenschaft und Philosophie studiert und 1870 mit einer Dissertation über die Behandlung des Asthetikproblems in der französischen Philosophie promoviert. Berühmt wurde er durch sein Hauptwerk «Høvedstrøminger i det 19de aarhundredes litteratur» (Kopenhagen 1872-1887), das unter dem Titel «Die Literatur des 19. Jahrhunderts in ihren Hauptströmungen» (Leipzig 1882-1 891) auch auf Deutsch erschien. Das Urteil von Brandes wurde von vielen Menschen sehr geschätzt; er war aber oft auch wegen seiner scharfzüngigen Formulierungen gefürchtet. Er verfaßte zahlreiche geistreiche Essays und Studien, unter anderem auch über Shakespeare und Goethe. Brandes, der finanziell von seinem Bruder Edvard unterstützt wurde, reiste viel in Europa herum und lebte von 1877 bis 1882 in Berlin. Seine große Liebe galt der französischen Kultur. 1902 wurde er als Professor für Philosophie nach Kopenhagen berufen. Seine Weltanschauung war stark aufklärerisch-positivistisch geprägt, was ihn auch zum Vertreter eines literarischen Realismus oder Naturalismus werden ließ. Seine individualistische Grundhaltung machte ihn zeitweise auch empfänglich für die Anschauungen Friedrich Nietzsches. Brandes lehnte den Krieg als politisches Mittel ab und war zunächst auch ein Gegner der zionistischen Bestrebungen, da er grundsätzlich ein Anhänger der jüdischen Assimilation im jeweiligen Gastland war. So war er 1910 auch formell aus der jüdischen Glaubensgemeinschaft ausgetreten. Erst kurz vor seinem Tode befürwortete er die Errichtung einer nationalen Heimstätte für das jüdische Volk in Palästina.

41 den letzten Artikel, den Brandes in Anknüpfung an eine Auseinandersetzung: Es ist zu vermuten, daß Rudolf Steiner mit Absicht den Artikel von Georg Brandes in seiner ganzen Länge zitierte, handelte es sich doch um die Meinung eines neutralen Beobachters der weltpolitischen Geschehnisse. Um sich nicht dem Vorwurf der Einseitigkeit auszusetzen, verwendete er die Worte eines Neutralen, um das auszudrücken, wovon er selber überzeugt war. Der Artikel von Brandes erschien unter anderem in der Zürcher Monatsschrift «Internationale Rundschau» vom 15. November 1916 (2. Jg. 14. Heft) unter dem Titel «Farbenblinde Neutralität».Dieser Artikel von Brandes war als Antwort an William Archer gedacht, der ihn in seiner vermutlich im Juni 1916 veröffentlichten Broschüre «Colour-Blind Neutrality. An Open Letter to Doctor George Brandes» (London 1916) heftig angriffen hatte. Die Broschüre war unter dem Titel «Farveblind Neutralitet» (Kopenhagen 1916) auch auf Dänisch erschienen, und dann auf Schwedisch und Spanisch, um die Meinung in den neutralen Staaten zu beeinflussen. In diesem offenen Brief schob Archer die Alleinschuld für den Ausbruch des Ersten Weltkriegs den Mittelmächten zu: «Wir haben zu entscheiden, welche Männer in unseren Tagen [.1 Taten begangen und eine Politik verfolgt haben, die Europa an den Rand eines Krieges geführt haben und schließlich darüber hinaus. Ich behaupte, daß die ganze Verantwortung bei den Mittelmächten liegt und daß es nicht neutrale Unparteilichkeit ist, die das leugnet, sondern Blindheit gegenüber einer langen Reihe von unbestreitbaren Tatsachen. »1 Seinen Offenen Brief schloß er mit den Worten: «Aber



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obwohl der Krieg solcherart ebenso peinigend für mein Gemüt wie verabschenungswürdig für meinen Verstand ist, habe ich niemals auch nur für einen Moment gewünscht, daß mein Land eine andere Wahl getroffen hätte als jene im August 1914 wenn denn gesagt werden kann, daß es überhaupt eine Wahl gehabt hat, nachdem Deutschland die belgische Grenze überschritten hatte. Und infolgedessen erlaube ich mir, Ihnen, mein lieber Herr, zu sagen, daß es bei all meiner Bewunderung ihres beneidenswerten Talentes, ihrer Leistungen und ihres Ruhmes eine Sache gibt, bei der ich nicht um die Welt mit Ihnen tauschen wollte. Welchen Kummer der Krieg mir auch gebracht hat oder noch bringen mag, ich wollte um nichts in der Welt neutral sein. »1 Bemerkenswert ist, daß Archer während des Krieges für die britische Kriegspropagandaabteilung arbeitete und gezielt für seine Aktion gegen Brandes eingesetzt wurde.

William Archer (1856-1924) stammte aus Schottland. Schon während seines Rechtsstudiums betätigte er sich als Journalist. Sein Interesse galt dem Theater. Er arbeitete für verschiedene wichtige englische Zeitungen als Theaterkritiker. Einer größeren Öffentlichkeit bekannt wurde er vor allem als Übersetzer Henrik Ibsens, den er dem englischen Publikum nahebrachte. Aber er übersetzte auch andere skandinavische Schriftsteller, wie zum Beispiel Brandes. Archer verfaßte selber auch Theaterstücke, die teilweise mit großem Erfolg aufgeführt wurden. Politisch vertrat Archer einen extrem nationalistischen Standpunkt. Diese seine politische Überzeugung, seine schriftstellerischen Fähigkeiten und seine Stellung in der Kulturwelt machten ihn zum geeigneten Mann im Propagandakrieg um die Beeinflussung der öffentlichen Meinung in den neutralen Ländern. So wurden auch in der Schweiz Stellungnahmen von ihm gegen Brandes veröffentlicht, zum Beispiel in der Halbmonatsschrift «Wissen und Leben» vom 15. November 1916 (X. Jg. Nr. 4). Dort wurde sein Offener Brief vom 3. Juli 1916 abgedruckt. In dieser «Antwort an Dr. Georg Brandes» fragt er, in Anknüpfung an seine Angriffspolemik in der Broschüre: «Darf ich noch einmal versuchen, im Lichte Ihrer jüngsten Äußerung zu sagen, warum die Kühle Ihrer neutralen Gesinnung so viele Ihrer Bewunderer enttäuscht und verletzt?» Und er vermutet: «Die ganze Grundlage Ihrer Anschauung, wie ich sie verstehe, ist Ihre Abscheu gegen die wahnsinnige Torheit eines jeden Krieges. Ihr ursprünglicher Artikel war ein Aufruf dessen Zweck es war, einen sofortigen Friedensschluß herbeizuführen, und jetzt zitieren Sie, in sehr sachgemäßer Weise, die zündenden Worte, in welchen Erasmus und später Voltaire die blödsinnige Tradition des Massenmords gebrandmarkt haben. Sehr gut. Ich für meine Person stimme mit Ihnen überein, und die Staatsmänner, die an der Spitze der Ententemächte stehen, haben die gleiche Gesinnung, und mit ihnen die überwiegende Mehrheit der denkenden Menschen in allen zivilisierten Ländern - mit Ausnahme von Deutschland. »

41 auch nicht das kleinste rote Vögelchen vierter Klasse: In Preußen gab es zwei Orden der Monarchie, den «Schwarzen Adlerorden» und den «Roten Adlerorden». Der «Schwarze Adlerorden» wurde am 18. Januar 1701 gestiftet und blieb den



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Mitgliedern des preußischen Erbadels vorbehalten. Der «Rote Adlerorden» wurde am 12. Juni 1792 zum zweiten Orden der Monarchie erhoben und umfaßte seit 18. Januar 1830 vier Klassen. Das Ordenszeichen der Ritter der vierten Klasse war ein silbernes Kreuz mit einem gekrönten roten Adler in einem weiß emaillierten Mittelschild. Brandes hatte sich in Deutschland wegen seiner Parteinahme zugunsten der dänischen Minderheit in Nordschleswig sehr unbeliebt gemacht.

42 Infolge meiner Auslassungen über Nordschleswig: Georg Brandes hatte einen Aufsatz über Nordschleswig geschrieben, der am 1. April 1899 unter dem Titel «Das Dänentum in Südjütland» in der von Maximilian Harden geleiteten Zeitschrift «Die Zukunft» (VII. Jg. Nr. 27) erschienen war. Darin sprach er sich kritisch gegen die preußische Assimilierungspolitik gegenüber dem dänischen Volksteil aus. Er meint (fünfter Abschnitt): «Die Dänen können und müssen sich damit abfinden, daß die stärkere Nation der schwachen immer und immer wieder solche Demütigungen zufügt, wie sie selbst sie von keiner anderen Macht dulden würde. Eins aber können sie nicht. Sie können nicht darauf verzichten, alles, was in ihrer Macht steht, zur Bewahrung ihrer Sprache und Kultur in den schleswigschen Gegenden anzubieten, die ein Jahrtausend lang dänisch waren und es noch sind. Sie wären Elende, wenn sie es vermöchten.» Denn: «Preußen vermag die dänischen Südjüten zu reizen, zu locken und zu belohnen; es kann sie auch verfolgen und strafen. Und dennoch fühlt es sich unsicher, dennoch kommt es hier zu kurz und wird es in immer höheren Maße zu kurz kommen, wenn das dänische Volk sich, wie seine besten Söhne es wünschen, zu einem freien Volk entwickelt, mit allen Tugenden, von denen der vornehmste der Freisinn ist, der Vaterländerei, Polizeiwillkür, Uniformität, Untertanengeist verachtet. »Seit dem Vertrag von Ripen am 4. Dezember 1459 übte der dänische König als Angehöriger des Hauses Oldenburg in Personalunion die Herrschaft über die Herzogtümer Schleswig und Holstein (mit Lauenburg) aus. Im Frieden von Wien - er wurde am 30. Oktober 1864 unterzeichnet -mußte der dänische König allerdings in die Abtretung der beiden Herzogtümer Holstein (mit Lauenburg) und Schleswig an Preußen und an Österreich einwilligen. Der Versuch Dänemarks, das Herzogtum Schleswig, das im Gegensatz zum Herzogtum Holstein nicht zum Deutschen Bunde gehörte, stärker in den dänischen Gesamtstaat einzubinden, hatte 1864 zum sogenannten Dänischen Krieg geführt. Diese militärische Auseinandersetzung zwischen Dänemark auf der einen Seite und Preußen und Österreich sowie Hannover und Sachsen auf der anderen Seite dauerte vom 1. Februar bis 20. Juli 1864. Unterbrochen durch einen Waffenstillstand - er galt für die Zeit vom 12. Mai bis 26. Juni -, endete der Krieg schließlich mit der vollständigen Niederlage Dänemarks.

Zunächst verwalteten Preußen und Österreich die beiden Herzogtümer gemeinsam. Aufgrund ihrer Machtinteressen waren sie nicht an einer Aufrechterhaltung der Selbständigkeit der beiden Gebiete interessiert und hintertrieben deshalb eine eigenständige dynastische Thronfolgeregelung für die beiden Herzogtümer. Am 14. August 1865 übernahm Österreich aufgrund der Konvention von Bad Gastein die verwaltungsmäßige Verantwortung für Holstein, desgleichen Preußen für Schleswig; das Herzogtum Lauenburg wurde an Preußen abgetreten. Nach dem Deutschen Krieg verzichtete Österreich im Frieden von Prag vom 23. August 1866 auf seine Rechte auf Schleswig-Holstein und mußte der Einverleibung Schleswig-Holsteins als Provinz in den preußischen Staatsverband zustimmen.

42 Brandes war ein intimster Freund von Clemenceau. Georg Brandes fühlte sich von der französischen Kultur sehr angezogen und war mit zahlreichen Persönlichkeiten des französischen Kulturlebens und der Politik bekannt. So verband ihn seit 1899 eine enge Freundschaft mit dem französischen Politiker Georges Clemenceau, die



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Georges Clemenceau (1841-1 929) gehörte zu den prägenden Gestalten der französischen Politik an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert. Er hatte zwar Medizin studiert -sein Studium hatte er 1865 mit dem Doktortitel abgeschlossen-, aber er widmete sich zur Hauptsache dem Journalismus. Demokratisch gesinnt, lehnte er die autoritäre Herrschaft von Kaiser Napoleon III. (siehe Hinweis zu 5. 218) ab. Da er in Konflikt mit den Behörden kam - er wurde als radikaler Agitator verhaftet -, beschloß er, in die Vereinigten Staaten auszuwandern. Nach einem vierjährigen Aufenthalt entschloß er sich 1869 zur Rückkehr. Nach dem Sturz Kaiser Napoleons entschied er sich für eine Laufbahn als Politiker. Von 1871 bis 1876 war er Mitglied des Stadtrates von Paris. 1876 wurde er in die Abgeordnetenkammer gewählt. Als Radikalsozialist gehörte Clemenceau zur parlamentarischen Linken, die sich nicht nur für Sozialreformen und die Trennung von Kirche und Staat einsetzte, sondern auch den Kolonialismus als nicht im Interesse Frankreichs ablehnte. Als scharfzüngiger parlamentarischer Redner gefürchtet, beteiligte er sich am Sturz zahlreicher Ministerien, so zum Beispiel des Kabinetts von Jules Ferry (1832-1893) im März 1885 wegen dessen Kolonialpolitik. 1893 verlor Clemenceau infolge seiner Verwicklung in den Panamaskandal sein Parlamentsmandat. Im Verlaufe der Dreyfus-Affäre (siehe Hinweis zu 5. 49) zeigte er sich immer mehr von der Unschuld des Hauptmanns Dreyfus überzeugt; es war in seiner Zeitschrift «L'Aurore», wo Emile Zola 1898 seinen berühmten offenen Brief «J'accuse ... !» veröffentlichte. 1902 gelang Clemenceau der Wiedereinstieg in die Politik, indem er in den französischen Senat gewählt wurde, dessen Mitglied er bis 1920 blieb.

Clemenceau war zweimal französischer Ministerpräsident, vom Oktober 1906 bis Juli 1909 und vom November 1917 bis Januar 1920. In dieser Funktion stellte er sich ganz in den Dienst der Staatsräson. Im ersten Kabinett war er gleichzeitig Innenminister - ein Amt, das er schon im März 1906 angetreten hatte. In dieser Zeit setzte er nicht nur die Einführung einer Einkommensteuer durch, sondern ging auch mit brutalen militärischen Mitteln gegen die Streikbewegungen der Arbeiter vor, was ihn in Konflikt mit den Sozialisten unter Jean Jaurès (siehe Hinweis zu 5. 228) brachte. Im zweiten Kabinett übernahm er zugleich auch das Amt des Kriegsministers - zu einem Zeitpunkt, als sich Frankreich in einer schweren Krise befand und der Sieg gegen die Mittelmächte in weite Ferne gerückt schien. Clemenceau war ein überzeugter französischer Nationalist - er war immer für die Rückgabe Elsaß-Lothringens eingetreten - und galt selbst für seinen politischen Gegner, den konservativen Staatspräsidenten Raymond Poincaré (siehe Hinweis zu 5. 54), als Garant für die Weiterführung des Krieges bis zum siegreichen Ende. Unter seiner stark autoritär gefärbten Leitung, die die optimale Bündelung des Kriegswillens erstrebte durch Niederhaltung aller kompromißbereiten oder pazifistischen Kräfte, gelang es, dieses Ziel zu erreichen. Er trat auch entschieden für eine Unterordnung der militärischen unter die zivile Gewalt ein. In den Versailler Friedensverhandlungen schaffte es Clemenceau, die Vierzehn Punkte des amerikanischen Präsidenten Thomas Woodrow Wilson in den Hintergrund zu drängen und Bestimmungen durchzusetzen, die auf eine territoriale und wirtschaftliche Vormachtstellung Frankreichs hinausliefen. Trotzdem schienen die Ergebnisse des Versailler Friedensvertrages den französischen Nationalisten noch zu maßvoll, so daß Clemenceau in der Präsidentenwahl von 1920 unterlag und im Januar 1920 als Ministerpräsident



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zurücktreten mußte. Obwohl er sich nun offiziell ins Privatleben zurückgezogen hatte, vermochte er immer noch die politischen Vorgänge zu beeinflussen. 1918 wurde Clemenceau als Mitglied in die «Académie Française» aufgenommen.

42 Ich selber habe in Österreich einmal eine Bank gesehen: Die von Rudolf Steiner erwähnte Einsiedelei muß sich in der Nähe des Schlosses von Maria Stona (Pseudonym für Maria Scholz-Stonawski, 1861-1944) befunden haben. Es war im August 1901, als Rudolf Steiner mit seiner ersten Frau, Anna Steiner-Eunike, zu Besuch bei der Dichterin und Schriftstellerin Maria Stona weilte, die das Schloß Strzebowitz (oder auch Strebowitz, heute Trebovice) in der heutigen Region Mährisch-Schlesien (Moravskoslezsk~kraj) in Tschechien bewohnte und eine Gedenkschrift über Rudolf Steiners verstorbenen Freund Ludwig Jacobowski herauszugeben beabsichtete. Heute gehört Strebowitz zur Stadt Ostrau (Ostrava).

43 der Mangel an Kriegsbereitschaft einer Festlandsmacht im Sommer 1914: Rudolf Steiner selber war auch überzeugt, daß die deutsche Armee zum Zeitpunkt des Kriegsausbruchs für eine Kriegführung nur mangelhaft vorbereitet war. So zeigte er sich in seinem Vortrag vom 9. November 1918 (in GA 185a) überzeugt: «Man muß in Betracht ziehen, daß das deutsche Heer in dieser Zeit, in der man den Mittelmächten zumutete, einen Präventivkrieg haben führen zu wollen, was doch wirklich ein bloßer Unsinn ist, noch keineswegs in einer Verfassung war, daß ein Sachverständiger großes Zutrauen haben konnte, es werde durchkommen bei dem, was doch hereinbrechen mußte. [...]Man darf nicht vergessen, daß gerade derjenige, der die Verhältnisse genau kannte, keine Stunde zu verlieren gedachte, zu verlieren denken durfte, aus dem einfachen Grunde, weil man ganz und gar nicht glauben konnte, daß dieses Heer nach dem, was in den verschiedenen vorangegangenen Jahren geschehen war [als Alfred Graf von Schlieffen Generalstabschef war, der den Kaiser in den Manövern immer gewinnen ließ], irgendwie gewachsen sein könnte der furchtbarsten Weltkoalition, die man heraufbeschwor, selbstverständlich, wenn man sich zum Kriege entschloß. Man darf nicht vergessen: Bereits Ende September hatte dieses Heer keine Munition mehr! Zwei Tage vor der Kriegserklärung an Rußland war noch beim Kriegsministerium vom Auswärtigen Amt eine dringende Anforderung eingelaufen, die Munitionsbestellungen geringer zu machen. Das sind ja alles schließlich nicht Dinge, die man tut, wenn man sich einen Präventivkrieg vornimmt, nicht wahr. Und solche Dinge könnte man zu Hunderten und Tausenden aufzählen, wenn man nicht ohnedies wüßte, daß niemand an einen Präventivkrieg dachte. » Für Rudolf Steiner war klar: «Es ist in der letzten Zeit vielfach die Sache so ausgesprochen worden - aber es gibt sehr wenige Menschen, eigentlich wirklich furchtbar wenige Menschen, die die Verhältnisse genau kennen -, daß man in Berlin in den Krieg mehr hineingerutscht ist, als daß man ihn gewollt hat. Man ist auch wirklich mehr hineingerutscht. Man darf auch nicht vergessen, daß es in einer gewissen Beziehung ganz selbstverständlich war, daß die Heeresleitung in dem Augenblicke, wo die ganze Verantwortung auf ihr lastete, sich sagte. Jede Stunde verloren bedeutet Ungeheures verloren. »Es ist offensichtlich, daß Rudolf Steiners Deutung der deutschen Haltung durch Mitteilungen beeinflußt ist, die er im Verlaufe seiner Gespräche mit General Helmuth von Moltke im November 1914 in Bad Homburg geführt hatte. Der jüngere Moltke, Neffe des älteren Moltke (siehe Hinweis zu 5. 221), war zum Zeitpunkt des Kriegsausbruchs deutscher Generalstabschef. Rudolf Steiner war mit General von Moltke über dessen Frau Eliza von Moltke, geborene Gräfin Moltke-Huitfeldt (1859 —1 932), gut bekannt -sie war eine Freundin von Marie von Sivers. Aufgrund seiner Gespräche mit Rudolf Steiner sah sich Helmuth von Moltke veranlaßt, seine



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Erinnerungen an die Vorgänge bei Kriegsausbruch schriftlich festzuhalten. Nach dem Kriege wollte Rudolf Steiner diese Erinnerungen im Rahmen der «Schriften des Bundes für Dreigliederung des sozialen Organismus» unter dem Titel «Die <Schuld> am Kriege. Betrachtungen und Erinnerungen des Generalstabchefs H. von Moltke über die Vorgänge vom Juli 1914 bis November 1914» mit der Zustimmung von Moltkes Witwe veröffentlichen. Aber als die Familie Einspruch gegen die geplante Veröffentlichung erhob, mußten die bereits gedruckten Exemplare am 3. Juni 1919 zum Einstampfen freigegeben werden. Mit der Publikation dieser Erinnerungen wollte Rudolf Steiner der einseitigen Verurteilung Deutschlands als Hauptschuldigen am Kriegsausbruch verhindern, wie sie dann im Versailler Friedensvertrag vom 28. Juni 1919 festgehalten wurde. Erst 1922 konnten die Erinnerungen Moltkes unter dem Titel «Erinnerungen -Briefe -Dokumente. 1877-1916» durch den Verlag «Der Kommende Tag A.G.» in Stuttgart veröffentlicht werden.

43 das Marokko-Übereinkommen zwischen England und Frankreich vom April 1904: Siehe Hinweis zu 5. 102.

43 Am 3. August 1914 verlas Sir Edward Grey im Parlament: In der Unterhaussitzung vom 3. August 1914 hatte der englische Außenminister Sir Edward Grey (siehe Hinweis zu 5. 206) erklärt, daß Großbritannien am französisch-russischen Bündnis nicht beteiligt sei und daß auch keine geheimen Vereinbarungen bestünden. Nichtsdestoweniger sei Großbritannien an Frankreich gebunden, wenn nicht durch vertragliche Verpflichtung, so doch durch Ehre und eigenes Interesse. (siehe Hinweis zu 5. 143).

44 an der französisch-russischen Allianz: Die französisch-russische Militärkonvention vom 4. Januar 1894 (siehe Hinweis zu 5. 173).

44 Lord Hugh Cecil: Hugh Richard Heathcote Gascoyne-Cecil, Baron Quickswood (1869-1956) war ein jüngerer Sohn des britischen Premierministers Lord Salisbury (siehe Hinweis zu 5. 238), und zunächst von 1895 bis 1906 und dann von 1910 bis 1937 Mitglied des britischen Unterhauses für die Konservative Partei. Politisch gehörte er zum Umkreis von Winston Churchill (siehe Hinweis zu 5. 227). Gegen Ende seines Lebens, von 1941 bis 1956 gehörte er als Peer dem Oberhaus an.

44 Am 24. März 1913 wurde der Premierminister abermals befragt: Im britischen Unterhaus wurde von den beiden radikalliberalen Abgeordneten Sir William Byles und Joseph King die Anfrage eingebracht, ob Großbritannien unter Umgehung des Parlamentes irgendwelche Geheimverträge abgeschlossen habe. So fragte zum Beispiel King (zitiert nach: The Parliamentary Debates, House of Commons, 24th March 1913, Oral Answers to Questions), «ob die Außenpolitik dieses Landes gegenwärtig beeinträchtigt werde durch irgendwelche Verträge, Vereinbarungen oder Verpflichtungen, nach denen die britischen Streitkräfte in gewissen Eventualitäten veranlaßt wären, auf dem Kontinent zu landen und dort in militärische Operationen einzugreifen, und ob 1905, 1908 oder 1911 dieses Land Frankreich spontan den Beistand einer britischen Armee angeboten habe, die auf dem Kontinent landen sollte, um Frankreich im Falle europäischer Feindseligkeiten zu unterstützen. »1 Am 24. März 1913 erteilte der britische Premierminister Herbert Henry Asquith (siehe Hinweis zu 5. 206) eine Antwort; sie war von Sir Edward Grey (siehe Hinweis zu



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s. 206), dem «Secretary of State for Foreign Affairs» — so wurde der britische Außenminister offiziell genannt -, ausgearbeitet worden. Asquith erklärte: «Wie mehrfach bestätigt, hat dieses Land keine der Öffentlichkeit und dem Parlament unbekannten Verpflichtungen, die es zwingen, an irgendeinem Krieg teilzunehmen. Mit anderen Worten, wenn zwischen den europäischen Mächten Krieg ausbricht, gibt es keine unveröffentlichten Vereinbarungen, die die Freiheit der Regierung oder des Parlamentes einschränken oder behindern könnte zu entscheiden, ob Groß britannien an einem Krieg teilnehmen soll oder nicht. Welchen Gebrauch Regierung und Parlament von den See- und Landstreitkräften machen würden, wenn sie beschließen, an dem Krieg teilzunehmen, ist nichts, worüber öffentliche Verlautbarungen im voraus gemacht werden können.»'

45 antwortete Sir Edward Grey am 28. April 1914: Am 28. April 1914 fragte der Abgeordnete Joseph King den britischen Außenminister erneut (zitiert nach: The Parliamentary Debates, House of Commons, 28th April 1914, Oral Answers to Questions), «ob ihm bekannt sei, daß kürzlich irgendwelche Forderungen gestellt worden seien nach weitergehenden Absprachen zwischen den Mächten des Dreiverbandes hinsichtlich gemeinsamer Aktivitäten auf dem Kontinent im Falle gewisser Eventualitäten und ob sich die Politik dieses Landes weiterhin von allen Verpflichtungen, sich auf dem Kontinent militärisch zu engagieren, freihalten wolle?» 2 Und Greys Stellungnahme: «Die Antwort auf den ersten Teil der Frage ist negativ, und was den letzten Teil betrifft, so bleibt unsere Haltung dieselbe, wie sie der Premierminister in seiner Antwort auf eine Anfrage in diesem Hause am 24. März 1913 [siehe Hinweis zu 5. 44]formuliert hat. »3

45 Auf eine abermalige Anfrage am 11. Juni 1914 erwiderte Sir Edward Grey. Nachdem durch eine gezielte Indiskretion der deutschen Regierung die laufenden britisch-russischen Marineverhandlungen (siehe Hinweis zu 5. 220) in der englischen Öffentlichkeit bekannt geworden waren, wurden die beiden Abgeordneten Byles und King erneut aktiv; sie stellten dem britischen Außenminister die Frage (zitiert nach: The Parliamentary Debates, House of Commons, "th June 1914, Oral Answers to Questions), «ob kürzlich ein Flottenabkommen geschlossen worden sei zwischen Rußland und Großbritannien und ob irgendwelche Verhandlungen mit dem Ziel, zu einem solchen Flottenabkommen zu gelangen, kürzlich stattgefunden hätten oder zur Zeit zwischen Rußland und Großbritannien anhängig seien?» 4



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beziehungsweise «ob er irgendwelche Aussagen machen könne hinsichtlich eines angeblichen neuen Flottenabkommens zwischen Großbritannien und Rußland, wie weit ein solches Abkommen unsere Beziehungen zu Deutschland berühren würde und ob er Dokumente vorweisen könne?» 1 Sir Edward Grey verwies erneut auf die Aussage von Premierminister Asquith im Unterhaus vor einem Jahr und antwortete: «Der Premierminister hat damals geantwortet, daß es, falls es zu einem Krieg komme zwischen den europäischen Mächten, keine unveröffentlichten Abkommen gäbe, die die Entscheidungsfreiheit der Regierung oder des Parlamentes, ob Großbritannien an einem Krieg teilnehmen solle oder nicht, einschränken oder behindern würden. Das beantwortet beide Punkte der Anfrage. Es ist heute ebenso wahr wie vor einem Jahr. Seither sind keine Verhandlungen abgeschlossen worden zwischen irgendwelchen Mächten, wodurch diese Aussage weniger wahr würde. Es sind keine solchen Verhandlungen im Gange, und, soweit ich das beurteilen kann, ist es auch nicht wahrscheinlich, daß welche aufgenommen werden. Aber wenn irgendein Abkommen abgeschlossen werden sollte, das es nötig machen würde, die Aussage des Premierministers vom vorigen Jahr, die ich zitiert habe, zurückzunehmen oder zu modifizieren, sollte es nach meiner Meinung - und würde es vermutlich auch -dem Parlament vorgelegt werden.» 2Damit sagte Grey - rein formell gesehen - die Wahrheit, verschwieg aber die geführten Gespräche. Ein offizieller Bündnisvertrag war zwar auch nie beabsichtigt, aber eine rein informelle Übereinkunft im Rahmen eines Notenaustausches, ähnlich wie mit Frankreich im Jahre 1912 (siehe Hinweis zu S. 45), lag durchaus im Bereich des Möglichen. Später in seinen Memoiren gab Grey zu (zitiert nach: Memoiren von Lord Edward Grey, Fünfundzwanzig Jahre Politik 1892 —1916, München 1926, I. Band, 15. Kapitel, «Die letzten Friedenstage»): «Die Antwort, die ich gab, entsprach der Wahrheit. Man kann die Kritik üben, daß ich nicht auf die mir gestellte Frage geantwortet habe. Das ist nicht zu leugnen. Das Parlament hat unbedingt ein Recht, von jedem Bündnis oder jeder Verabredung zu erfahren, die das Land zu einer Handlung verpflichtet oder seine Handlungsfreiheit beschränkt. Das kann aber nicht von militärischen oder maritimen Maßnahmen gesagt werden, die getroffen werden, um möglichen Ereignissen begegnen zu können. »

45 Es bestand doch der Brief an M. Cambon vom 22. November 1912. Außenminister Sir Edward Grey hatte am 22. November dem französischen Botschafter Paul Pierre Cambon einen Brief geschrieben. Paul Cambon (1843-1924) war ein äußerst einflußreicher französischer Diplomat, der sich entschieden für eine französisch-britisch-russische Annäherung einsetzte. Er wirkte von 1898 bis 1920 als Botschafter Frankreichs in London. In seinem Schreiben bekannte sich Grey in verklausulierter Form zur gegenseitigen militärischen Unterstützung zwischen Frankreich



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und Großbritannien im Falle eines Angriffes durch eine dritte Macht. Da diese Zusage nicht auf ordentlichem Vertragswege erfolgte, wurde das britische Unterhaus nicht über diese Abmachung informiert. Erst in seiner Rede vom 3. August 1914 machte Grey den Abgeordneten Mitteilung über die getroffene Abmachung mit Frankreich. Der Brief an Cambon lautete (zitiert nach: Memoiren von Lord Edward Grey, Fünfundzwanzig Jahre Politik 1892 —1916, München 1926, I. Band, 6. Kapitel, «Die erste Krise (Algeciras) und die militärischen Besprechungen»):Mein lieber Botschafter!

In den letzten Jahren haben sich von Zeit zu Zeit die französischen und britischen Marine- und Militärsachverständigen miteinander beraten. Es geschah dies unter der steten Voraussetzung, daß solche Beratungen jeder der beiden Regierungen für alle Zukunft volle Freiheit der Entscheidung lassen, ob sie der anderen Waffenhilfe leisten wolle oder nicht. Wir sind übereingekommen, daß die Beratungen der Fachleute kein Engagement der Regierung bedeuten und auch nicht als ein Engagement angesehen werden sollen, einander in irgendeinem Streitfälle, der noch nicht eingetreten ist und vielleicht nie eintreten wird, beizustehen. So basiert zum Beispiel die Verteilung der französischen und britischen Seestreitkräfte im gegebenen Augenblicke nicht auf einer Verpflichtung zum Zusammenwirken im Kriegsfalle.

Sie haben jedoch dara uf hingewiesen, daß es für jede der beiden Regierungen höchste Bedeutung erlangen könnte zu wissen, ob sie auf die Waffenhilfe der anderen zählen dürfe, wenn sie schwerwiegende Gründe hätte anzunehmen, daß ein nicht-provozierter Angriff einer dritten Macht zu befürchten sei.

Ich stimme Ihnen bei, daß jede der beiden Regierungen, sobald sie triftige Gründe hat, einen nicht-provozierten Angriff seitens einer dritten Macht, oder sonst eine Bedrohung des allgemeinen Friedens zu erwarten, sogleich mit der anderen Regierung zu besprechen hätte, ob sie vereint handeln sollen, um einen Angriff abzuwehren und den Frieden zu erhalten, und welche Maßnahmen sie gegebenen Falles gemeinsam zu treffen bereit wären. Wenn diese Maßnahmen ein bewaffnetes Vorgehen erforderten, wären die Pläne der Generalstäbe sogleich zu prüfen, worauf die Regierungen zu entscheiden hätten, in welchem Ausmaße sie durchzuführen seien.

In seiner Antwort vom 23. November 1914 schrieb Paul Cambon (gleiche Quelle):

Lieber Sir Edward!

Sie erinnerten mich in Ihrem Briefe von gestern, dem 22. November, daß während der letzten Jahre die Militär- und Marine-Sachverständigen Frankreichs und Großbritanniens von Zeit zu Zeit miteinander Beratungen abgehalten haben; daß es stete Voraussetzung gewesen sei, daß diese Beratungen in keiner Weise die Freiheit jeder der beiden Regierungen beeinträchtigen dürften, in der Zukunft darüber zu entscheiden, ob sie sich gegenseitig mit Waffengewalt unterstützen wollen oder nicht; daß diese Beratungen zwischen den beiderseitigen Fachleuten nicht als ein Abkommen, welches unsere Regierungen verpflichtete, in bestimmten Fällen aktiv einzugreifen, betrachtet werden und auch künftig nicht betrachtet werden sollen; daß ich gleichwohl vorgebracht habe, es könne für jeder der beiden Regierungen höchste Bedeutung erlangen zu wissen, ob sie auf die Waffenhilfe der anderen zählen könne, sobald sie triftige Gründe hätte, einen nicht-provozierten Angriff seitens einer dritten Macht zu befürchten.

Ihr Schreiben beantwortet diesen Punkt, und ich bin autorisiert festzustellen, daß jede unserer Regierungen, im Falle sie ernste Gründe hätte, ent



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weder eine aggressive Handlung seitens einer dritten Macht oder irgendein den allgemeinen Frieden bedrohendes Ereignis zu befürchten, sofort mit der andern die Frage prüfen würde, ob beide Regierungen vereint vorgehen sollen, um die Angriffshandlung zu verhindern oder den Frieden zu bewahren. Im Bejahungsfalle würden beide Regierungen die Maßnahmen beschließen, die sie gemeinsam zu unternehmen bereit wären. Wenn diese Maßnahmen ein bewaffnetes Eingreifen erforderten, würden beide Regierungen sogleich die Pläne ihrer Generalstäbe in Erwägung ziehen und entscheiden, inwieferne diese Pläne durchzuführen seien.

46 daß Englands Kriegserklärung von der deutschen Regierung so wenig vorauszusehen war: Am 24. Juli 1914, nach der Überreichung des österreichisch-ungarischen Ultimatums an Serbien am Vortage, empfing der britische Außenminister Sir Edward Grey den deutschen Botschafter Karl Max Fürst von Lichnowsky (siehe Hinweis zu 5. 47) zu einem Gespräch. Noch am selben Tage erstattete dieser seinem Vorgesetzten Gottlieb von Jagow (siehe Hinweis zu 5. 135 in GA 173b), dem «Staatssekretär des Auswärtigen Amtes» — so lautete die offizielle Amtsbezeichnung des deutschen Außenministers -, Bericht über den Verlauf der Unterredung. Lichnowsky teilte in seinem Telegramm mit, Sir Edward Grey habe das österreichisch-ungarische Ultimatum entschieden bedauert und vorgeschlagen, die nicht unmittelbar beteiligten Staaten Großbritannien, Deutschland, Frankreich und Italien sollten die Vermittlung zwischen Rußland und Österreich-Ungarn übernehmen. Weiter habe Grey gewarnt (zitiert nach: Die Deutschen Dokumente zum Kriegsausbruch 1914, herausgegeben im Auftrage des Auswärtigen Amtes, Berlin 1922, Erster Band: Vom Attentat in Sarajevo bis zum Eintreffen der serbischen Antwortnote in Berlin): «Die Gefahr eines europäischen Krieges sei, falls Österreich serbischen Boden betrete, in nächste Nähe gerückt. Die Folgen eines solchen Krieges zu vier [t], er betonte ausdrücklich die Zahl vier und meinte damit Rußland, Österreich-Ungarn, Deutschland und Frankreich, seien vollkommen unabsehbar. » Aus diesem Satz schloß Jagow, Großbritannien werde sich als fünfte Großmacht in dem zu erwartenden Krieg neutral verhalten. In diesem Sinne unterrichtete er auch den deutschen Reichskanzler, Theobald von Bethmann Hollweg. (siehe Hinweis zu 5. 126 in GA 173b).Beide deutsche Politiker kannten aber nicht die volle Wahrheit, weil ihnen Lichnowsky einen entscheidenden Punkt vorenthalten hatte. In einem zweiten Gespräch, das am 25. Juli 1914 stattfand, hatte nämlich Grey Lichnowsky gegenüber darauf hingewiesen, daß im englischen Vorschlag auf eine Aussetzung der russischen Mobilmachungsmaßnahmen während der ganzen Vermittlungsdauer verzichtet würde. Lichnowsky unterließ es, das Außenministerium über diesen Vorbehalt zu informieren. In seinem zweiten Telegramm vom 25. Juli 1914 schrieb er lediglich (gleiche Quelle): «Sir E. Grey ist vorläufig noch ohne Nachricht über die in Petersburg gefaßten Beschlüsse, rechnet aber mit Bestimmtheit darauf, daß der österreichischen Mobilisierung die russische folgen werde. Alsdann sei seiner Ansicht nach der Augenblick gekommen, um im Verein mit uns, Frankreich und Italien eine Vermittlung zwischen Österreich und Rußland eintreten zu lassen. Ohne unsere Mitwirkung, meinte er, sei jede Vermittlung aussichtslos, und könne er allein nicht an Russen und Österreicher herantreten. » Die weiteren Worte Greys hätten allerdings die Leiter der deutschen Außenpolitik hellhörig machen müssen: «Der Minister unterscheidet scharf, wie er mir wiederholte, zwischen dem österreichisch-serbischen und österreichisch-russischen Streit. In ersteren wolle er sich nicht mischen, da er ihn nichts angehe. Der österreichisch-russische Streit aber bedeute unter Umständen den



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Weltkrieg, den wir im vorigen Jahre durch die Botschafterkonferenzen gemeinsam hätten verhindern wollen. Europäische Verwicklungen aber seien auch für Großbritannien nicht gleichgültig, obwohl es durch keinerlei bindende Abmachungen verpflichtet wäre. »

46 wie C. H. Norman schlagend nachgewiesen hat: Clarence Henry Norman (1886— 1974) war ein überzeugter Sozialist -Anhänger der II. Internationale und zunächst Mitglied der «Social Democratic Federation», später der «Independent Labour Party - und entschiedener Gegner der Todesstrafe und des Krieges. Vermutlich meint Brandes Normans Schrift «Britain and the War. A study in diplomacy» (Manchester/London 1914). Eine andere wichtige Publikation Normans war «Nationality and Patriotism» (Manchester 1915). Seinen Standpunkt faßte er in seiner nach dem Krieg erschienenen Schrift «A Searchlight on the European War» (London 1924) zusammen. Norman wies unter anderem auch auf die Rolle des «Grand Orient de France» für den Ausbruch des Ersten Weltkriegs hin (siehe Hinweis zu 5. 177). Aufgrund seiner pazifistischen Haltung - er rief zur Kriegsdienstverweigerung auf -wurde Norman während des Krieges als Staatsfeind betrachtet. Als er den Inhalt einer Rede, die er 1916 in Leicester gehalten hatte, als Privatdruck unter dem Titel «Some Secret Influences behind the European War: a Lecture» (London 19161/19172) veröffentlichte, wurde seine Wohnung durchsucht. Er wurde verhaftet und über längere Zeit in eine Zwangsjacke gesteckt und schließlich zu einer Zuchthausstrafe, verbunden mit Schwerarbeit, verurteilt. Er mußte bis nach dem Waffenstillstand im Gefängnis bleiben. Die zum Teil unmenschliche Behandlung hielt er in einem Tagebuch fest, das auszugsweise noch während seines Gefängnisaufenthaltes veröffentlicht wurde. Norman gehörte auch zum Mitarbeiterkreis der von Alfred Richard Orage (1872-1934) herausgegebenen Zeitschrift «The New Age», die, 1894 begründet, ihre Blütezeit zwischen 1907 bis 1922 hatte und sich als Ideenlieferant für die Schaffung eines neuen Zeitalters verstand. Nach dem Kriege wurde er wegen seiner politischen Überzeugung und seines Kampfes gegen soziale Ungerechtigkeit gesellschaftlich geächtet und hatte Mühe, eine Arbeit - er war von Beruf Stenograph - zu finden.

46 den südafrikanischen Republiken unter günstigen Bedingungen Frieden zu gewähren: Die Unterwerfung der beiden Burenrepubliken in Südafrika, des Oranjefreistaates und der Südafrikanischen Republik (Transvaal) und ihre Eingliederung ins britische Kolonialreich gehörte zu den wichtigen Zielsetzungen der britischen imperialistischen Bestrebungen. Zweimal bereits - 1877 bis 1881 und 1895 bis 1896 — war der Versuch fehlgeschlagen, diese Gebiete dem englischen Herrschaftsbereich-bereich einzuverleiben. Erst der dritte Versuch sollte den ersehnten Erfolg bringen. Im sogenannten Burenkrieg -der Anlaß zum Kriegsausbruch war der Einfall der Buren in das britische Natal am 12. Oktober 1899 — standen die Sympathien der europäischen Kontinentalmächte auf der Seite der beiden ihre Unabhängigkeit verteidigenden Republiken. Entgegen der pro-burischen Stimmung in der deutschen Öffentlichkeit befolgte die deutsche Regierung und mit ihr der deutsche Kaiser eine Politik der Nichteinmischung. So weigerte sich der deutsche Kaiser, die im Land befindliche Buren-Delegation unter der Leitung des südafrikanischen Staatspräsidenten Paulus Krüger zu empfangen, obwohl er ihm im Jahre 1896 zur Abwehr der Invasion einer britischen Söldnerarmee beglückwünscht hatte (Krüger-Depesche vom 3. Januar 1896). Der Burenkrieg endete am 31. Mai 1902 nach großen Verlusten für die britische Armee mit der vollständigen militärischen Kapitulation der Buren und der Bestätigung der 1900 erfolgten Annexion des Oranjefreistaates und Transvaals im Friedensvertrag von Vereeniging. Bereits acht Jahre später, am



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46 wie er ausdrücklich in dem bekannten Interview im «Daily Telegraph» 1908 veröffentlichen ließ: Am 28. Oktober 1908 veröffentlichte die englische Tageszeitung Daily Telegraph (No. 16,694) unter dem Titel «The German Emperor and England. Personal Interview. Frank Statement of World Policy. Proofs of Friendship» die unter Mitwirkung des Journalisten Harold Spencer zu einem Interview umgestalteten Gespräche, die Kaiser Wilhelm II. mit dem ihm befreundeten britischen Aristokraten und General Sir Edward James Montagu-Stuart-Wortley (1857-1 934) im November/Dezember 1907 in England geführt hatte. Vor der Veröffentlichung des Interviews hatte der Kaiser den Text an den deutschen Reichskanzler Bernhard Fürst von Bülow (siehe Hinweis zu 5. 221) zur Begutachtung geschickt. Dieser genehmigte den Inhalt, ohne, wie er später behauptete, den Text wirklich gelesen zu haben. Sehr wahrscheinlich hatte er das Interview doch gelesen, es aber in seiner politischen Tragweite unterschätzt. Im Interview betonte Wilhelm II. seine grundsätzlich englandfreundliche Haltung - im Gegensatz zur Mehrheit des deutschen Volkes. Die Veröffentlichung des Interviews erregte im In- und Ausland großes Aufsehen. In den europäischen Regierungskreisen war bekannt, daß Wilhelm II. in einem anderen Interview, dem sogenannten Hale-Interview vom 19. Juli 1908, ganz gegenteilig gesprochen hatte, in dem er die englische Politik als perfide verurteilt hatte. Zwar wurde das Interview nie gedruckt -das Auswärtige Amt hatte seine Veröffentlichung nicht genehmigt -, aber sein Inhalt war doch durchgesickert. Insofern wurde den englandfreundlichen Passagen des Daily-Telegraph-Interviews wenig Glauben geschenkt. Im Inland war es die politische Selbstherrlichkeit des Kaisers, die auf große Kritik stieß. Wilhelm II. war über die Reaktion völlig überrascht, hatte er doch gedacht, einen Beitrag zur Friedenssicherung in der Welt zu leisten. Es gelang aber nicht, den Kaiser zu entmachten und eine Parlamentarisierung des deutschen Regierungssystems durchzusetzen, obwohl der Kaiser zeitweilig an Abdankung gedacht hatte. Das Vertrauensverhältnis zwischen ihm und dem Reichskanzler blieb in der Folge nachhaltig gestört. Im Juni 1909 sah sich Bülow gezwungen, seinen Rücktritt einzureichen.

46 Ich könnte noch manches aus dem Interview jenes «Daily Telegraph» hinzufügen.. In diesem Interview empfahl sich Wilhelm II. seinem Gesprächspartner als Freund Englands: «Ich wiederhole [.1. daß ich ein Freund Englands bin, aber Ihr erschwert mir die Dinge. Meine Aufgabe ist keine von den leichtesten. Das überwiegende Gefühl in großen Teilen der mittleren und unteren Klassen meines eigenen Volkes ist England nicht freundlich. Ich befinde mich sozusagen in einer Minderheit in meinem eignen Land, aber es ist eine Minderheit der besten Kreise, geradeso wie in England gegenüber Deutschland. Und das ist ein weiterer Grund, daß mich Eure Weigerung kränkt, mein gegebenes Wort anzunehmen, daß ich ein Freund Englands bin. Ich strebe unablässig danach, die Beziehungen zu bessern, und Ihr antwortet, ich sei Euer Erzfeind. Ihr macht mir das wirklich schwer. Warum?» Als Grund für den deutschen Flottenbau, der in Großbritannien auf großes politisches Mißtrauen stieß, nannte er die Bedrohung durch die fernöstlichen Mächte Japan und China. Wilhelm II.: «Nur auf die Stimme von Mächten mit starken Flotten wird mit Achtung gehört werden, wenn die Frage der Zukunft des Stillen Ozeans zu lösen sein wird. Und schon aus diesem Grunde muß Deutschland eine starke Flotte haben.



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47 Der deutsche Kanzler bot Sir Edward Goschen an: Am 29. Juli 1914 schrieb der englische Botschafter in Berlin, Sir Edward Goschen, dem englischen Außenminister Sir Edward Grey (zitiert nach: Max Beer, «Das Regenbogen-Buch», Bern 1915, Kapitel «29. Juli»): «Ich wurde gebeten, heute abend zum Kanzler zu kommen. Seine Exzellenz kam gerade aus Potsdam zurück. Er sagte, daß, wenn Rußland Österreich angreife, er befürchte, daß eine europäische Konflagration unvermeidlich werde, infolge Deutschlands Bündnisverpflichtungen Österreich gegenüber, trotz seiner fortgesetzten Bemühungen, den Frieden zu bewahren. Dann fuhr er fort, indem er ein hohes Angebot für Englands Neutralität machte. Er sagte, soweit er den Grundzug der englischen Politik beurteilen könne, würde England sicher niemals beiseite bleiben und Frankreich in irgendeinem Konflikt niederwerfen lassen. Das aber wäre durchaus nicht Deutschlands Ziel. Wenn die englische Neutralität sicher wäre, würde die britische Regierung alle Garantien erhalten, daß die kaiserliche Regierung keine territorialen Erwerbungen auf Frankreichs Kosten anstreben würde, falls Deutschland in irgendwelchem Kriege siegreich sein sollte. Ich fragte Seine Exzellenz über die französischen Kolonien, und er sagte, es wäre ihm unmöglich, in dieser Hinsicht eine ähnliche Versicherung abzugeben. Was Holland jedoch betrifft, sagte Seine Exzellenz, daß, solange Deutschlands Gegner die Integrität und die Neutralität der Niederlande achten würden, Deutschland bereit sei, der Regierung Seiner Majestät die Versicherung zu geben, daß sie genauso verfahren werde. Es hinge von der französischen Aktion ab, welche Operationen Deutschland gezwungen sein könnte in Belgien vorzunehmen. Aber wenn der Krieg vorüber sei, würde Belgiens Integrität geachtet werden, wenn Belgien sich nicht auf die gegnerische Seite stelle. »Dazu schrieb Grey in seinen Memoiren rückblickend (zitiert nach: Memoiren von Lord Edward Grey, Fünfundzwanzig Jahre Politik 1892 —1916, München 1926, I. Band, 16. Kapitel, «Die letzte Krise»): «Ich las diese Depesche mit dem Gefühl der Verzweiflung. Sie machte es offensichtlich, daß Bethmann Hollweg jetzt den Krieg für wahrscheinlich hielt. Wir hatten von nun an zu besprechen, welche Haltung wir im Kriege einnehmen würden und nicht länger wie der Krieg verhindert werden könnte. Doch sogar das war nicht das übelste Merkmal neuer Verhandlungen. Die Annahme des uns gemachten Vorschlages hätte ewige Schmach bedeutet. Blieb England neutral, so erwartet wohl das Volk, daß die Regierung Bedingungen für unsere Neutralität festsetzte. Ich hatte erwogen zu demissionieren, wenn wir im Falle eines Krieges nicht zu Frankreich hielten, und daher nicht daran gedacht, Bedingungen für unsere Neutralität zu überlegen. Bethmann Hollwegs Angebot erleuchtete wie ein elektrischer Scheinwerfer die Situation von einem Gesichtspunkt, den ich noch nicht bedacht hatte. Ich sah, wie schwierig die Situation selbst für die sein würde, die am festesten entschlossen waren, einen eventuellen Krieg nicht mitzumachen. »

47 Sir Edward Grey verhielt sich ablehnend. Am 30. Juli 1914 antwortete Sir Edward Grey seinem Botschafter in Berlin (zitiert nach: Max Beer, «Das Regenbogen-Buch», Bern 1915, Kapitel «30. Juli»): «Betreffs Ihres Telegramms vom 29. Juli.



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47 Nun fragte Fürst Lichnowsky, der deutsche Gesandte in London. Karl Max Fürst von Lichnowsky (1860 —1 928) war zur Zeit der Juli-Krise deutscher Botschafter in London. Er entstammte einer sehr begüterten Adelsfamilie aus Schlesien. Zunächst hatte er eine militärische Karriere in der preußischen Armee angestrebt, wechselte aber dann zum diplomatischen Dienst. Seit 1887 war er als Diplomat in verschiedenen europäischen Hauptstädten tätig. 1899 wurde er zum Personaldirektor im Auswärtigen Amt ernannt. Er war damit für die Rekrutierung der deutschen Diplomaten zuständig. Der beständigen Streitigkeiten zwischen dem Reichskanzler Bernhard von Bülow (siehe Hinweis zu 5. 221) und der Grauen Eminenz im Auswärtigen Amt, Friedrich August Karl von Holstein (1837-1909) —dieser war von 1876 bis 1906 als «Vortragender Rat» im Auswärtigen Amt tätig -, überdrüssig, nahm er 1904 seinen Abschied und verbrachte die nächsten Jahre auf seinen Gütern in Schlesien. Ein von Lichnowsky verfaßter Aufsatz, «Deutsch-englische Mißverständnisse», der Kaiser Wilhelm II. stark beeindruckte, gab 1912 den Ausschlag für Lichnowskys Ernennung zum deutschen Botschafter in London. Wilhelm II. betrachtete Lichnowsky als seinen persönlichen Botschafter. In London entfaltete Lichnowsky eine intensive gesellschaftliche Tätigkeit, war ein häufig eingeladener Redner und unterhielt engen Kontakt mit den englischen Geschäfts- und Finanzkreisen. Noch im Juni 1914 ernannte ihn die Universität Oxford zum Ehrendoktor. Zu Sir Edward Grey besaß Lichnowsky ein besonders freundschaftliches Verhältnis. Nach der englischen Kriegserklärung am 4. August 1914 kehrte Lichnowsky nach Deutschland zurück. Dort verfaßte er im August 1916 eine Denkschrift über die Verantwortung der deutschen Regierung am Kriegsausbruch, die er an wenige Bekannte mit Auflage der Diskretion verschickte, die aber in falsche Hände gelangte



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In der Zeit der Juli-Krise war Lichnowsky bestrebt, einen Krieg zwischen Großbritannien und Deutschland unter allen Umständen zu verhindern. So erkundigte er sich am 1. August 1914 bei Sir Edward Grey nach den Bedingungen für eine englische Neutralität. Zum großen Bedauern Lichnowskys war die Antwort Greys ausweichend und wenig konkret (siehe Hinweis zu 5. 143). Bereits in den Tagen vorher hatte Lichnowsky das Auswärtige Amt gewarnt, daß mit einer Parteinahme Großbritanniens zugunsten Frankreichs und Rußlands gerechnet werden müßte. So telegraphierte er am 25. Juli 1914 (zitiert nach: Die Deutschen Dokumente zum Kriegsausbruch 1914, herausgegeben im Auftrage des Auswärtigen Amtes, Band J, Vom Attentat in Sarajevo bis zum Eintreffen der serbischen Antwortnote, Berlin 1922): «Ich erachte es als meine Pflicht, [...]darauf hinzuweisen, daß die hiesige Regierung meiner Überzeugung nach so lange bestrebt sein wird, eine uns freundschaftliche und möglichst unparteiische Haltung einzunehmen, als sie an unsere aufrichtige Friedensliebe glaubt und an unser Bestreben, Hand in Hand mit England an der Abwendung des aufsteigenden europäischen Gewitters mitzuwirken. Die Zurückweisung seines [Greys]Vorschlages aber, zwischen Österreich und Rußland zu vermitteln oder eine schroffe Haltung, die zu der Annahme berechtigen könnte, daß wir den Krieg mit Rußland herbeiwünschen, würde wahrscheinlich zur Folge haben, England bedingungslos auf die Seite Frankreichs und Rußlands zu treiben. » Und zwei Tage später warnte er erneut (gleiche Quelle): «Begnüge sich Österreich nicht mit dieser Antwort [Serbiens auf das österreichisch-ungarische Ultimatum] beziehungsweise werde diese Antwort in Wien nicht als Grundlage für friedliche Unterhandlungen betrachtet oder gehe Österreich gar zur Besetzung von Belgrad vor, das vollkommen wehrlos daliegt, so sei es vollkommen klar, daß Österreich nur nach einem Vorwand suche, um Serbien zu erdrücken. In Serbien soll aber alsdann Rußland getroffen werden und der russische Einfluß auf dem Balkan. Es sei klar, daß Rußland dem nicht gleichgültig zusehen könne und es als eine direkte Herausforderung auffassen müsse. Daraus würde der fürchterlichste Krieg entstehen, den Europa jemals gesehen habe, und niemand wisse, wohin ein solcher Krieg führen könne.» Und er machte dem Auswärtigen Amt klar: «A uf jeden Fall bin ich der Überzeugung, daß, falls es jetzt doch noch zum Kriege käme, wir mit den englischen Sympathien und der britischen Unterstützung nicht mehr zu rechnen hätten, da man in dem Vorgehen Österreichs alle Zeichen üblen Willens erblicken würde. Auch ist hier alle Welt davon überzeugt, und ich höre es auch aus dem Munde meiner Kollegen, daß der Schlüssel der Lage in Berlin liegt und, falls man dort den Frieden ernstlich will, Österreich davon abzuhalten sein wird, eine -wie Sir E[dward]Grey sich ausdrückt -tollkühne Politik zu treiben. » Lichnowsky hatte offensichtlich große Vorbehalte gegen die österreichisch-ungarische Außenpolitik und betrachtete sie als verantwortungslos.In einer früheren, aber damals noch nicht veröffentlichten Denkschrift - er verfaßte sie im Januar 1915 —gab Lichnowsky sich überzeugt (zitiert nach: John Röhl, Zwei deutsche Fürsten zur Kriegsschuldfrage, Düsseldorf 1971): «England war bereit, sich mit uns über alles zu verständigen, mit uns in ein intimeres Verhältnis zu treten, allerdings unter Beibehaltung seiner anderweitigen Freundschaften, aber unter einer Voraussetzung. daß wir eine zweifelsfreie Friedenspolitik trieben. » Und



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er zog die Schlußfolgerung: «Entweder wir haben den Krieg im Sinne der Prophylaxe gewollt - und in diesem Sinne soll sich auch der Herr Reichskanzler den Österreichern gegenüber geäußert haben - oder wir haben uns über die Folgen rer Politik schwer getäuscht, die dem Grafen Berchtold [österreichisch-ungarischer Außenminister, siehe Hinweis zu S. 253 in GA 173b] unsere gesamte Wehrmacht für die serbischen Händel zur Verfügung stellte. Ich frage: Ist das Friedenspolitik, wenn man zu einem Kriege drängt, der zum mindesten die Wahrscheinlichkeit eines Weltbrandes in sich schließt? Wir wollten angeblich den Frieden, aber doch nur unter der Voraussetzung, daß Rußland zur Vernichtung Serbiens seinen Segen geben würde im Namen des monarchischen Prinzips.» Und: «Man sagt mir. <Wenn Sir E. Grey gewollt hätte, so wäre Rußland still geblieben.>Ich entgegne: Wenn wir gewollt hätten, so wäre Österreich still geblieben und hätte nicht die namenlose Torheit begangen, Serbien anzugreifen, eine Politik, die in Österreich selbst verurteilt wird. Selbst wenn Grey in Petersburg erklärt hätte, England mache nicht mit, so hätte Rußland trotzdem sich gerührt, denn von seinem Standpunkt konnte es gar nicht anders handeln. Läßt denn überhaupt eine Großmacht sich Vorschriften machen in Fragen, die es als ein Lebensinteresse betrachten?» Lichnowsky war der Meinung: «Von unserer Seite ist zur Erhaltung des Friedens nichts, absolut nichts geschehen, und als wir uns endlich entschlossen, dasjenige zu tun, was ich von Anfang an befürwortet hatte, war es zu spät. Da hatte Rußland infolge unserer schroffen Haltung und der des Grafen Berchtold jedes Vertrauen verloren und mobilisierte. Die Kriegspartei gewann die Oberhand. »

Dazu sagte der deutsche Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg in seiner Rede vom 5. Juni 1916 im Reichstag (zitiert nach: «Basler Nachrichten» vom 6. Juni 1916, 72. Jg. Nr. 285) —für ihn war die politische Haltung Englands zu diesem Zeitpunkt eigentlich schon entschieden: «Wie war Deutschlands Lage? Frankreich und Rußland durch eine nicht zu sprengende Allianz eng verbunden, dort eine starke Revanchepartei, in Rußland einflußreiche expansive, zum Krieg treibende Kreise. Frankreich und Rußland konnten nur in Schach gehalten werden, wenn es gelang, ihnen die Hoffnung auf England zu nehmen. Dann hätten sie niemals den Krieg gewagt. Wollte ich gegen den Krieg arbeiten, dann mußte ich versuchen, mit England in ein Verhältnis zu kommen, das die Kriegsparteien in Frankreich und Rußland niederhielt, auch gegenüber den mir bekannten deutschfeindlichen Tendenzen der englischen Einkreisungspolitik. Diesen Versuch machte ich. Ich schäme mich seiner nicht, auch wenn er fehlschlug. »

47 Wenn Sir Edward Grey hinterher behauptete. Am 28. August 1914 erklärte Grey vor dem britischen Unterhaus, daß die Idee, die Kriegshandlungen auf den Osten zu beschränken -bei gleichzeitiger britischer Neutralität -nicht von ihm, sondern von Lichnowsky ausgegangen sei (zitiert nach: Memoiren von Lord Edward Grey, Fünfundzwanzig Jahre Politik 1892-1916, München 1926, II. Band, Anhang F, «Die Anregungen vom 1. August 1914»): «Es wurde mir eines Tages berichtet, der deutsche Botschafter habe vorgeschlagen, Deutschland könnte allenfalls in einem Kriege zwischen Österreich und Rußland neutral bleiben und sich auch verpflichten, Frankreich nicht anzugreifen, wenn wir selbst neutral blieben und die Neutralität Frankreichs sicherstellen würden. Ich sagte sofort, wenn die deutsche Regierung ein solches Arrangement für möglich hielte, wäre ich sicher, es herbeiführen zu können. Doch scheint es, der Botschafter habe gemeint, wir sollten im Falle eines Krieges zwischen Deutschland und Rußland die Neutralität Frankreichs zusichern. Das war ein ganz anderer Vorschlag, und, da ich annahm, daß er wahrscheinlich mit den Bestimmungen des französisch-russischen Bündnisvertrages ganz unvereinbar



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Tatsächlich glaubte Lichnowsky, der einen deutsch-russischen Krieg als unvermeidlich voraussetzte, unter bestimmten Voraussetzungen immer noch an die Möglichkeit einer britischen Neutralität. Er entwickelte in einem Gespräch mit Sir William Tyrrell (siehe Hinweis zu S.234) Vorschläge für ein defensives Vorgehen Deutschlands im Westen, ohne daß dieser zum vornherein ablehnend reagierte. Tyrrell unterrichtete Grey, der Lichnowskys Vorschlag offensichtlich wohlwollend zur Kenntnis nahm und dies auch Lichnowsky mitteilte. Diese Haltung Greys muß Lichnowsky als Zustimmung zu seiner Idee gedeutet haben, und deshalb erlaubte er sich in seinen Telegrammen an das deutsche Außenministerium, von einem entsprechenden englischen Vorschlag zu sprechen. Als der deutsche Kaiser, nachdem er von den Mitteilungen Lichnowskys Kenntnis erhalten hatte, sich entschloß, einen Aufschub der weiteren Kriegsvorbereitungen im Westen zu befehlen und dies dem englischen König mitteilte, ließ König Georg seinen Außenminister zu sich rufen. Inzwischen hatte sich Grey - nach Rücksprache mit dem britischen Botschafter in Frankreich, Sir Francis Bertie -entschlossen, doch nicht auf Lichnowskys Vorschlag einzugehen. Seinem Souverän gegenüber erklärte Grey, Lichnowsky müsse ihn mißverstanden haben. Dementsprechend lautete auch das Telegramm an den deutschen Kaiser. Dieser sah nun keine Möglichkeit mehr, den Zweifrontenkrieg zu vermeiden und befahl, die Kriegsvorbereitungen nach Plan fortzusetzen (siehe Hinweis zu 5. 143).

Diese Vorgänge vom 1. August 1914 schilderte auch der deutsche Generalstabschef Helmuth von Moltke (zitiert nach: Die «Schuld» am Kriege. Betrachtungen und Erinnerungen des Generalstabchefs H. y. Moltke über die Vorgänge vom Juli 1914 bis November 1914, Stuttgart 1919): «Ich war auf dem Rückwege vom Schloß nach dem Generalstab, als ich den Befehl erhielt, sofort ins Schloß zurückzukehren, es sei eine wichtige Nachricht eingetroffen. » Und zu dieser Nachricht: «Die Depesche teilte mit, daß der Staatssekretär Grey dem Botschafter mitgeteilt habe, England wolle die Verpflichtung übernehmen, daß Frankreich nicht in den Krieg gegen uns eintreten werde, wenn Deutschland sich seinerseits verpflichte, keine feindselige Handlung gegen Frankreich zu unternehmen. Ich muß dabei bemerken, daß auch in Frankreich bereits am selben Tage wie bei uns die Mobilmachung befohlen und dies uns bekannt war. Es herrschte, wie gesagt, eine freudige Stimmung. <Nun brauchen wir nur den Krieg gegen Rußland zu führen!>Der Kaiser sagte mir. <Also, wir marschieren einfach mit der ganzen Armee im Osten auf!>Ich erwiderte Seiner Majestät, daß das unmöglich sei. Der Aufmarsch des Millionenheeres lasse sich nicht improvisieren, es sei das Ergebnis einer vollen, mühsamen Jahresarbeit und könne, einmal festgelegt, nicht geändert werden. Wenn Seine Majestät darauf bestehen, das gesamte Heer nach dem Osten zu führen, so würden dieselben kein schlagfertiges Heer, sondern einen wüsten Haufen ungeordneter bewaffneter Menschen ohne Verpflegung haben. Der Kaiser bestand auf seiner Forderung und wurde sehr ungehalten; er sagte mir unter anderem. <Ihr Onkel würde mir eine andere Antwort gegeben haben!> was mir sehr wehe tat.» Moltke über die Wirkung dieser Diskussionen auf seine seelische Verfassung: «Ich war im Laufe dieser Szene



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in eine fast verzweifelte Stimmung gekommen; ich sah aus diesen diplomatischen Aktionen, die hindernd in den Gang unserer Mobilmachung einzugreifen drohten, das größte Unheil für den uns bevorstehenden Krieg erwachsen. » Schließlich wurde Moltke erneut aufs Schloß gerufen: «Der Kaiser empfing mich in seinem Schlafzimmer; er war schon zu Bett gewesen, aber wieder aufgestanden und hatte einen Rock übergeworfen. Er gab mir eine Depesche des Königs von England, in der dieser erklärte, ihm sei von einer Garantie Englands, Frankreich am Kriege zu verhindern, nichts bekannt. Die Depesche des Fürsten Lichnowsky müsse auf einem Irrtum beruhen oder er müsse etwas falsch verstanden haben. Der Kaiser war sehr erregt und sagte mir. <Nun können Sie machen, was Sie wollen.> Ich fuhr sofort nach Hause und telegraphiert an die 16. Division, der Einmarsch in Luxemburg solle ausgeführt werden. » Moltke: «Das war mein erstes Erlebnis in diesem Kriege. » Und weiter: «Ich habe die Eindrücke dieses Erlebnisses nicht überwinden können; es war etwas in mir zerstört, das nicht wieder aufzubauen war - Zuversicht und Vertrauen waren erschüttert. »

47 von ganz andern Mächten, von denen ich später einmal noch sprechen möchte. Siehe Hinweis zu 5. 31.

48 war Deutschland auf einen deutsch-russischen Krieg gefaßt. In seinem Buch «Deutschland und der nächste Krieg» (Stuttgart/Berlin 1912) schrieb der deutsche Militärschriftsteller Friedrich von Bernhardi (siehe Hinweis zu 5. 242 in GA 173b) im Hinblick auf einen künftigen Krieg mit Rußland (7. Kapitel, «Der Charakter unseres nächsten Krieges», Abschnitt «Rußlands wahrscheinliches Verhalten in einem Kriege gegen Deutschland»): «Wenden wir nun den Blick nach Osten, um Rußlands wahrscheinliches Verhalten zu würdigen, so müssen wir von vornherein zugestehen, daß vom russischen Standpunkt aus ein Krieg im Westen jedenfalls größere Erfolge in Aussicht stellt als ein erneuter Kampf gegen Japan und möglicherweise auch gegen China. Im Westen findet das Zarenreich starke Verbündete, die sehnsüchtig darauf warten, sich mit ihm zum Angriff auf Deutschland vereinigen zu können. Hier gestatten die geographischen und Verkehrsverhältnisse eine sehr viel schnellere und geregeltere Machtentfaltung als in der Mandschurei. Die öffentliche Meinung, in der der Deutschenhaß nach wie vor lebendig ist, würde einem solchen Kriege günstig sein, und schließlich würde ein Sieg über Deutschland und Österreich nicht nur den Weg nach Konstantinopel freimachen, sondern auch eine gewaltige Steigerung des politischen und wirtschaftlichen Einflusses in Westeuropa zur Folge haben. » Und der damalige Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg (siehe Hinweis zu 5. 126 in GA 173b) erinnert sich in seinen «Betrachtungen zum Weltkriege. Erster Teil: Vor dem Kriege» (Berlin 1919) an die zeitweise provokative Haltung Rußlands (4. Kapitel, «Tripolis -Balkankriege -Rußland», Abschnitt «Unser Verhältnis zu Österreich»): «Nicht entscheidend, aber doch bezeichnend für die in Rußland herrschenden Strömungen waren Vorfälle an unseren eigenen Grenzen. Im Widerspruch mit vereinbarter Gepflogenheit veranstaltete Rußland im Sommer 1912, ohne uns vorher zu benachrichtigen, umfangreiche Probemobilisationen in Polen, die alarmierend wirkten und uns zu nachdrücklichen Vorstellungen nötigten, während im September die Gemahlin des Großfürsten Nikolaj Nikolaevic [Prinzessin Anastasija Petrovic-Njegos, siehe Hinweis zu 5. 130], der als Vertreter des Zaren an den französischen Manövern teilnahm, in Nancy eine lange sehnsüchtige Geste nach den <verlorenen Provinzen> machte. Die französische Presse versäumte nicht, die politische Bedeutung des Vorfalles lärmend zu feiern. »Tatsächlich war das Verhältnis zwischen Deutschland und Rußland schon seit längerer Zeit gespannt. So konnte man im Neujahrsaufsatz der Militärzeitschrift



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«Rasvjadzik» im Jahre 1914 lesen (zitiert nach: Bernhard von Eggeling, Die russische Mobilmachung und der Kriegsausbruch, Oldenburg i. Gr./Berlin 1919): «Uns allen ist sehr wohl bekannt, daß wir uns auf einen Krieg an der Westfront, vornehmlich gegen die Deutschen (Österreich-Ungarn und Deutschland) vorbereiten. Deshalb müssen alle unsere angenommenen Kriegslagen bei Truppenübungen darauf gerichtet werden, daß wir mit Deutschen Krieg führen - zum Beispiel muß immer die eine der manövrierenden Parteien die deutsche heißen. Doch nicht nur die Truppe, das ganze russische Volk muß daran gewöhnt werden, daß wir uns zum Vernichtungskampf gegen die Deutschen rüsten und daß die deutschen Reiche vernichtet werden müssen, auch wenn wir dabei Hunderttausende von Leben verlieren müssen. » Dazu der Kommentar von Bernhard Eggeling - er war von 1912 bis 1914 Militärattaché an der deutschen Botschaft: «Ich habe diesen Artikel seinerzeit dem Botschafter vorgelegt. Graf Pourtalès erhob bei Herrn Sazonov [russischer Aussenminister] Einspruch gegen diesen Ton. Sazonov versprach, dem Kriegsminister [Vladimir Aleksandrovic Suchomlinov]entsprechende Mitteilung zu machen. Dann hat man nichts mehr davon gehört. » Die deutschen Interessen in St. Petersburg wurden bis zum Kriegsausbruch von Friedrich Graf von Pourtales (1853-1928) vertreten; er wirkte von 1907 bis 1914 als deutscher Botschafter in Rußland.

48 Allein Frankreich war bekanntlich fest entschlossen. Am 29. Juli 1914 berichtete der russische Botschafter in Paris, Aleksandr Petrovic Izvolskij (siehe Hinweis zu 5. 141), dem russischen Außenminister, Sergej Dmitrievic Sazonov (siehe Hinweis zu 5. 122 in GA 173b), über die Haltung des französischen Ministerpräsidenten und Außenminister René Viviani (1863 —1925)— er war vom Juni 1914 bis Oktober 1915 im Amt (zitiert nach: Max Beer, «Das Regenbogen-Buch», Bern 1915, Kapitel «29. Juli»): «Viviani bestätigt mir soeben den festen Entschluß der französischen Regierung, in Übereinstimmung mit uns zu handeln.» Und am nächsten Tage, am 30. Juli 1914, bestätigte Viviani in einem Schreiben an den französischen Botschafter in St. Petersburg, Paléologue (gleiche Quelle, Kapitel «30. Juli»): «Frankreich ist entschlossen, alle seine Bundespflichten zu erfüllen. »

48 Das englische Ministerium des Äußern hatte heimlich -ohne Wissen des Parlaments. Siehe Hinweis zu 5. 45.

49 den preußischen Militarismus: Siehe Hinweis zu 5. 248 in GA 173c.

49 durch die zwei langen und gefährdeten Grenzlinien: Gemeint sind die Grenzen zwischen Frankreich und Deutschland im Westen und zwischen Rußland und Deutschland im Osten.

49 daß die Franzosen Berlin wohl an zwanzigmal besetzten. Diese Aussage von Brandes ist nicht zutreffend. Berlin war nur einmal von französischen Truppen besetzt, sieht man von den Ereignissen im Zweiten Weltkrieg ab. Nach der preußischen Niederlage in den Schlachten von Jena und Auerstedt am 14. Oktober 1806 im Rahmen des Vierten Koalitionskrieges wurde Berlin von den französischen Truppen besetzt. Am 27. Oktober 1806 zog Kaiser Napoleon I. in Berlin ein. Berlin blieb bis zum 3. Dezember 1808 durch französische Truppen besetzt.

49 in der Dreyfus-Affäre: Am 22. Dezember 1894 wurde der aus dem Elsaß stammende Artilleriehauptmann jüdischen Glaubens Alfred Dreyfus (1859-1935) von einem französischen Kriegsgericht wegen Spionage zugunsten Deutschlands zu Degradation und lebenslänglicher Haft und Verbannung nach Französisch-Guayana verurteilt. Am 5. Januar 1895 wurde Dreyfus öffentlich degradiert. Der Fall Dreyfus erregte ungeheures Aufsehen und führte zu einer starken antisemitischen Welle in



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Dreyfus hatte immer seine Unschuld beteuert, und tatsächlich zeigte es sich, daß der Verfasser des belastenden Schriftstücks, das im Papierkorb des deutschen Militärattachés von der Putzfrau gefunden worden war, ein anderer französischer Offizier, Major Ferdinand Walsin Esterhazy (1847-1923), war. Auf höheren Befehl wurde aber das Verfahren gegen ihn am 11. Januar 1898 eingestellt, was den französischen Dichter Emile Zola zu seinem berühmten offenen Brief «J'accuse» vom 13. Januar 1898 an den damaligen Präsidenten der Französischen Republik, Felix Faure, veranlaßte. Dieser Brief führte nicht nur zum Prozeß gegen Zola, sondern auch zur Spaltung der öffentlichen Meinung in die linksliberal orientierten Dreyfusards und die konservativen Anti-Dreyfusards. Beide Lager verfügten über eigene Organisation: die revisionistische «Ligue française pour la défense des droits de l'homme et du citoyen» der Dreyfusards und die antirevisionistische «Ligue de la patrie française» der Anti-Dreyfusards. Trotz deren Widerstand wurde das Urteil gegen Dreyfus am 3. Juni 1899 aufgehoben. Obwohl Esterhazy - er hatte sich inzwischen völlig unbehelligt ins Exil nach Großbritannien begeben können - schließlich eingestanden hatte, er sei der Verfasser des Schriftstückes gewesen, wurde Dreyfus am 9. September 1899 erneut des Hochverrats schuldig gesprochen und zur Degradation und zu zehn Jahren Festungshaft verurteilt. Angesichts der gewaltigen, nun auch internationalen Protestwelle sah sich der neue französische Staatspräsident Emile Loubet am 19. September 1899 veranlaßt, Dreyfus zu begnadigen. Dreyfus akzeptierte die Begnadigung unter der Bedingung, weiterhin für den Beweis seiner Unschuld kämpfen zu können. Es sollte noch bis zum 12. Juli 1906 dauern, bis auch das zweite Urteil gegen Dreyfus aufgehoben und er vollständig rehabilitiert wurde.Rudolf Steiner hatte im Zusammenhang mit Emile Zola den Fall Dreyfus aufmerksam verfolgt. So hatte er nach der Rede Zolas, wo dieser die Unschuld von Dreyfus beschworen hatte, im «Magazin für Litteratur» am 5. März 1898 (67. Jg. Nr. 9) geschrieben (in GA 31): «Alle, die in der Dreyfus-Angelegenheit klar sehen, deren Instinkte nicht durch kleinlichen Chauvinismus oder übel angebrachte Staatsweisheit irregeführt sind, müssen die Empfindungen, die Zola zu diesem Schwur drängten, auch in sich verspüren. [...] Nur unheilbare Blindheit für Recht und Menschlichkeit kann noch an Dreyfus' Unschuld zweifeln. Man braucht bloß gesunden, unverdorbenen Menschenverstand zu haben, um hier die Wahrheit zu sehen. »

49 mein geehrter Freund Wells: Herbert George Wells (1866-1946), ein britischer Schriftsteller, hinterließ zahlreiche Werke. Er gehörte zu den Pionieren der Science-Fiction-Literatur. Politisch stand er zunächst der Fabian Society nahe, später wechselte er zur Independent Labour Party über.

49 die ganze chinesische Bevölkerung in Blagovescensk Das am Ufer des Amur liegende Blagovescensk war erst 1858 als Grenzort zu China gegründet worden. Der Name bedeutet auf russisch «Verkündigung». Als 1897 die Ussuri-Strecke der transsibirischen Eisenbahn in Betrieb genommen wurde, entwickelte sich Blagovescensk zu einer modernen Stadt mit einer großen militärischen Festungsanlage. Neben den Russen lebten auch sehr viele Chinesen in dieser Stadt. Als in China der Boxer-Aufstand gegen die Unterdrückung durch die Kolonialmächte ausbrach und zum Teil auch die Transportwege in den Fernen Osten zu blockieren begann, fühlten sich auch die Russen in Blagovescensk bedroht. Es verbreitete sich das Gerücht von einem bevorstehenden chinesischen Angriff auf die Stadt. Es hieß, Boxer-Rebellen hätten sich bereits eingeschlichen, jeder mit einem Strick in der Tasche, um einen



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49 schrieb Mr. E E. Smith, der vormalige englische Pressezensor im Jahre 1907: Frederick Edwin Smith, Earl of Birkenhead (1872-1930), britischer Jurist und Politiker. Während des Krieges war er von 1914 bis 1915 Leiter des Pressebüros der britischen Regierung, der staatlichen Zensurabteilung. Von 1915 bis 1919 wirkte er als Generalstaatsanwalt («Attornay General») und setzte die Verurteilung und Hinrichtung von Sir Roger Casement (siehe Hinweis zu 5. 38) durch. Anschließend übte er bis 1922 das Amt des Lordkanzlers («Lord Chancellor», siehe Hinweis zu 5. 227) aus. Smith gehörte als Mitglied der Konservativen Partei von 1906 bis 1919 dem britischen Unterhaus an, von 1922 bis 1930 dem Oberhaus. Smith zählte zum Freundeskreis von Winston Churchill.

50 in dem England und Rußland den Traktat vereinbarten, der Persiens Unabhängigkeit gewährleistete: Siehe Hinweis zu 5. 258 in GA 173b.

50 Am 21. November 1894 stürmte das japanische Heer Port Arthur: Im ersten Japanisch-Chinesischen Krieg, der vom 1. August 1894 bis 17. April 1895 dauerte, eroberten die japanischen Truppen unter anderem die Bucht von Lüshun und die dazugehörige Halbinsel Liaodung (Liautung). Im Frieden von Shimonoseki am 17. April 1895 mußte China Liaodung an Japan abtreten, aber auf Druck der westlichen Kolonialmächte mußte dieses am 23. April 1895 seine Erwerbung wieder an China zurückgeben. Am 27. März beziehungsweise endgültig am 7. Mai 1898 erzwang Rußland von China die Verpachtung der südlichen Halbinsel mit Lüshun auf 25 Jahre. Die Russen tauften Lüshun in Port Arthur um und planten, diesen Hafen neben Vladivostok zum zweiten pazifischen Hauptstützpunkt des Russischen Reiches auszubauen. Am 8. Februar 1904 griff die japanische Marine die russischen Kriegsschiffe im Hafen von Port Arthur an. Schließlich begannen die Japaner am 4. Oktober 1904 mit der Belagerung der Festungsanlagen von Port Arthur; am 2. Januar 1905 schließlich mußten die russischen Truppen kapitulieren. Lüshun ist heute unter dem Namen Lüshunkou ein Stadtbezirk der chinesischen Hafenstadt Dalian (früher Dairen) am Gelben Meer.

50 die sind natürlich demjenigen wohlbekannt gewesen: Rudolf Steiner meint sich selber.

50 Aber ich hörte neulich, gerade dieser Satz in meiner Broschüre würde mir ganz besonders verübelt: In seiner Broschüre «Gedanken während der Zeit des Krieges. Für Deutsche und solche, die nicht glauben, sie hassen zu müssen» — sie erschien vermutlich im August 1915 in Berlin - schrieb Rudolf Steiner (in GA 24): «Verwirrend können die Empfindungen sein, die aus den Erlebnissen entstehen. Man möchte aus dem Vorhandensein dieser Verwirrung heraus verstehen, warum viele Menschen nicht begreifen können, daß der Krieg selber des Krieges Schrecken und Leiden bringt, und warum sie den Gegner als <Barbaren>verschreien, wenn ihm eine herbe Notwendigkeit den Gebrauch der Kampfesmittel aufzwingt, welche die neuere Zeit geschaffen hat. »

50 einen Vortrag, den Dr. Vöhringer am 30. Januar 1915 in Hamburg über Deutsch-Afrika hielt: Der Vortrag des evangelisch-pietistischen Theologen und Missionars Gotthilf Vöhringer (1881-1955) erschien gedruckt als Broschüre unter dem Titel



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51 das ging auch aus dem «sauberen» Brief von Edouard Schuré hervor: In einem Brief, datiert vom 30. März 1916 und an Marie Steiner in ihrer Eigenschaft als Vizepräsidentin der Anthroposophischen Gesellschaft gerichtet, brach Edouard Schuré (siehe Hinweis zu 5. 124 in GA 173c), der mit Rudolf und Marie Steiner persönlich befreundet war, die Beziehung zu Rudolf Steiner ab. Er schrieb: «Auch wenn ich meine ganze Bewunderung und meine Dankbarkeit bewahre für Dr. Steiner als den unvergleichlichen Meister der Geheimwissenschaft - Bewunderung, die ich nicht bedaure, öffentlich geäußert zu haben -, so distanziere ich mich ganz entschieden von seiner neuen Entwicklung. Ich muß sagen, ich sehe überhaupt keine Beziehung mehr zwischen dem, was er einst war und was er jetzt geworden zu sein scheint. Vielleicht ist er sich selbst dessen nicht bewußt, aber es besteht ein Abgrund zwischen dem Denker und dem Seher von einst und dem verblendeten Politiker von heute. Ja, die Verehrung, die ich für den ersteren habe, schneidet mich nunmehr von dem zweiten ab. Trotz unvergeßlicher Erinnerungen und einer Zusammenarbeit, die ich ungemein geschätzt habe, bin ich gezwungen, meinen Austritt als Mitglied der Anthroposophischen Gesellschaft zu vollziehen. Weder als Elsässer noch als Franzose noch als freier Geist kann ich Mitglied einer Gesellschaft sein, die, neben ihrer esoterischen Aufgabe, das Ziel einer allgemeinen Germanisation verfolgt.» 1Der Brief Schurés war zunächst in Dornach liegengeblieben, da sich Rudolf Steiner und Marie Steiner in Deutschland aufhielten. Rudolf Steiner muß den Brief erst in der letzten Juli-Woche gelesen haben. Im Schlußwort zum Vortrag vom 31. Juli 1916 (Veröffentlichung vorgesehen für GA 251) nahm er ausdrücklich auf Schurés Brief Bezug: «Gar kein einziges wahres Wort, sondern lauter Erfindungen! Nur um es zu charakterisieren: In dem einen Briefe wird zum Beispiel Frau Dr. Steiner vorgeworfen, ein besonderer politischer Agent zu sein, besondere politische Strömungen entfalten zu wollen, besondere politische Agitationen im geheimen zu betreiben. Nun, ich kenne Frau Dr. Steiner schon sehr lange, und ich kann Ihnen versichern, ich kenne sie sehr genau und weiß sehr genau, daß diese Behauptung von politischen Bestrebungen, wie sie dort charakterisiert werden, und zwar in einer Weise, die geradezu gewissenlos genannt werden muß, eben einfach eine Lächerlichkeit



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ist, in objektiver Weise nur komisch wirkt, wirklich nur komisch wirkt! So [absurd], daß man bei dem, der eine solche Behauptung tut, nur an eine krankhafte Einbildungskraft denken könnte. »

Schurés Vorwürfe entzündeten sich an Rudolf Steiners Schrift «Gedanken während der Zeit des Krieges» (siehe Hinweis zu S. 133): «Die ganze Argumentation von Dr. Steiner beruht auf der Idee, die Kaiser Wilhelm II. seinem Volle diktiert hat und die von den Deutschen blind geglaubt wird, nämlich daß die alliierten Nationen (Frankreich, England und Rußland) Deutschland den Krieg aufgezwungen hätten. » Wahr seiner Ansicht nach war das genaue Gegenteil: «Die Alliierten hatten sich also von vornherein auf den Boden der Freiheit der Völker und des internationalen Rechts gestellt, während Deutschland sich [...] durch seine Weigerung vorsätzlich und zynisch auf den Boden der brutalen Gewalt stellte. Der Friede, den Deutschland Europa und der Welt anbot, war ein solcher der germanischen Vorherrschaft und des preußischen Terrorismus, das heißt eine schändliche Untertanensituation, materielle Sklaverei, moralische Abhängigkeit, Enthauptung der Nationalitäten. » Und abschließend stellte er fest: «Es scheint mir doch, daß der gesunde Menschenverstand und eine strenge Rechtlichkeit unentbehrlich sind bei den höchsten Gedankenflügen, um das Gleichgewicht zwischen Weisheit und Willen, zwischen Geist und Charakter, aufrecht zu erhalten. »

Der ganze Brief von Edouard Schuré an Marie Steiner ist abgedruckt in: Hella Wiesberger, Marie Steiner-von Sivers. Ein Leben für die Anthroposophie, Dornach 1988 (Kapitel VII, «Die persönliche Verbindung mit Rudolf Steiner», Abschnitt «Das Ende der Freundschaft mit Schuré»). Schuré selber notierte unter dem Datum des 30. März 1916 in seinem Tagebuch zu diesem Brief (zitiert nach: Camille Schneider, Edouard Schuré. Seine Lebensbegegnung mit Rudolf Steiner und Richard Wagner, Freiburg i. Br. 1971, Anmerkung 109): «Bruch mit Rudolf Steiner, den ich bewunderte und verehrte. Ein tragischer, aber notwendiger Akt, der mich zwei Jahre lang Schwankungen und Erschütterungen gekostet hat, der aber dann ausgeführt wurde in vollem Bewußtsein und ohne Schwäche. Die Trennung vom Meister schien mir wie ein Selbstmord. Hundert Male, tausend Male sagte ich mir, durch die Trennung würde ich mich selbst hinrichten. [...]Aber ich mußte es tun, um frei zu bleiben, treu Frankreich und der Menschheit gegenüber, treu mir selbst gegenüber. »

51 was ringsherum gesagt wird. Siehe Hinweis zu 5. 11.

51 den Handelskrieg bis aufs äußerste fortzuführen.. Am 27. und 28. März 1916 fand in Paris eine Konferenz der Ententemächte Großbritannien, Belgien, Frankreich, Portugal, Italien, Serbien. Rußland und Japan statt. Am zweiten Konferenztag verabschiedeten die Delegierten eine Resolution (zitiert nach: «Basler Nachrichten» vom 29. März 1916, 72. Jg. Nr. 163): «Die Vertreter der alliierten Regierungen, in Paris am 27. und 28. März versammelt, bekräftigen ihre volle Gemeinsamkeit der Gesichtspunkte und die Solidarität der Alliierten. Sie bestätigen alle zur Verwirklichung der Einheit der Aktion und der Einheit an der Front getroffenen Maßnahmen. Sie verstehen darunter insgesamt die Einheit der militärischen Aktion, gesichert durch das zwischen den Generalstäben getroffene Übereinkommen, die Einheit der wirtschaftlichen Aktion, deren Organisation die gegenwärtige Konferenz geregelt hat, und die Einheit der diplomatischen Aktion, die ihren unerschütterlichen Willen garantiert, den Kampf bis zum Siege der gemeinsamen Sache fortzuführen. Die alliierten Regierungen beschließen in wirtschaftlicher Beziehung ihre Solidarität der Gesichtspunkte und der Interessen in die Praxis umzusetzen. Sie beauftragen die wirtschaftliche Konferenz, die demnächst in Paris tagen wird, ihnen Maßnahmen



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Nach diesem Pariser Grundsatzbeschluß fanden verschiedene Folgekonferenzen in Paris statt. Die wichtigste war die Wirtschaftskonferenz der Entente vom 14. bis 17. Juni 1916. Anläßlich ihrer Eröffnung erklärte der französische Ministerpräsident Aristide Briand (zitiert nach: «Basler Nachrichten» vom 15. Juni 1916, 72. Jg. Nr. 300): «Es genügt nicht zu siegen. Es ist nötig, durch eine wirtschaftliche Union nach dem Siege die intensive Entwicklung der materiellen Hilfsquellen der alliierten Länder, den Austausch ihrer Erzeugnisse und ihre Verteilung auf den Weltmärkten zu garantieren. Der Krieg hat zur Genüge gezeigt, zu welch wirtschaftlicher Sklaverei man uns führen wollte. Das Ubel war schon sehr groß, unsere Gegner waren nahe am Erfolg. Aber die ungeheuren Opfer, die wir bringen, werden nicht vergeblich sein, wenn wir es verstehen, die wirtschaftliche Befreiung der Welt durchzuführen und die alten Handelsgewohnheiten durch eine freie Verbindung zwischen den Alliierten wieder herzustellen. Zu diesem Zwecke müssen wir entschieden in neue Bahnen eintreten und durch eine Vereinheitlichung und eine Koordination unserer verschiedenen Aktionen die feindliche Produktion und den feindlichen Handel treffen. Auch die wirtschaftliche Wiederaufrichtung der von dem Feinde jetzt besetzten Länder ist unsere Aufgabe. Die Alliierten müssen daher gegenüber dem besiegten Feinde Ausnahmemaßnahmen zu ihrer Verteidigung und zu ihrem Schutze verlangen. »

Und im Hinblick auf das Ergebnis dieser Konferenz wurde gemeldet (zitiert nach: «Basler Nachrichten» vom 21Juni 1916, 72.Jg. Nr. 311): «Eine amtliche Note [vom 20. Juni 1916]teilt die Resolutionen mit, die die Wirtschaftskonferenz [...]beschlossen hat, der Genehmigung der Regierungen der Alliierten zu unterbreiten, um für sie und die Gesamtheit der neutralen Länder eine völlige wirtschaftliche Unabhängigkeit und die Achtung vor den gesunden Handelsgewohnheiten sicherzustellen und um gleichzeitig für die Alliierten die Organisation einer dauerhaften Herrschaft ihrer wirtschaftlichen Allianz zu erleichtern. » Als Maßnahmen der wirtschaftlichen Kriegsführung wurden festgelegt: «Die Bestimmungen für die Kriegszeit setzen fest, daß die Alliierten ihren Bürgern und allen Personen, die auf ihrem Gebiete wohnen, jeden Handel verbieten werden mit 1. den Bewohnern der feindlichen Länder, welches auch ihre Nationalität sei; 2. den feindlichen Untertanen, welche auch ihr Wohnsitz sei, 3. den Individuen, Handelshäusern und Gesellschaften, die dem Einflusse des Feindes unterliegen. Sie werden außerdem den Import aller Waren, die aus feindlichen Ländern kommen, verbieten und werden endlich die Maßnahmen, die bereits gegen die Verproviantierung des Feindes getroffen wurden, durch Vereinheitlichung der Kontrebande- und analoger Bestimmungen vervollständigen. »

51 England hat als Freihandelsmacht der ganzen Welt den Weg gewiesen. Im Zeitraum von 1820 bis 1860 wurde der binationale Handel mit verhältnismäßig bescheidenen Zöllen belastet, wobei die höchsten Zölle von den Vereinigten Staaten erhoben wurden, die niedrigsten vom Deutschen Zollverein. Vom Beginn der dreißiger Jahre an begann Großbritannien mit dem unilateralen Abbau seiner Einfuhrzölle und entwickelte sich damit zum führenden Land in der Freihandelspolitik. 1846 beschloß Großbritannien die Abschaffung der Kornzölle innerhalb von drei Jahren, womit es dem Agrarprotektionismus im eigenen Land ein Ende setzte. Durch das Haushaltgesetz von 1860, wo zur Hauptsache nur noch Zölle auf Zucker und Konfekt erhoben wurden, wurde Großbritannien zur führenden Freihandelsnation auf internationale Ebene.



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Ab 1860 setzte eine Periode des reziproken (gegenseitigen) Zollabbaus ein, womit sich immer mehr Staaten in Richtung Freihandel bewegten. Ein Markstein auf dem Weg zum reziproken Zollabbau war das Cobden-Chevalier-Abkommen von 1860 zwischen Frankreich und Großbritannien, dem eine Vielzahl von weiteren Handelsabkommen folgte. Sie alle beruhten auf der Basis der Meistbegünstigung, das heißt diejenigen Handelsvorteile, die für das betreffende Land eingeräumt wurden, sollten auch für alle anderen Länder gelten, mit denen es Meistbegünstigung vereinbart hat. Damit war für Europa eine Epoche des Freihandels eingeleitet, die aber kaum mehr als ein Jahrzehnt dauern sollte. Ab 1870 kehrten viele Länder wieder zum Protektionismus und damit zur Erhöhung der Einfuhrzölle zurück. So kündigte zum Beispiel Frankreich 1872 das Cobden-Chevalier-Abkommen. Nur Großbritannien blieb bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs bei seiner Freihandelspolitik.

52 ein belgischer Fabrikant aus Charleroi, Mr. Henri Lambert, hat das erlösende, das dem Frieden den Weg bahnende Wort gesprochen: In der «Internationalen Rundschau» vom 1. November 1915 (1. Jg. Nr. W, in der gleichen Zeitschrift, in der auch Aufsätze von Georg Brandes veröffentlicht wurden, war unter dem Titel «Pax oeconomica» auch ein Beitrag des belgischen Privatbankiers Henri Lambert erschienen. Bereits 1913 hatte dieser in Paris im Verlag der «Ligue du libre-échange» («International Free Trade League») eine Schrift mit diesem Titel veröffentlicht. 1917 erschien in London eine erweiterte Auflage unter dem Titel «Pax economica: freedom of international exchange the sole method for the permanent and universal abolition of war, with a statement of the cause and the solution of the European crisis, and a sketch of the only possible conclusive settlement of the problem confronting the world»). Nach dem Kriege wurde diese Schrift auch in französischer («Pax Economica: la liberté des échanges internationaux fondement nécessaire et suffisant de la paix universelle et permanente», Bruxelles/Paris 1920) und in deutscher Sprache («Der Weltwirtschaftsfriede. Der Freihandel als Weg zum Weltfrieden», Berlin 1922) unter die Leute gebracht. Lambert widmete seine Schrift unter anderem Georg Brandes (siehe Hinweis zu 5. 41), Edward Dene Morel (siehe Hinweis zu 5. 109 in GA 173b) und «Colonel House» (siehe Hinweis zu 5. 38).Der Belgier Lambert war ein entschiedener Verfechter der Freihandelsidee als Grundlage für eine künftige dauerhafte Friedensordnung. So schreibt er in seinem Aufsatz (I. Abschnitt): «Der allgemeine und dauernde Friede wird auf der Gerechtigkeit fußen - oder er wird gar nie zustande kommen. Der Friede wird dann durch das Recht gesichert sein, wenn die Nationen das wahre internationale Recht kennen und in Anwendung bringen werden -jenes Recht, das durch die Freiheit des Handels gekennzeichnet und geeignet ist, von allen Nationen deshalb anerkannt zu werden, weil es die elementarsten Interessen aller achtet. » Und als praktische Lösung empfiehlt er (III. Abschnitt): «Es sollte unverzüglich eine Konferenz einberufen werden, zu deren Beschickung alle Nationen der Welt aufgefordert werden müßten, und zwar in ein neutrales Land, während eines schon jetzt möglich erscheinenden Waffenstillstandes; diese Konferenz hätte die Aufgabe, mit allen Kolonialvölkern einen Vertrag zu vereinbaren, demzufolge die Kolonien aller Völker dem freien Handel aller Völker offenstehen sollten. » Und: «Überdies hätte diese Konferenz das Zustandekommen eines zweiten Vertrages anzustreben, demzufolge sich möglichst viele Nationen verpflichten würden, die in ihrem Mutterlande herrschenden Zollgebühren nach und nach herabzusetzen. » Von dieser handelspolitischen Internationalisierung der Kolonien und dem Abbau der Schutzzölle erhoffte sich Lambert einen weitgehenden Abbau der machtpolitischen Spannungen zwischen den Großmächten.



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Lambert war bereits im November 1914 (zitiert nach: Henri Lambert, Pax Economica, Berlin 1922, Kapitel «Die wirtschaftliche Ursache und Lösung der europäischen Krisis») zum Schluß gekommen: «Ein natürlicher und stetiger Friede muß ein <Wirtschaftsfriede> sein. » Denn: «Die Römer hatten sich mit der Idee und der Hoffnung auf eine endgültige Pax Romana befaßt. Die Kaiser des mittelalterlichen und modernen Germaniens hatten den Ehrgeiz gehegt, ihren Völkern eine Pax Germanica zu erhalten. Viele Freunde und Bewunderer Englands wünschten zweifellos dringend eine Pax Britannica. Aber Wahrheit und Gerechtigkeit, die ewigen Schwestermächte und erhabenen Führerinnen der Menschheit, verstanden sich immer nur zu einer Pax Economica, einem Weltwirtschaftsfrieden. »

Henri Lambert (1887-1933) war der Sprößling einer reichen jüdischen Familie; seine Mutter Zoé war eine französische Rothschild. Nach Reisen in Asien und Afrika wandte sich Lambert 1912 dem Bankwesen zu. Am Kriegsgeschehen beteiligte er sich als aktiver Offizier der belgischen Armee; 1918 wurde er schwer verwundet. 1919 übernahm er die Privatbank seines Vaters Léon Lambert und legte damit den Grundstein zur heutigen international tätigen «Banque Bruxelles Lambert». Lambert war geschäftlich zunächst recht erfolgreich - er war zum Beispiel an der wirtschaftlichen Erschließung des Belgischen Kongos aktiv beteiligt -, aber die Wirtschaftskrise zog auch sein Vermögen in Mitleidenschaft. Lambert war gegenüber seinen Angestellten sehr sozial eingestellt und gehörte zu den Förderern verschiedener Sozialwerke. Außerdem war er ein großer Kunstliebhaber. Gesundheitlich angeschlagen, verstarb er verhältnismäßig jung. Es blieb seinen Söhnen vorbehalten, seine Privatbank zum heutigen international tätigen Bankunternehmen weiterzuführen.

52 Der Freihandel ist, wie Cobden sagte: Das Bekenntnis zur Idee des Freihandels war von den Kreisen, in denen sich Brandes bewegte und die sich für eine möglichst rasche Beendigung des Krieges einsetzten, weit verbreitet. So bezeichnete zum Beispiel der belgische Bankier Henri Lambert den «Freihandel als Weg zum Weltfrieden» (Untertitel seiner Schrift, siehe Hinweis zu 5. 52). Einer der großen Befürworter des Freihandels im 19. Jahrhundert war Richard Cobden (siehe Hinweis zu 5. 71). So hatte dieser am 27. Januar 1848 in Manchester eine öffentliche Rede gehalten, wo er einmal mehr die friedensstiftende Wirkung des Freihandels betonte (Richard Cobden, Speeches on Questions of Public Policy, London 1878, «Finance», I): «Nun, meine Herren, Sie werden mir recht geben, daß während der langen Agitation für den freien Handel die ernsthaftesten Männer, die uns unterstützten, jene waren, die für den freien Handel nicht nur wegen der materiellen Vorteile, die er der Gemeinschaft bringen würde, eintraten, sondern aus dem weit edleren Motiv der Sicherung des Friedens zwischen den Nationen. »1

53 sondern hinzuweisen auf das, was nottut in unserer Zeit, wenn Wahrheit gesucht werden soll: So schrieb Rudolf Steiner in seiner Schrift «Gedanken während der Zeit des Krieges» (in GA 24, siehe Hinweis zu 5. 133): «Wenn Gegner des deutschen Volkes etwa dieses Schriftchen lesen sollten, so werden sie ganz begreiflicherweise sagen: So spricht ein Deutscher, der naturgemäß der Auffassung anderer Völker kein Verständnis entgegenbringen kann. Wer in dieser Art urteilt, begreift nicht, daß die Wege, die der Verfasser dieser Betrachtung sucht, um die Entstehung dieses Krieges



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zu besprechen, ganz unabhängig davon sind, wie viel er von dem Wesen eines nichtdeutschen Volkes versteht oder nicht versteht. Er will so sprechen, daß, wenn die Gründe, die er für das Behauptete vorbringt, etwas taugen, seine Gedanken auch dann richtig sein könnten, wenn er in bezug auf ein Verständnis der Eigenart und des Wertes nichtdeutscher Völker, sofern sie einem Deutschen verschlossen sein sollen, der reine Tor wäre. »

53 die man so häufig in die Worte eingekleidet findet: So sagte zum Beispiel der englische Premierminister Herbert Asquith (siehe Hinweis zu 5. 206) am 6. August 1914 in seiner Stellungnahme vor den Mitgliedern des «House of Commons» über die Motive des englischen Kriegseintrittes (zitiert nach: Max Beer, «Das Regenbogen-Buch», Bern 1915, Einführung): «Falls ich befragt werde, wofür wir kämpfen, so kann ich in zwei Sätzen antworten: Erstens, um eine hohe und teure internationale Pflicht zu erfüllen, die, wenn sie im gewöhnlichen Leben zwischen zwei Privatpersonen in Frage käme, nicht nur als eine gesetzliche, sondern auch als Ehrenpflicht gelten würde, die kein sich selbst achtender Mann verleugnen kann. Ich sage zweitens, daß in unserer Zeit, in der die rohe Kraft von größtem Einfluß und ein Element der Menschheitsentwicklung darzustellen scheint, wir zur Verteidigung des Prinzips der Rechte der kleinen Staaten kämpfen, damit sie nicht ohne Rücksicht auf den internationalen guten Glauben durch den eigenmächtigen Willen einer starken und herrschsüchtigen Nation vernichtet werden. »1

53 wie wenn ein Haifisch einen Friedensvertrag eingehen wollte: In seinem Aufsatz über «Die Freiheit der Meere», der sich im ersten Teil seiner «Gesammelten Schriften» (siehe Hinweis zu 5. 38) findet, bemerkt Sir Roger Casement im Hinblick auf die staatliche Verbindung zwischen England und Irland: «Es gibt eine richtigere Analogie, die uns ein Engländer gab, der einzige, der unter jedem Himmel, unter allen Umständen ein Liberaler war, einer, der für die Freiheit fechtend starb, wie er sie lebend besungen hatte: Byron kennzeichnete öffentlich die Union zwischen England und Irland als <die Union zwischen dem Hai und seiner Beuten. »

54 wenn dem Titel nach zum Präsidenten gewordene Advokaten: Es handelt sich um Raymond Poincaré (1860-1934), der von Februar 1913 bis Februar 1920 französischer Staatspräsident war. Von Beruf war Poincaré, der aus Lothringen stammte, Rechtsanwalt; nach dem Studium der Rechte, das er 1878 abschloß und schließlich 1883 mit einem Doktorat krönte, wurde er 1880 als Advokat zugelassen. Er entwickelte sich bald zu einem gesuchten Rechtsanwalt. So war er zum Beispiel auch Rechtsberater des französischen Rüstungskonzerns Schneider-Greuzot. 1886 stieg Poincaré auch in die Politik ein. Er war ein konservativer Republikaner und gleichzeitig auch ein überzeugter französischer Nationalist. Fixiert auf die nationale Schmach von 1870/71, war er fest entschlossen, Deutschland in jedem Fall die Stirn zu bieten und Elsaß-Lothringen zurückzugewinnen. 1887 wurde er zum Abgeordneten



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gewählt, 1903 zum Senator -ein Amt, das er, abgesehen von der Auszeit während seiner Präsidentschaft, bis zu seinem Tod bekleidete. Sehr schnell wurden ihm auch verschiedene Ministerämter anvertraut: 1886 Landwirtschaftsminister, 1893 und 1895 Bildungsminister, 1894 bis 1895 und 1906 Finanzminister. Schließlich wurde er zum Ministerpräsidenten (und Außenminister) bestimmt -ein Amt, das er von Januar 1912 bis Januar 1913 ausübte. Nach dem Ablauf seiner Amtszeit als Staatspräsident erhielt er 1920 den Vorsitz der Reparationskommission. Bereits nach wenigen Monaten trat er aber zurück, um sich wieder der nationalen Politik zu widmen -mit Erfolg, leitete er als Ministerpräsident doch noch dreimal die französische Regierung: vom Januar 1922 bis März 1924, vom März bis Juni1924 (zugleich Außenminister) sowie vom Juli1926 bis Juli1929 (zugleich Finanzminister).Seinen raschen politischen Aufstieg verdankte Poincaré seinen Verbindungen zur französischen Freimaurerei. Sein englischer Biograph, John Keiger, bemerkt dazu (zitiert nach: John Keiger, «Raymond Poincaré», Cambridge 1997, Chapter 2, «Poincaré the politician»): «Die Wahl zu einem Ministeramt konnte von einer Vielzahl von Faktoren abhängen, angefangen von einem politischen <Förderern bis hin, vor allem in republikanischen Kreisen, zur Macht von Freimaurerlogen. Poincaré profitierte von letzteren, war aber selbst kein Freimaurer. »1 Außerdem sei ihm auch sein großer politischer Opportunismus hilfreich gewesen. So sagte sein langjähriger politischer Mitstreiter Alexandre Millerand in seinen unveröffentlichten Erinnerungen (gleiche Quelle, Chapter 3, «Poincaré the Opportunist»), daß moralischer Mut kein herausragendes Merkmal von Poincaré gewesen sei, sondern daß ihn eine außerordentlich starke Abneigung vor der Übernahme jeder persönlichen Verantwortung eigen gewesen sei. Innenpolitisch stand Poincaré für den republikanischen, laizistischen Staat ein. Grundsätzlich liberal-konservativ orientiert, lehnte er den Sozialismus ab. Außenpolitisch war für ihn der Kampf gegen Deutschland im Vordergrund. Vor dem Krieg war er hauptsächlich bestrebt, vor allem die russischfranzösische Allianz unter Einbeziehung Großbritanniens zu stärken. So weilte er zweimal zum offiziellen Staatsbesuch in Rußland, 1912 als Ministerpräsident und 1914 als Staatspräsident. Nach dem Kriege war die politische und wirtschaftliche Niederhaltung Deutschlands sein Hauptziel.

54 um auf «rumänische» Art Prozesse zu führen: Rudolf Steiner meint mit dieser Wendung eine unehrliche, auf Lügen gebaute Art der Prozeßführung. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts besaßen die Rumänen in den Augen der Deutschösterreicher, vermutlich weil sie mit den «Roma», dem Volk der «Zigeuner», gleichgesetzt wurden, das Stigma von Schwindlern und Betrügern. Die von Rudolf Steiner gewählte Ausdrucksweise war von ihm sicher nicht diskriminatorisch gemeint, sondern er wollte lediglich -in der damals üblichen Ausdrucksform -ein bestimmtes Verhalten charakterisieren. Wenn nun Rudolf Steiner die Vorgehensweise von Poincaré als «rumänisch» bezeichnete, so wollte er dessen zweifelhafte Rolle kennzeichnen, die er als Anwalt, zum Beispiel als Rechtsvertreter der Familie Negrelli in den verschiedenen Prozessen gegen die Suezkanal-Gesellschaft, gespielt hatte.Da Poincaré als ein ehrgeiziger, erfolgreicher Rechtsanwalt galt, hatte ihn die Familie Negrelli im Jahre 1901 für die Vertretung ihres Parteistandpunktes im Prozeß gegen die von Ferdinand de Lesseps am 20. Dezember 1858 gegründete Suezkanal-Gesellschaft («Compagnie universelle du canal maritime de Suez»/«Universal Suez



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Ship Canal Company») betraut. Die jüngste Tochter Negrellis, Marie Grois-von Negrelli, war 1900 nach Paris gereist und hatte dort im Namen der Erben 1901 eine Strafklage gegen die Gesellschaft wegen Deckung der betrügerischen Machenschaften von de Lesseps eingereicht. Bereits 1894 hatte die Familie Negrelli eine Zivilklage gegen die Kanalgesellschaft eingereicht, die aber 1896 abgewiesen worden war. Frau Grois warf de Lesseps vor, die Liste der ursprünglichen Gründer der Gesellschaft gefälscht zu haben - es gab insgesamt fünf verschiedene Gründerlisten - und einen Teil der Gründer um die ihnen zustehenden Gewinnanteile geprellt zu haben. Aufgrund einer Intervention des Justizministeriums und auf Anraten Poincarés wurde 1903 die Strafklage von den Erben Negrellis zurückgezogen und ein Zivilprozeßverfahren angestrengt. Aber auch dieses erwies sich als erfolglos, wurde doch die Zivilklage 1906 erneut abgewiesen. Seit 1910 strebte die Familie eine Wiederaufnahme des Prozeßverfahrens an. Der Ausbruch des Ersten Weltkrieges setzte aber diesen Bemühungen ein Ende.

Die Interessenvertretung durch Poincaré verlief für die Familie Negrelli wenig glücklich. So schrieb Emerich Boyer von Berghof in seiner Schrift «Wie Poincaré durch den Suezkanalschwindel Präsident wurde» (Hannover 1916, Kapitel «Die bedeutsame Rolle des Advokaten Poincaré, des heutigen Präsidenten von Frankreich, im Prozesse gegen die Suèskanalgesellschaft!»): «Doch bald bemerkte Frau [Grois]-von Negrelli, daß Poincaré sich anschick[t]e, den Prozeß politisch zu verwerten, daß seine Ratschläge und Handlungen weniger für ihr Interesse geleitet erschienen, als von dem Wunsche, auf ihrem Rücken, durch ihren Prozeß zur Höhe zu klimmen. Er gab Ratschläge, die eher die Sache verwirrten und unklar gestalteten, als sie zu entwirren und juristisch zu klären. Frau von Negrelli gelangte daher zu dem Entschlusse, ihm wichtige Einzelheiten zu verschweigen. » Offensichtlich wurde Frau Grois schließlich klar, daß Poincaré von ihren politisch einflußreichen Prozeßgegnern gekauft worden war, indem man ihm versprochen hatte, ihn zum Ministerpräsidenten wählen zu lassen - in der Hoffnung, daß er den vorliegenden belastenden Untersuchungsbericht unterdrücken würde. Dazu hieß es in der «Ost. Illustrierte-Rundschau» vom 12. November 1915 (3. Jg. Heft W: «Im Jänner desselben Jahres [1903] war Poincaré Senator geworden, nachdem er als Deputierter den Wunsch in der Regierung hervorgerufen hatte, ihn für ihre Zwecke zu gewinnen. Nun begann das häßliche Spiel des Ehrgeizes. [.1 Just zur selben Zeit bildete der damalige Gouverneur von Algerien, der Deputierte und Verwaltungsrat der Suezkanalgesellschaft, [Charles]Jonnart [1857-1927], im Verein mit seinem Schwiegersohne [richtig: Schwager], [Raymond Joseph]Aynard [1866-1916], einem Großaktionär dieser Gesellschaft, in der Kammer eine Gruppe der sozialen Progressisten, mit dem Programme, <Poincaré zum Ministerpräsidenten zu machen>. Den Anwalt einer Streitsache, die auch gegen die Existenz der Suezkanalgesellschaft ging, deren Statuten mit Recht als ungültig, vom Rechtsstandpunkte aus, betrachtet werden müssen. Poincaré schien also gekauft zu sein, und Frau [Grois]-von Negrelli erkannte, daß Poincaré im Verein mit dem Generalprokurator Bulot versuchte, den gerichtlichen Sachverständigenbeweis einfach zu unterdrücken, wenn nicht gar verschwinden zu machen. » Als Poincaré erkannte, daß Frau Grois seine wirklichen Absichten durchschaute, reichte er 1903 im Zorn seine Demission ein. Ein paar Tage später aber bereute er seinen Entschluß und versuchte, ihn wieder rückgängig zu machen. Frau Grois blieb mißtrauisch und verzichtete künftig weitgehend auf Poincarés Dienste. Nach außen galt dieser aber weiterhin als Rechtsvertreter der Familie Negrelli, der für eine Wiederaufnahme der Prozesse eintrat.

Der technische Plan zum Bau des Suezkanals stammte vom Ingenieur Luigi Negrelli (1789-1858) und nicht von Ferdinand de Lesseps (1805-1894) und war 1856



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von der Suezkanal-Gesellschaft gebilligt worden. Negrelli, der sich später Alois von Negrelli, Ritter von Moldelbe, nennen durfte, war ein weit über die österreichischen Landesgrenzen hinaus bekannter Eisenbahningenieur. So war er zeitweise auch im schweizerischen Eisenbahnbau tätig gewesen. Von der 1847 gegründeten «Studiengesellschaft für den Suezkanal» war er mit der bautechnischen Abklärung des Kanalprojekts beauftragt worden. Dem französischen Abenteurer Ferdinand de Lesseps (1805-1894) war es schließlich 1854 gelungen, von der ägyptischen Regierung die Baubewilligung zu erwirken. Wegen des anhaltenden englischen Widerstands gegen das Kanalprojekt verzögerte sich jedoch der Baubeginn, da der Sultan in Konstantinopel, Abdulmecit (Abdul-Mejid) I. — er regierte vom Juli 1839 bis Juni 1861 —, nicht bereit war, gegen den Willen Großbritanniens eine formelle Baugenehmigung zu erteilen. 1858 wurde beschlossen, trotz der ausbleibenden Bewilligung mit dem Bau zu beginnen, und Negrelli sollte die technische Gesamtleitung für den Kanal übernehmen. Doch er war bereits todkrank. Nach seinem Tod begann de Lesseps 1859 — auf der Grundlage von Negrellis Plänen - selber mit dem Bau des Kanals; am 17. November 1869 schließlich erfolgte die feierliche Eröffnung des Kanals. Dank der Protektion durch Kaiser Napoleon III. (siehe Hinweis zu S.218)— die Kaiserin Eugénie war eine Nichte von de Lesseps -, war es ihm gelungen, sich als Erbauer des Suezkanals auszugeben und die Suezkanal-Gesellschaft in seine Gewalt zu bringen.

54 wie ein Osmanen-Fürst in der Toga auftreten: Die Amtskleidung, die Poincaré bei öffentlichen Auftritten als Staatspräsident benützte, erweckte infolge ihrer prunkhaften Ausstattung einen fürstlich-orientalischen Eindruck. Auch wenn Frankreich seit 1875 formell eine Republik war und das Staatsoberhaupt vom Parlament gewählt wurde, verfügte der französische Staatspräsident in vieler Hinsicht über die Attribute eines Monarchen. Entsprechend glanzvoll konnte sein Auftreten in der Öffentlichkeit sein. Dabei legte er großen Wert auf die passende Kleidung. Für seine Frontbesuche während des Ersten Weltkrieges beharrte Poincaré auf einer Zivilkleidung -obwohl er auch in der Armee Dienst getan hatte -, um die Unterordnung der Militärgewalt unter die Zivilgewalt zu betonen. Trotzdem wurde sie aufgrund ihrer eindrücklichen Wirkung bald legendär.

54 Vorlesungen anhören, die solche Leute halten über künstlerische und literarische Dinge: Poincaré hatte ein großes Interesse für Kunst und Literatur -für ihn waren es ideologiefreie und deshalb politisch wenig gefährliche Gebiete. Poincaré liebte es, sich an kulturellen Anlässen zu beteiligen, hielt Reden und Vorlesungen, für die er sich sorgfältig vorbereitete. Er betätigte sich gerne auch als Schriftsteller (zitiert nach: John Keiger, Raymond Poincaré, Cambridge 1997, Chapter 4, «Poincaré en réserve de la République»): «Er schrieb über eine ganze Reihe von Themen, von Jeanne d'Arc bis zur Kunst des Urteilfällens, vom Patriotismus bis zur belgischen Literatur.» 1 Einen besonderen Ruf schuf er sich dadurch, daß er unentgeltlichen Rechtsbeistand leistete, wenn es um die Verteidigung von kulturellen Interessen ging. Aufgrund seiner kulturellen Aktivitäten wurde Poincaré 1909 als Mitglied in die «Académie Française» aufgenommen.

54 jener Maeterlinck unter lautem Beifall Goethe, Schiller, Lessing und noch einige andere: Ähnlich wie Edouard Schuré (siehe Hinweis zu 5. 51) wandelte sich der belgische Dichter Maurice Maeterlinck mit dem Ausbruch des Weltkrieges



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vom Verehrer der deutschen Kultur zum fanatischen Deutschenhasser. Uber diesen Wandel Maeterlincks berichtete der österreichische Schriftsteller Emil Lucka (1877-1 941) in einem Aufsatz, der unter dem Titel «Maeterlincks Untergang» in der «Frankfurter Zeitung» vom 14. Mai 1916 (60. Jg. Nr. 133) erschien. Lucka schreibt über diese Wandlung: «Aber plötzlich hat sich etwas Seltsames begeben: im Verlauf einiger Wochen ist der Mann des Flüsterns zum lautesten Schreier auf dem Markt geworden. Heute ist ihm keine Beschimpfung zu gemein, keine Behauptung zu stark erlogen, keine Forderung zu blutrünstig, daß er sie nicht in die Welt brüllen möchte. Er wälzt sich geradezu in den primitivsten, barbarischsten, undifferenziertesten Gefühlen des Hasses. » Tatsächlich schreibt Maeterlinck im Vorwort seiner Aufsatzsammlung «Les débris de la guerre» (Paris 1916): «Zum ersten Mal hört man in einem Werk, in dem bis zum heutigen Tag über niemanden schlechte Dinge gesagt worden sind, Worte des Hasses und der Verwünschung. Ich hätte sie gerne vermieden, in der Meinung, daß derjenige, der schreibt, sich dafür einzusetzen hat, jedes Risiko zu vermeiden, was dem Respekt und der Liebe, die wir allen Menschen schulden, schaden könnte. Ich mußte diese Worte aber aussprechen, und es erstaunt mich ebenso wie es mich traurig macht, was ich aufgrund der Tatsachen und der Wahrheit zu sagen verpflichtet bin. Ich habe Deutschland geliebt, ich hatte dort Freunde, die für mich jetzt, ob tot oder lebendig, im Grab sind. » 1 Maeterlinck stellte sich als Propagandist in den Dienst seines Vaterlandes. Er wurde von der belgischen Regierung beauftragt, in den neutralen Staaten Reden zu halten und Artikel zu schreiben, die den Standpunkt der belgischen Regierung vertraten.Als Beispiel für Maeterlincks Polemik gegen die Deutschen erwähnt Lucka den Artikel, der am 14. September 1914 im «Daily Mail» unter dem Titel «Nach dem Sieg» [«After the Victory»]erschienen war. Maeterlinck (nach der Übersetzung von Lucka): «Die Deutschen von einem Ende des Landes bis zum anderen haben sich als Raubtiere enthüllt und der entschiedene Wille unseres Planeten lehnt sie endlich ab! Da sind nicht elende Sklaven, die von einem Tyrannen getrieben werden. Jedes Volk hat die Regierung, die es verdient, oder richtiger. Seine Regierung ist in Wahrheit nur die ins Große gewandte Projektion der Moral und der geistigen Verfassung aller einzelnen. Wenn siebzig Millionen harmloser Menschen ein Ungeheuer als König ertragen, so verraten diese siebzig Millionen harmloser Menschen, daß ihre Harmlosigkeit nicht echt ist und nur an der Oberfläche haftet. Das Ungeheuer, das sie an ihre Spitze stellen, repräsentiert alles, was in ihrer Natur echt ist, denn es verkörpert den ewigen Willen der Rasse, jenen Willen, der viel tiefer liegt als alle oberflächlichen flüchtigen Tugenden. Man glaube nicht, daß da eine Täuschung im Spiel ist, daß da ein intelligentes Volk betrogen und irregeleitet wird!» 2 Und weiter: «Und wäre auch



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jeder einzelne Deutsche unschuldig und nur irre geführt -sie sind als Masse nicht weniger schuldig! Diese Schuld nur zählt, sie allein ist jetzt ganz wahr, sie liegt offen zutage, tiefer als die scheinbare Unschuld ist das unbewußte Verbrechertum aller. Das Unbewußte oder das Unterbewußte kann nicht überwunden werden, es ändert sich niemals, und wenn tausend Jahre Zivilisation, tausend Jahre Frieden herrscht mit allen möglichen Verfeinerungen von Kunst und Erziehung. Die unbewußten Elemente des deutschen Geistes sind unveränderlich, sie werden immer dieselben bleiben, die sie heute sind. Und wenn die Gelegenheit wiederkommt, werden sie sich ebenso, mit derselben Ehrenlosigkeit, offenbaren. »1

Maurice Maeterlinck (1862-1949), ein belgischer Schriftsteller und Dichter, gehörte zu den bedeutenden Vertretern der Kunstrichtung des Symbolismus. Was ihn bewegte, beschreibt Rudolf Steiner, der Maeterlincks Werk in Berlin kennengelernt hatte, im «Magazin für Litteratur» vom 5. Februar 1898 (67. Jg. Nr. 5, im Aufsatz «Maurice Maeterlinck», in GA 29): «Maeterlinck sieht eine Zeit heraufkommen, in der die Seelen ohne Vermittlung der Sinne und des Verstandes die Dinge auf sich wirken lassen werden. Er glaubt, daß das Reich der Seele täglich an Ausbreitung gewinnt. Die Seele wird wieder emporsteigen an die Oberfläche der Menschheit und wird unmittelbar an die Dinge herantreten. Der Mensch wird ein wirklicheres, ein volleres Leben wieder leben, wenn er nicht mehr an dem Ungöttlichen haftet, sondern in den kleinsten Dingen, in dem Rauschen der Blätter, in der Stimme der Vögel, ja in jedem Geräusch und in dem unbedeutendsten Worte, das der einfache, naive Sinn spricht, ein Göttliches empfindet. » Von flämischer Abstammung, aber französisch sprechend und schreibend, war er wesentlich beeinflußt durch die Schriften der deutschen Romantik. 1890 erreichte er seinen Durchbruch als Dichter. Wirklich populär wurde er zu Lebzeiten Rudolf Steiners durch seine Beschreibungen des Lebens der Bienen («La vie des abeilles», Paris 1901) oder der Intelligenz der Blumen («L'intelligence des fleurs», Paris 1907). 1911 erhielt Maeterlinck den Nobelpreis für Literatur. Seit 1930 lebte Maeterlinck in Nizza. 1932 wurde er in den Grafenstand erhoben. Während des Zweiten Weltkriegs flüchtete er in die Vereinigten Staaten.

Uber Rudolf Steiner äußerte sich Maeterlinck in seinem Buch «Le Grand Secret» (Paris 1921), das 1924 in Jena bei «E. Diederichs» in deutscher Übersetzung unter dem Titel «Das große Rätsel» erschien. Er schrieb über Steiner (Kapitel «Les occultistes modernes», Abschnitt VIII): «Er beschreibt die allmähliche Verwandlung der Wesenheiten, die zu Menschen werden, und er macht das mit so viel Sicherheit, daß man sich fragt, nachdem man mit Interesse all den einleitenden Bemerkungen gefolgt ist, die von einem sehr ausgewogenen, logischen und reichen Geist zeugen, ob man nun plötzlich verrückt geworden sei oder ob man es mit einem Spaßvogel oder mit einem wirklich Hellsichtigen zu tun habe. Ist man im Zweifel, so muß man sich sagen, daß das Unterbewußte, das uns bereits so viele Überraschungen bereitet hat, uns vielleicht noch andere bereithält, die ebenso phantastisch sind wie jene des



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österreichischen Theosophen, und belehrt durch die Erfahrung, wird man davon Abstand nehmen, ihn ohne die Möglich/seit einer Berufung zu verurteilen.» 1

55 Eine schweizerische Zeitung hat neulich Artikel veröffentlicht: Es handelt sich um eine vierteilige Artikelserie über «Die Lügen des Weltkrieges», die ein gewisser F. W. für die «National-Zeitung» verfaßt hatte und die dort im August 1916 (75 Jg. Nr. 578 vom 18. August, Nr. 586 vom 22. August, Nr. 591 vom 24. August, Nr. 596 vom 25. August) erschienen war. Noch im selben Jahr wurde die Artikelreihe als «Separatabdruck aus der National-Zeitung Basel» veröffentlicht.Der Verfasser dieser Artikelreihe beansprucht für sich, aus seinem Schweizertum heraus einen neutralen Standpunkt einnehmen zu können. So schreibt er (I. Kapitel, «Die Organisation der Lüge»): «Was heute alles geglaubt wird, das wird einmal die Nachwelt mit staunender Verwunderung betrachten. Dieses Zuwälzen der Verantwortung, die Naivität, mit der dieselben Dinge, die ein jeder Kriegführender bei sich für selbstverständlich hält, beim Gegner als Verbrechen gelten, die Unermüdlichkeit, mit der alles, buchstäblich auch das Geringste, mißbraucht wird, um als Lüge zur Schädigung und Herabwürdigung des Feindes zu dienen -wir haben dafür in jedem Augenblick zahllose Beweise. Aber wir wurden abgehärtet; wir haben uns daran gewöhnt; wir bemerken nur allenfalls die gröbsten und plumpsten Verleumdungen; die feineren entschlüpfen unserer Erkenntnis, und die Gaswellen der Lüge dringen in unser reines Schweizerhaus mit einem jeden feindlichen Zeitungsblatt, ja auch mit jedem Worte, das ein Angehöriger der beiden Kriegsparteien oder einer ihrer, sein Schweizertum vergessender Schweizer Anhänger spricht. »

Weiter zur Verschiedenheit der Lügen: «Wollten wir die Lügen systematisch einteilen, so lassen sie sich einmal in positive und negative unterscheiden. Die positiven sind jene, in denen die eigene Kraft, Begeisterung und Menschlichkeit gefeiert wird. Die negativen wollen beweisen, daß der Feind erschöpft, mutlos und grausam ist. Natürlich gibt es in der Art der Lüge auch nationale Unterschiede. Die deutsche arbeitet gerne mit Zahlen, ist gelehrt, wissenschaftlich, ein wenig pedantisch. Die englische ist großzügig, nüchtern und arbeitet dabei doch stark mit der dort beliebten Sentimentalität. Die französische deklamiert pathetisch, die russische ist formlos, verwirrt und ungeheuer wie das unheimliche Riesenreich selbst, die türkische hat die morgenländische Freude am Unwahrscheinlichen und am Märchen. » Und über die Gemeinsamkeiten aller Lügen: «Aber trotz solchen kleinen nationalen Unterschieden, die sich in winzigen Zügen verraten, sind die Lügen doch im System wie im einzelnen von einer Ähnlichkeit, die lächerlich wäre, würde sie nicht zugleich so beschämend und traurig sein. Von lokalen Verschiedenheiten abgesehen, unterscheidet sich etwa die Wiener <Neue Freie Pressen in nichts vom Pariser <Temps>; wenn man sie übersetzen würde und nur eben die paar Eigennamen immer verändern, so würde in Paris und in Wien kein Mensch bemerken, daß er die Zeitung des Feindes liest. Die Organisation der Lüge hat sich eben überall die gleiche Schablone geschaffen, und die Gewöhnung läßt sie immer geistloser erscheinen. »

Nach Meinung des Autors haben alle Beteiligten eine große Schuld am Ausbruch des Krieges (II. Kapitel, «Wir verteidigen uns!»): «Die Wahrheit ist, daß dieser



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angebliche Verteidigungskrieg ein Angriffskrieg aller gegen alle ist. Österreich-Ungarn wollte das selbstbewußte, aufstrebende, irredentistische Serbien niederwerfen, es unter seine Gewalt bringen. Frankreich wollte Elsaß-Lothringen mit dem Mutterlande wieder vereinigen, den mächtigen Nachbarn besiegen, damit es trotz seiner geschwächten Volkskraft eine führende Macht bleiben und sein großes Kolonialreich behaupten könne. Rußland wollte nach Konstantinopel, wollte Häfen an eisfreien Meeren, wollte das gewaltige Slawenprotektorat des rechtgläubigen Zaren verkünden. Deutschland erstrebte neue Erde für sein übervölkertes Land, nach günstigeren Grenzen, nach Kolonien, die seiner Arbeitslust, seiner Tüchtigkeit und dem Ausdehnungsdrange seines betriebsamen Volkes entsprachen. England mußte seine gefährlichsten Nebenbuhler zurückwerfen, die See- und Welthandelsherrschaft behaupten, durch ein System von Allianzen die Gefahr einer übermächtigen kontinentalen Nation verhindern. Alle diese Zwecke waren nur durch einen Angriff durchzusetzen, und das Streben eines jeden Staates war also der Angriff mag dies nun auch noch so tugendsam und heuchlerisch geleugnet werden. »

55 ein Artikel über Menschenwürde von Alexander von Gleichen-Rußwurm: Alexander Feiherr von Gleichen-Rußwurm (1865-1947) war ein Urenkel Friedrich Schillers. Nach dem frühen Tode seiner Mutter wurde er von seiner Großmutter, Emilie Freifrau von Gleichen-Russwurm (1804 —1 872), der jüngsten Tochter Friedrich Schillers, erzogen. Nach dem Besuch der Kriegsschule in Metz war er zunächst von 1883 bis 1895 Berufsoffizier in hessisch-darmstädtischen Diensten und lebte dann als ein weitherum bekannter Schriftsteller, der mit zahlreichen herausragenden Persönlichkeiten des Kulturlebens im Verkehr stand, auf Schloß Greifenstein. Von Gleichen-Rußwurm vertrat die idealistisch-humanitären Ideen der deutschen Klassik und verstand sich als deren Interpret in moderner Zeit.Die von Rudolf Steiner erwähnte Zeitglosse aus der Feder von Gleichen-Rußwurms ist allerdings nicht in «Westermanns Monatsheften» erschienen, wie in der bisherigen Auflage angegeben, sondern in der Darmstädter Zeitschrift «Der Falke». Dort erschien im Oktober 1916 (1. Jg. Nr. 2) der Aufsatz «Menschenwürde. Eine Vision». Im gleichen Monat brachte die Darmstädter Zeitschrift «Westermanns Monatshefte» (Band 121, Heft II) einen weiteren Aufsatz von Gleichen-Rußwurms, mit ähnlichem Titel («Menschenwert und Würde»), allerdings aber mit einem völlig anderem Inhalt.

In seinem Aufsatz bemerkt von Gleichen-Rußwurm einleitend: «Wenn uns auch die Nachwelt von dem grimmigen Vorwurf, den man uns nachschleudert, Barbaren zu sein, reinigen muß und wird, möchte ich den mit diesem Vorwurf verbundenen Titel <Barbaren>, der manchen Redlichen unter unseren Kulturträgern bitter klingt, nicht ohne weiteres von der Hand weisen. Ich möchte sogar den Namen <Barbaren>, mit dem man die Deutschen allzu reichlich bedenkt, in gewissem Sinn stolz darauf, annehmen, unbeschadet meiner großen Achtung vor allen denjenigen, die ihn zornentflammt ablehnen. Denn das Wort <Barbary hat schon verschiedene Deutungen erfahren, und in manchem Sinn kann man sich diese Benennung recht gut gefallen lassen. »

55 sogar in der Peripherie jetzt noch Barbaren nennt. So schrieb zum Beispiel der französische Philosophieprofessor Emile Boutroux (1845 —1 921) — er war seit 1898 Angehöriger der «Académie des sciences morales et politiques» und seit 1912 Mitglied der «Académie Française» —in seiner Schrift «L'Allemagne et la Guerre» (Paris/Nancy 1915): «Gestern noch war Deutschland in der Welt wegen seiner Macht zwar gefürchtet, aber auch für seine Wissenschaft und seinen Schatz an Idealismus geachtet. Heute, von einem Ende der Erde bis zum anderen, der gleiche Schrei der



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55 die Griechen, die Römer unter «Barbaren» verstanden haben. In bezug auf das Begriffsverständnis der Griechen schreibt von Gleichen-Rußwurm in seinem Aufsatz: «Bei den Griechen, deren Sprache das Wort entstammt, bezeichnete es zunächst durchaus nicht einen unkultivierten, Gemeinheiten aller Art fähigen Menschen. Barbar hieß einfach <ein Fremdere, einer, der anders war, als man selbst, ein Mensch, dessen Kleidung, dessen Sitten, dessen Eßgewohnheiten sich von den Einheimischen unterschieden, der zu anderen Göttern betete. Barbar war vor allem einer, dessen Verkehr unerwünscht war, der zu Hause bleiben sollte, wie man selbst zu Hause blieb. » Und zur Auffassung der Römer: «Die Römer verschieben zwar den Begriff des griechischen Barbaren, doch ohne ihm einen verächtlichen Beigeschmack zu geben. Sie legen in das Wort den Sinn einer gewissen ursprünglichen Größe. Es bedeutet ihnen. unbezähmbare Rasse, vorwärts stürmende Tapferkeit. Bald können die Römer diese Eigenschaften der Barbaren notwendig brauchen zur Verteidigung ihrer Grenzen gegen Europas ernsteste Gefahr, den Einbruch mongolischer Horden, die der Tierheit nahestehen und jenen hohen moralischen Wert vollkommen vermissen lassen, den Tacitus den Bewohnern germanischer Wälder eindringlich nachrühmt. Die Unentbehrlichkeit der Barbaren war bitter, aber die alte Welt konnte nur durch diese junge Kraft zu neuem Leben kommen. Die besten und edelsten der nordischen Stämme haßten durchaus nicht die ehrwürdigen Kulturwerte, ja, sie bestaunten sie mit Ehrfurcht und kindlicher Freude, einige ihrer Führer versuchten, was rettungslos im Morast spätrömischer Dekadenz versumpfte, dem Licht zu retten. »

56 Gleichen-Rußwurm sagt. Am Schluß seiner Zeitglosse über die «Menschenwürde» (siehe Hinweis zu 5. 55).



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56 daß Frankreich das Vaterland des Heiligen der Nächstenliebe ist, Vincent de Paul. Der in Frankreich beheimatete Vincent de Paul (1581-1660) war katholischer Geistlicher, der sich um die materiellen und seelischen Nöte der sozial Schwächsten in der Gesellschaft kümmerte. Gleichzeitig wirkte er auch als Beichtvater von hochgestellten Persönlichkeiten, wie zum Beispiel der Regentin Anne d'Autriche (1601-1 666), die vom Mai 1643 bis September 1651 die Herrschaft für ihren Sohn, König Ludwig (Louis) XIV. ausübte. 1625 begründete Vincent de Paul den Missionsorden der Lazaristen, dem auch die Leitung vieler Priesterseminare in Frankreich übertragen wurde. 1737 wurde er heiliggesprochen.

58 Mr. Leadbeater beschäftigt sich mittlerweile damit: Im April 1916 erschien in der von Annie Besant, der Präsidentin der «Theosophical Society», herausgegebenen Zeitschrift «The Theosophist» (Vol. XXXVII No. 7) unter dem Titel «The Reason Why» ein kleiner Aufsatz von Charles Webster Leadbeater (siehe Hinweis zu 5. 222 in GA 173b). In diesem Aufsatz wollte er eine wissenschaftlich abgestützte Rechtfertigung für die deutsche Grausamkeit liefern, die er bereits in einem früheren, im Februar 1916 erschienenen, Beitrag («The Great War», in: «The Theosophist» Vol. XXXVII No. 5) gegeißelt hatte. In diesem zweiten Aufsatz schreibt er einleitend: «Vor einiger Zeit schrieb ich einen Artikel aus okkulter Sicht über den gegenwärtigen Krieg, in dem ich die furchtbaren Grausamkeiten, die die Deutschen begangen haben, darstellte als ein Ergebnis der Besessenheit dieser Rasse durch bestimmte finstere Mächte.» 1 Zur Stützung seiner These von der Beherrschung Deutschlands durch die dunklen Mächte beruft er sich auf den Vergleich zwischen der deutschen und der britischen Verbrecherstatistik: «Seit ich den Artikel geschrieben habe, sind mir Statistiken bekannt geworden, die bemerkenswert vielsagend sind und das Problem weitgehend lösen können, wie ich glaube. Sie wurden zusammengestellt von einem Professor der Universität Erlangen in Sachsen und stammen aus seinem Buch <Die Seele Deutschlands>. Sie bestehen aus einem Vergleich der Zahlen von Kriminalfällen, die im Verlauf von zehn Jahren vor englischen und deutschen Gerichten verhandelt wurden.» 2Bei dem von Leadbeater erwähnten Veröffentlichung handelt sich um die Schrift von Thomas Smith «The Soul of Germany. A Twelve Years Study of the People from Within 1902 —14» (London 1915). Smith war zunächst Sprachlehrer in Nürnberg, 1905 immatrikulierte er sich an der Universität von Erlangen und schloß 1910 mit dem Doktorat ab. Außerdem war seit 1907 als «English Lecturer» an der gleichen Universität tätig. Kurz vor Ausbruch des Krieges brachte er seine Familie nach England und kehrte vorerst nicht mehr nach Deutschland zurück. Er wurde deshalb noch 1914 vom bayrischen Staat entlassen und gegen ihn wurde in Abwesenheit ein Disziplinarverfahren eröffnet. So verwundert es nicht, daß seine Haltung gegenüber Deutschland äußerst ambivalent war. In seinem Vorwort («Author's prefatory note») gelangt er zum Schluß: «Im großen und ganzen war der Aufenthalt des Autors im <Vaterland> eine angenehme und aufschlußreiche Erfahrung, und er versichert mit allem Nachdruck, daß er keine persönliche Animosität



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gegen irgendeinen Deutschen hegt. Aber während mindestens elf dieser Jahre wurde er niemals schwankend in seiner Überzeugung, daß die Deutschen England als ihren unversöhnlichen Feind ansehen und es hassen. Diesem Haß begegnete er in allen Klassen, verbunden mit der Hoffnung, daß der Tag kommen möge, wo England zerschmettert und gedemütigt sein würde.» 1

Der Haß auf Deutschland durchzieht das ganze Werk von Smith. So betrachtet er das Selbstverständnis der Deutschen als geradezu paradox-verlogen und ihre Haltung als reine «Bauernfängerei» (Chapter XIII): «Heute glauben die Angreifer, die Angegriffenen zu sein; die Brutalen glauben, die höchsten kulturellen Maßstäbe zu setzen, und die Kriegstreiber sind überzeugt, daß sie die Unschuldslämmer sind, die von den Hunden des Krieges zerrissen werden, und zu guter Letzt betet sich die materialistische, heidnische Nation selbst an als Werkzeug Gottes! Niemand anders als die fesselnde Persönlichkeit von Kaiser Wilhelm II. hatte diese Meisterleistung der Hypnose erreichen können. Jene, die zweifelhafte Methoden anwenden, um noch zweifelhaftere Zwecke zu verfolgen, beschuldigen oft die andere Seite, die gleichen Methoden zu gebrauchen. Daher ist es nicht verwunderlich, wenn die Deutschen englische Freundschaftsangebote als Bauernfängerei bezeichnen.» 2 Smith beschäftigte sich auch mit der Kriminalität der Deutschen (zum Beispiel im Kapitel «The Seamy Side of Kultur», Chapter XII) und stellte im Vergleich zu England fest (Appendix II, «Crime under Kultur and Culture): «Es ist interessant, daß wir im Hinblick auf die Tatsache, daß in dem Land, wo der Materialismus und seine Dienerin, die Sozialdemokratie, geblüht haben, dort eine erschreckend hohe Zahl von brutalen Verbrechen gegen Personen und ihr Eigentum finden.» 3

Auf diesen haßerfüllten Gegner Deutschlands stützte sich Leadbeater für seine Beweisführung. Er behauptet -scheinbar objektiv, unter Berücksichtigung der unterschiedlichen Bevölkerungszahl - in seinem Aufsatz: «In England gab es 1262 Fälle von böswilliger und vorsätzlicher Köperverletzung. also sollte man in Deutschland 2208 Fälle erwarten; die tatsächliche Zahl ist aber 172153 —fast achtzigmal so viel! Es gab 97 Morde in England, während es in Deutschland 350 waren, aber die Zahl der Verbrechen, die in Deutschland als Mord angesehen werden, wird notorisch unterschätzt. Es gibt Hunderte von Totschlagen, die das deutsche Recht nicht mit dem Terminus technicus <Mord>bezeichnet, und deshalb tauchen sie nicht in dieser Statistik auf Vergewaltigungen gab es in England 216, und Deutschland müßte im selben Verhältnis 378 haben; statt dessen hat es 9381.» 4 Es bleibt allerdings völlig



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unklar, wie Leadbeater aufgrund der Angaben bei Smith (zum Beispiel in «Appendix II») zu seinen Zahlenergebnissen gelangte. In jedem Fall glaubt er aber den sicheren Schluß ziehen zu können: «Diese Zahlen sprechen eine deutliche Sprache, und sie können uns helfen zu verstehen, wie dieses allerschlimmste Beispiel für den Fall einer großen Nation in der Geschichte möglich geworden ist. »' Annie Besant (siehe Hinweis zu S. 222 in GA 173b) verbreitete diese Meinung weiter, zum Beispiel im zweiten Teil ihres Vortrages «Occultism and War», der in der Mai-Nummer der Monatsschrift «The Theosophist» abgedruckt wurde (Vol. XXXVII No. 8). Dort stellt sie fest: «Die westliche Zivilisation war im Niedergang begriffen, Luxus und Faulheit führten zu Sinnlichkeit, Sinnlichkeit zur Roheit, wie die Kriminalstatistik Deutschlands und die abscheulichen Greueltaten zeigen, die die frühen deutschen Erfolge begleiteten. Die Leiden, die Mühen und das Elend dieser furchtbaren Jahre werden die Menschheit wieder reinigen. »2

58 Dann weist ihm ein Leser in einer der nächsten Nummern nach: Ein paar Monate nach dem Erscheinen von Leadbeaters Artikel, das heißt in der August-Nummer des «Theosophist» (Vol. XXXVII No. 11), war Annie Besant allerdings gezwungen, eine Berichtigung zu Leadbeaters Schlußfolgerungen abzudrucken. Unter dem Titel «Hysterical Statistics» nahm ein gewisser Harold Picton Bezug auf Leadbeaters Artikel und warf ihm gravierende Fehler vor. Er schrieb: «Das Hauptziel der Aufhetzer ist es, sich aller Zahlen zu bedienen, die ihren Zwecken dienen, ohne weitere Nachprüfung ihrer Gültigkeit. Wenn wir zum Beispiel das <Statesman's Yearbooks benutzen, finden wir unter [der Rubrik]<Kriminalstatistik des Vereinigten Königreiches> die Zahl der Personen, die nach einem Verfahren verurteilt wurden. Nehmen wir das Jahr 1908 [...]; die Zahlen für England und Wales belaufen sich auf etwa 12000. Unsere einigermaßen ungeübten Freunde vergleichen diese Zahl flugs mit den Verurteilungen im Deutschen Reich und erhalten ein für ihre Sache höchst günstiges Ergebnis, nämlich 3,11 Verurteilungen pro 10000 Einwohner in England und Wales gegenüber 124 im Falle Deutschlands. Die Deutschen, so schließen sie, sind vierzigmal krimineller als wir, und sie sind so zufrieden mit diesem Ergebnis, daß sie nicht weiter nachforschen. Würden sie das tun, so würden sie die für sie unerfreuliche Entdeckung machen, daß sie bei den Zahlen, die sie für diese Seite zitieren, 146000 Schnellverfahren ausgelassen haben. Der Fehler ist leicht gemacht, aber solche ungeprüften Zahlen publizieren und auf sie eine Lehre von unversöhnlichem Haß stützen, ruft gewiß nach Verurteilung. »3



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Aufgrund der korrekten Berechnung, unter Einschluß der im Schnellverfahren Verurteilten, kam Picton auf eine Zahl von 45 Verurteilten auf 1 0 000 Einwohner, also bloß dreimal und nicht vierzigmal weniger als in Deutschland. Etwa anderthalb mal so groß wie in Deutschland war die Zahl der Verurteilungen in Frankreich. Seine Berichtigung schloß Picton mit den Worten: «Im ganzen gesehen ist es besser, nicht mit Kriminalstatistiken herumzuspielen, wenn man Haßparolen einpeitschen will. Die Schlangen, die aus dem Haß entstehen, haben eine Neigung, sich umzuwenden und ihren Schöpfer zu beißen. Dieser Krieg hat, so muß ich gestehen, einen echten Pazifisten aus mir gemacht, aber wenn ich ein Kämpfer wäre, würde ich, glaube ich, mit aller Macht versuchen zu kämpfen, ohne in Beleidigungen zu schwelgen. Man macht sich so weniger leicht lächerlich.» 1

Pictons Artikel wurde hinten, in der Rubrik «Correspondence», abgedruckt. Dazu schrieb die Leserin H. B. Hyams: «Mit Bedauern haben viele von uns Leadbeaters Statistik über die deutschen Kriminellen im Aprilheft des <Theosophists gelesen. Unser Bedauern wurde noch bedeutend stärker, als wir herausfanden, daß der Artikel nicht korrekt war, wie der beiliegende Zeitungsausschnitt zeigt. Die Pflicht gegenüber unserer Bewegung verlangt, den angerichteten Schaden so weit wie möglich wieder gutzumachen. » 2

58 was diese bernische Preisschrift «Zur Geschichte des Kriegsausbruchs». Siehe Hinweis zu 5. 40.

58 wegen Greueltaten und so weiter. Siehe Hinweis zu 5. 111 in GA 173b.

59 als wir den Streit hatten mit Mrs. Besant. Siehe Hinweis zu 5. 116 in GA 173c.

59 da brachte es diese fertig, uns alle Schuld zuzuweisen. Annie Besant (siehe Hinweis zu 5. 222 in GA 173b) sagte in ihrem Londoner Vortrag vom 3. Juni 1913 «Zur gegenwärtigen Lage in der Theosophischen Gesellschaft» —der Vortrag wurde noch im gleichen Jahr in der Novembernummer der Monatsschrift «The Theosophist» (Vol. XXXV No. 2) unter dem Titel «The Present Position of the Theosophical Society» veröffentlicht (zitiert nach: Mathilde Scholl, Die gegenwärtige Lage in der Theosophischen Gesellschaft im Spiegel Mrs. Annie Besants, in: «Mitteilungen für die Mitglieder der Anthroposophischen Gesellschaft (theosophischen Gesellschaft)» vom November 1913, No. IV): «Es gibt nur einen Teil in unserer Gesellschaft, der solch eine Schwierigkeit für uns hätte machen können während des kommenden Jahres: das sind unsere deutschen Brüder, deren Auffassung der Theosophie eher etwas enger, eigentlich muß ich sagen viel enger ist als unsere eigene. Sie sind nicht



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willens, alle Meinungen, alle Ansichten, alle Gedanken gelten zu lassen, sondern wählen lieber nur eine Anschauung und möchten ihr folgen; sie würden für uns ein Hemmnis gewesen sein, was die Duldsamkeit und Weitherzigkeit der Gesellschaft betrifft. Wir hätten eine Deutsch-Theosophie heranwachsen sehen können im Gegensatz zu einer Welt-Theosophie. Das würde uns geschadet haben und hätte in der nächsten Zukunft nur Verwirrung gebracht. Es ist besser, wo eine weitreichende, fundamentale Verschiedenheit vorhanden ist, daß man sich trennt. Und selbst wenn für die deutschen Brüder die Trennung irgendwie bitter ist und von vielen harten Worten begleitet wird: Wenn wir nicht ebenso hart zurückgeben, so wird über kurz oder lang die Bitternis verschwinden, und wir werden in der Lage sein, miteinander Seite an Seite zu gehen, jeder seinem eigenen Pfad folgend. Wir streben eine Theosophie an, die tolerant, klar und vorurteilslos ist, und wir überlassen es der anderen Gesellschaft, ihren eigenen Weg zu gestalten und all jene zu belehren, die sie vielleicht besser erreichen kann, als wir es vermögen. Auf diese Weise mag diese Gesellschaft ihren Platz im Rahmen der großen Vorwärtsbewegung -der theosophischen Bewegung -ausfüllen, ohne aber unmittelbar Mitglied der Theosophical Society zu sein. » 1Diese Anschuldigung, die Annie Besant bereits früher als Grund für den Ausschluß der Deutschen Sektion angegeben hatte, veranlaßte Rudolf Steiner zu einer grundsätzlichen Stellungnahme, die unter dem Titel «Der Ausschluß der Deutschen Sektion aus der Theosophischen Gesellschaft» in den «Mitteilungen für die Mitglieder der Anthroposophischen Gesellschaft (theosophischen Gesellschaft) vom April 1913 (No. J., zweiter Teil) erschien. Rudolf Steiner: «Alle diese Dinge erweisen sich vor der unbefangenen Beurteilung so, daß sie einen dichten Schleier zu ziehen geeignet sind vor dem wahren Tatbestande. Dieser liegt nur darin, daß die gegenwärtige Leitung der Theosophischen Gesellschaft nur Mrs. Besants Ansichten haben will und keine andere Anschauung und Arbeitsweise dulden kann. Meine Forschungsresultate wurden als ketzerisch empfunden und durften nicht im Rahmen der Gesellschaft bestehen. Daß man unsre Arbeitsweise nicht haben wollte, wurde verkehrt zu der Behauptung, daß wir keine andre Meinung duldeten. Und so vollzog sich denn die schier unglaubliche Tatsache, daß die Theosophische Gesellschaft eine Arbeitsgruppe von sich ausschloß unter dem Vorwande, diese Arbeitsgruppe sei intolerant. Als ob dies nicht sogar ein Widerspruch in sich wäre. Neben uns hätte sich doch jede andre Arbeitsweise entfalten können nach ihrer Kraft. » Und zum Grund, warum er künftig die Mitglieder der Theosophischen Gesellschaft von der Teilnahme an seinen internen Vorträgen ausgeschlossen sehen wollte (gleicher Ort): «Außerdem war es stets in allem Okkultismus eine strenge Pflicht, niemandem Lehren aufzudrängen, die er nicht haben will. Die Theosophische Gesellschaft hat



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gesprochen, daß sie nicht haben will, was ich zu sagen habe; ich würde meine Pflicht verletzen, wenn ich in diesem Augenblicke nicht sagen würde: also darf ich für Mitglieder der Theosophischen Gesellschaft nicht Vorträge halten, wegen welcher ich von ihr ausgewiesen worden bin. Es muß unbegreiflich erscheinen, wie jemand die Meinung haben kann. es wäre nur möglich, daß ich vor Mitgliedern der Theosophischen Gesellschaft interne Vorträge hielte. Von Intoleranz der Anthroposophischen Gesellschaft zu sprechen ist völlig unmöglich, da doch jeder in dieselbe eintreten kann, der ihrem Ursprung nicht die Berechtigung abspricht. Diese Berechtigung spricht ihr aber derjenige ab, der sich mit dem Ketzerbanne von Adyar durch seine Zugehörigkeit zur Theosophischen Gesellschaft einverstanden erklärt.»

59 nach der Angabe eines ihr bis dahin Ergebenen. Vermutlich handelt es sich um Hugo Vollrath (siehe Hinweis zu 5. 251 in GA 173b), der ungefähr im Juni1911 von Annie Besant nach der Gründung des «Order of the Star in the East» zum Organisationssekretär für Deutschland bestimmt worden war, aber dann noch im November des gleichen Jahres auf Betreiben des formellen Vorsitzenden des Stern-Ordens für Deutschland, Wilhelm Hübbe-Schleiden (1856-1916), wieder von ihr abgesetzt wurde. Vollrath trat aber weiterhin als Sekretär des «Sternbundes» auf. Damit hatte er sich auch innerhalb der internationalen «Theosophical Society» diskreditiert. In der Folge gab sich Vollrath ab 1912 als Vertreter der von Max Heindel (siehe Hinweis zu 5. 251 in GA 173b) in den Vereinigten Staaten begründeten «Rosenkreuzer-Gesellschaft» («Rosicrucian Fellowship») aus. Zum Teil trat er unter falschem Namen auf, zum Beispiel als «Walter Heilmann» oder als «Johannes Walter», kassierte Mitgliederbeiträge, ohne aber etwas davon nach Oceanside, dem Hauptquartier des «Rosicrucian Fellowship», abzuliefern.

59 Nächsten Sonnabend werden wir uns also wiederum um 7 Uhr hier treffen. Am Samstag, den 9. Dezember 1916, führte Rudolf Steiner seine Betrachtungen zu zeitgeschichtlichen Fragen fort (in diesem Band).



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Zum Vortrag vom 9. Dezember 1916:

61 daß wir morgen bereits um drei Uhr beginnen: Auch der Vortrag vom 10. Dezember 1916 ist in diesem Band wiedergegeben.

61 einige der Freunde, welche wahrscheinlich schon morgen abreisen müssen: Es scheint, daß für das Wochenende vom 8. bis 10. Dezember 1916 verschiedene Personen extra von auswärts angereist waren, um die Vorträge zu hören.

61 diese Aufführung, die wir heute versuchten, Ihnen zu geben: In der Zeit zwischen 1915 und 1919 wurden eine Reihe von Szenen aus Goethes «Faust» unter der Leitung von Rudolf und Marie Steiner einstudiert und im Saal der Schreinerei zur Aufführung gebracht (siehe Zeittafel in GA 273). So auch in der Jahreswende 1916/1917: Am 9. Dezember wurde die «Romantische Walpurgisnacht» («Faust. Erster Teil») aufgeführt und zwei Tage später, am 11. Dezember, das Ganze wiederholt. Am 27. Januar 1917 wurden die Szenen «Hochgewölbtes, enges gotisches Zimmer» und «Laboratorium» («Faust. Zweiter Teil») aufgeführt und am Tag darauf, am 28. Januar 1917, wiederholt.

61 daß dies doch den Wünschen einzelner unserer Freunde entspricht: Vermutlich handelt es sich um den von Assja Turgenjeff (Anna Alekseevna Turgeneva, 1890 —1 966) in ihren Erinnerungen erwähnten Brief, den ihre Schwester, Natascha Turgenieff (eigentlich Natalija Alekseevna Turgeneva, 1886-1942), mit anderen Zuhörern aufgrund des Vorfalls verfaßt hatte, der sich nach Rudolf Steiners erstem «Zeitgeschichtlichen Vortrag» vom 4. Dezember 1916 abgespielt hatte (siehe Einführung zu diesem Band).

61 was ich am letzten Montag begonnen habe: Der erste Vortrag der «Zeitgeschichtlichen Betrachtungen» fand am Montag, dem 4. Dezember 1916, statt.

63 So schrieb Richard Graf von Pfeil: Das Zitat stammt aus den Memoiren von Richard Graf von Pfeil und Klein-Ellguth (1846-1916), die dieser unter dem Titel «Neun Jahre in russischen Diensten unter Kaiser Alexander III. Erinnerungen eines preußischen Offiziers» (Leipzig 1907) veröffentlicht hatte. Tatsächlich hatte von Pfeil, ein zur Disposition stehender preußischer Generalmajor, von 1877 bis 1889 in der russischen Armee gedient, wo er es bis zum Obersten brachte. Auf die Schilderung des Grafen von Pfeil (23. Kapitel) nahm Alexander Redlich (siehe Hinweis zu 5. 84) in seiner Schrift «Der Gegensatz zwischen Österreich-Ungarn und Rußland» (Stuttgart 1915) Bezug (Kapitel «Die Balkanpolitik Österreich-Ungarns und Rußlands»). Es ist anzunehmen, daß Rudolf Steiner die Schrift von Redlich für seinen Vortrag benutzt hat. Der Wortlaut bei Redlich weicht nur wenig vom Original ab. Allerdings hat Redlich in seiner Wiedergabe einen wichtigen einschränkenden Hinweis Pfeils einfach weggelassen -dieser sprach bloß von einem Eindruck anläßlich seiner Verabschiedung im Jahre 1889.

63 vom damals regierenden Kaiser von Rußland, Alexander III.: Nach der Ansicht von Alexander Redlich standen die russischen Zaren und damit auch Zar Alexander III. unter dem Druck einer Art Nebenregierung, die sich an der Idee eines unter russischer Führung stehenden slawischen Großreiches orientierte und die einen wesentlichen Anteil an der revolutionären Agitation auf dem Balkan hatte. Redlich im Kapitel über «Die Balkanpolitik Österreich-Ungarns und Rußlands»: «Das Bezeichnende an diesem Vorgehen ist, daß es keineswegs offiziellen Charakter besaß. Die russische Politik bediente sich vielmehr auf dem Balkan jederzeit solcher



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Nach Redlich war es nicht zulässig, die offizielle Regierung mit dem Zaren an der Spitze als den eigentlichen Träger dieser revolutionären Politik auf dem Balkan zu betrachten: «Vielmehr wurde die Kontinuität dieser russischen Politik durch inoffizielle Kreise gewährt -Kreise, die bisweilen zur Regierung in einen Gegensatz traten, die sich aber auf die Dauer immer wieder als die mächtigste Partei des Reiches erwiesen. An ihrer Tätigkeit gingen die Schwankungen der offiziellen russischen Politik spurlos vorüber. Die wichtigsten Vertreter dieser Kreise fanden sich stets unter den hohen Offizieren, und ihre Beziehungen reichten in die kaiserliche Familie. Ihr oberstes Prinzip war und ist die allslawische Idee. Sie standen darum nicht nur zu Österreich-Ungarn in Gegensatz, welches Rußland den Weg nach Konstantinopel verlegte, sondern auch zu Deutschland, und zwar bereits in einer Zeit, wo es deutsche Staatsmänner noch für möglich hielten, trotz des Bündnisses mit Österreich-Ungarn auch zu Rußland enge Beziehungen zu unterhalten. Panslawistische Kreise waren es, die zu Beginn der neunziger Jahre das Bündnis mit Frankreich [von 1894] dem Abschluß nahebrachten, das seine Spitze ja in erster Linie gegen Deutschland richtete. »

Die Politik der sogenannten «Kriegspartei» stand nach Redlich in einem ausgesprochenen Gegensatz zur «Zarenpolitik»: «Das russische Zarentum des 19. Jahrhunderts ist durch die deutsche Abkunft seiner Träger und durch ihre verwandtschaftlichen Beziehungen sowie durch die gemeinsame konservative Staatsauffassung mit den benachbarten Reichen Deutschland (Preußen) und Österreich-Ungarn eng verbunden, während es anderseits den Westmächten unfreundlich gegenübersteht. Das einstige Dreikaiserbündnis [zwischen den drei großen Kontinentalmonarchien Rußland, Österreich-Ungarn und Deutschland, siehe Hinweis zu 5. 79] war der reale Ausdruck dieser Politik. » Und die Folge dieses Gegensatzes: «Zwischen den beiden Richtungen hat eigentlich jahrzehntelang ununterbrochen ein steter Kampf geherrscht, und durch das Überwiegen der einen oder anderen erklären sich die vorübergehenden Schwankungen in der Haltung Rußlands. Während aber die Ziele der inoffiziellen Kriegspartei ihre Stetigkeit behielten, konnte man dies von der Zarenpolitik nicht behaupten. Hier galt meistens, was schon Richard Graf von Pfeil im Jahre 1889 über Alexander III. bemerkte. » Damit war klar: «Gegen diese immer stärker werdende Macht, die entweder die offizielle russische Politik desavouierte und ihr jeden Anspruch auf Zuverlässigkeit nahm oder aber die offiziellen Kreise sich gefügig machte und ihnen eine Politik einflüsterte, die die Existenz anderer Staaten zu untergraben bestimmt war -gegen diese Macht war mit diplomatischen Mitteln ein dauernder Erfolg nicht zu erreichen. »

Alexander (Aleksandr) III. aus dem Hause Romanov (1845-1894) bestieg im März 1881 als Nachfolger seines ermordeten Vaters den russischen Zarenthron. Er war mit Prinzessin Dagmar von Dänemark (1847-1 928) verheiratet, die in Rußland den Namen Marija Fedorovna Romanova annahm. Aufgrund des Verlusts der ehe-



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mais dänischen Herzogtümer Schleswig und Holstein (siehe Hinweis zu 5.42) hegte sie eine große Abneigung gegenüber Deutschland, was nicht ohne Wirkung auf den Zaren bueb. Ihre Schwester Prinzessin Alexandra von Dänemark (1844 —1 925) war die Gemahlin König Eduards VII. von Großbritannien (siehe Hinweis zu 5. 141). Zar Alexander III. starb im November 1894 —noch verhältnismäßig jung - eines natürlichen Todes. Während seiner Regierungszeit erwies er sich als ein überzeugter Anhänger der Idee einer unbeschränkten Selbstherrschaft des russischen Monarchen. Die von seinem Vater eingeleiteten innenpolitischen Reformen lehnte er ab; die Minister seines Vaters, zum Beispiel Gorcakov (siehe Hinweis zu 5. 35), waren ihm wegen ihrer angeblichen liberaien Neigungen verhaßt, und er suchte sich so rasch wie möglich von ihnen zu befreien. Außenpolitisch stand der Zar unter starkem Einfluß panslawistisch-russizistischer Kreise, die Rußlands Großmachtstellung durch eine Expansion auf dem Balkan und durch die Eroberung der Meerengen stärken wonten. Eine entscheidende Roue in der Umgebung des Zaren spielten Konstantin Petrovic Pobedonoscev (1827-1907) und Michan Nikiforovic Katkov (1818-1887).

Pobedonoscev trat im Jahre 1846 nach der Beendigung seiner Studien an der Petersburger Hochschule für Recht - der Kaderschmiede für russische Staatsbeamte -in den Staatsdienst, zunächst auf Provinzebene. Von 1860 bis 1865 war er zusätzlich als Professor für öffentliches Recht an der Moskauer Universität tätig. 1868 begann der Aufstieg Pobedonoscevs: er wurde zum Mitglied des Senats, des obersten russischen Gerichtshofs, ernannt. 1872 erfolgte die Ernennung zum Mitglied auf Lebenszeit im Reichsrat, dem Beratungsorgan des Zaren für Ane Gesetzes und Finanzangelegenheiten. Von 1880 bis 1905 wirkte er als Oberprokurator der Heiligen Synode Rußlands, das heißt Vertreter des Zaren in der obersten russischen Kirchenbehörde. Er übte damit die De-facto-Funktion eines weitlichen Oberhaupts der Russisch-Orthodoxen Kirche aus. Für seinen politischen Aufstieg ausschlaggebend war seine Nähe zur Zarenfamilie: Von 1861 an unterrichtete er die russischen Thronfolger, zunächst den Kronprinzen Nikolaus und, nach dessen Tod im Jahre 1865, den Kronprinzen Alexander, den späteren Zaren Alexander III. Aus dieser Zeit stammt die enge Bindung Alexanders III. an seinen Lehrer, die ein Leben lang andauern sollte. Mit dem Regierungsantritt Alexanders im März 1881 entwickelte sich Pobedonoscev endgültig zum starken Mann in der russischen Politik; er stand für den einsetzenden Umschwung zum Konservatismus. Er lehnte die modernen liberalen Anschauungen des Westens, die Ideen von Freiheit und Gleichheit, ab und trat für ihre Unterdrückung ein. Er befürwortete die zaristische Autokratie und war gegen jede Bindung der Staatsgewalt an eine vom Volk ausgehende Verfassung. Die Bewahrung der russischen Kultur und Tradition, insbesondere auch des christlich-orthodoxen Glaubens sah er als Hauptaufgabe des Staates. Das bedeutete eine gezielte Russifzierungspolitik, die sich gegen die fremden Nationen und Religionen richtete. Nach dem Tode Alexanders III. verlor Pobedonoscev an Einfluß, gehörte aber immer noch zum Kreis der wichtigen Ratgeber des neuen Zaren Nikolaus II.

Katkov war ein russischer Journalist und Pressezar, der nicht nur auf die beiden Zaren Alexander II. und Alexander III. einen großen Einfluß ausübte, sondern auch auf die öffentliche Meinung in Rußland überhaupt. Seine Stellung in Rußland kann am ehesten mit derjenigen von Lord Northcliffe in Großbritannien (siehe Hinweis zu 5. 224 in GA 173b) verglichen werden. Er war nicht nur der Begründer der Monatsschrift «Russkij Vestnik» («Russischer Bote»), sondern auch von 1863 bis 1887 der langjährige Herausgeber der «Moskovskie Gazeta» («Moskauer Zeitung»). Zunächst eher liberal-konstitutionell gesinnt, vertrat er angesichts der nihilistisch-soziaiistischen Agitation und der polnischen Unabhängigkeitsbestrebungen eine



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zunehmend konservativ-nationalistische Haltung und befürwortete die russische Vorherrschaft über die slawischen Völker, verbunden mit einer durchgreifenden Russifizierung. Er entwickelte sich zu einem bedeutenden Vertreter des Russizismus (siehe Hinweis zu S. 110). Mit seinem machtpolitischen Ansatz unterschied er sich deutlich von den religiös-schwärmerischen Panslawisten, die von einer Gleichberechtigung der slawischen Völker ausgingen. So lehnte Katkov nicht nur die polnischen Selbständigkeitsbestrebungen entschieden ab, sondern machte auch Front gegen jede Zusammenarbeit mit Deutschland - er haßte das Deutschtum, obwohl er in Deutschland studiert hatte - und befürwortete ein Bündnis zwischen Frankreich und Rußland. Den Abschluß dieses Bündnisses (siehe Hinweis zu 5. 173) sollte er allerdings nicht mehr erleben. Alfred Fischel (siehe Hinweis zu 5. 31) faßt Katkovs politische Überzeugung in seinem Buch über den Panslawismus (siehe Hinweis zu 5. 32) mit den Worten zusammen (8. Abschnitt, «Panslawismus und Nationalismus in Rußland bis zum Berliner Frieden»): «Rußland braucht einen einheitlichen Staat und eine starke russische Nationalität. Schaffen wir eine solche Nationalität auf der Basis einer allen Bewohnern gemeinsamen Sprache, eines gemeinsamen Glaubens und des slawischen Mir. Alles, was uns im Wege stehen wird, stürzen wir um. »

64 was ich in bezug auf die Blavatsky erzählt habe: Verschiedentlich erwähnt Rudolf Steiner diese tragischen Vorgänge um die Person der Blavatsky (siehe Hinweis zu 5. 89 in GA 173b). So zum Beispiel am 15. August 1915 in Dornach (in GA 162), wo er darauf hinwies, «wie es möglich ist, daß Betrüger auftreten, die irgendeine einseitige Weltanschauung propagieren wollen und sich einer medialen Persönlichkeit bedienen, um diese einseitige Weltanschauung in die Welt zu bringen, wie zum Beispiel derjenige, der an die Stelle des Meisters Koot Hoomi getreten ist, als Betrüger dasteht und eine einseitige Weltanschauung in die Blavatsky verpflanzt hat. [Man sollte darüber nachdenken], wie es möglich war, daß man nicht sah, daß hinter ihr ein grauer Magier stand, der im Solde einer eng begrenzten menschlichen Gesellschaft war und eine bestimmte Weltanschauung propagieren wollte. »Und am 12. März 1916 wiederholt Rudolf Steiner diesen Hinweis auf das schwierige Schicksal der Blavatsky in Stuttgart (in GA 174a): «Aber sehr bald kam sie, indem sich andere Persönlichkeiten ihrer bemächtigten, unter ganz andere Einflüsse, und an die Stelle desjenigen, der ihr Leiter war und der sie zu mitteleuropäischem Wesen anleiten wollte, trat später die sogenannte spätere Koot-Hoomi-Individualität, indem sie in der Maske des ursprünglichen Leiters auftrat, die aber nichts anderes war -nach der Aussage der wirklich wissenden Okkultisten -als ein Mensch, der im Solde des Russentums stand und in einer bewußten Weise zusammenschmieden wollte dasjenige, was hervorgehen konnte aus der seelischen Befähigung der Blavatsky und dem angelsächsischen Okkultismus. Man hat es direkt zu tun mit dem Zusammenstoßen einer sozusagen ursprünglichen Individualität -manche nennen es Meister, man kann es nennen, wie man will - mit einem späteren Wicht, einem Schwindler, der die Maske des ersten angenommen und von seiten Osteuropas aus die Aufgabe erhalten hatte, die ich eben angedeutet habe. » Und um großen Ziel dahinter (gleiche Quelle): «Alle diese Dinge gingen darauf aus, vor Europa etwas hinzustellen, was Europa überzeugen sollte, daß aus der Verbindung des seelischen Russentums und des angelsächsischen okkultistischen Machtgelüstes eine Art neuer Weltenreligion für Europa hervorgehen könne. Das sollte vor Europa hingestellt werden. Und überrannt sollte werden dasjenige, was aus dem deutschen Wesen hervorgegangen ist. »

Ähnlich wie Rudolf Steiner äußerte sich auch Charles Harrison in seiner Schrift «Das Transcendentale Weltenall» (siehe Hinweis zu 5. 31). So vertritt er die Auf-



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fassung (Erster Vortrag, zitiert nach der deutschen Ausgabe von 1897), daß «Koot Hoomi eine wirkliche Person, aber weder ein Tibetaner noch ein Mahatma ist. <Er ist>, sagt Herr ..., <ein verräterischer Schurke im Solde der russischen Regierung, welchem es eine Zeitlang gelang, Frau Blavatsky zu täuschen, dessen wahren Charakter und Persönlichkeit sie aber endlich entdeckte. Ihr Kummer, so lange blind gewesen zu sein, zog ihr eine schwere Krankheit zu. Da jedoch die Mahatmas der Grundstein der Theosophischen Gesellschaft waren, ist sie gezwungen gewesen, die Täuschung aufrecht zu erhalten; sie ging jedoch dara uf aus, Koot Hoomi allmählich als den Urheber von <Phänomenen> verschwinden zu lassen und setzte an seine Stelle einen mythischen Mahatma M[orya], welcher niemals in seinem Astralkörper erschien. » Laut Harrison habe Koot Hoomi im Jahre 1874 Blavatsky enthüllt, daß er der «Spirit» eines kühnen Seeräubers namens John King aus dem siebzehnten Jahrhundert sei. Und zum tatsächlichen spirituellen Hintergrund dieses Koot Hoomi meint Harrison («Anhang zum Vortrage J»): «Überdies war es Oberst Olcott selbst, welcher zuerst die Vermutung aussprach, daß <John King kein verstorbener Seeräuber, sondern das Geschöpf eines <Ordens sei, der, während er in betreff seiner Erfolge von unsichtbar Wirkenden abhängig sei, auf Erden unter den Menschen bestehe. » Der amerikanische Anwalt Henry Steel Olcott (siehe Hinweis zu S. 89 in GA 173b) war mit Blavatsky befreundet und wirkte von 1875 bis zu seinem Tode als Präsident der «Theosophical Society».

Tatsächlich finden sich in Olcotts Buch «People from the other World» (Hartford Conn. 1875) Andeutungen zum okkulten Hintergrund von Koot Hoomi. Olcott (Part II, «The Katie King Affair»), ausgehend von seiner Begegnung mit Frau Blavatsky: «Nachdem ich diese bemerkenswerte Dame kennengelernt habe und angesichts der Wunder, die in ihrer Gegenwart so häufig auftreten, daß sie auf die Dauer eigentlich nur ein flüchtiges Gefühl von Überraschung auslösen, bin ich fast geneigt zu glauben, daß die Geschichten der östlichen Sagen ganz simple Erzählungen von Tatsachen sind und daß dieser gleiche amerikanische Ausbruch von spiritistischen Phänomenen unter der Kontrolle eines Ordens steht, der, während seine Resultate abhängig sind von unsichtbaren Mächten, auf Erden unter den Menschen existiert. »1 Welche irdische Institution und welcher irdische Akteur hinter diesen Machenschaften standen, wird von Olcott aber nicht gesagt. Eigentümlich ist auch, wie die Grenzen zwischen Koot Hoomi und John King verfließen.

Diese seltsame Aura einer wenig faßbaren Geistigkeit zeigt sich deutlich in der Schilderung Olcotts, wie seine erste Begegnung mit dem Geistwesen, das sich John King nannte, verlief (gleicher Ort): «Ich hatte eine sehr lange Unterhaltung durch Klopfzeichen mit einem Wesen, das behauptete, ein Geist namens <John King> zu sein. Wer immer diese Person auch sein mag, ob er der Bukanier Morgan oder Pontius Pilatus, Kolumbus oder Zarathustra gewesen war, er ist der eifrigste und mächtigste Geist - oder wie immer man das nennen mag -, der mit diesem ganzen modernen Spiritismus verbunden ist. »2 Olcott hatte sich damals nach Philadelphia



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begeben, um das Erscheinen eines Geistwesens namens Katie King auf seine Wirklichkeit zu überprüfen. In der Aufklärung des ganzen Falles erhielt er Hilfe durch das Geistwesen John King. Wenn Harrison von einem Seeräuber namens «John King» spricht, so ist das nicht ganz zutreffend. Als Seeräuber nannte sich das Geistwesen «Morgan», und im Zusammenhang mit der Aufklärung des Falles von Katie King «John King». Olcott weiter: «Madame Blavatsky begegnete ihm vor vierzehn Jahren in Rußland und Tscherkessien, und mit gleicher Leichtigkeit hat er die Sprachen beider Länder gesprochen. Ich habe ihn in Ägypten und Indien getroffen und mit ihm geredet, ich bin ihm 1870 in London begegnet, und er scheint sich in jeder Sprache mit der gleichen Leichtigkeit verständigen zu können. Ich habe mit ihm Englisch, Deutsch, Französisch, Spanisch und Latein gesprochen und habe andere dasselbe in Griechisch, Russisch, Italienisch, Georgisch, Kaukasisch und Türkisch tun hören; seine Antworten waren immer zutreffend und befriedigend. Sein Klopfen ist eigentümlich und leicht unterscheidbar von anderen Arten des Klopfens - es ist ein lautes, scharfes, knatterndes Knallen. »1 Angesichts all der Zweideutigkeiten verwundert es nicht, wenn Rudolf Steiner das Ganze mit dem Wirken der Bruderschaften der Linken (siehe Hinweis zu 5. 108 in GA 173b) in Verbindung brachte.

65 Es gab in Wien einen Mediziner: Moriz Benedikt (1835-1920), aus einer österreichisch-jüdischen Familie stammend, hatte 1859 an der Universität Wien als Mediziner promoviert. Seit 1861 Privatdozent für Elektrotherapie wurde er 1868 zum außerordentlichen, 1899 zum ordentlichen Professor für Elektrotherapie und Nervenpathologie an der Universität Wien ernannt - ein Amt, das er bis zu seinem Tode bekleidete. Benedikts Interessen waren sehr vielfältig; sie beschränkten sich nicht bloß auf neurologische Fragestellungen, sondern Benedikt war auch als Psychiater tätig. Darüber erstreckten sich seine Forschungen auch auf das Gebiet der Kriminalanthropologie, wo er mit Cesare Lombroso (siehe Hinweis zu 5. 107 in GA 173c) zusammenarbeitete. Gegen Ende seines Lebens suchte er sogar das Funktionieren der Wünschelruten naturwissenschaftlich zu ergründen. 1906 erschienen in Wien unter dem Titel «Aus meinem Leben. Erinnerungen und Erörterungen» seine Memoiren.

65 nicht in den Grenzen, in denen es seit den Freud'schen Theorien getrieben wird: In seinen Erinnerungen (VI. Kapitel, «Die Menschenkenntnis und die ärztliche Kunst») geht Moriz Benedikt auch auf seinen wissenschaftliches Ansatz ein. Er zeigt, «daß ich mir die Lehren der Psychologie aus der Geschichtsschreibung und aus den Dichtern und besonders aus den Dramen geholt habe, und der fleißige Besuch des Theaters war eine kaum weniger wichtige Schule der Menschenerkenntnis für mich. Ich habe mir auch früh angewöhnt, nach Art der Dichter und der Historiker alle mich interessierenden Personen intellektuell, ethisch, ästhetisch, in bezug auf Temperament und Willenseigenschaften zu zerlegen und zu beobachten, ob ihre Äußerungen, ihr Verhalten, ihr Tun und Lassen, also die synthetischen Vorgänge mit den analytischen stimmen. Begreiflicherweise machte ich diese analytischen und



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synthetischen Studien auch an den Kranken und komme auf deren Bedeutung noch zurück, und besonders interessierte mich, daß aus dem Leben der Geisteskranken gerade zu fundamentale Schlüsse auf die Normaipsychologie gemacht werden konnten, weil die Geistesstörungen elegante Experimente der Natur sind, um das Geistesleben durch Veränderung des einen oder des anderen Faktors klarzulegen. Besonders der Satz von der Untrennbarkeit des Zusammenwirkens der drei Geisteskräfte, nämlich des Intellekts, des Gefühles und des Wollens, wurden durch diese Naturversuche zur höchsten Evidenz gebracht. Weiters mußte das Studium der Menschen lehren, daß mehr oder minder in allen dieselben Elemente vorhanden sind und daß anderseits der Reichtum an Individualismus aus den verschiedenen Mengen und der verschiedenen Stärke der vorhandenen Elemente in den drei Seelengebieten entsteht. Weiters wird dem Menschenkenner klar, daß eigentlich alle Elemente eines Individuums durch Abstammung, Umgebung und Schicksale in der Art ihrer Verbindung und Stärke des Auftretens bedingt sind und also eigentlich im Individuum so wenig oder fast gar nichts ursprünglich Individuelles vorhanden ist. »Gegenüber Sigmund Freud (1856 —1 939), den berühmten Psychoanalytiker, hatte Rudolf Steiner grosse Vorbehalte. So sagte er im 11. November 1917 in Dornach (in GA 178): «Ein Mensch wie Dr. Freud ist genötigt, das Sexualgebiet auszudehnen über das gesamte menschliche Wesen, damit er aus dem Sexualgebiet heraus alles erklären kann, was an solchen Seelenerscheinungen auftritt.» Und daraus folgt: «Behandeln Sie Freud mit Freud, wie er seine unterbewußten Dinge heraufbringt, dann müssen Sie sagen: Die Freud'sche Theorie kommt aus dem Sexualleben; sie ist nur ein Ergebnis des Sexuallebens. Geradeso wie die Behauptung: Alle Kretenser sind Lügner - aus einer Lüge stammen müßte beim Kretenser und zerbröckelt, so zerbröckelt die Behauptung von der Universalität des Sexualismus, wenn man sie selbst an der Sache prüft.» Und am 18. November 1911 in München kam Rudolf Steiner zum Schluß: «So sehen wir an dem Beispiel der Freud'schen Schule, wie durch den wüstesten Materialismus uns ein Gebiet des Seelenlebens in ein falsches Licht gesetzt und heruntergezogen wird, indem sie alle dort auftretenden Erscheinungen auf das Sexualgebiet zurückführen will -ein Vorgehen, von dem man auch sagen könnte, daß es aus einer persönlichen Vorliebe der Forscher selbst entstünde, deren sie sich nur selbst nicht bewußt sind, die sich aber dazu noch professionell dilettantisch gibt. »

65 durch Katechisation. In der Psychiatrie wird als Katechisation oder Katechese ein Verfahren bezeichnet, bei dem der Arzt dem Patienten Fragen stellt und dieser ihm antwortet. Durch Rückbezug dieser Antworten auf idealtypische Grundhaltungen versucht der Psychiater, entsprechende Schlüsse über das seelische Befinden des Patienten zu ziehen.

65 Ich habe Ihnen in einem früheren Vortrage dargestellt. Im Dornacher Mitgliedervortrag vom 18. November 1916 (in GA 172) wies Rudolf Steiner auf die besonderen Wirkensmethoden gewisser okkulter Gemeinschaften im Umgang mit einzelnen Menschen hin: «Innerhalb dieser okkulten Verbindungen hat man wohl gerade menschliches Charakterstudium getrieben, um menschliche Charaktere in der richtigen Weise gebrauchen zu können, in der richtigen Weise fassen zu können, und man hat mancherlei Mittel eingeschlagen, um die übrige Menschheit von dieser Erkenntnis abzuhalten, die man gerade, ich möchte sagen innerhalb seiner Mauern oder innerhalb seiner Tore gepflogen hat. Es wird einmal zu dem Allerinteressantesten gehören, wenn bloßgelegt werden wird der Zusammenhang zwischen den Bestrebungen gewisser moderner okkulter Gemeinschaften und den öffentlichen Ereignissen, wenn die Fäden gezeigt werden, die von gewissen okkulten Gemeinschaften



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65 zu diesem Arzte kam im Jahre 1886 ein Mann: In seinen Lebenserinnerungen erwähnt Moriz Benedikt auch seine Einblicke in die mehr verborgenen politischen Vorgänge, die sich ihm aus den Aussagen seiner Patienten während der Behandlung ergaben. Im Zusammenhang mit der politischen Krise in Bulgarien, die einen ersten Höhepunkt in der Abdankung des Fürsten Alexander I. (von Battenberg) im Jahre 1886 fand (siehe Hinweis zu S. 32), schreibt Benedikt (XII. Kapitel, «Zur Philosophie der Geschichte Österreichs»): «Ich will hier ein pikantes Erlebnis mitteilen, welches ich mit dem früher genannten Nachkommen der Vojvoden der Herzegovina und Bosniens hatte. Derselbe war ein wichtiger, politischer Agent und ein höchst einfluß reicher Journalist in Rußland. Er war Mitarbeiter der <Novoe Vremja> und schrieb viele Artikel, die Katkov [siehe Hinweis zu S. 63]zugeschrieben wurden und die bekanntlich einen so großen Einfluß auf den russischen Kaiser [Alexander III.] hatten. Im Sommer 1886 war der Mann - er hieß Vojdarevic' bei mir als Patient in Wien. Er wohnte im Grand Hotel und kam täglich -ohne Maske - zu mir. Er schrieb fast täglich aus Wien einen Bericht an sein Blatt. »Und nun der Zusammenhang mit den Vorgängen in Bulgarien: «Ende August teilte er mir mit, daß der russische Minister des Äußern [Nikolaj Karlovic Girs, siehe Hinweis zu 5. 66] nicht ins böhmische Bad reise, wie bestimmt worden war, daß der russische Botschafter in Konstantinopel [Aleksandr Ivanovic Nelidov] in Wien sei und nicht an seinen Bestimmungsort, sondern nach Petersburg reise. Daß diese Tatsachen Herrn Vojdarevic so bekannt waren, regte in mir den Verdacht, daß etwas im Werke sei und daß es sich wahrscheinlich um die Absetzung des Battenbergers in Sofia handle. Ich suchte einen bekannten Hofrat auf und sagte ihm, er möchte die Tatsachen und allenfalls auch meine Vermutung dem Minister des Äußern -Kalnoky [Gusztav Kalnoky Graf von Köröspataki, siehe Hinweis zu 5. 125] — mitteilen. Dieser war frappiert, da der russische Gesandte [in Konstantinopel] schon bei ihm war und ihm sagte, er gehe in Privatangelegenheiten nach Petersburg. Er wollte wissen, von wem ich die Nachricht habe, was ich natürlich im Interesse meines Patienten verschwieg. Das Geheimnis dürfte bei der Staatspolizei bis heute noch nicht enthüllt sein, obwohl die Anwesenheit einer solchen Persönlichkeit und ihrer Bedeutung der Staatspolizei überhaupt kein Geheimnis sein sollte. Ich hatte richtig vermutet; eine Woche später wurde Fürst Alexander Battenberg W. September 1886] zur Abdankung gezwungen.» Beim von Benedikt erwähnten russischen Gesandten handelt es sich nicht etwa um den damaligen russischen Botschafter in Wien, Fürst Aleksej Borisovic Lobanov-Rostovskij (1824-1896) — er war von 1882 bis 1895 in dieser Funktion tätig -, sondern um Aleksandr Ivanovic Nelidov (1838-1910). Nelidov, seit 1855 im diplomatischen Dienst, bekleidete verschiedene Botschafterposten. So war er zum Beispiel von 1883 bis 1897 russischer Botschafter in Konstantinopel. Er trat für eine russische Kontrolle der Meerengen ein und setzte sich damit in scharfen Gegensatz zu den britischen Bestrebungen, die er entschieden zu hintertreiben suchte. Später war Nelidov von 1897 bis 1903 als Botschafter in Italien und von 1903 bis 1910 als Botschafter in Frankreich tätig.

Zum späteren Schicksal dieses politischen Agenten - in seinem Buch bezeichnet ihn Benedikt als «Faiseur», der sich als Nachkomme eines alten Vojvodengeschlechts aus Bosnien und der Herzegovina 1877/78 Hoffnung auf die Übernahme der Herrschaft in diesen Gebieten machte - bemerkt er: «Der russische Politiker



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verließ bald -nach Beendigung seiner Kur - Wien und ging nach Berlin. Dort war man über seine Persönlichkeit besser informiert, und ich erfuhr, daß er in Hofkreise gezogen wurde. Später hörte ich, daß er es gewesen sei, der durch erlogene Artikel dem großen Reichskanzler die Gunst und das Vertrauen des russischen Kaisers entziehen wollte - eine Intrige, der bekanntlich Bismarck mit der ihm eigenen Offenheit und Energie entgegentrat. Der Urheber der Intrige mußte dann Berlin verlassen. »

Die Angaben von Benedikt sind nicht einfach aus der Luft gegriffen, sondern lassen sich in großen Zügen historisch belegen. In seiner Schrift über «Bulgarien und der bulgarische Fürstenhof» (Berlin 1896) erwähnt Bresnitz von Sydacoff (eigentlich Philipp Franz Bresnitz) einen gewissen Piotr Uselac (III. Kapitel, «Fürst Ferdinand»), der sich als bosnisch-herzegovinischer Vojvode ausgegeben habe: «Auch jenen Peter Uselac findet man, einen russischen Agenten, der im bosnischen Aufstande [1875 bis 1876] die Rolle eines Vojvoden gespielt und eine <Ceta>(Kompagnie) Insurgenten kommandiert hatte.» Uber diesen Uselac lassen sich allerdings keine weiteren Angaben finden, mit Ausnahme der Tatsache, daß er sich eine zeitlang im Umkreis von Dragan Kiriakov Cankov (Zankoff, 1828-1911) bewegt haben soll. Zankov war ein höchst einflußreicher bulgarischer Politiker mit engen politischen Beziehungen zu Rußland, der gegen die Herrschaft des Fürsten Alexander J. von Battenberg eingestellt war. Auch nachdem er keine öffentlichen Ämter mehr bekleidete - er war von April bis Dezember 1880 und von September 1883 bis Juli 1884 Premierminister und zeitweise auch Außen- und Innenminister -, spielte er immer noch eine einflußreiche Rolle.

Mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit handelt es im Falle von Petar Uselac um einen Tarnnamen für den russischen Diplomaten und Journalisten Gavriil Sergeevic Veselitskij-Bozidarovic (Gabriel de Wesselitsky-Bojidarovich, 1841— 1931). Es ist nicht nur der Name, der auf die Identität Wesselitskys mit Vojdarevic hindeutet, sondern auch die von Benedikt erwähnten Lebensstationen seines Patienten stimmen mit Wesselitskys Biographie genau überein. Wesselitsky war eine Persönlichkeit, die zwar keine führenden politischen Ämter bekleidete, aber einen großen politischen Einfluß im Hintergrund ausübte. Er entstammte einem herzegovinischen Vojvodengeschlecht serbischen Ursprungs, das infolge der türkischen Unterdrückung Zuflucht in Rußland gesucht und es dort zu Ansehen und Reichtum gebracht hatte. Wie sein Vater, der ein erfolgreicher russischer General war, sollte er ebenfalls die militärische Laufbahn einschlagen, entschied sich aber für ein Studium in Deutschland an der Universität Heidelberg. 1860 war er Teilnehmer des «Zugs der Tausend» und kämpfte in den Reihen von Garibaldis Freiwilligenarmee für die Befreiung Süditaliens von der bourbonischen Herrschaft (siehe Hinweis zu 5. 54 in GA 173b). 1864 schloß er seine philosophisch-historischen Studien in Deutschland mit dem Doktorat ab. Anschließend trat er in den russischen diplomatischen Dienst. Anläßlich des Krieges zwischen Preußen und Österreich-Ungarn im Jahre 1866 (siehe Hinweis zu 5. 81) arbeitete er ein Memorandum zuhanden von Zar Alexander II. aus, in dem er sich entschieden für eine Annäherung Rußlands an Frankreich und Großbritannien aussprach. Da er mit seinen Vorstellungen am russischen Hof zunächst auf Ablehnung stieß, zog er sich ins Privatleben zurück. Der britische Historiker Robert William Seton-Watson (siehe Hinweis zu 5. 50 in GA 173c) schreibt in seinem Nachruf «Gabriel Wesselitsky» (in: «The Slavonic and East European Review» vom März 1931, Vol. 9 No. 27): «Wesselitsky zog es vor, ins Ausland zu gehen, und er verbrachte die späten sechziger Jahre mit ausgedehnten Reisen, besonders in den Nahen und Mittleren Osten. In den Jahren danach führte er ein Bummelleben in Paris, wo er -gemäß seiner farbigen Schilderung - bald



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einmal in einen Zustand der Melancholie fiel, aus der ihn erst die Nachricht vom herzegovinischen Aufstand im Jahre 1875 befreite und zu neuer Tatkraft anspornte. »1 Offensichtlich litt Wesselitsky schon damals an depressiven Verstimmungen, die ihn später im Jahre 1886 beim bekannten Arzt und Psychiater Moriz Benedikt in Wien Hilfe suchen ließen.

Während des bosnisch-herzegovinischen Aufstandes nahm er Partei für die Aufständischen - anfänglich in Absprache mit dem russischen Außenminister Gorcakov (siehe Hinweis zu 5. 35) —und vertrat deren Forderung nach politischer Autonomie. Er nahm selber an den Feldzügen teil: 1876 auf montenegrinischer, 1877 auf russischer Seite. 1878 versuchte er im Rahmen des Berliner Kongresses die Forderung Bosnien-Herzogovinas nach politischer Autonomie durchzusetzen, was ihm jedoch mißlang. Von 1878 bis 1885 wirkte er als Berater der österreichischungarischen Regierung für alle Angelegenheiten, die Bosnien-Herzegovina betrafen; den Posten eines Generalgouverneurs für dieses Gebiet lehnte er allerdings ab. Sein Ideal war die Erreichung der politischen Autonomie für alle Balkanvölker und die Herauslösung von Österreich-Ungarn aus dem deutschen Einflußbereich. In dieser Zeit pflegte Wesselitsky freundschaftliche Beziehungen mit dem späteren Papst Leo XIII. (Vincenzo Gioacchino Conte Pecci), der ihm aufgrund seiner Empfehlung die Türen zum Vatikan-Archiv für seine Studien zur Geschichte der slawischen Völker öffnete.

Auf Veranlassung des russischen Verlegers Michail Nikiforovic Katkov (siehe Hinweis zu 5. 63) verlegte Wesselitsky seinen Wohnsitz von Wien nach Berlin, wo er die Aufgabe eines Korrespondenten für die «Moskovskie Gazeta» («Moskauer Zeitung») übernahm; seine Aufgabe als Wiener Korrespondent für die «Novoe Vremja» behielt er bei. Er entfaltete zu diesem Zeitpunkt eine rege Medientätigkeit. In seiner stark antideutsch geprägten Schrift über «Gabriel de Wesselitsky. A Sketch» (London 1918), herausgegeben vom «Central Committee for National Patriotic Organizations» schreibt W. Grey-Wilson: «Wesselitskys Tätigkeiten erstreckten sich zu damaliger Zeit über ein weites Gebiet und waren systematisch organisiert. In Berlin selber verfügte er über eine eigene Nachrichtenagentur, das <Arc-Büro>, und eine eigene Zeitung, die <Allgemeine Reichs-Korrespondenz>, die die ganze deutsche Presse und das deutsche Parlament, ebenso wie alle Botschaften und Gesandtschaften mit Informationen versorgte. Das <Arc-Büro>besaß Zweigstellen in mehreren deutschen Städten sowie auch in Wien und in Paris.» 2 Und: «Weil er geschickte Helfer in all diesen Zentren hatte, war es ihm möglich, nach St. Petersburg und Paris zu reisen oder Wien, Belgrad, Dresden und Stuttgart einen Besuch abzustatten. »3 Wesselitsky, der über ein großes Netzwerk verfügte, war zu diesem Zeitpunkt auch für die deutsche Regierung interessant, hoffte man doch durch ihn die Zusammen-



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arbeit zwischen Deutschland und Rußland zu stärken. Als sich zeigte, daß diese Hoffnung auf einer Illusion beruhte und man inne wurde, daß er gegen Deutschland arbeitete, wurde Wesselitsky angeblich auf Betreiben von Kaiser Wilhelm II. 1892 aus Deutschland ausgewiesen.

Wesselitsky verlegte das Zentrum seiner Aktivitäten nach London, wo er nun offen für die Verwirklichung der Tripelallianz wirken konnte. Dabei lag ihm vor allem die Annäherung von Großbritannien und Rußland am Herzen - ein Ziel, wofür sich schon andere eingesetzt hatten (siehe Hinweis zu S. 258 in GA 173b). Wesselitsky, der sich nun auf seine Tätigkeit als Korrespondent für die «Novoe Vremja» beschränkte, wußte wichtige Kontakte zu knüpfen, zum Beispiel zu König Eduard VII. (siehe Hinweis zu S. 141). Grey-Wilson schreibt über seine Beziehung zum König (gleiche Quelle): «Sein außerordentlich großes Geschick, mit wichtigen Personen im privaten Rahmen Kontakt zu knüpfen, zeigte sich einmal mehr anläjßlich des Besuchs des Prinzen von Wales, des künftigen Königs Eduard, in Wien. Durch einen glücklichen Zufall hatte er die Gelegenheit, Ihrer Königlichen Hoheit in privater Gesellschaft zu begegnen, und er erfuhr die Ehre eines Gesprächs, das dann im Hotel, wo sowohl der Kronprinz wie auch er wohnten, fortgesetzt wurde. Als der Kronprinz von Wesselitsky hörte, seine Absicht sei es, für eine anglo-russische Annäherung einzustehen, äußerte dieser: <Das ist das Beste, was ein Russe für sein Land tun kann, und auch für unseres wäre das sehr gut.> Und er fügte auf Französisch hinzu: <Ich werde ein Auge auf Sie haben.>» 1 Und über Wesselitskys Vorgehen zur Beeinflussung der öffentlichen Meinung in Großbritannien - er war von 1896 bis 1911 Präsident der Vereinigung für die ausländischen Presse, der «Foreign Press Association» in London schreibt Grey-Wilson (gleiche Quelle): «Häufig wurden unter ihrer Schirmherrschaft Vorträge und Diskussionen über viele verschiedene Themen organisiert, in Verbindung mit Banketten, zu denen britische und ausländische Prominenz eingeladen wurde, und bei welcher Gelegenheit Raum für die mannigfaltigsten Meinungen geschaffen wurde. Durch Privatgespräche mit seinen Kollegen war Wesselitsky in der Lage, den Trend der öffentlichen Meinung in den entsprechenden Ländern zu verfolgen und seine eigenen Ideen zu verbreiten. Jährliche Zusammenkünfte mit angeschlossenen Vereinigungen boten ihm eine noch größere Plattform zur Verbreitung von Informationen und Propaganda. Kurz, diese neue Methode erwies sich als ebenso fruchtbar wie die bisherigen Methoden, die er mit so großem Erfolg in den achtziger Jahren auf dem Kontinent angewandt hatte. Es gab außerdem Momente, wo sich durch den Pressevereinigung unschätzbare Möglichkeiten für die Verbreitung von Wesselitskys Idealen eröffneten. »2



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1902 leitete er eine eigentliche Kampagne zur Vorbereitung einer russisch-britischen Verständigung ein. Grey-Wilson (gleiche Quelle): «Im Jahre 1902 brachte ein Vertrauensmann Wesselitsley eine Botschaft von König Eduard, die aus dem einzigen Wort <Jetzt!> bestand. Wesselitsley begriff daß der Augenblick gekommen war, um öffentlich für sein lange gehegtes Programm einer anglo-russischen Annäherung einzustehen, und für dieses Ziel setzte er sich in der <Novoe Vremja>, aber auch auf sonstigen möglichen Wegen ein.»' Und: «König Eduard gab in der Öffentlichkeit seine Zustimmung zu Wesselitskys Tätigkeit kund, indem er ihm als Präsidenten der <Foreign Press Association>eine Botschaft übermittelte, wo er seine Befriedigung über das Wirken der Vereinigung und deren Präsidenten zur Förderung der Harmonie unter den Nationen aussprach. »2

Ab 1911 begann Wesselitsky vor der Kriegsgefahr zu warnen, die in seinen Augen von Deutschland ausging. Auch während des Krieges wirkte er unermüdlich für die Sache der Entente. 1916 hielt er einen viel beachteten und später auch gedruckten Vortrag zum Thema «The German Peril and the Grand Alliance. How to Crush Prussian Militarism» — die Versammlung wurde vom «Speaker» des Unterhauses geleitet. Mit dem Ausbruch der Russischen Revolution im Jahre 1917 verlor er nicht nur seine berufliche Stellung, sondern auch sein Vermögen in Rußland. Er war nun gezwungen, nur von seiner Tätigkeit als Schriftsteller und Vortragsredner zu leben. Obwohl er die Entwicklung in Rußland zutiefst bedauerte, bedeutete für ihn die Gründung Jugoslawiens, eines vereinigten südslawischen Staates (siehe Hinweis zu 5. 121), eine große Genugtuung. Seton-Watson bemerkt abschließend in seiner Würdigung Wesselitskys: «Es mag bezweifelt werden, ob es überhaupt möglich ist, eine umfassendes Bild von Wesselitskys Karriere zusammenzustückeln oder auch nur eine Ahnung seiner Bedeutung zu vermitteln, aber man wird sich sicher noch lange an ihn erinnern als einer der interessantesten Journalisten-Figuren seiner Zeit, ein bißchen ich-bezogen und geheimnisvoll und mit einer allzu lebendigen Phantasie begabt, aber voll von anziehenden Eigenschaften, verbunden mit einem großen Wissen und einem leidenschaftlichem Patriotismus. »3

66 einstiger Vojvoden der Herzegovina: In der Zeit zwischen dem 16. und 19. Jahrhundert wurde in Serbien, Montenegro und in Bosnien-Herzegovina sowie in anderen slawischen Gebieten für die Oberhäupter der verschiedenen Clans der Titel eines «vojvoda», eines «Vojvoden» («Woiwoden»), verwendet. Ursprünglich die Bezeichnung für einen Heerführer, entwickelte sich daraus ein slawischer Adelsrang, der allerdings geringer als derjenige eines «knaz», eines Fürsten, eingestuft wurde. Im Vergleich zum deutschen Kulturraum entspricht der Vojvode ungefähr dem Rang eines Herzogs.



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66 in den siebzigerjahren in der Herzegovina und in Bosnien von Rußland her diese Dinge eingefädelt worden sind: Eine wichtige Schlüsselpersönlichkeit für die russische Wühlarbeit auf dem Balkan war der russische Diplomat Nikolaj Pavlovic Graf Ignatev (Ignatjew), der von 1864 bis 1877 der Vertreter Rußlands in Konstantinopel war (siehe Hinweis zu S. 110). Dazu Fischel in seinem bereits erwähnten Werk (siehe Hinweis zu S. 31) über das Vorgehen dieses russischen Diplomaten auf dem Balkan (8. Abschnitt, «Panslawismus und Nationalismus in Rußland bis zum Berliner Frieden»): «Zu diesem Ende unterhielt er die engsten Verbindungen mit Serbien und Montenegro und bereitete in Bulgarien und Bosnien den Boden für ihre künftige Befreiung vor. Der unterirdische Krieg gegen Österreich und die Pforte [...] ruhte nicht einen Augenblick.»

66 Mitte der siebziger Jahre die Aufstände in Bosnien und der Herzegovina arrangiert wurden: In der Ausschrift heißt es «Ende der siebziger Jahre». Tatsächlich brach die Aufstandsbewegung in Bosnien-Herzegovina aber bereits 1875, also in der Mitte der siebziger Jahre, aus. Im wesentlichen kam sie durch die von Ignatev betriebene Agitation zustande. Fischel in seinem Werk (gleicher Ort): «Die Aufreizungen Ignatevs in der Herzegovina und Bulgarien und die argen Mißhandlungen der dortigen Christen brachten den Stein ins Rollen. Infolge von Steuererpressungen brachen am [21. Juli]! 9. Juli 1875 im herzegovinischen Bezirk Nevesinje Unruhen aus, welche sich alsbald nach Bosnien verpflanzten. Die Aufständischen wandten sich mit ihren Beschwerden an Europa und machten kein Hehl daraus, daß sie eine Vereinigung der beiden Provinzen mit ihren bereits befreiten Stammesgenossen anstreb[t]en. » Der ganze Konflikt verschärfte sich, als am 4. Mai/22. April 1876 auch noch in Bulgarien ein Aufstand ausbrach. Das am 13. Mai 1876 in Berlin vereinbarte Memorandum zwischen Rußland, Österreich-Ungarn und Deutschland zum Schutze der unter türkischer Herrschaft stehenden Balkanslawen vermochte die Situation nicht zu entschärfen. Die herzegovinischen Aufständischen verkündeten am 27./is. Juni 1876 den Anschluß an Montenegro, die bosnischen Aufständischen am 28/16. Juni jenen an Serbien.Damit wurden die beiden Staaten in die kriegerischen Auseinandersetzungen hineingezogen. Am 30./18.Juni 1876 erklärten der Fürst von Serbien, Milan Obrenovic IV. (siehe Hinweis zu 5. 123), und am 2. Juli/20. Juni 1876 der Fürst von Montenegro, Nikola I. Petrovic-Njegos (siehe Hinweis zu 5. 130), der Türkei den Krieg. Die serbische Armee, verstärkt durch russische Freiwillige, wurde von einem russischen General kommandiert. Für die serbische Armee verlief der Krieg - im Gegensatz zu den Erfolgen der montenegrinischen Armee -unglücklich. Sie wurde von der türkischen Armee vernichtend geschlagen. Rußland stellte sich schützend vor Serbien und drohte der Türkei mit Krieg. Diese mußte am 31/19. Oktober 1876 in einen Waffenstillstand mit Serbien einwilligen. Großbritannien stellte sich hinter die Türkei und gegen Rußland; es wollte unter allen Umständen ein russisches Vordringen auf Konstantinopel verhindern. Zur Lösung der diplomatischen Krise wurde am 12. Dezember/30. November 1876 die Konferenz von Konstantinopel einberufen. Lord Salisbury (siehe Hinweis zu 5. 238) war der britische Bevollmächtigte, Graf Ignatev (siehe Hinweis zu 5. 110) der russische. Der ausgehandelte Kompromiß —Wahrung des territorialen Besitzstandes für Serbien und begrenzte Autonomie für Bulgarien und Bosnien-Herzegovina - scheiterte an der türkischen Weigerung; die Konferenz von Konstantinopel endete am 20/8. Januar 1877 ergebnislos. Am 28/16. Februar 1877 kam in Konstantinopel überraschend ein Separatfrieden zwischen Serbien und der Türkei zustande; Serbien konnte seinen bisherigen territorialen Besitzstand wahren, mußte aber weiterhin die türkische Oberhoheit anerkennen. Mit Montenegro dauerte der Kriegszustand aber noch an.



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Für Rußland blieb die Situation unbefriedigend. Bereits am 15/3. Januar 1877 hatten Rußland und Österreich-Ungarn das Geheimabkommen von Budapest geschlossen, in dem Rußland das Interesse Österreich-Ungarns an Bosnien-Herzegovina anerkannte und ihm das Recht auf Besetzung dieser türkischen Gebiete zusprach. Dafür wollte Österreich-Ungarn in einem russisch-türkischen Krieg seine Neutralität wahren. Mit dieser Rückendeckung gab der russische Zar Alexander II. der Agitation der panslawistischen Kreise wie zum Beispiel der Slawischen Wohltätigkeitsgesellschaften (siehe Hinweis zu 5. 32) nach und erklärte am 24/12. April 1877 der Türkei den Krieg. Zar Alexander II. soll am Vortag vor den versammelten Massen in Moskau das berühmte Wort gesprochen haben: «Uns führt die slawische Sache.» Damit wurden die panslawistischen Bestrebungen in den Dienst der russischen Expansionspolitik gestellt. Österreich-Ungarn verhielt sich entsprechend dem Abkommen von Budapest neutral. Aber die österreichisch-ungarische Regierung schätzte die Lage als gefährlich ein, da sie im Falle eines russischen Sieges und einer damit verbundenen Vergrößerung Serbiens und Montenegros eine Verstärkung der sezessionistischen Bestrebungen der eigenen südslawischen Untertanen befürchtete. Der russische Feldzug gegen die Türkei verlief nach verschiedenen Rückschlägen dank der rumänischen Unterstützung (siehe Hinweis zu 5. 35) erfolgreich. Dies veranlaßte Serbien, am 14.12. Dezember 1877 erneut in den Krieg einzutreten. Die türkische Armee wurde entscheidend geschlagen, und die russisch-bulgarischen Truppen standen vor Konstantinopel. Um den Fall Konstantinopels zu verhindern, beschloß Großbritannien die Entsendung von Teilen der britischen Flotte zum Schutze der Meerengen. Am 31.119. Januar 1878 wurde ein Waffenstillstand geschlossen.Am 3. März/19. Februar 1878 mußte die Türkei in den Diktatfrieden von San Stefano (Yesilköy) einwilligen. Serbien und Montenegro konnten ihre Unabhängigkeit und einige Gebietsgewinne erreichen. Auch Rumänien wurde als unabhängig anerkannt; wobei es zugunsten Rußlands auf Bessarabien (heute Moldawien) zu verzichten hatte und als Kompensation die Dobrudscha erhalten sollte. Bulgarien sollte den Status eines autonomen Fürstentums unter russischem Protektorat erhalten und gleichzeitig durch die Einverleibung Makedoniens, verbunden mit einem Zugang zum Mittelmeer, territorial zu einem «Großbulgarien» anwachsen. Die einseitigen, vor allem die russischen Interessen berücksichtigenden Friedensbedingungen, die weitgehend ein Werk des russischen Diplomaten Graf Ignatev (siehe Hinweis zu 5. 66) waren, führten zur Intervention der übrigen europäischen Großmächte, die sich mit der getroffenen Regelungen nicht einverstanden erklärten. Insbesondere der neue britische Außenminister Lord Salisbury (siehe Hinweis zu 5. 238) betonte die Entschlossenheit Großbritanniens in der Ablehnung der Friedensregelungen von San Stefano. Zusammen mit Österreich-Ungarn forderte es die Einberufung einer internationalen Konferenz. Aufgrund des Vermittlungsangebots des deutschen Reichskanzlers, des Fürsten Otto von Bismarck, kam es schließlich zur Zusammenkunft der Vertreter der verschiedenen Großmächte im Rahmen des Berliner Kongresses (siehe Hinweis zu 5. 79).

66 Ferner learn heraus, daß der russische Minister des Äußeren: Es handelt sich nicht um den langjährigen russischen Außenminister Aleksandr Michailovic Fürst Gorcakov (siehe Hinweis zu 5. 35), wie in der früheren Auflage angegeben -dieser war wegen seiner schlechten Gesundheit bereits im April 1882 von seinem Amt entbunden worden -, sondern um Nikolaj Karlovic Girs (Giers, 1820-1895), vom April 1882 bis Januar 1895 russischer Außenminister. Giers war einer der Hauptinitianten für den Abschluß der französisch-russischen Militärallianz von 1894 (siehe Hinweis



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zu S. 173). Er war 1838 in den diplomatischen Dienst eingetreten und mußte über lange Jahre auf untergeordneten Posten dienen, bis er schließlich 1863 —gefördert von Gorcakov, dessen Nichte er geheiratet hatte - den ersten Botschafterposten als Vertreter Rußlands in Persien erhielt. Von 1875 bis 1882 wirkte er als Direktor des Östlichen oder Asiatischen Departements, zu dem auch der Balkan gehörte. Zugleich war er auch stellvertretender Außenminister.

67 daß in Bulgarien der Battenberger, Alexander von Battenberg, abgesetzt werden wird: Siehe Hinweis zu 5. 32.

68 lebt -ich habe das ja after dargestellt -völkisches Zukunftselement: Zum Beispiel in seinen Vorträgen vom März 1916 in Deutschland wies Rudolf Steiner auf die Bedeutung des Slawentums für die künftige Entwicklung der Menschheit hin (siehe Hinweis zu 5. 69). Wenn er von einem «völkischen Zukunftselement im Slawentum» spricht, so meint er dies allerdings nicht im Sinne der damaligen westlichen Meinungsträger, die tatsächlich von Rassevorstellungen ausgingen, sondern er denkt an ganz bestimmte geistige Fähigkeiten, die im slawischen Kulturraum veranlagt seien und im nächsten Kulturzeitraum besonders zum Tragen kämen. In der völligen Überwindung des Rassenbegriffs sah Rudolf Steiner ja geradezu die zentrale Aufgabe für die sechste Kulturepoche der nachatlantischen Menschheit. So sagte er am 4. Dezember 1909 seiner Münchner Zuhörerschaft (in GA 117): «Wenn noch in unserer Zeit Reste der alten atlantischen Unterschiede, der alten atlantischen Gruppenseelenhaftigkeit vorhanden sind, so daß man noch sprechen kann davon, daß die Rasseneinteilung noch nachwirkt - was sich vorbereitet für den sechsten Zeitraum, das besteht gerade darinnen, daß der Rassencharakter abgestreift wird. Das ist das Wesentliche. Deshalb ist es notwendig, daß diejenige Bewegung, welche die anthroposophische genannt wird, welche vorbereiten soll den sechsten Zeitraum, gerade in ihrem Grundcharakter dieses Abstreifen des Rassencharakters aufnimmt, daß sie nämlich zu vereinigen sucht Menschen aus allen Rassen, aus allen Nationen und auf diese Weise überbrückt diese Differenzierung, diese Unterschiede, diese Abgründe, die zwischen den einzelnen Menschengruppen vorhanden sind. Denn es hat in gewisser Beziehung physischen Charakter, was alter Rassenstandpunkt ist, und es wird einen viel geistigeren Charakter haben, was sich in die Zukunft hinein vollzieht. » Und: «Wenn wir dies ins Auge fassen, daß der sechste Kulturzeitraum gerade die erste Überwindung, völlige Überwindung des Rassenbegriffes ist, so müssen wir uns klar sein, daß es phantastisch wäre zu glauben, daß auch die sechste Rasse von irgendeinem Ort der Erde ausginge und sich so bildete wie die früheren Rassen. Das ist der Fortschritt, daß immer neue Arten der Lebensentwicklung auftreten innerhalb des Fortganges, daß nicht dasjenige, was an Begriffen für frühere Zeiten gegolten hat, auch für künftige gelten soll. [...] Darum handelt es sich, daß das Wort <Rassel eine Bezeichnung ist, die nur für gewisse Zeiten gilt. Um den sechsten Zeitraum herum hat der Begriff kaum mehr einen Sinn. Rasse hatten nur noch in sich die Elemente, die von der atlantischen Zeit geblieben sind. »Einer der westlichen Meinungsträger, der tatsächlich in Rassekategorien dachte, war zum Beispiel der englische Staatsmann und Freimaurer Benjamin Disraeli, Earl of Beaconsfield (siehe Hinweis zu 5. 23). In seiner Novelle «Tancred, or The New Crusade» (New York/London 1847) erklärte der Romanheld Sidonia zu den Gründen des englischen Machtaufschwungs: «Bewirkt das, was man Zivilisation nennt, wirklich das Erblühen von England? Ist es die allumfassende Entwicklung der menschlichen Fähigkeiten, die eine Insel, fast unbekannt in der Antike, zum Maßstab der ganzen Welt gemacht hat? Sicher nicht. Es sind seine Einwohner, die das zustande gebracht haben, und das ist eine Sache der Rasse. Eine aus Sachsen stam



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mende Rasse hat im Schutz ihrer insularen Lage dem Jahrhundert seinen fleißigen und zielgerichteten Charakter aufgeprägt. Und wenn eine andere überlegene Rasse, mit einer überlegenen Konzeption von Arbeit und Ordnung, voranschreitet, wird ihr Staat ein fortschrittlicher sein, und wir werden vielleicht dem Beispiel der daniederliegenden Länder folgen. Alles ist Rasse; eine andere Wahrheit gibt es nicht. »1

69 was man heute als Panslawismus bezeichnet: Der «Pansiawismus» als Bewegung für die politische Eigenständigkeit aller slawischen Völker und ihren Zusammenschluß zu einem gemeinsamen Föderativstaat hatte im Verlauf des 19. Jahrhunderts ein immer größeres Gewicht unter den slawischen Völkern gefunden. So hatte zum Beispiel der polnisch-russische Staatsmann Fürst Czartoryski (siehe Hinweis zu 5. 80 in GA 173c) am 4.Juni/23. Mai 1807 Pave1 Aleksandrovic Graf Stroganov auf die Frage, welche grundsätzliche außenpolitische Orientierung Rußland benötige, geschrieben (zitiert nach: Hans Kohn, Die Slawen und der Westen. Die Geschichte des Panslawismus, Wien/München 1956, Einführung): «Ein föderatives System der slawischen Nationen ist das einzige große Ziel, nach dem Rußland notwendigerweise streben muß. »2 Innerhalb der panslawistischen Bewegung gab es die verschiedensten Richtungen und Föderationsmodelle (siehe Hinweis zu 5. 80 in GA 173c), je nachdem, ob von der Gleichheit aller slawischen Völker oder von der Vormacht einer bestimmten Nation ausgegangen wurde. Entsprechend der politischen Einstellung sah man die Großreiche Österreich-Ungarn, Rußland oder Türkei als Unterdrücker der slawischen Freiheit.Als eine eigenständige Richtung innerhalb des Panslawismus muß der Russizismus (siehe Hinweis zu 5. 110) verstanden werden. Als eine grundsätzlich imperial ausgerichtete Strömung berief er sich teils auf die gemeinsame christlich-orthodoxe Religion, teils auch auf die gemeinsame völkische Zukunft. Bemerkenswert ist, daß der deutsche Philosoph Johann Gottfried Herder (1744-1803) in seinem Werk «Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit» (Riga/Leipzig 1884 —1 991) den Slawen eine große Zukunft voraussagte. Er schrieb (Vierter Teil, Sechzehntes Buch, 4. Abschnitt, «Slawische Völker»): «Das Rad der ändernden Zeit dreht sich unaufhaltsam, und da diese Nationen größtenteils den schönsten Erdstrich Europas bewohnen, wenn er ganz bebaut und der Handel daraus eröffnet würde, da es auch wohl nicht anders zu denken ist, als daß in Europa die Gesetzgebung und Politik statt des kriegerischen Geistes immer mehr den stillen Fleiß und den ruhigen Verkehr der Völker untereinander befördern müssen und befördern werden, so werdet auch ihr so tief gesunkene, einst fleißige und glückliche Völker endlich einmal von eurem langen, trägen Schlaf ermuntert, von euren Sklavenketten befreit, eure schönen Gegenden vom Adriatischen Meer bis zum Karpatischen Gebirge, vom Don bis zur Moldau als Eigentum nutzen und eure alten Feste des ruhigen Fleißes und Handels auf ihnen feiern dürfen. » Einen gewissen Höhepunkt der panslawischen Bestrebungen bildete der erste Panslawische Kongreß, der vom 2. bis 12. Juni



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1848 in Prag stattfand und wo es um die Weckung des Selbstbewußtseins des Slawentums ging (siehe Hinweis zu S. 199). Vom 8. Mai bis 14. Juni 1867 fand in St. Petersburg und anschließend in Moskau der zweite panslawische Kongreß statt, der vom slawischen Wohltätigkeitskomitee (siehe Hinweis zu S. 32) organisiert worden war. Allerdings fanden keine einheitlichen, an einen Standort gebundenen Beratungen mit einer genau vorbestimmten Tagesordnung statt. Es handelte sich vielmehr um zahlreiche Festveranstaltungen, die allerdings alle unter einer einheitlichen, stark russizistisch geprägten Losung standen. In seiner Abschiedserklärung vom 15. Juni 1867 erklärte der Tscheche Frantisek Rieger (1818-1903, zitiert nach: Alfred Fischel, Der Panslawismus bis zum Weltkrieg, Berlin 1919, 8. Abschnitt, «Panslawismus und Nationalismus in Rußland bis zum Berliner Frieden»): «Wir Söhne verschiedener slawischer Stämme, die vornehmlich an ihrer Bildung arbeiten, fanden hier die gewünschte Gelegenheit, einander kennenzulernen und unserer Blutsverwandtschaft näher inne zu werden. Wir tauschen, einer mit dem anderen, unsere Gefühle, unseren brüderlichen Rat, unsere Wünsche, unsere Hoffnungen aus. Sowie unser Erscheinen in Rußland unseren Brüdern Gelegenheit gab, uns und unsere nationalen Bestrebungen kennenzulernen, so wurden wir durch die Möglichkeit beglückt, uns dem russischen Volke zu nähern. Wir erkannten in ihm eine rein slawische Nationalität, in Gefühlen und im Wesen ein Volk, in welchem bereits mächtig das Bewußtsein der Stammesgemeinschaft und die brüderliche Teilnahme an unseren Geschicken erwachten und sich entwickelten. » Für den August 1869 wurde die Abhaltung eines dritten Kongresses in Belgrad geplant, der aber nicht zustande kam.

Erst im Zusammenhang mit der Wiederbelebung der panslawistischen Ideen durch die Bewegung des Neoslawismus wurden erneut panslawische Zusammenkünfte abgehalten, allerdings in scheinbarer Frontstellung zur bisherigen panslawistischen Praxis, die wegen ihrer Unterwürfigkeit gegenüber dem russischen autokratischen Imperialismus kritisiert wurde. Trotzdem wurde ein Zusammengehen mit der russischen Regierung als wichtig empfunden, und die russische Regierung versuchte immer wieder, Einfluß auf das Geschehen zu nehmen, zum Beispiel durch die Wahl des Konferenzortes. Als wichtige Stützpfeiler in diesem Spiel erwiesen sich zum Beispiel solche Politiker wie Karel Kramar (siehe Hinweis zu 5. 50 in GA 173c), denen von der russischen Regierung hofiert wurde. Im gesamten wurden drei «vorbereitende Kongresse» als Auftakt für den geplanten, großen dritten Panslawischen Kongreß abgehalten: im Juli 1908 in Prag, im Mai 1909 in St. Petersburg und im Juli/Juni 1910 in Sofia. Für den Juli 1911 war in Belgrad ein weiterer Kongreß geplant, der wegen der unterschiedlichen Auffassungen unter den Neoslawisten aber nie zustande kam. Aber diese Zusammenkünfte blieben nicht ohne Wirkung auf die Lageeinschätzung der russischen Regierung am Vorabend des Ersten Weltkriegs. So meint der deutsche Historiker Alfred Fischel im Zusammenhang mit der Prager Tagung (gleicher Ort, 11. Abschnitt, «Die Zeit des Neoslawismus»): «Es unterliegt keinem Zweifel, daß die Prager Tagung Tschechen und Südslawen Gelegenheit gab, unter den Teilnehmern nicht etwa bloß die Feindschaft gegen den eigenen Staat und das verbündete Deutsche Reich zu schüren, sondern Hoffnung auf das Versagen ihrer dem Heere angehörigen Volksgenossen im Falle eines Waffenganges unter den Großmächten zu erwecken, Erwartungen, welche auf den Ausbruch des Weltkrieges nicht ohne Einfluß waren.»

69 Von einem «Pangermanismus» zu reden. Für Rudolf Steiner war der Begriff «Pangermanismus» insofern völlig unsinnig, als nicht nur die Deutschen, sondern auch die Franzosen und die Engländer aufgrund der Völkerwanderung zu einem Großteil germanische Wurzeln besaßen (siehe Hinweise zu 5. 213).



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In den Ententestaaten war aber der Ausdruck «Pangermanismus» ein gängiger Begriff der politischen Diskussion. Das zeigt sich am Beispiel des tschechischen Nationalistenführers Tomas Garrigue Masaryk (siehe Hinweis zu S. 50 in GA 173c), der von der Existenz einer pangermanischen Orientierung der deutschen Politik völlig überzeugt war. So schrieb er in seinen Erinnerungen «Die Weltrevolution. Erinnerungen und Betrachtungen» (Berlin 1925, Abschnitt 6): «Ich erwog: Deutschland hat eine gute und große Armee, hat einen bestimmten Plan (den Pan germanismus!), für den es nicht bloß das Volle, sondern auch die Intelligenz gewonnen hat, ist gut vorbereitet, hat tüchtige Heerführer (diese Ansicht schränkte ich bald ein), ist reich und hat eine starke (Kriegs-) Industrie [.1. »

In der Kriegszeit gab es eine Reihe von Büchern, die sich mit dem Pangermanismus auseinandersetzten. So veröffentlichte zum Beispiel der französische Professor Charles Andler (1866-1933) eine Schrift unter dem Titel «Le Pangermanisme. Ses plans d'expansion allemande dans le monde» (Paris 1915). Eine deutsche Übersetzung dieser Schrift -«Die alldeutsche Bewegung. Ihre Pläne deutscher Ausbreitung in der Welt» —erschien noch im gleichen Jahr (Lausanne 1915). Andler, ein überzeugter Sozialist und einer der Mitverantwortlichen für die Bildung einer einheitlichen Sozialistischen Partei in Frankreich («Section française de l'Internationale ouvrière») im Jahre 1905, wirkte ab 1893 als Deutschprofessor an der Ecole normale supérieure in Paris. 1897 promovierte er. Von 1897 erhielt er zusätzlich einen Lehrauftrag an der Pariser Sorbonne; 1901 wurde er zum Professor für Germanistik ernannt. 1926 wurde ihm der Lehrstuhl für Germanistik am College de France übertragen, wo er bis zu seinem Tod lehrte. Zusammen mit Henri Lichtenberger (siehe Hinweis zu 5. 204 in GA 173b) gehörte er zu den Gründervätern der französischen Germanistik. Die letzten anderthalb Jahrzehnte seines Lebens widmete Andler der Bekämpfung der «pangermanistischen Bestrebungen», ohne im gleichen Ausmaße die nationalistischen Tendenzen in Frankreich in Frage zu stellen.

Andlers Schrift über den Pangermanismus zeigt deutlich, wie sehr die Bestrebungen des «Alldeutschen Verbandes» (siehe Hinweis zu 5. 177) im Ausland auf Besorgnis stießen. So schreibt er zum Beispiel: «Hand in Hand mit diesen kontinentalen Plänen der alldeutschen Bewegung gehen koloniale Pläne, die nicht minder weitschweifig und angriffslustig sind. Sie bedrohen alle in der Welt noch unbesetzten Gebiete. Sie verraten einen unersättlichen Hunger. Seit der Zeit, wo Spanien in einen Konflikt mit Bismarck geriet, der ganz unerwartet die Karolinen in die Tasche gesteckt hatte, gibt es, in der alten und in der neuen Welt, kein einziges Volk, das nicht von der brutalen Nachbarschaft oder der zudringlichen Einmischung der Deutschen zu leiden gehabt hätte. Denn diese Deutschen sind nicht mehr die bescheidenen Demokraten, die von 1815 bis 1858 sich einem reaktionären Regime zu entziehen suchten, oder die zerlumpten Bauern, die noch vor zwanzig Jahren mit ihrem Kinderschwarm aus ihrer zu engen Heimat fortzogen; es sind begierige Prospektoren, Ingenieurs, welche die Polytechnikums in zu großen Mengen auf das Pflaster werfen und die nun entschlossen sind, auf Kosten der alteingesessenen Bevölkerungen vorwärtszukommen. »

Aber auch innerhalb Deutschlands fand der Begriff des Pangermanismus seine Verwendung. So schrieb zum Beispiel Richard Grelling (siehe Hinweis zu 5. 191 in GA 173b) in seiner Anklageschrift «J'accuse! Von Einem Deutschen» (Lausanne 1915) im Kapitel «Vorgeschichte des Verbrechens» (II. Kapitel): «Sind unsere Alldeutschen, unsere Völkischen, unsere Pan germanisten a la Treitschke und Bernhardi etwa besser oder weniger aggressiv als die Panslawisten? Solche Pan-Richtungen existieren in allen Ländern. Sie sind solange unschuldig, als sie nicht zu Taten schreiten. Die entscheidende Tat aber haben unsere Pangermanisten begangen, als



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sie uns in diesen schrecklichen, von ihnen gewollten und offen proklamierten Krieg hineintrieben. »

69 daß in dem Slawenelemente jenes Zukunftsvölkische lebt, das weiß der Okkultist: Wie die westlichen Okkultisten den Verlauf der künftigen Entwicklung der Menschheit sahen, stellte Rudolf Steiner zum Beispiel im Vortrag vom 18. März 1916 in München (in GA 174a) dar: «Und man malt sich die künftige Lage Europas aus. Man weiß, daß mit der sechsten nachatlantischen Kulturperiode, die man - etwas materialistisch gefärbt - im angelsächsischen Sinne die sechste Unterrasse nennt, die [...]Blutseigenschaften, möchte ich sagen, des russischen Volkes etwas zu tun haben und daß daher herbeigeführt werden muß eine Art Zusammenfließen des westeuropäischen Wesens mit dem russischen Wesen. » Und ein paar Tage zuvor, am 12. März 1916 in Stuttgart (in GA 174b): «Und nun ist jeder Okkultist auf dieser Seite überzeugt, daß vor allen Dingen die Brücke geschaffen werden muß zwischen dem, was das Angelsachsentum sich so zuschreibt, und dem russischen Wesen. In die russische Seele das hineingießen, was angelsächsischer Okkultismus lehren will, das ist es, was [.1 wie ein Ideal hervorgeht für jeden angelsächsischen Okkultisten - die russische Seele zu benützen als eine Art Wachs, in das eingeprägt wird das, was der angelsächsische Okkultismus will. »In diesem Zusammenhang war für die westlichen Okkultisten das Auftreten Helena Petrovna Blavatskys mit ihren bedeutenden okkulten Fähigkeiten (siehe Hinweis zu 5. 89 in GA 173b) ein außerordentlich wichtiges Ereignis. Einerseits wurde es als Beweis für die künftig zu erwartende Mission des Slawentums (siehe Hinweis zu 5. 68) gewertet, andererseits eröffnete sich durch sie eine äußerst wichtige Beeinflussungsmöglichkeit. Rudolf Steiner im Vortag vom 18. März 1916 (in GA 174a): «Äußerlich liegt ja schon die Tatsache vor -aber diese außerordentliche Tatsache ist nur der Ausdruck für tiefe, innere geistige Zusammenhänge -, daß Helena Petrowna Blavatsky aus dem russischen Volkstum hervorgegangen ist, mit allen Eigenschaften dieses russischen Volkstums, aber aus diesem große, medial gestaltete spirituelle Eigenschaften entwickelte, vor allen Dingen im höchsten Maße psychische Eigenschaften. » Und die Folge war: «Die Leute, die da die eigentlichen Wächter dieser angelsächsisch-westlichen Bewegung sind, sagten sich. Das bedeutet etwas, daß gerade aus der östlichen Menschheit heraus ein solches Individuum erwacht in der Gegenwart, das muß berücksichtigt werden, dazu muß man entsprechend Stellung nehmen. Und es entstand jetzt wirklich die Frage. Wie bringt man dasjenige, was durch starke psychische Eigenschaften gewisse tiefe Geheimnisse der Welt weiterverraten kann, in ein Fahrwasser, so daß sich russisches Zukunftselement verbindet mit angelsächsischem Wesen? Die Eigenschaften der Blavatsky geradezu in angelsächsisches Wesen hineinzuziehen, das wurde jetzt das Bestreben. » Das Ziel war: «Hinlenken wollte man das Denken der Menschen, das ja so leicht geleitet werden kann, nach dem, was hinführt von der fünften in die sechste Periode hinüber, aber so, daß es zunächst durchsetzt wird von den Trieben, die im angelsächsischen Okkultismus und in seinen Dogmen wurzeln. So sollte diese psychische Persönlichkeit der Blavatsky benützt werden, um in sie hineinzudrängen dasjenige, was historisch überliefert und als Glaubensartikel im westlichen Okkultismus lag. »

Wichtig in diesem Zusammenhang ist, daß sich bei Blavatsky und später auch bei Annie Besant diese Idee, daß das Slawentum ein zukunftsvölkisches Element bildet, nicht findet; sie sahen vielmehr in der Herausbildung einer eigenen amerikanischen Rasse ein für die Zukunft maßgebendes Entwicklungselement (siehe Hinweis zu 5.69).

69 Und wenn unter den Okkultisten der Theosophischen Gesellschaft etwas anderes behauptet worden ist. Bereits Helena Petrovna Blavatsky schrieb in ihrer Geheim-



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Unterrasse, und werden in einigen weiteren hundert Jahren ganz entschieden die Bahn brecher jener Rasse werden, welche der gegenwärtigen europäischen oder fünften Unterrasse folgen muß, mit allen ihren charakteristischen Eigenschaften. »

Annie Besant sah in Kalifornien den bevorzugten Ort für die Entstehung einer neuen Unterrasse. Sie stützte sich dabei auf die Arbeiten des 1881 in die Vereinigten Staaten ausgewanderten tschechischen Anthropologen Ales Hrdlicka (1869 —1 943). Darüber hinaus brachte sie diese Entwicklung in Verbindung mit dem unmittelbar bevorstehenden Erscheinen eines Weltlehrers -eine Aufgabe, die sie Krishnamurti zudachte (siehe Hinweis zu S. 116 in GA 173c). In ihrem Aufsatz «Why We Believe in the Coming of a World-Teacher», veröffentlicht in der Zeitschrift «The Herald of the Star» vom Juli1914 (3. Jg. Nr. W, faßt sie zusammen:' 1. Es wurde berichtet, daß sich ein neuer Rassetypus, speziell in Südkalifornien, entwickelt. 2. Es gab Anzeichen dafür, daß im Pazifik die Entwicklung einer neuen Landmasse oder «Landverteilung» im Gange ist. 3. Im Verlauf der Geschichte der arischen Rasse erschien bei Entstehung einer neuen Unterrasse jeweils ein großer Lehrer. 4. Diese Lehrer waren immer dann erschienen, wenn die vorhergehende Zivilisation an einen Punkt von Niedergang und Stagnation angelangt war, so daß die alten Denkmuster nicht mehr genügend produktiv waren. 5. Jede vergangene Zivilisation war vernichtet worden, weil sie nicht auf dem Prinzip der Brüderlichkeit beruhte. 6. Menschen in aller Welt und verschiedensten Glaubens erwarteten das Kommen eines großen Lehrers.

Charles Webster Leadbeater nahm in seiner Schrift «Die Entstehung einer Neuen Unter-Rasse» (Hagen i. W. 1917) diese Anschauung auf, indem er zu den Gründen, die ihn veranlaßten, diese Schrift zu verfassen, schreibt (I. Kapitel, «Was versteht man unter einer neuen Unter-Rasse?»): «Der besondere Grund dafür, daß wir diesen Gegenstand gerade jetzt behandeln, ist der, daß, wie wir es in der Theosophie



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nennen, jetzt eine neue Unter-Rasse in der Welt fällig ist; sie hat in den Vereinigten Staaten von Amerika schon begonnen. Als ich vor zwölf Jahren dort war, sah ich deutlich, daß sie schon anfing, und es ist in der Tat nicht nur eine theosophische Idee, denn das amerikanische Büro für Ethnologie hat die Tatsache anerkannt, daß diese neue Rasse in ihrer Mitte entsteht, daß in diesem gewaltigen Lande ein Menschentypus erblüht, der in verschiedener Hinsicht von jeder heute existierenden Rasse sich unterscheidet. Die genauen Unterschiede sind zum großen Teile durch Messungen des Kopfes und der Verhältnisse der verschiedenen Teile des Körpers und so weiter festgesetzt worden -in all den charakteristischen Merkmalen, in denen die Ethnologen zwischen den verschiedenen Rassen Unterschiede zu machen pflegen. Sie zählen die Besonderheiten dieser neuen und ausgesprochen amerikanischen Rasse auf Schon vor zwölf Jahren sah ich eine große Anzahl Menschen dieser neuen Rasse in verschiedenen Teilen von Amerika. » Diese Entwicklung sieht Leadbeater nicht nur auf die Vereinigten Staaten beschränkt: «Als ich vor einem Jahre zum zweiten Male hier in Australien landete, fiel mir die Tatsache sehr auf, daß die neue Rasse augenscheinlich sich auch hier zeigte. Ich hatte es nicht erwartet, denn ich hatte keine Mitteilung erhalten, daß sie gleichzeitig in verschiedenen Ländern beginnen sollte [...].»

70 Und wie jedem Okkultisten weiter bekannt ist. Obwohl die polnische Bevölkerung staatsrechtlich zu drei verschiedenen Reichen gehörte (siehe Hinweis zu 5. 109 in GA 173c), hatte sie im Laufe des 19. Jahrhunderts ein starkes Nationalbewußtsein entwickelt, das sich unter anderem in zwei Aufständen, dem Novemberaufstand von 1830 («powstanie listopadowe») und dem Januaraufstand von 1863 («powstanie styczniowe») gegen die russische Herrschaft entlud. Polen war eine «Nation ohne Staat». Nach den gescheiterten Aufständen entwickelte sich als Gegenkonzept zur Revolutionsromantik das sogenannte Programm der Arbeit («praca organiczna»). Durch konkrete wirtschaftliche und kulturelle Aufbauarbeit sollte die längerfristige Grundlage für eine künftige Unabhängigkeit gelegt werden. Den drei Teilungsstaaten gelang es nie, ihre polnischen Landesteile wirklich in den Gesamtstaat zu integrieren. Die gemeinsame polnische Sprache und die gemeinsame katholische Religion hielten die polnische Gesellschaft über die Landesgrenzen hinweg als Einheit zusammen. Rudolf Steiner betrachtete die Polen aufgrund ihrer unmittelbaren historischen Vergangenheit als besonders empfänglich für die Umsetzung der Idee der sozialen Dreigliederung. So sagte er seinen Zuhörern am 1. Januar 1921 anläßlich des «Schulungskurses für Oberschlesier» (in GA 338): «Wir haben hier eine Dreigliederung, die sich so zeigt, daß die Polen begabt worden sind von Rußland her für die großen geistigen Ideen. Studieren Sie einmal, was man polnischen Messianismus nennt, [...] so werden Sie finden, daß dieser Impuls aus dem Osten kommt, Studieren Sie aber dasjenige, was in den Polen lebt, was sie zu Politikern macht, [...] so werden Sie finden, daß sie das aus Österreich haben. Und Sie werden finden, daß sie das Wirtschaftliche aus Preußen haben. » Die Erscheinung des polnischen Messianismus (siehe Hinweis zu 5. 109 in GA 173c) beruhe darauf, daß die große Masse der Polen ein geistiges Element aufgenommen habe (gleiche Quelle), «das hinzielt auf eine Vertiefung des Denkens und eine Vertiefung des Wissenschaftlichen durch ein gewisses religiöses Element». Auch wenn die katholische Kirche solche Ideen wie die von Polen als dem «Christus der Nationen» verurteilte, besaß der



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Katholizismus in Polen doch eine stark mystische Färbung. Auf die Bedeutung der katholischen Religion für den Zusammenhalt des Polentums wies auch George Charles Harrison in seinen Vorlesungen «Uber das Transcendentale Weltenall» hin (siehe Hinweis zu S. 31).

70 die Art des Geisteslebens, wie es sich für die Welt darstellt aus den britischen Institutionen, aus dem britischen Volksleben heraus: Einer der prägenden Gestalten für die neuere politische Philosophie war der Engländer John Locke (1632 —1 704). Ausgehend von der Vorstellung einer natürlichen Gleichheit zwischen allen Menschen und eines gemeinsamen Vertragsabschlusses, vertrat er die Idee einer Regierung aufgrund der Zustimmung des Volkes («government by the consent of the people»). Praktisch bedeutete das eine Legitimierung des englischen konstitutionellen Regierungssystems, das für alle königlichen Regierungsakte die Zustimmung des Parlamentes voraussetzte und das sich im Laufe des englischen Revolutionsjahrhunderts endgültig durchgesetzt hatte.

71 Ich erinnere an Cobden, an Bright: Als entschiedener Befürworter des Freihandels gehörte Richard Cobden (1804-1865), ein englischer Textilindustrieller, zu den wichtigen und einflußreichen englischen Politikern des 19. Jahrhunderts. Cobden war überzeugt von der sozial wohltätigen Auswirkung des Freihandels. Er versprach sich davon nicht nur eine substantielle Besserstellung der unteren Klassen, sondern auch den Abbau der kriegerischen Spannungen zwischen den Staaten. So trat er als Parlamentsmitglied - er saß von 1841 bis 1847 und 1859 bis 1865 als Vertreter des radikalen Flügels der Whigs im britischen Unterhaus -nicht nur für die Abschaffung der Kornzölle ein, sondern sprach sich auch gegen Rüstungskredite und gegen jede imperialistisch motivierte Einmischung im Ausland aus. Seine politischen Ziele versuchte er durch nationale Kampagnen zu erreichen. Immer wieder gelang es ihm, in Massenveranstaltungen seine Zuhörer für seine Ideen zu begeistern und damit öffentlichen Druck auf die Regierung auszuüben. Cobden gehörte 1839 zu den Mitbegründern der «Anti-Corn Law League». Aufgrund der großen Überzeugungsarbeit konnte diese 1846 ihr Ziel erreichen; das englische Parlament beschloß die Abschaffung der Kornzölle innerhalb einer Frist von drei Jahren. 1849 löste sich die «League» wieder auf.Die politische Tätigkeit Cobdens ist untrennbar mit John Bright (1811-1889), seinem engsten politischen Freund, verbunden. Bright, ein Quäker, war ein Mensch von hoher Moralität und starkem Sozialbewußtsein. Er war Inhaber einer Textilfabrik und war wie Cobden überzeugt, daß durch die Einführung des Freihandels die soziale Not gelindert werden könne. Auch Bright war ein glänzender Redner, der die Massen zu begeistern vermochte. Er war über lange Jahre Mitglied des Unterhauses - von 1843 bis 1889, mit einer kurzen Unterbrechung im Jahre 1857. Auch er gehörte zum radikalen Flügel der Whigs, aus dem sich schließlich die Liberale Partei entwickelte. Bright war auch eine der führenden Persönlichkeiten der «Anti-Corn Law League» und später auch der «Reform League» —sie bestand zwischen 1865 bis 1868 —, die für die Einführung des allgemeinen Männerwahlrechtes eintrat. Dieses Ziel wurde durch die «Reform Act» von 1867 und 1868 erreicht. Bright war gegen den Krieg eingestellt, den er als unchristlich betrachtete, und lehnte deshalb die britische Teilnahme am Krim-Krieg von 1853 bis 1856 entschieden ab. Er war auch gegen die Todesstrafe. Zunächst als Handelsminister («President of the Board of Trade», von 1868 bis 1870) und später zweimal als Minister ohne Portefeuille («Chancellor of the Duchy of Lancaster», von 1873 bis 1874 und 1880 und 1882) war er Kabinettsmitglied unter William Ewart Gladstone.



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71 es könnten aber noch viele andere Namen genannt werden: In den «Zeitgeschichtlichen Betrachtungen» werden zum Beispiel auch Thomas Carlyle (siehe Hinweis zu S. 222) oder John Stuart Mill (siehe Hinweis zu 5. 150 in GA 173b) oder Herbert Spencer (siehe Hinweis zu 5. 103 in GA 173c) erwähnt.

72 Namentlich in jenen westlichen Bruderschaften, von denen ich Ihnen erzählt habe: Zum Beispiel im Vortrag vom 18. November 1916 (in GA 172).

73 das ist das sogenannte «Testament Peters des Großen»: Das angeblich vom russischen Zaren Peter I. (siehe Hinweis zu 5. 73) stammende politische Testament ist eindeutig eine Fälschung; es gab nie ein politisches Testament Peters des Großen. Allerdings reichen die Wurzeln dieses Dokuments bis in die Regierungszeit Peters des Großen zurück, und in den folgenden Jahrhunderten diente dieses Dokument, das in seinem Wortlaut immer wieder verändert und den jeweiligen politischen Zwecken angepaßt wurde, zur Rechtfertigung der verschiedensten politischen Bestrebungen.Zum ersten Mal tauchte ein angeblicher Geheimplan Zar Peters I. 1710 im damals noch türkischen Bender (heute Tighina in Transnistrien, dem sezessionistischen Landesteil von Moldawien) auf, wo sich der schwedische König Karl XII. (1682-1718) mit dem Rest seiner Truppen nach der Niederlage von Poltava im Jahre 1709 aufhielt. Der ungarische Gesandte Maté Talaba verkaufte damals dem schwedischen König einen angeblichen Geheimplan Zar Peters I.; Talaba hatte sich von 1708 bis 1710 im Auftrag von Ferenc Rakoczi II., des im Namen der vereinigten ungarischen Stände regierenden Fürsten von Ungarn (September 1705 bis Februar 1711), am russischen Hof befunden, war dann aber ausgewiesen worden. König Karl XII. reichte diesen Plan an die osmanische Regierung weiter, um sie zu einer Kriegserklärung gegen Rußland zu bewegen. Das Dokument von Talaba war auch Pylyp Orlyk (Filip Stepanovic Orlik, 1672-1742), dem ukrainischen Exil-Hetman der Saporoscher Kosaken, bekannt und wurde von ihm -in umgearbeiteter Form - verwendet, um mögliche Bündnispartner gegen Rußland zu finden. Durch seinen Sohn Hryhor (Grégoire) Orlyk (unbekannt-1759), der in französischen Diensten gegen Rußland tätig war, wurde dieser angebliche Geheimplan auch der französischen Regierung bekannt.

Auf die Versionen von Vater und Sohn Orlik scheinen sich sowohl der Chevalier d'Eon wie auch der polnische General Sokolnicki gestützt zu haben, von denen es je eine weitere Fassung des Geheimplans von Peter I. gibt. Charles de Beaumont, Chevalier d'Eon (1728-1810), der von 1757 bis 1760 Gesandschaftssekretär in Rußland war und 1760 einen solchen Geheimplan vorgelegt haben soll, konnte sich neben seinen eigenen Beobachtungen auf die Unterlagen im französischen Außenministerium und auf Papiere von Hryhor Orlyk stützen, Sokolnicki unter anderem auf das Tagebuch von Pylyp Orlyk, das in die große Bibliothek von Fürst Adam Jerzy Czartoryski (siehe Hinweis zu 5. 80 in GA 173c) in Pulawy Eingang gefunden hatte. Sokolnicki kannte die Bibliothek des Fürsten und sammelte im Westen Bücher für sie. Michal Sokolnicki (1760 —1815) gehörte zur großen Kolonie emigrierter Polen, die damals in Paris lebten; er bezeichnete sich als Generalvertreter der Polen. Er war General während des polnischen Aufstandes von 1794 unter der Führung von Tadeusz Kosciuszko (1746-1817) gewesen und befand sich von 1794 bis 1796 in russischer Haft, wo er Gelegenheit hatte, sich mit militärischen und wissenschaftlichen Studien zu beschäftigen. Nach seiner Entlassung reiste er über Polen nach Frankreich, wo er sich seit 1797 aufhielt. Im Hinblick auf die Aufstellung einer polnischen Legion in Deutschland zur Befreiung Polens - er wollte auf deutschem Boden ein polnisches Rekrutierungsbüro eröffnen -suchte



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er die Unterstützung der französischen Regierung. Zu diesem Zweck verfaßte er die Schilderung der geheimen Absichten Rußlands, die er 1797 dem Direktorium der Französischen Republik in der Form eines Testamentes von Zar Peter dem Großen (siehe Anhang II, «Historische Dokumente», in GA 173c) vorlegte.

Auf Sokolnicki wiederum stützte sich Charles Louis Lesur, der unter dem Kürzel «M. L.» die Schrift «Des progrès de la puissance russe depuis son origine jusqu'au commencement du XIX siecle» (Paris 1812) herausbrachte, die den Zaren-Geheimplan erstmals in Buchform enthüllte. Vermutlich verfaßte Lesur die Schrift im Auftrage Napoleons J., um den Rußland-Feldzug des Kaiser moralisch zu rechtfertigen. Auf Lesur stützte sich wiederum die anonyme Schrift «Des Kaisers Napoleon politisches Testament. Nebst einem Verzeichnisse der Vermächtnisse, welche er hinterlassen hat. Zweite vermehrte Auflage. Mit dem politischen Testamente Peters des Großen, Kaisers von Rußland» (Leipzig 1924). Damit war nun zum ersten Mal die Rede von einem «politischen Testament» und nicht mehr bloß von einem Geheimplan. Von einem solchen Testament sprach auch Frederick Gaillardet in seiner Schrift «Mémoires du Chevalier d'Eon» (Paris 1836), womit der Begriff in die politische Diskussion des 19. Jahrhunderts eingeführt war. Er findet sich auch in der Schrift «Der Kampf gegen den Geist und das Testament Peters des Großen» (Stuttgart 1922) des Anthroposophen Ludwig Polzer-Hoditz (siehe Hinweis zu 5. 280 in GA 173b).

Wie die Entstehungsgeschichte des Testaments zeigt, war es als Mittel zur politischen Mobilisierung zu ganz verschiedenen Zwecken einsetzbar. Zunächst wurde es zur Illustration der vom russischen Imperialismus ausgehenden Gefahr verwendet. So schreibt zum Beispiel der schwedische Nationalökonom und Soziologe Gustaf Frederik Steffen (1864-1929) in seinem Buch «Weltkrieg und Imperialismus. Sozialpsychologische Dokumente und Beobachtungen vom Weltkrieg 1914/15» (Jena 1915) im Zusammenhang mit dem Testament Peters des Großen: «Der Gebrauch, den Rußlands aktive Imperialisten - die sogenannten <Panslawisten>, die moskowitisch-großrussischen Kriegs- und Erobererpartei, deren Programm das Moskowitisieren aller in dem Imperium eingeschlossenen Nationen ist - von dem <Testamente~>gemacht haben und noch machen, erhebt also dieses alte Falsifikat zu einem echten und aktuellen imperialistischen, zeitgenössischen Dokumente. Und wenn wir einige Grundgedanken des <Testamentes> mit der geschichtlichen Wirklichkeit nach 1812 und noch heutzutage und mit den neusten Aussprüchen hervorragender russischer Diplomaten und Staatsmänner über Rußlands auswärtige Politik vergleichen, so werden wir entdecken, daß es kaum möglich wäre, den allgemeinen Tendenzen des gegenwärtigen russischen Imperialismus einen adäquateren Ausdruck zu verleihen, als [wir]sie in dem <Testamente> gefunden haben.»

In diesem Sinne diente es auch als Mittel, um zum russischen Imperialismus im Gegensatz stehende politische Bestrebungen zu rechtfertigen. So wurde das Testament in den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts zum Beispiel benutzt, um die Idee einer panlatinischen Föderation, die im Kern Rumänen, Italiener, Spanier, Portugiesen, Franzosen, Engländer, Schotten und Iren umfassen sollte, zu verbreiten - als Wall gegen einen vordringenden Panslawismus. So erschien 1860 in Paris unter dem Titel «Le Panlatinisme -Confederation gallo-latine et celto-gauloise, contretestament de Pierre le Grand et contre-panslavisme» eine anonyme Schrift, als deren Verfasser ein gewisser Cyprien Robert (1807—unbekannt) gezeichnet haben soll. In dieser Schrift wird die aktuelle Bedeutung des rassischen Gesichtspunktes unterstrichen. So heißt es im Vorwort («Au Lecteur»): «Die Rassenfrage, die in diesem Moment für Aufruhr sorgt, ist eines der beachtenswertesten Ereignisse, die



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die Welt je bewegt haben.»' Und als Beispiel einer rassistischen Bewegung wird der Panslawismus (siehe Hinweis zu S. 69) genannt: «Wie dem auch sei: Diese Frage der Sprache und des Grundsatzes einer Wiederbelebung der Nationalitäten hat den Panslawismus entstehen lassen, der heute den europäischen Westen erschreckt und gegen den, wie wir es gesagt haben und wie wir es in dieser Abhandlung sehen werden, kein anderes Mittel besteht als der Panlatinismus. »2 Zwei Jahre später griff ein gewisser François-Lubin Passard (1817—unbekannt) unter dem Pseudnoym Prosper Vallerange den Gedanken einer panlateinischen Föderation wieder auf und veröffentlichte unter dem leicht abgewandelten Titel «Le Panlatinisme, confédération gallo-latine et celto-latine. Alliance fédérative de la France, la Belgique, l'Angleterre, l'Espagne, le Portugal, l'Italie, la Grece etc.» (Paris 1862) eine weitere Schrift mit der Anregung, eine «panlateinische» Föderation als Schutzwall gegen die russische Expansion zu gründen. Interessant ist, daß diese Idee eines Zusammengehens zwischen Italien, Frankreich und Großbritannien in der Bündniskonstellation der Entente vor dem Ersten Weltkrieg ihre Verwirklichung gefunden hat -allerdings nur bedingt, weil sie sich nicht gegen Rußland, sondern gegen Deutschland richtete.

Das Gegenstück zur panlatinischen Allianzidee war die Vorstellung einer Kontinentalallianz, die den Zusammenschluß zwischen Deutschland und Rußland als ihr Herzstück beinhaltete. Tatsächlich waren auch solche Vorstellungen in Deutschland verbreitet. So schrieb der englisch-deutsche Missionar William Lobscheid (1821—unbekannt), ein ausgezeichneter Kenner der chinesischen Sprache und Kultur, in seinem Schriftchen «Das Politische Testament Peters des Großen (Berlin 1870): «Rußlands geistige Wohlfahrt liegt in seinem engen Anschluß an ein einiges, mächtiges Deutschland. Darin liegt aber auch die beste Bürgschaft für die Ruhe Europas, denn an beiden Staaten zerschellen endlich alle Wogen der Revolution. Während Rußland im Innern Asiens seine Aufgabe erfüllt, sendet Deutschland den Überfluß seiner Bevölkerung nach der neuen Welt, wo unter allen innern Stürmen ein neues Leben erblüht, welches einst segnend auf Europa zurückwirken wird, wenn der große Kampf mit Rom und den veralteten Ideen einer gesetzlosen Welt ausgekämpft werden. »

73 Sie kennen die Geschichte Peters des Großen: Peter (Petr oder Pjotr) I. der Große (Velikij, 1672-1 725), aus dem Hause der Romanov, seit Mai 1682 russischer Zar, zusammen mit seinem regierungsunfähigen Halbbruder Iwan V. (Ivan). Zunächst stand er unter der Vormundschaft seiner Mutter, Natalia Kirillovna Naryiskina (1651-1 694)— vom Mai bis Juni 1682. Nach einem Staatsstreich, der schließlich zur Zurücksetzung Peters in der Rangordnung führte, übernahm seine Halbschwester Sofja Alekseevna Romanov (1657-1 704) die Vormundschaft, die sie nach einem erneuten Staatsstreich, diesmal durch Peter, im September 1689 abgeben mußte. Peter erklärte sich für mündig, faktisch übte seine Mutter wieder die Regentschaft aus bis zu ihrem Tod im Februar 1694. Nach dem Tode seines Bruders im Januar 1696 wurde Peter Alleinherrscher in Rußland; im Oktober 1721 nahm er den abendländischen Kaisertitel an. Er betrieb nicht nur die Expansion Rußlands nach Süden und nach Westen - so sicherte er sich in einer langjährigen Auseinandersetzung mit Schweden (Großer Nordischer Krieg von 1700 bis 1721) den Zugang Rußlands zur Ostsee -, sondern er orientierte sich auch an der westlichen Kultur und veranlaßte die Modernisierung



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der russischen Gesellschaft nach dem westlichen Vorbild. Er starb schließlich im Januar 1725. Zar Peters großer politischer Gegenspieler war König Karl XII. (1682-1718) von Schweden (siehe Hinweis zu S. 73).

73 denn dieses Testament ist in bezug auf Peter den Großen eine Fälschung: Für Rudolf Steiner war es klar erwiesen, daß Zar Peter der Große kein politisches Testament verfaßt hatte. Aber er war davon überzeugt, daß in diesem angeblichen Testament - selbst wenn es sich um eine Fälschung handelt -doch in vielen Punkten die realen politischen Impulse, die von Peter dem Großen ausgingen, zum Ausdruck gebracht werden. So sagte er am 23. August 1920 in einem Diskussionsabend des Bundes für Dreigliederung des sozialen Organismus, der dem Testament Peters des Großen gewidmet war (in GA 337a): «Versuchen Sie es sich klarzumachen, wie da in der Geschichte die Verhältnisse sind zwischen dem, was Russentum ist, und dem, was Peter der Große nach Rußland hineingetragen hat. Was er da hineingetragen hat, Peter der Große, das war ja tatsächlich nicht etwas, das bloß für morgen oder übermorgen wirkte, sondern es war schon etwas, das einen Impuls über die Jahrhunderte hinaus gab. Man könnte sagen, man weiß, was das in Rußland wurzelnde Slawentum will, man weiß, wie es zusammenwirkt mit dem differenzierten Slawentum, aber da steckt doch noch darinnen dasjenige, was vom Westen her Peter der Große gebracht hat. Nun, Peter der Große hat eben nichts aufgeschrieben, aber er hat in einer gewissen Richtung seine Regierungshandlungen getrieben; was er getan hat, das ist in einer gewissen Richtung, in einem gewissen Stil gehalten. » Und: «Versetzen Sie sich nun einmal in irgendeine Zeit nach Peter dem Großen und schauen Sie sich die europäische Politik an - können Sie da nicht sagen: Ja, in dem, was da fortwirkt von Peter dem Großen her, da sind konkrete Faktoren drinnen, die wirken? Wer solche Dinge gesehen hat, wie ich sie Ihnen jetzt geschildert habe, der weiß: sie sind da.»Für Rudolf Steiner war Michal Sokolnicki (siehe Hinweis zu 5. 73) ein Mensch, der sich über die großen Impulse, die in der Politik Peters des Großen zum Ausdruck kamen, durchaus im klaren war: «Nun kommt so ein Sokolnicki, und über die Verhältnisse, unter denen er gelebt hat, meditiert er. Da geht im Innern seiner Seele auf dasjenige, was man nennt das <Testament Peters des Großen>. Erfragt sich: Was liegen denn für Kräfte in dem, was von Peter dem Großen ausgeht? Was wird, wenn das sich vollzieht? Wie wäre das, wenn man das ungeschriebene Testament Peters des Großen niederschriebe, wenn man es niedergeschrieben dächte aus dem, was sich zum Teil aus Eingebungen ergibt, zum Teil aus Staatspapieren und dergleichen? Muß man denn danach fragen, wie derjenige die Feder in die Tinte getaucht hat oder welche Tinte er benützt hat oder wie er die Feder geführt hat, wenn man nach der Entstehung von einem Schriftstück fragt? In der Weltgeschichte ist es nicht so. »

Auf welche Weise es ihm gelungen war, den seit Zar Peter I. geltenden russischen Geheimplan zur Unterjochung Europas zu ergründen, beschrieb Sokolnicki in einem dem Testament beigelegten Aktenstück: Auf der einen Seite hätten es ihm zweijährige Meditationen in den Gefängnissen von St. Petersburg, auf der anderen Seite Auskünfte polnischer Landsleute und eigene Forschungen in den 1794 anläßlich des polnischen Aufstandes in Warschau beschlagnahmten russischen Dokumenten erlaubt, den geheimen Plan Zar Peters I. zu entdecken. Allerdings sei es ihm nicht möglich gewesen, eine Abschrift des Geheimplans zu verfertigen, so daß er nur die wichtigsten Artikel aus dem Gedächtnis habe niederschreiben können.

73 Das alles steht in dem «Testament Peters des Großen». Der deutsche Historiker Harry Breslau war 1879 in bezug auf das sogenannte Testament Peters des Großen zum Schluß gekommen, daß sowohl die Fassungen von Lesur wie die von Gaillardet



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74 als ich es in einem Lehrkurse, den ich zu halten hatte: Rudolf Steiner bezieht sich auf seine Tätigkeit als Lehrer an der Arbeiterbildungsschule in Berlin (siehe Hinweis zu 5. 122 in GA 173c). Es ist nicht bekannt, in welchem Kurs er das Testament Peters des Großen behandelt hatte.

74 Ich könnte Sie auf eine Stelle in Europa hinweisen: Vermutlich meint Rudolf Steiner eine Zusammenkunft amerikanischer und europäischer Okkultisten, die ungefähr im Jahre 1876 in Wien stattgefunden haben soll und wo über die Frage des weiteren Umgangs mit dem Phänomen «Mme Blavatsky» beraten wurde (siehe Hinweis zu 5. 91 in GA 173b).

74 es gibt solche Imperien, die sich sowohl des Instruments des Jesuitismus wie des Instruments der Freimaurerei bedienen können: In diesem Sinne soll sich Rudolf Steiner im November 1916 gegenüber dem Anthroposophen Ludwig Graf von Polzer-Hoditz geäußert haben. In einem seiner Tagebucheinträge, die in ihrer Authentizität nicht restlos geklärt sind, soll er ihn im Zusammenhang mit Kaspar Hauser auf «jene Mitglieder der westlichen Logen und der Jesuiten, die ja in ihren Spitzenorganisationen seit mehr als 150 Jahren, aber seit Januar 1802 nachweislich zusammenarbeiten» hingewiesen haben (zitiert nach: Ludwig Polzer-Hoditz, Aus Gesprächen mit Rudolf Steiner, in: Thomas Meyer, Ludwig Polzer-Hoditz - Ein Europäer, Basel 20082, VI. Kapitel, «Anhang»). Und zu den Gründen dieser Zusammenarbeit zwischen Verantwortungsträgern der Jesuiten und der Freimaurer: «Sie konnten keine erwachende Mitte zulassen, wenn sie sich nicht ihrer Macht und Machtbestrebungen entäußern wollten. Goethes Geistesart erschreckt sie, Napoleon zwingt sie zueinander und zum Bündnis der anzustrebenden Weltherrschaft auf weltanschaulichem und wirtschaftlichem Gebiete. Napoleon hatte schon ihre Bestrebungen durchkreuzt: Napoleon ist [es] im Grunde, der die beiden Strömungen zu einem Bündnis treibt. Von da ab sind die Aufgabenbereiche klar abgegrenzt, aber in ihrer Zielsetzung um so wirksamer auf die eindeutige Weltherrschaft gerichtet. Die weltanschaulichen und geistigen Angelegenheiten sind ausschließlich in die Hand der S[ocietas]J[esu]gegeben, die wirtschaftlichen in die der anglo-amerikanischen Logen, der Logen des Westens.»In diese Richtung deutet auch Harrison in seiner Schrift «Das Transcendentale Weltenall» (Leipzig 1897). Ausgehend von der Unterscheidung zwischen theoretischen und praktischen Okkultisten -die praktischen Okkultisten würden sich mit den magischen Künsten beschäftigen, die theoretischen nicht -sagt er (I. Vortrag, zitiert nach der deutschen Ausgabe von 1897): «Ein praktischer Okkultist gehört gewöhnlich einer Brüderschaft an, und man gibt mir zu verstehen, daß viele derselben höheren Rangstufen der Freimaurer angehören und in dieser Körperschaft ein <imperium in imperious bilden. Andere gehören religiösen Orden der römischkatholischen Kirche an, namentlich den Jesuiten, zu welchen sie in demselben Verhältnisse stehen, wie die anderen zu den Freimaurern. Zwischen diesen und den letztgenannten herrscht Krieg bis aufs Messer und einer klagt den anderen an, den linksseitigen Weg zu gehen. Es gibt natürlich Ausnahmen von dieser Regel; ich kenne selbst einen keiner Brüderschaft angehörenden praktischen Okkultisten; die Vorteile



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des Zusammenwirkens sind jedoch so groß, daß fast jeder praktische Okkultist - wenn er sich nicht der Ausübung böser Künste hingegeben hat -Mitglied einer oder anderen mehr oder weniger strengen Brüderschaft ist. »

Wenn die Jesuiten oder die Freimaurer zu den verantwortlichen Drahtziehern für bestimmte Vorkommnisse gestempelt werden - und nicht die dahinter stehenden Gruppierungen -, so wird die Möglichkeit eines Missbrauchs durch politische Instrumentalisierung zu wenig in Betracht gezogen. Solch ein verkürztes Urteil findet sich zum Beispiel im Aufsatz von Malwine Rennert über «Die Freimaurer in Italien», der in den «Süddeutschen Monatsheften» vom Juni1915 (12. Jg. Nr. 9) erschienen ist. In diesem Aufsatz wird den Freimaurern -insbesondere den englischen Freimaurern -die ganze Schuld am Kriegsausbruch zugeschoben und dabei die deutsche Politik als eine Politik im Dienste der Gesamtmenschheit idealisiert. So glaubt Rennert: «Wie Schachspieler ihre Figuren bewegen die Engländer die Kontinentalmächte an den Fäden der Freimaurerei. Der Herzog von Wellington schrieb aus dem Feldlager in Spanien [zur Zeit der Napoleonischen Kriege]: <Wir bluten hierfür die Pfeffersäcke in London.> Er hat die Wahrheit gesagt: Die Pfeffersäcke lauern im Hintergrunde, das Manchestertum saugt die Erde aus. » Und weiter: «Die Zentrallogen stehen gegen Deutschland, nicht allein darum, weil der deutsche Handel mit dem englischen wetteifert, noch mehr, weil sich in Deutschland ein neues Menschheitsideal emporringt, die soziale Gerechtigkeit, der Staat als lebender Organismus. Die Arbeiterschaft der Erde horcht auf die englische fängt an, sich zu organisieren. Noch hat der Götze mächtige Jünger, den König Eduard, den Helden der <Vie de Paris' [französische Großloge], und König Leopold, der ihm die Kongogreuel zu Füssen legt, und dessen Neffen, den <Grand Oriente, der in sich Revanchegedanken nährt, in Rußland ein paar Großfürsten. Mit Deutschland wird der Rivale und auch das Christentum, die soziale Gerechtigkeit, der Menschheitsgedanke, die Arbeiterschaft niedergerungen - die Pfeffersäcke können dann weiter auf Erden herrschen. » Malwine Rennert (1856—unbekannt) war die erste deutsche Filmkritikerin, die etwa von 1913 bis 1915 in Rom lebte, anschließend nach Berlin zog und zahlreiche Aufsätze zum Thema Film veröffentlichte. So gibt es zum Beispiel von ihr einen Aufsatz «Gabriele D'Annunzio als Filmdichter», erschienen in «Bild & Film. Zeitschrift für Lichtbilderei und Kinematographie» vom September/Oktober 1914 (3. Jg. Nr. 9/10).

Im Gegensatz zu Leuten wie Malwine Rennert legte Rudolf Steiner Wert auf die genaue Unterscheidung zwischen der Ebene der instrumentalisierten Menschen und der Ebene der maßgebenden Leute, der eigentlichen Drahtzieher. Und in diesem Zusammenhang führte er öfter das Verhältnis zwischen Freimaurern und Jesuiten an. So sagte er im Berliner Mitgliedervortrag vom 4. April 1916 (in GA 167): «Die Jesuiten bekämpfen selbstverständlich aufs wütendste die freimaurerischen Gemeinden, die freimaurerischen Gemeinden bekämpfen aufs wütendste die Jesuiten-Gemeinden, aber Obere der Freimaurer- und Obere der Jesuiten-Gemeinden gehören den höheren Graden einer besonderen Bruderschaft an, bilden einen Staat im Staat, der die anderen umfaßt. » Und: «Denken Sie sich, was man in der Welt wirken kann, wenn man so wirken kann, daß man auf der einen Seite zum Beispiel der Obere einer freimaurerischen Gemeinde ist, die als Instrument dient, um zu wirken, und man sich verständigen kann mit dem Oberen einer Jesuiten-Gemeinschaft, um eine einheitliche Handlung vorzunehmen, die nur vorgenommen werden kann, wenn man einen solchen Apparat zur Verfügung hat.» Der Zweck dieses künstlichen Gegensatzes: «Wenn man aber nur auf der einen Seite die Stiere losläßt, dann, nicht wahr, wird es nichts. Man muß auf der anderen Seite die Sache bekämpfen lassen mit demselben Feuer, mit demselben Enthusiasmus. Denken Sie, was man wirken



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kann, wenn man einen solchen Apparat zur Verfügung hat!» Und im Dornacher Mitgliedervortrag vom 3. Juli 1920 (in GA 198): «Wenn man die Menschen einem bestimmten Ziele zuführen will, einem klaren, einem dem Menschen klaren Ziel, nicht bloß dem Leitenden, dem Führenden klaren Ziel, dann ist es gut, wenn man sie bloß von einer Seite her anfaßt und ihnen einen Weg zu diesem Ziele zeigt. Wenn man aber sie möglichst dumpf und schläfrig halten will, zeigt man ihnen zwei Wege oder vielleicht sogar mehrere, aber zunächst genügen zwei. Einer geht so, und einer geht so. Man ist Jesuit, indem man der Gesellschaft Jesu offiziell angehört, und nimmt diesen Weg, oder man ist Jesuit, indem man irgendeinem Hochgrad-Freimaurerorden angehört und nimmt jenen Weg. Dann guckt der Mensch hin, und er wird sich sehr schwer zurechtfinden. Man kann ihn sehr leicht verwirren.»

Als Beispiel für ein Gebiet, in dem gezielt in solcher Weise vorgegangen wurde, nennt Rudolf Steiner Belgien. So sagt er in seinen Ausführungen vom 4. April 1916 (in GA 167): «In einer besonders wirksamen Weise zum Beispiel ist gewirkt worden mit einem solchen Apparat, der zu gleicher Zeit Jesuiten und Freimaurer in Bewegung setzte, ohne daß man auf der Jesuitenseite und ohne daß man auf der freimaurerischen Seite etwas davon wußte, in einem gewissen Lande, das ja so etwa im Nordwesten von Europa liegt, zwischen Holland und Frankreich. Da waren besonders starke Wirkungen ausgegangen -nicht in der allerletzten Zeit, aber lange Zeit hindurch -, die sich sowohl der einen wie der anderen Strömung bedienten und die so gar mancherlei wirken konnten.» Diese Entwicklung hing einerseits damit zusammen, daß infolge des Jesuitengesetzes vom 4. Juli 1872, das die Niederlassungen des Jesuitenordens auf deutschem Boden verbot, die deutschen Jesuiten in die grenznahen Gebiete der Niederlande, insbesondere in die an Deutschland grenzende Provinz Limburg, auswichen. Aber auch von Belgien aus wirkten die Jesuiten. Wichtige Zentren jesuitischer Aktivität in den Niederlanden waren zum Beispiel das Städtchen Valkenburg aan de Geul sowie die Orte Wijnandsrade und Blijenbeek (Bleijenbeek), in Belgien neben der Stadt Löwen (Louvain, Leuven) die Orte Antoing und Florennes.

Dieses scheinbare Gegeneinanderspiel brachte Rudolf Steiner in Zusammenhang mit dem Beginn des Michaelzeitalters im Jahre 1879. So sagte er im Dornacher Vortrag vom 22. September 1918 (in GA 184): «Seit jener Zeit sind besondere Gelegenheiten gegeben, daß Spirituelles von den Menschen, die das wollen, aufgenommen werde. » Im vereinigten Wirken dieser beiden Strömungen sah Rudolf Steiner den gebündelten Kampf gegen die neuen Möglichkeiten spiritueller Erkenntnis. Und er warnte (gleicher Vortrag): «Man glaube nun nicht, daß die Eingeweihten der römisch-katholischen Kirche solche Dinge nicht wissen! Sie kennen sie natürlich; aber sie richten ihre Dämme dagegen auf Und gerade im Zusammenhang mit der Tatsache, daß das spirituelle Leben von den geistigen Welten aus ganz besonders gefördert wird vom Jahre 1879 an, hat voraussehend die römisch-katholische Kirche das Infallibilitätsdogma [Unfehlbarkeitsdogma] aufgerichtet, um einen Damm aufzubauen durch das Infallibilitätsdogma gegen etwaigen Einfluß irgendwelcher neuer spiritueller Wahrheiten. » Während Rom das eine Zentrum in diesem Kampf darstellt, bildete sich im Verlaufe der siebziger Jahre ein anderes Machtzentrum heraus (gleicher Vortrag): «Eine andere Strömung ist in demjenigen Zentrum zu suchen, welches im hohen Grade - ungefähr in derselben Zeit, als sich von Rom aus das Infallibilitätsdogma vorbereitete - festzuhalten ist in der englisch-amerikanischen, das heißt in der englischsprechenden Bevölkerung. Wir haben von diesem okkulten Zentrum in mancherlei Zusammenhängen hier schon gesprochen. » Und weiter: «Jene okkulte Maurerei, die in jenem Zentrum verankert ist und die von diesem Zentrum aus einen großen Einfluß hat auf



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den Gang der äußeren Kultur der ganzen zivilisierten Welt, die befördert ebenso - und zwar die Dinge durchschauend - den Materialismus, wie ihn Rom durch die Unfehlbarkeit des Papstes befördert hat. Rom hat durch die Unfehlbarkeit einen Damm aufrichten wollen gegen das Hereinfließen von spirituellen Wahrheiten aus den geistigen Welten; jenes Zentrum fördert in bewußter Weise in der modernen Kulturwelt die Ausbreitung des Materialismus, die Ausbreitung materialistischer Vorstellungen innerhalb einer mehr oder weniger materialistischen Lebensführung. » Rudolf Steiner machte jedoch keine Angaben, wo genau dieses freimaurerisch Okkultzentrum zu lokalisieren sei und unter welcher institutionalisierten Form es physisch in Erscheinung trete.

Allerdings gibt es mit der «City of London» eine politisch-wirtschaftliche Entsprechung für diesen anglo-amerikanisch gefärbten okkulten Gesamtwillen. Die «City of London», eine globale Finanzdrehscheibe, bildet bis heute eine autonome politische Einheit innerhalb Großbritanniens. An der Spitze dieses Gebildes, das aufgrund der im Laufe der Jahrhunderte von der englischen Krone zugestandenen Privilegien über einen Status «sui generis» verfügt, steht der «Lord Mayor of London» als Oberhaupt der «City of London Corporation». Die City ist mit je einem Abgeordneten im britischen Unterhaus und im Regionalparlament von London vertreten. Das Wahlrecht für den «City of London's Court of Common Council» besitzen nicht nur die natürlichen Personen, sondern auch die dort ansässigen Finanz-und Wirtschaftsunternehmen.

Eine bedeutende, im gesellschaftlichen Leben verankerte Institution zur Pflege der anglo-amerikanischen Gemeinsamkeiten ist die im Juli 1902 in London gegründete «Pilgrim Society», der im Januar 1903 das amerikanische Standbein in New York folgte. Die Idee für den Namen stammte vom irisch-britischen Parlamentsmitglied James Burke Roche, Baron Fermoy (1852 —1 920), der nicht etwa die Pilgerväter der «Mayflower» (siehe Hinweis zu 5. 234 in GA 173b) im Sinne hatte, sondern die gegenseitigen Besuche von Angehörigen der britischen und amerikanischen Elite im jeweils andern Kontinent als Pilgerreisen zur Pflege der gegenseitigen Freundschaft betrachtete. Roche lebte in den Vereinigten Staaten und war von 1880 bis 1891, dem Jahr der Scheidung, mit Frances Ellen Work (1857-1 947), der Tochter eines reichen amerikanischen Börsengroßhändlers, verheiratet. Sie waren die Urgroßeltern von Diana Prinzessin von Wales. Joseph Hodges Choate (1832-1917), von 1899 bis 1905 amerikanischer Botschafter in Großbritannien, wirkte von 1912 bis 1917 als Präsident der Pilger-Gesellschaft. In seiner Rede vom 4. Februar 1913 gab er als Ziel seiner Gesellschaft an (zitiert nach: Anne Pimlott Baker, The Pilgrims of Great Britain. A Centennial History, London 2002, Chapter «A History of the Pilgrims»)«gegenseitiges Wohlwollen und Verbundenheit sowie bleibende Freundschaft und ewigen Frieden zwischen den Vereinigten Staaten und Großbritannien zu pflegen».' Choate gehörte zu den überzeugten Befürwortern eines amerikanischen Kriegseintrittes auf seiten der Entente, da diese eine gerechte Sache vertreten würden. Mitglied dieser Gesellschaft konnte nur werden, wer über eine entsprechende einflußreiche gesellschaftliche Stellung verfügte. Jedes britische Mitglied wurde zugleich auch als amerikanisches Mitglied und umgekehrt betrachtet. Der amerikanische Botschafter in London wie auch der britische Botschafter in Washington galt von Amtes wegen als Ehrenmitglieder der Gesellschaft. Die Kontakte zwischen den Mitgliedern werden im Rahmen von gesellschaftlichen Veranstaltungen zu Ehren von bestimmten Persönlichkeiten gepflegt.



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75 ist alles, was gerade Peter der Große als westliches Element nach Rußland gebracht hat, tief verhaßt: Die Rückkehr von Zar Peter I. (siehe Hinweis zu S. 73) aus Westeuropa im Jahre 1698 bedeutete für die russische Gesellschaft den Beginn einer neuen Ara, indem dieser zahlreiche rationalistisch geprägte Reformen westlichen Zuschnittes im religiösen, politischen, wirtschaftlichen und sozialen Bereich durchsetzte. Die Übernahme moderner wissenschaftlicher Erkenntnisse und Techniken, die Verminderung der Macht der Kirche, der Aufbau einer effizienteren Staatsverwaltung, die Modernisierung des Heerwesens, der Aufbau einer Flotte und die Förderung der Manufakturindustrie waren die wichtigsten von Peter angestrebten Reformziele. Ein äußeres Zeichen für seinen westlich orientierten Reformwillen war das von ihm verfügte Abschneiden der Bärte, das für alle Russen mit Ausnahme der Bauern und Geistlichen gelten sollte. Für die orthodox-gläubigen Russen war der Bart eine Zierde, die ihnen Gott verliehen hatte und damit ein Symbol ihres Glaubens und ihrer Selbstachtung. Dazu kam das Tragen westlicher Kleidungsstücke, das Peter der Führungsschicht der russischen Gesellschaft verordnete. Gleichzeitig schaffte Peter die byzantinische Zeitrechung ab und führte den Julianischen Kalender in Rußland ein. Diese Reformen verliefen nicht ohne Widerstand, und die russische Gesellschaft spaltete sich zunehmend in zwei getrennte Lebenskreise auf: die der westlichen Kultur gegenüber offene Stadt im Gegensatz zu dem in altrussischen Traditionen verharrenden Dorf. Dieser Gegensatz sollte weitgehend ungebrochen bis zur bolschewistischen Machtübernahmen andauern.

76 Und da muß ich eben wiederum hinweisen auf gewisse okkulte Bruderschaften des Westens: Siehe Hinweis zu 5. 31.

76 Nun ist bei einer solchen okkultistischen Richtung, die sich in Bruderschaften auslebt: Siehe Hinweis zu 5. 101 in GA 173b.

77 So wie einstmals das germanisch-englische Element, das germanisch-britische Element: Diese Auffassung findet sich ebenfalls bei Harrison in seiner Schrift «Das Transcendentale Weltenall» (siehe Hinweis zu 5. 31). Er schreibt (Zweiter Vortrag, zitiert nach der deutschen Übersetzung von 1897): «Vor der römischen Eroberung waren Gallier, Britannier und Germanen noch keine Nationen; sie hatten nur die Existenz von Volksstämmen. Ihre Besiegung und Einverleibung in das Römische Reich bezeichnete die Zeit ihres Säuglingsalters. Das römische Gesetz war ihre Amme und ihr Beschützer. Der Amme folgte der Vormund. Die Zerstörung des Römischen Reiches und die Erhebung des Papsttums bezeichneten die Periode der Kindheit oder den Beginn ihres intellektuellen Lebens. Die Jugendzeit mit ihren erweiterten Interessen und ausgedehnteren Reihe von Erscheinungen begann mit der Renaissance und endete mit der Reformation. Das Mannesalter des neuen Europa leitet sich vom 16. Jahrhundert her.»'In dieser deutschen Übersetzung des Grafen zu Leiningen-Billigheim, auf die sich Rudolf Steiner stützte, fällt auf, daß verschiedene Begriffe unscharf übersetzt wurden. So wird «period of infancy» mit «Zeit ihres Säuglingsalters» statt mit «Zeit



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ihres Kindesalters» übersetzt. Das Gleiche gilt für die Begriffe «nurse» und «tutor». Statt richtig «Kinderfrau» oder «Kindermädchen» heißt es «Amme» und statt «Privatehrer, Erzieher» wird der Ausdruck «Vormund» gebraucht. Eine Amme ist nämlich eine «wet nurse» und ein Vormund ein «guardian». Trotz dieser übersetzerischen Ungenauigkeiten wird die Aussagekraft des von Harrison verwendeten Bildes nicht grundsätzlich in Frage gestellt: Bestimmte Völker werden von anderen Nationen in Obhut genommen und in ihrer Entwicklung begleitet.

78 Er redet vom Einfluß des Milieus: Rudolf Eucken (1846-1926) war zu Lebzeiten Rudolf Steiners ein allgemein bekannter deutscher Philosoph. Nach dem Abschluß seiner Studien in Philosophie und klassischer Philologie, die er 1863 in Göttingen begonnen und 1866 mit einer Promotion beendet hatte, war er von 1867 an als Gymnasiallehrer in Berlin und in Frankfurt am Main tätig. Anschließend schlug er die universitäre Laufbahn ein: Von 1871 bis 1874 wirkte er als ordentlicher Professor für Philosophie und Pädagogik in Basel und dann bis zu seiner Emeritierung im Jahr 1920 als ordentlicher Professor für Philosophie in Jena. Von 1913 bis 1914 hielt er sich vorübergehend als Austauschprofessor in den Vereinigten Staaten auf. Eucken verfaßte zahlreiche Werke; für seine philosophischen Schriften erhielt er 1908 den Nobelpreis für Literatur. Eucken gehörte zu den Vertretern eines auf die Tat ausgerichteten Neuidealismus, und in diesem Sinne bejahte er die Existenz einer geistigen Welt. Allerdings war seine Weltsicht stark vom Protestantismus gefärbt. Rudolf Steiner dazu in «Die Rätsel der Philosophie» (Zweiter Band, Kapitel «Der moderne Mensch und seine Weltanschauung»): «So intensiv Eucken die Selbständigkeit und Wirklichkeit der Geisteswelt betont: was nach seiner Weltansicht die Seele an und mit dieser Geisteswelt erlebt, das erlebt sie mit dem Leibe. »In seiner Schrift «Zur Sammlung der Geister» (Leipzig 1913) setzte sich Eucken (Kapitel «Die Forderung der Gegenwart») auch mit dem Verhältnis von Einzelmensch und Gesellschaft auseinander. So schreibt er, ausgehend von der besonderen Begabung des deutschen Volkes zur Erkenntnis des Geistigen (Abschnitt «Der Mensch und die Welt nach deutscher Fassung»): «Zugleich läßt sich vom deutschen Leben aus eine hervorragende Stellung des Menschen und ein Wert seines Tuns verfechten ohne einen Rückfall in einen kindlichen Anthropomorphismus und eine Überschätzung des Menschen. Das aber aus dem Grunde, weil sich hier im Geistesleben, das im Menschen erscheint, eine neue Welt eröffnet und er zur selbständigen Mitarbeit am Ganzen dieser Welt berufen wird. Damit überschreitet er wesentlich alle bloße Natur, er kann nun der Welt, die von außen her auf ihn eindringt, eine Welt entgegenhalten und überlegen machen, welche von innen her in ihm aufsteigt. Wohl bleibt er zugleich ein Stück der Weltverkettung, und es behalten Natur und gesellschaftliche Umgebung eine gewaltige Macht über ihn, aber er ist dieser Macht nun nicht mehr wehrlos ausgeliefert; er kann sich gegen sie behaupten und auch in den Wechselfällen des Kampfes eine unvergleichliche Größe wahren. »

Eucken kannte Rudolf Steiner persönlich, lehnte aber die Anthroposophie ab. Auf die Frage von Ernst Boldt, wie er sich zur Anthroposophie stelle, antwortete er (zitiert nach: Ernst Boldt, Steiner und das Epigonentum, München 1923, II. Kapitel 2. Abschnitt, «Eine Diskussion mit Eucken»): «Durchaus ablehnend, entschieden ablehnend!» Eucken warf Rudolf Steiner vor, die geistige Welt zu verkennen: «Erfahrbar ist nur die materielle Welt, die geistige Welt kann nur gefühlsmäßig erahnt und denkerisch in Begriffen erfaßt werden. Wer sie erfahren oder wahrnehmen will, der vermaterialisiert sie, und wer auf diese Weise den Materialismus in die geistige Welt trägt, der ist eine große Gefahr für unsere Kultur, den dürfen wir nicht gewähren lassen, den müssen wir bekämpfen. »



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79 aus einem Briefe, den Mitrofanov, ein Geschichtsprofessor in Petersburg: Der von Rudolf Steiner erwähnte Offene Brief über das Verhältnis von Rußland und Deutschland von Mitrofanov findet sich in der in Berlin 1915 erschienenen Schrift von Hans Delbrück, «Die Motive und Ziele der russischen Politik nach zwei Russen (Prof. y. Mitrofanoff und Fürst Kotchubeij)». Ursprünglich hatte Hans Delbrück (1 848 —1 929), ein angesehener deutscher Historiker und politischer Publizist, diesen am 25/12. April 1914 verfaßten Brief im Juni-Heft der «Preußischen Jahrbücher» (156. Band) veröffentlicht. Im Hinblick auf eine erneute Publikation schrieb Delbrück, der von 1896 bis 1921 als Nachfolger Heinrich Treitschkes (siehe Hinweis zu 5. 242 in GA 173b) als ordentlicher Professor für Geschichte an der Universität Berlin wirkte und als anti-imperialistisch eingestellter, sozial aufgeschlossener Konservativer politisch sehr engagiert war: «Die wiederholte Publikation rechtfertigt sich einmal dadurch, daß das Juni-Heft der <Preußischen Jahrbüchern mit dem Offenen Brief des Professors von Mitrofanov schon seit längerer Zeit vergriffen ist und noch immer verlangt wird, dann aber auch weil für den zukünftigen Frieden eine eindringende Kenntnis der russischen Wünsche und Bestrebungen für uns von hohem Wert [...] ist.»Pavel Pavlovic Mitrofanov (Paul von Mitrofanoff, 1873-1917), ein auch in Deutschland bekannter russischer Historiker, hatte nicht nur an der Universität St. Petersburg, sondern eine Zeitlang auch an der Universität Berlin studiert. Nach seinem Studium wirkte er bis zu seinem frühen Tode im Jahre 1917 als Privatdozent für Geschichte an der Universität St. Petersburg. Gleichzeitig übernahm er als Professor für Geschichte weitere Lehraufgaben an der Frauenuniversität und am Historisch-Philologischen Institut. Er war ein besonderer Kenner der österreichischen Geschichte. Das von ihm verfaßte Standardwerk über Kaiser «Joseph II. Seine politische und kulturelle Tätigkeit» (Wien/Leipzig 1910) —eine Übersetzung der russischen Originalausgabe von 1907 — war im deutschen Sprachraum weit verbreitet.

Mitrofanov war aufgrund seines Berliner Aufenthaltes mit Prof. Delbrück befreundet; kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs hatte er ihn in Berlin besucht. Delbrück in seinem «Nachwort zu Mitrofanoff»: «Noch Mitte Juli hat Herr von Mitrofanov selbst mich besucht, zwei Abende an meinem Tisch gesessen, und als gute persönliche Freunde haben wir die Feindschaft zwischen unseren beiden Nationen durchgesprochen und immer wieder durchgesprochen. [...] Diese souveräne Überlegenheit des Humors schlug auch in jenen Gesprächen immer wieder die Brücke über den Abgrund des Hasses, den wir doch sich zwischen uns auftun sahen.» Delbrück, ganz betroffen über die Haltung seines russischen Freundes: «So also denkt ein Russe, der ganz und gar von deutscher Bildung durchdrungen ist und als Gelehrter weiß, was er und die Welt dem Deutschtum verdanken. Wie falsch ist doch die Vorstellung, daß die Völker sich bloß besser kennenzulernen brauchen, um Haß und Argwohn zwischen ihnen schwinden zu machen/Alles Ableugnen, daß das russische Volk von einer tiefen inneren Feindseligkeit gegen uns erfüllt ist [.1. ist gegenüber diesem Zeugnis des Professors von Mitrofanov vergeblich. » Und weiter: «Der Bri ef ist vor allem ein Stimmungsbild und ein Zeugnis. Die Kraft der Rede, die historische Vertiefung, der geschlossene Aufbau der Gedanken geben diesem Zeugnis objektiv ebenso viel Gewicht, wie subjektiv die Person des Verfassers. Das Ergebnis ist. Die Russen hassen uns von vornherein in unserem deutschen Volkstum und sie kündigen uns den Krieg an, wenn wir ihnen nicht gestatten, den Türken die Pforten des Schwarzen Meeres zu entreißen und die südslawischen Volksstämme aus dem Gefüge der habsburgischen Monarchie herauszulösen, das österreichisch-ungarische Reich also zu zertrümmern.» Die Schlußfolgerung Delbrücks: «Sieht Rußland es



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als seine Mission an, Europa und Asien zu beherrschen - nun wohl, so sehen wir es als die Mission Deutschlands an, Europa und Asien vor dieser Herrschaft des Moskowitertums zu bewahren. Eine andere Antwort vermag ich meinem verehrten Freunde Professor von Mitrofanov nicht zu geben. » Und resigniert stellt er fest: «Wie ist es möglich, so fragt sich der Deutsche immer wieder, daß sich so die höchste Bildung und vornehmste Lebensart in einem Menschen vereinigen kann mit dem schrankenlosesten moskowitischen Fanatismus!»

79 Mitte April 1914 geschrieben hat: Rudolf Steiner gab laut Stenogramm als Datum von Mitrofanovs Brief den Mai 1914 an, also «Mitte Mai 1914». Mitrofanov datierte aber seinen Brief mit «12. April 1914». Selbst wenn man davon ausgeht, daß er sich dabei nach dem Julianischen Kalender gerichtet hat (nach 1900 Rückverschiebung um 13 Tage im Vergleich zum Gregorianischen Kalender), wäre der Brief immer noch im April, allerdings gegen Ende April, verfaßt worden. Es handelt sich offensichtlich um einen Irrtum Rudolf Steiners, der insofern erklärlich ist, als Delbrück in seiner Schrift davon spricht, daß er diesen Brief bereits Ende Mai 1914, im Juni-Heft der «Preußischen Jahrbücher», publiziert habe.

79 der größte politische Fehler Bismarcks: Der russische Außenminister Gorcakov (siehe Hinweis zu 5. 35) war vom Ergebnis des Berliner Kongresses (siehe Hinweis zu 5. 79) sehr enttäuscht. Rußland mußte zwar im Vergleich zum Frieden von San Stefano zurückstecken, aber es erhielt doch wichtige territoriale Zugeständnisse. Sie erschienen ihm aber nur als geringes Entgelt für den militärischen Sieg Rußlands im Krieg gegen die Türkei. Gorcakov verließ den Kongreß mit bitteren Gefühlen gegen den deutschen Reichskanzler Otto von Bismarck (siehe Hinweis zu 5. 221). Er hatte den Eindruck, daß dieser die russischen Interessen zu wenig nachdrücklich unterstützt und Rußlands wohlwollende Neutralität im Deutsch-Französischen Krieg mit Undank vergolten hätte. In Rußland reagierte die panslawistisch orientierte Presse heftig, was schließlich zu einer scharfen Polemik zwischen russischen und deutschen Blättern führte.Der großen Enttäuschung Rußlands gab Zar Alexander II. in einem Brief an Kaiser Wilhelm I. vom 15.13. August 1879 Ausdruck; er warf Deutschland eine einseitige Unterstützung des österreichischen Standpunkts vor. In dem sogenannten «Ohrfeigenbrief» schrieb er (zitiert nach: Johannes Lepsius, Herausgeber, Die große Politik der europäischen Kabinette 1871-1914. Sammlung der diplomatischen Akten des Auswärtigen Amtes, 3. Band, Das Bismarck'sche Bündnissystem, Berlin 1922), indem er sich über die antirussische Haltung der deutschen Vertreter im Osmanischen Reich beklagte: «Nun, wie läßt sich diese Haltung der deutschen Diplomaten erklären, die uns gegenüber im Orient immer feindlicher gesinnt ist, wo, laut der Aussage von Fürst Bismarck selbst, Deutschland keine eigenen Interessen zu wahren hat, während wir dort sehr ernste hegen.»' Das würde sich im Konflikt mit der Türkei über die noch strittigen Fragen bei der Umsetzung des Berliner Vertrages für Rußland sehr ungünstig auswirken. Das zeige sich am Verhalten der europäischen Schiedskommissare: «Jene von Frankreich und Italien schließen sich in fast allen Fragen unserem Gesichtspunkt an, während jene von Deutschland die Losung erhalten zu haben scheinen, immer den Standpunkt der Österreicher zu unterstützen, der unserem grundsätzlich feindlich gesinnt ist - und das in Fragen, die Deutschland in nichts interessieren, die aber für uns sehr wichtig



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sind. »1 Und er erklärte ganz offen: «Verzeihen Sie mir, mein geliebter Onkel, die Offenheit meiner Rede, die durchaus auf Tatsachen beruht. Ich glaube aber, es ist meine Pflicht, Ihre Aufmerksamkeit auf die traurigen Folgen für unsere guten Nachbarschaftsbeziehungen zu lenken, indem unsere beiden Nationen gegeneinander aufgebracht werden, wie man es bereits allmählich bei der Presse in den beiden Länder feststellen kann. Ich sehe darin das Werk unserer gemeinsamen Feinde, die das Bündnis zwischen den drei Kaisern nicht verwinden konnten. »2 Weiter: «Ich verstehe vollständig, daß Sie Wert darauf legen, Ihre guten Beziehungen zu Österreich zu bewahren, aber ich glaube nicht, daß es im Interesse Deutschlands liegt, jene mit Rußland aufs Spiel zu setzen. Ist es einem wahren Staatsmann wirklich würdig, wenn er es zuläßt, daß sich in das ausgewogene Verhältnis ein persönlicher Streit einmischt, handelt es sich doch um das Interesse von zwei Großmächten, die dazu veranlagt sind, in gutem Einvernehmen miteinander zu leben, und von denen die eine der anderen im Jahre 1870 einen solchen Dienst erwiesen hat, den diese, nach Ihren eigenen Worten, nie vergessen wird. Ich hätte mir nicht erlaubt, Ihnen diese Dinge in Erinnerung zu rufen, aber die Umstände sind zu schwerwiegend, als daß ich Ihnen meine Befürchtungen verbergen könnte, die mich beschäftigen und deren Folgen sich für unsere beiden Länder verheerend auswirken könnten. Daß Gott uns davor bewahren und Euch inspirieren möge!» 3 Bismarck bemerkte dazu in einem Schreiben an dem deutschen Kaiser am 24. August 1879 (gleicher Ort): «Indem ich Eurer Majestät das Schreiben des Kaisers Alexander ehrfurchtsvoll zurückreiche, kann ich mein Bedauern darüber, daß dasselbe überhaupt geschrieben hat werden können, nicht unterdrücken. Die Worte, mit welchen der Kaiser fortfährt, Eurer Majestät seiner Freundschaft zu versichern, verlieren ihre Bedeutung neben den unverhüllten Drohungen, von denen sie für den Fall begleitet sind, daß Eure Majestät die Rücksicht auf Österreich und England nicht aufgeben und die eigene Politik der russischen nicht ausschließlich unterordnen wollen. Wenn dieser Brief bekannt würde, so würde die ganze Welt sich auf baldigen Bruch zwischen Deutschland und Rußland gefaßt machen, denn zwischen Monarchen, welche überhaupt in der Lage sind, über Krieg und Frieden zu bestimmen, ist eine solche Sprache der regelmäßige Vorläufer eine Bruchs [...].»

Die gegenseitige Verstimmung ging schließlich so weit, daß die Zusammenarbeit zwischen den drei Monarchen Zar Alexander II., Kaiser Franz Joseph J. und Kaiser Wilhelm J. — auf der Grundlage des am 22./10. Oktober 1873 in Schönbrunn



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abgeschlossenen Dreikaiserbundes -vorläufig unterbrochen wurde. Diese wurde erst wieder mit dem Abschluß des Dreikaiserabkommens von Berlin am 18/6. Juni 1881 (siehe Anhang II, «Historische Dokumente», in GA 173c) neu belebt, das drei Jahre später erneuert wurde. Dieser geheim gehaltene Vertrag beruhte auf dem Versprechen der gegenseitigen wohlwollenden Neutralität im Konfliktfall. Drei Jahre später wurde das Dreikaiserabkommen um drei Jahre verlängert, aber das russische Mißtrauen gegenüber Österreich, genährt durch die österreichische Unterstützung für den bulgarischen Fürsten Alexander von Battenberg (siehe Hinweis zu 5. 32), verhinderte eine weitere Verlängerung des Abkommens, so daß dieses am 18. Juni 1887 auslief.

79 auf dem Berliner Kongreß.. Das Hauptproblem im Hinblick auf den geplanten internationalen Friedenskongreß in Berlin war die Beilegung der Spannungen zwischen Rußland auf der einen und Österreich-Ungarn und Großbritannien auf der anderen Seite. Die beiden Staaten hatten Einspruch gegen die Bestimmungen des Friedens von San Stefano (siehe Hinweis zu 5. 66) erhoben; sie sahen das Mächtegleichgewicht zugunsten Rußlands gestört. Um der geplanten Konferenz zu einem Erfolg in ihrem Sinne zu verhelfen, blieb die britische Diplomatie nicht untätig. Der neue britische Außenminister Lord Salisbury (siehe Hinweis zu 5. 238) schloß vorgängig drei Geheimkonventionen. Am 30./18. Mai 1878 wurde das Geheimabkommen von London zwischen Rußland und Großbritannien geschlossen, in dem sich Rußland bereit erklärte, einer Verkleinerung Bulgariens, verbunden mit einem Verzicht auf einen Zugang zum Mittelmeer, zuzustimmen. Als Vermittler diente der russische Botschafter in London, Graf Suvalov (siehe Hinweis zu 5. 80), der große Gegenspieler von Ignatev. Am 4. Juni 1878 folgte das Abkommen von Konstantinopel, in dem Großbritannien der Türkei militärischen Beistand im Falle eines russischen Angriffs auf ihre asiatischen Besitzungen versprach. Als Gegenleistung erhielt es das Protektorat über die Insel Zypern. Diese Erwerbung war insofern von großer Bedeutung, als Großbritannien im Jahre 1875 die Mehrheit der Suezkanal-Aktien vom ägyptischen Khediven gekauft hatte (siehe Hinweis zu 5. 261 in GA 173b). Am 6. Juni 1878 folgte das Geheimabkommen von London mit Österreich-Ungarn, in welchem dieses versprach, die britischen Bestrebungen für die Verhinderung von Großbulgarien zu unterstützen. Als Gegenleistung sagte Großbritannien die wohlwollende Unterstützung der österreichischen Absichten auf Bosnien-Herzegovina zu.Am 13Juni 1878 traten die Vertreter der sieben Großmächte Deutschland, Österreich-Ungarn, Rußland, Türkei, Großbritannien, Frankreich und Italien in Berlin zusammen. Am 13. Juli 1878 wurden die Friedensakte unterzeichnet. Die Souveränität und Unabhängigkeit der drei Balkanfürstentümer Rumänien, Serbien und Montenegro wurden anerkannt und ihre Herrschaftsgebiete wurden auf Kosten des Osmanischen Reiches vergrößert. Im Vergleich zum Frieden von San Stefano mußte Bulgarien die meisten seiner Gebietsansprüche aufgeben; es selbst blieb dem Osmanischen Reich gegenüber tributpflichtiges Fürstentum, und Südbulgarien wurde wieder von Bulgarien abgetrennt und erhielt unter dem Namen «Ostrumelien» bloß den Status einer autonomen türkischen Provinz. Als «Rumelien» wurde ursprünglich die Gesamtheit der vom Osmanischen Reich annektierten europäischen Territorien bezeichnet. Diese massive Zurückstufung Bulgariens wurde in Rußland als Niederlage für die russischen Interessen empfunden. Rußland selber aber erlangte den Südwestteil von Bessarabien, den es im Krim-Krieg an Rumänien verloren hatte, zurück. Österreich-Ungarn wurde mit der Besetzung Bosnien-Herzegovibetraut, allerdings unter Anerkennung der türkischen Souveränität. Außerdem wurde ihm das Recht zur militärischen Besetzung Makedoniens zugestanden. Und



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Großbritannien seinerseits hatte sich ja noch vor dem Berliner Kongreß die Abtretung der Insel Zypern gesichert.

80 die russischen Staatsmänner, die damals auf dem Berliner Kongreß waren: An der Spitze der russischen Delegation stand der russische Außenminister, Fürst Aleksandr Michailovic Gorcakov (siehe Hinweis zu 5. 35). Unterstützt wurde er vom russischen Botschafter in Berlin, Baron Paul d'Oubril (1820-1896), und vom russischen Botschafter in London, Graf Piotr Andreevic Suvalov (1827-1889). D'Oubril war von 1863 bis 1879 als russischer Gesandter in Preußen beziehungsweise nach der Einigung im Deutschen Reich tätig. Suvalov wirkte zunächst von 1874 bis 1879 als Vertreter seines Landes in London und von 1885 bis 1894 in Berlin.

80 was als Dreibund in Mitteleuropa entstand: Siehe Hinweis zu 5. 173.

80 wurde der Zweibund geschlossen: Siehe Hinweis zu 5. 173.

80 durch die beiden türkischen Meerengen: Siehe Hinweis zu 5. 247 in GA 173b.

80 der letzte türkisch-italienische Krieg: Siehe Hinweis zu 5. 115 in GA 173b.

81 was ich über das Slawische Wohltätigkeitskomitee am Montag gesagt habe: Im Vortrag vom 4. Dezember 1916 (in diesem Band), wo Rudolf Steiner die verdeckte politische Wühlarbeit des Slawischen Wohltätigkeitskomitees erwähnte (siehe Hinweis zu 5. 32).

81 In Österreich hält man auch den Drang nach Süden für eine historische Notwendigkeit: Dieser Drang nach Süden in Richtung des Balkans war eine Folge der Verdrängung der Habsburger-Monarchie aus Deutschland und Italien (siehe Hinweis zu 5. 254 in GA 173b). Die Okkupation und Annexion Bosnien-Herzegovinas war eine der Folgen dieser außenpolitischen Neuorientierung Österreich-Ungarns.

81 Nachdem Jahre 1866 ist nur noch der letzte Weg übriggeblieben: Nach der Niederlage Österreichs gegen Preußen im Deutschen Krieg - er dauerte vom 15. Juni bis 26. Juli 1866 —und dem darauf folgenden Friedensschluß von Prag am 23. August 1866 mußte die Habsburgermonarchie der von Preußen und seinem Ministerpräsidenten Otto von Bismarck geforderten politischen Neuordnung Deutschlands ohne Österreich zustimmen. Im Frieden von Wien verpflichtete sich Österreich am 3. Oktober 1866 zur Abtretung Venetiens an Italien. Damit blieb als einzige Richtung für eine territoriale Ausdehnung Österreich-Ungarns der Balkan offen. Die Balkangebiete standen damals noch weitgehend unter der Herrschaft des Osmanischen Reiches. An diesen Gebieten hatte aber auch Rußland ein großes machtpolitisches Interesse.

82 Die Annexion von Bosnien und Herzegovina: Siehe Hinweis zu 5. 141.

82 Die Türken wurden aufs Haupt geschlagen: Siehe Hinweis zu 5. 262 in GA 173b.

82 deutsche Instruktoren drillten die Feldarmee der Osmanen: Seit 1882 waren deutsche Offiziere als Militärberater in der osmanischen Armee tätig. Da diese für den Kauf moderner deutscher Waffen warben, erhielten deutsche Firmen immer wieder bedeutende Rüstungsaufträge. Nach der Niederlage der türkischen Armeen im Balkankrieg erfolgte am 22. Mai 1913 die offizielle Bitte des Osmanischen Reiches um die Entsendung einer deutschen Militärmission. Am 30. Juni 1913 wurde der deutsche Offizier Liman von Sanders (1855-1929) zum Befehlshaber der deutschen Militärmission in Konstantinopel ernannt; am 27. November 1913 wurde ein Vertrag mit der osmanischen Regierung unterzeichnet, durch den er mit dem



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Mit der Reorganisation der Armee beauftragt, gelang es von Sanders innerhalb weniger Monate - trotz seiner bloß beratenden Funktion -, die Schlagkraft der osmanischen Armee entscheidend zu stärken. Als mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs aufgrund der vertraglichen Abmachungen die Rückberufung der deutschen Offiziere anstand -die Türkei war nach außen neutral -schloß die Türkei am 2. August 1914 einen geheimen Allianzvertrag mit dem Deutschen Reich, so dass die Deutsche Militärmission im Lande verbleiben konnte. Am 27. September 1914 sperrte die Türkei die Meerengen für die internationale Schiffahrt und erklärte am 12. November 1914 der Entente den Krieg. General von Sanders übernahm nun auch das Kommando über große türkische Truppenteile. So gehörte es zu seinen Verdiensten, daß der Invasionsversuch der Ententemächte auf der türkischen Gallipoli-Halbinsel von 1915 erfolgreich zurückgeschlagen und das Vordringen der britischen Truppen durch Palästina verzögert werden konnte. Nach dem Abschluß des Waffenstillstandes von Mudros am 30. Oktober 1918 wurde General von Sanders mit der Rückführung der deutschen Truppen aus der Türkei beauftragt, jedoch 1919 von den Engländern vorübergehend in Kriegsgefangenschaft genommen.

82 Dann wird allerlei ausgeführt: Dem Abdruck von Mitrofanovs Brief fügte Delbrück ein Nachwort bei, in dem er den weiteren Verlauf seiner Gespräche mit Mitrofanov anläßlich seines Berliner Besuches im Juli1914 schildert.

84 Worauf beruhte denn das Vorgehen eines solchen Staates wie Rumänien: Rumänien, das sich von Rußland bedroht fühlte, war seit dem 30. Oktober 1883 durch einen Geheimvertrag mit Österreich-Ungarn und aufgrund der sogenannten «Akzidenzakten» auch mit Deutschland und Italien verbunden. Es handelte sich um ein Verteidigungsbündnis zwischen Rumänien und dem Dreibund. Der Vertrag wurde regelmäßig alle fünf Jahre erneuert -trotz der immer stärker werdenden irredentistischen Bestrebungen in Rumänien, die den Anschluß der unter ungarischer Herrschaft stehenden rumänischen Siedlungsgebiete - des Banats, Siebenbürgens und der Bukowina -forderten. Bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs erklärte sich Rumänien am 3. August 1914 gegen den Widerstand von König Carol I. (siehe Hinweis zu 5. 34) für neutral, da es den Bündnisfall als nicht gegeben betrachtete. Rumänien wurde von beiden Kriegslagern umworben. Am 1. Oktober 1914 unterzeichnete Rumänien mit Rußland einen Geheimvertrag: Rumänien verpflichtete sich zur Neutralität gegenüber Rußland, wofür dieses sich bereit erklärte, ein Groß-Rumänien anzuerkennen. Nach dem Tode Königs Carol I. im Oktober 1914, der bisher als Garant gegen einen Übertritt ins Lager der Entente gegolten hatte, übernahm Ferdinand I. (siehe Hinweis zu 5. 34) die Herrschaft. Obwohl er als Mitglied der Hohenzollern-Dynastie in Deutschland aufgewachsen war und auch dort studiert hatte, zeigte er sich immer mehr für die politische Richtung seiner von der britischen Kultur geprägten Gattin offen, die für die Sache der Entente eintrat. Dies war insofern verständlich, als Königin Maria (vorher Prinzessin von Edinburgh, 1875 —1 938) aus dem englischen Zweig des Hauses Sachsen-Coburg-Gotha stamm-



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84 Eine wirkliche Historie muß symptomatisch vorgehen: Diese Forderung hatte Rudolf Steiner verschiedentlich aufgestellt, zum Beispiel im Dornacher Mitgliedervortrag vom 18. Dezember 1916 (in GA 172), wo er seinen Zuhörern klarmachte: «Sehen Sie, dara uf kommt es eben an: Wenn Sie Geisteswissenschaft in der richtigen Art treiben, dann finden Sie durch Imagination die Punkte im Leben heraus, die Sie zusammenschauen müssen, damit sich Ihnen das Leben enthüllt, während Sie sonst das Leben verfolgen können, Ereignis nach Ereignis betrachten und nichts verstehen können vom Leben, wie es etwa die Historiker der Gegenwart machen, die von Ereignis zu Ereignis ihre Fäden ziehen, aber nichts verstehen vom Leben, weil es darauf ankommt, symptomatisch die Welt zu betrachten. Und das wird immer mehr und mehr notwendig werden, die Welt symptomatisch zu betrachten, das heißt so zu betrachten, daß man den Blick an die richtigen Stellen hinwendet und von den richtigen Stellen aus die Verbindungslinien zieht zu anderen Dingen. » Umfassende Äußerungen zur symptomatischen Methodik (siehe auch Hinweis zu 5. 103 in GA 173b) finden sich in den Dornacher Mitgliedervorträgen vom 18. Oktober bis 13. November 1918, die unter dem Titel «Geschichtliche Symptomatologie» (GA 185) im Rahmen der Gesamtausgabe erschienen sind.

84 Äußerungen, die der rumänische Minister des Innern im Jahre 1913, Take lonescu: In seiner Schrift «Der Gegensatz zwischen Österreich-Ungarn und Rußland» (Stuttgart/Berlin 1915) schreibt Alexander Redlich (Kapitel «Die Balkanpolitik Österreich-Ungarns und Rußlands»): «Ich hatte aber persönlich bei meinem Aufenthalt in Bukarest während der Friedensverhandlungen im Sommer 1913 [der Friedensvertrag von Bukarest wurde am 1. August 1913 abgeschlossen] den Eindruck, daß sowohl die unwahren Angaben über mangelndes Entgegenkommen Österreich-Ungarns während der Krise -[sie führte zum zweiten Balkankrieg vom Juni bis Juli 1913] — wie auch die Hinweise auf die unterdrückten ungarischen Rumänen nur Ausflüchte waren und daß vielmehr die Überzeugung von der Schwäche der Monarchie und von ihrem bevorstehenden Zerfall das ausschlaggebende Moment gewesen ist. Hat mir doch der damalige Minister des Innern, Take Ionescu, mit dürren Worten ins Gesicht gesagt, daß nach seiner Meinung Österreich-Ungarn kaum länger existieren werde, als der alte Kaiser lebe. Das waren die wirklichen Gedanken der großen Mehrheit rumänischer Politiker. »Der Journalist Alexander Redlich (1884-1932) stammte ursprünglich aus Böhmen, das damals zum zisleithanischen Reichsteil der österreichisch-ungarischen Monarchie gehörte. Er studierte in Wien und promovierte in Geschichte. Seine journalistische Laufbahn begann er in Berlin als Assistent von Paul Goldmann, dem langjährigen Korrespondenten der Wiener «Neuen Freien Presse» in der deutschen Hauptstadt. Von 1917 an war er als politischer Redakteur bei der «Vossischen Zeitung» tätig, die seit 1914 zum «Ullstein»-Verlagsimperium gehörte. Seit 1918 übernahm er zusätzlich den Posten eines stellvertretenden Chefredaktors. Redlich war für die außenpolitische Ausrichtung dieser Zeitung nach dem Krieg bestimmend. Ein Journalistenkollege erinnert sich (zitiert nach: Moritz Goldstein, Vom Leben



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und Sterben der Vossischen Zeitung, in: Hundert Jahre Ullstein 1877-1977, Band II, Frankfurt a. M./Berlin 1977): «Die <Vossische Zeitungs vertrat die sogenannte Verständigungspolitik, das heißt den Versuch, durch Verständigung mit Frankreich und weitgehende Erfüllung seiner Forderungen zu einer Art Interessengemeinschaft zu gelangen, die sich gegen England als den wahren Feind richten sollte. » Goldstein schätzte Redlich nicht besonders: «Einen nicht minder breiten Schatten warf Alexander Redlich. Seine redaktionelle Stellung war die eines Leiters der gesamten Politik. [...]. In Bernhards Abwesenheit leitete er die Redaktionskonferenzen - sachlich, wie er von sich gedacht haben wird, aber in Wahrheit unpersönlich und ledern, gelegentlich, wenn er auf Widerstand stieß, unnötig gereizt. Er schrieb viel für die <Vossische Zeitungs, umfangreiche und anspruchsvolle Leitartikel; für meinen Geschmack doktrinär und ohne jeden stilistischen Reiz. Er sprach fließend Französisch und pflegte jeden Morgen telefonisch mit dem französischen Botschafter in Verbindung zu treten. Ich halte es durchaus für möglich, daß der Stolz auf diese Sprachkenntnis und die Sucht, damit zu glänzen, die eigentliche Triebfeder seiner Verständigungspolitik war. In Alexander Redlich verehre ich ein Prachtexemplar meiner Kollektion von Menschen, die eine Rolle spielen, bloß weil sie über die entsprechende Erfolgsbegabung verfügen, ohne eine Spur von innerer Berechtigung. » Der von Goldstein erwähnte Georg Bernhard (1875 —1 944) war von 1914 bis 1933 Chefredaktor der «Vossischen Zeitung» und damit Redlichs Vorgesetzter; seit 1916 zugleich Dozent an der Berliner Handelshochschule wurde er schließlich wegen seiner jüdischen Abstammung ins Exil gezwungen. Wegen seiner pro-französischen Haltung wurde Redlich im Jahre 1920 nahegelegt, seinen Posten als stellvertretender Chefredaktor bei der «Vossischen Zeitung» aufzugeben, aber er wirkte nach wie vor als politischer Redakteur. So berichtete er auch über die Friedensverhandlungen in Versailles. 1923 übernahm er die Leitung der neu gegründeten, hauseigenen Nachrichtenagentur, der «Ullstein Nachrichtendienst G.m.b.H.». Gegen Ende dieses Jahres kehrte er wieder nach Wien zurück, von wo aus er - als guter Kenner der Balkanverhältnisse -den ost- und südosteuropäischen Dienst des Nachrichtenbüros betreute. 1932 starb er überraschend an einem Herzschlag.

Take (Tahe) Ionescu (1858-1922) gehörte als konservativ-demokratischer Politiker zu den einflußreichen Staatsmännern Rumäniens. In erster Ehe mit einer Engländerin verheiratet, zeichnete er sich sein Leben lang durch eine ausgeprägte Sympathie für Großbritannien aus. Ursprünglich ein erfolgreicher Rechtsanwalt, war Ionescu als Publizist und Politiker tätig. Mehrere Male Minister in konservativen Regierungen - Kultusminister von 1891 bis 1895 und von 1899 bis 1900, Finanzminister von 1900 und von 1904 bis 1907 —begründete er 1908 eine eigene Partei, die Konservativ-Demokratische Partei, und eine eigene Bewegung, den «Takismus», der die Interessen des aufstrebenden Mittelstandes vertrat. Für demokratische Reformen eintretend, befürwortete er die Schaffung eines großrumänischen Staates durch den Anschluß der in Ungarn lebenden Rumänen. Auch trat er für die Idee einer Balkanföderation ein. Schließlich wurde Ionescu erneut mit Regierungsverantwortung betraut: Vom Oktober 1912 bis Dezember 1913 bekleidete er das Amt eines Innenministers. Gegenüber dem französischen Präsidenten Raymond Poincaré (siehe Hinweis zu 5. 54) hatte er anläßlich eines Besuchs in Paris am 9. Dezember 1913 erklärt (zitiert nach: Theodor Wolff, Der Krieg des Pontius Pilatus, Zürich 1934, Teil I, «Der große Götze», IV. Kapitel): «Ich weiß nichts von irgendwelchen Verträgen, aber was ich weiß, ist, daß die rumänische Armee sich nicht im Lager Ihrer Feinde befinden wird, und dessen bin ich absolut gewiß. » Als Magyarenhasser konnte er sich eine Waffenbrüderschaft zwischen Ungarn und Rumänien nicht vorstellen. Nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs stellte er sich



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auf die Seite der Befürworter eines rumänischen Kriegseintritts auf der Seite der Ententemächte, der schließlich 1916 erfolgte (siehe Hinweis zu S. 24). Nach der Niederlage der rumänischen Truppen und dem Rückzug des Königs nach Iasi, der Hauptstadt der Moldau, des unbesetzten rumänischen Restgebietes, wurde er als Minister ohne Geschäftsbereich von 1917 bis 1918 erneut Mitglied der Regierung. Allerdings verlor er in dieser Zeit viel von seiner Popularität, weil er als einer der Verantwortlichen für die rumänische Niederlage betrachtet wurde. In einem Zeitungsbericht zur «Stimmung des rumänischen Volkes» nach der großen Niederlage gegen die Truppen der Mittelmächte heißt es (zitiert nach: «National-Zeitung» vom 11. Dezember 1916, 75. Jg. Nr. 867): «Aber immer schärfer kommt im Volke die Überzeugung zum Ausdrucke, daß eine kleine Zahl bestochener Politiker die große Mehrheit in das Abenteuer dieses für Rumänien verhängnisvollen Krieges getrieben habe. Take Ionescu, die Ionescus überhaupt, werden als die schlimmsten Treiber dieser Bewegung genannt [...]. Schwer werden auch der König [Ferdinand I., siehe Hinweis zu S.32]und mehr noch die von jeher mit der Entente liebäugelnde Königin [Maria von Edinburgh, siehe Hinweis zu 5. 84]beschuldigt. Die Kriegshetzer hätten es allgemein als völlig sicher erklärt, daß Deutschland in den Krieg Rumäniens mit Österreich eingreifen, Rumänien aber ein ungeheures Russenheer als Hilfe erhalten werde. » Nach dem Kriege aber unermüdlich für eine territoriale Vergrößerung Rumäniens werbend, gelang Ionescu am Ende doch die politische Rückkehr: Vom Juni1920 bis Dezember 1921 war er Außenminister und anschließend noch für kurze Zeit, vom Dezember 1921 bis Januar 1922, Ministerpräsident. Nach seinem Sturz verlor er jeden politischen Einfluß. Mit ihm fand auch die von ihm inspirierte Bewegung des Takismus ein Ende.

85 In einem Brief, den ein anderer Russe geschrieben hat: Es handelt sich um einen Aufsatz aus der Feder von Viktor Fürst Kocubej, der erstmals in der Pariser Halbmonatsschrift «Le Correspondant» vom 25. Juni 1914 (XVI. Jg. Nr. 12) erschienen war. Er trug den Titel «Le probleme de la triple-entente. Le point de vue russe» und wurde von Hans Delbrück in deutscher Übersetzung zusammen mit Mitrofanovs Offenem Brief in seiner Schrift «Die Motive und Ziele der russischen Politik nach zwei Russen» (siehe Hinweis zu 5. 79) noch einmal abgedruckt, allerdings unter Angabe des falschen Datums «26. Juni 1914». Die Zitate sind der Schrift von Delbrück entnommen. In seinem vollen Wortlaut heißt das Zitat: «Was die russisch-deutsche Annäherung betrifft, so muß ich gestehen, um wirklich vollständig unparteiisch zu sein, daß sie nicht die gleiche Gefahr darstellen würde. Rußland ist vor allem ein junges Land; seine Bevölkerung verdoppelt sich in weniger als fünfzig Jahren; im Osten kann es sich auf natürliche Weise bis an die Küsten des Pazifik ausdehnen, und dort bietet sich ihm eine beinahe unbeschränktes wirtschaftliches und politisches Aktionsfeld. Und das war übrigens auch die Perspektive, mit der der russische Imperialismus vor dem Krieg mit Japan rechnete. Diese Durchdringung des Ostens, ermutigt durch Deutschland, hätte sich unweigerlich ergeben, wenn Rußland all seine ökonomischen und militärischen Kräfte diesem Ziel gewidmet hätte, und das hätte bedeutet: auf seine Allianz mit Frankreich zu verzichten zugunsten einer Annäherung an Deutschland - oder eben andernfalls das Programm einer Expansion in den Osten aufzugeben. Die deutsche Regierung, vollständig orientiert über die Problematik, die sich Rußland stellte, verwendete die verschiedensten und ausgeklügeltsten Mittel, um Rußland die Eroberung Asiens schmackhaft zu machen, um im Austausch die vollständig Handlungsfreiheit für Deutschland in Europa zu erlangen. <Der Admiral des Atlantischen Ozeans grüßt den Admiral des Pazifischen Ozeans.>Die Verwirklichung dieses Grußes oder eher dieses Wunsches des deutschen



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Dazu die Einschätzung Delbrücks: «Im Unterschied zu der Offenheit Mitrofanovs sucht Kocubej den Grund des heraufziehenden Kriegsgewitters nicht in dem Streben Rußlands nach der Herrschaft auf dem Balkan und in Konstantinopel, sondern in dem Expansionsbedürfnis Deutschlands. Er glaubt, Deutschland müsse einerseits seiner inneren Schwierigkeiten Herr zu werden suchen durch einen auswärtigen Krieg, andererseits fordere das Wachsen seiner Industrie neue Absatzmärkte. » Und: «So grundverkehrt viele der Behauptungen Kocubejs sind und so durchaus tendenziös der ganze Aufsatz ist, gerade indem man sich mit ihm auseinandersetzt und die beiden Russen nebeneinander stellt, dringt man ein in das Wesen und die Motive der russischen Politik, sieht auf der einen Seite die ungeheure Macht des Hasses, mit der wir zu ringen haben, auf der anderen aber auch die Risse und Spalten innerhalb des großen deutsch-feindlichen Weltbundes, wo wir einmal das Brecheisen einzusetzen haben, um den militärischen Sieg zu vollenden.» Delbrück gehörte nach Ausbruch des Weltkrieges zu den Befürwortern eines «Verständigungsfriedens». So war er eine der treibenden Persönlichkeiten, die mit einer Gegendenkschrift auf die annexionistische «Intellektuelleneingabe» deutscher Professoren vom Juni 1915 antwortete.

Fürst Viktor Sergeevic Kocubej (1860-1923) war seit 1892 Adjutant des Thronfolgers und späteren Zaren Nikolaus II. und stammte aus einem Adelsgeschlecht, dessen Mitglieder seit der Zeit Peters des Großen eine einflußreiche Rolle an der Seite des Zaren gespielt hatten. 1909 erhielt er die Stellung eines Generaladjudanten des Zaren. Im Militär bekleidete er den Rang eines General-Leutnants. 1917 trat er von seinem Posten zurück, emigrierte nach Kiev und schließlich nach Paris. Kocubej war stark von einem Minderwertigkeitsgefühl gegenüber der deutschen Kultur geprägt. In seinem Aufsatz schrieb er über die Lage der russischen Kultur



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(gleiche Stelle): «Immer und überall mußte das <russische Schwein> sich vor den deutschen <Kulturträgern>verbeugen. »1 Und weiter: «In den ländlichen Gegenden und vor allem auch in den Städten verbreitete sich die germanische Kultur, ohne auf Widerstand zu stoßen, zum Schaden der französischen Kultur, die niemals den Anspruch stellen würde, ihren Einfluß über die abgeschlossenen Bereiche der höchsten russischen Gesellschaft Rußlands hinaus auszudehnen. Die deutsche Philosophie und die deutsche Literatur hingegen faßten immer mehr Tritt in den Hochschulen, und ebenso entwickelte sich auch die Finanz- und Handelswelt immer mehr zum fast ausschließlichen Tummelfeld der mehr oder weniger israelisierend wirkenden Teutonen. »2

86 wenn Frankreich den dreijährigen Militärdienst durchsetzte: Siehe Hinweis zu 5. 266 in GA 173b.

86 daß zu seiner Verwirklichung keine Zeit bis zum Kriegsausbruch mehr war: Zum Zeitpunkt des Kriegsausbruchs bestand in Großbritannien keine allgemeine Wehrpflicht; die Landstreitkräfte beruhten auf dem System der Berufsarmee in Verbindung mit einer Freiwilligenmiliz. Da aber für die Kriegsführung eine wesentlich größere Zahl von Soldaten benötigt wurde und die Zahl der Freiwilligen nicht genügte, mußte im Laufe des Krieges die allgemeine Wehrpflicht eingeführt werden. Aufgrund des «Military Service Act» vom 27. Januar 1916 galt die allgemeine Wehrpflicht für alle ledigen Männer, am 25. Mai 1916 wurde diese durch einen weiteren Gesetzesbeschluß auch auf die verheirateten Männer ausgedehnt. Diese beiden «Military Service Acts» bildeten die Grundlage für die allgemeine Wehrpflicht in Großbritannien.

86 Wir wollen morgen von solchen Dingen weiter sprechen: Im Vortrag vom 10. Dezember 1915 (in diesem Band).



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173a-381 Hinweise zum Vortrag vom 10. Dezember 1916 Flip  arpa

Zum Vortrag vom 10. Dezember 1916:

89 daß von einem gewissen Hermann Bahr ein Drama erschienen ist: Hermann Bahr (1863-1934) war ein zur Zeit Rudolf Steiners äußerst bekannter österreichischer Schriftsteller und Literaturtheoretiker. Nach einem vielfältigen Universitätsstudium in den Jahren zwischen 1881 und 1887 verzichtete Bahr darauf, seine Promotion doch noch durchzuziehen (siehe Hinweis zu 5. 104) und entschloß sich, Schriftsteller und Dichter zu werden. Seit 1888 hielt sich Hermann Bahr in Paris auf, wo sein Interesse an der Literatur und für das Theater geweckt wurde. Nach seiner Rückkehr im Jahre 1890 begann er eine berufliche Tätigkeit als Literatur- und Kunstkritiker. Er lebte zunächst in Berlin, kehrte aber 1891 wieder nach Wien zurück, wo er als Theaterkritiker und Feuilletonist von 1894 bis 1899 an der von ihm mitbegründeten Wiener Wochenschrift «Die Zeit» wirkte. In diesen Jahren verfaßte er seine theoretischen Schriften «Zur Kritik der Moderne» (Zürich 1890), «Die Überwindung des Naturalismus» (Dresden 1891) sowie «Dialog vom Tragischen» (Berlin 1904), wo er sich zum sogenannten «impressionistischen» Standpunkt bekannte. Später erschien eine weitere Schrift über den «Expressionismus» (München 1916). Neben diesen literaturtheoretischen Werken verfaßte Hermann Bahr zahlreiche Romane, Dramen und Lustspiele, die aber heute weitgehend vergessen sind. In der Zeit zwischen 1903 bis 1904 brachte ihn eine tiefgehende Gesundheitskrise an den Rand des Todes.Von 1906 bis 1908 war er vorübergehend als Regisseur bei Max Reinhardt (siehe Hinweis zu 5. 54 in GA 173c) am Deutschen Theater in Berlin tätig. 1912 verließ Hermann Bahr Wien und lebte fortan in Salzburg, wo er 1914 zum römisch-katholischen Glauben zurückfand. Der Aufenthalt in Salzburg wurde nur für kurze Zeit durch seine Tätigkeit am Wiener Burgtheater unterbrochen: 1918 war er für wenige Monate dessen Erster Direktor und anschließend bis 1919 dessen Erster Dramaturg. 1922 verlegte Bahr erneut seinen Wohnsitz, und zwar nach München, wo er bis zu seinem Tode blieb. Hermann Bahr war von 1895 bis 1909 mit der Schauspielerin Rosa Jokl verheiratet, von der er sich aber scheiden ließ. 1909 heiratete er die gefeierte Wagner-Interpretin Anna von Mildenburg (1872 —1 947). Bahr kannte zahlreiche Persönlichkeiten des kulturellen Lebens und war auch um die Förderung von jungen Schriftstellern wie zum Beispiel Hugo von Hofmannsthal aus dem Kreis des «Jungen Wiens» bemüht. Im Alter vertrat er einen zunehmend dogmatischen Katholizismus.

Rudolf Steiner ging im Vortrag vom 27. November 1916 in Dornach (in GA 172) ausführlich auf Hermann Bahrs Schauspiel «Die Stimme» ein - es war im gleichen Jahr in Berlin erschienen. Rudolf Steiner über dieses Drama: «Nun aber hat Hermann Bahr in der letzten Zeit auch ein Drama aufführen lassen, das heißt <Die Stimmen. Man braucht dieses Drama nicht zu verteidigen, aus dem einfachen Grunde nicht zu verteidigen, weil Hermann Bahr eben nicht den Weg, der ihm zu schwierig ist, in die Geisteswissenschaft sucht, sondern zurückfällt in den orthodoxen, oder sagen wir, in den neueren Katholizismus; aber er sucht immerhin spirituelles Leben. »

89 Nach diesem Drama, aber nicht lange nachher wurde von Hermann Bahr der Roman «Himmelfahrt» geschrieben: In der stenographischen Nachschrift steht: «Vor diesem Drama, aber nicht lange vorher [...].» Es handelt sich um ein Versehen, denn der Roman «Himmelfahrt» von Hermann Bahr erschien zwar auch im Jahre 1916, aber erst nach der Veröffentlichung des Schauspiels «Die Stimme». Da



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89 diesen Hermann Bahr kenne ich seit langer, langer Zeit, seit er ein ganz junger Student war: Uber seine Bekanntschaft mit Hermann Bahr sagte Rudolf Steiner zum Beispiel im Mitgliedervortrag vom 6. Juni 1916 in Berlin (in GA 169): «Es ist mir auch gerade nicht schwer, über diesen Mann zu sprechen, aus dem einfachen Grunde, weil ich ihn kenne seit seiner Studentenzeit und weil ich ihn ganz gut früher gekannt habe.» Rudolf Steiner hatte Hermann Bahr 1887 in Wien kennengelernt - er hatte eben sein Schauspiel «Die neuen Menschen» geschrieben (siehe Hinweis zu 5. 104). In den folgenden Jahren müssen sie sich immer wieder getroffen haben, bis kurz nach Rudolf Steiners endgültiger Übersiedlung nach Berlin, das heißt bis etwa 1898. Wenn Rudolf Steiner in seinem Dornacher Vortrag vom 27. November 1916 (in GA 172) sagt, er habe Hermann Bahr - von einer Ausnahme abgesehen - seit achtundzwanzig Jahren nicht mehr gesehen, so muß ein Versehen vorliegen, handelt es sich doch um achtzehn und nicht um achtundzwanzig Jahre.Rudolf Steiner schätzte Hermann Bahr. So schreibt er im Aufsatz «Auch ein Kapitel zur <Kritik der Moderne>» vom 25. Juli 1891 («Literarischer Merkur» 11. Jg. Nr. 30, in GA 30): «Genial veranlagt, etwas leichtsinnig in seinen Urteilen, zu flott, um immer ernst, zu tiefblickend, um stets leicht genommen zu werden, von einer fabelhaften Leichtigkeit im Produzieren, von zynischer Unverfrorenheit in oberflächlicher Abschätzung mancher für ihn doch zu tief sitzender geistiger Elemente ist Hermann Bahr für uns überhaupt der bedeutendste Kopf, insofern wir uns auf das Gebiet der Literatur und Ästhetik des jüngsten Deutschlands beziehen. » Und viele Jahre später im Berliner Mitgliedervortrag vom 1. Mai 1917 (in GA 175) bekennt Rudolf Steiner: «Ich will nicht schulmeistern, am wenigsten einen Menschen, den ich so sehr liebe wie Hermann Bahr. »

90 Und in diesem Roman «Himmelfahrt» schildert er einen Romanhelden: Die Hauptperson dieses Romans ist Franz, ein Grafensohn; er entstammt dem alten deutschen Grafengeschlecht der Flayn, die in Deutschböhmen beheimatet ist. Sein älterer Bruder Anton bewirtschaftet mit seiner Frau Gabriele den gräflichen Stammsitz rund um das Schloß Arnsburg. Zu den gräflichen Angestellten gehört auch der als wunderlich geltende Kutscher Blasl. Franz ist unverheiratet; er hat sein ganzes bisheriges Leben als Erwachsener auf Reisen verbracht -auf der beständigen Suche nach neuen Erfahrungen und Erkenntnissen, ohne wirklich seinen Seelenfrieden gefunden zu haben. Aufgrund seiner im irdischen Leben unerfüllt gebliebenen Liebe zu Klara, einem tiefreligiösen Menschen, findet er den Weg zu seinem besseren Ich und darf damit die Gnade einer allgemeinen religiösen Bekehrung erleben.

90 früh angefangen hat, in einer ganz intensiven Weise mit allen möglichen Zeitströmungen zu leben: Rudolf Steiner im Vortrag vom 6. Juni 1916 in Berlin (in GA 175), wo er auch die wechselnden Überzeugungen Bahrs im Laufe seines Lebens beschreibt: «Hermann Bahr ist ein Mensch, der [.1 immer mit größtem Enthusiasmus für dasjenige eintritt, was er augenblicklich für richtig hält. » Hermann Bahr war sich dieser Eigenheit durchaus bewußt. In seiner Autobiographie «Selbstbildnis» (München 1923) erklärt er (Kapitel XXIV): «In großen Erschütterungen fällt der Verputz von uns weg; auf einmal sind dann wieder nur wir selber noch da. Der Josephinismus, in dem ich aufwuchs, ging dara uf aus, den Menschen so zu verputzen, daß er vor lauter Verputz sich selber nicht mehr gewahren konnte. Bei mir gelang das nicht, weil ich von klein auf jeden Verputz gleich wegkratzte, um einen neuen aufzutragen; so konnte keiner je ganz trocken werden, und es zog immer Luft durch,



173a-383 Hinweise zum Vortrag vom 10. Dezember 1916 Flip  arpa

90 denn er ist schon als Student wegen dieses Lebens mit den verschiedenen Zeitströmungen zweimal, von zwei Universitäten, relegiert worden: Als Hermann Bahr 1881 mit seinem Studium begann (siehe Hinweis zu 5. 104), hatte er sich zunächst an der Universität Wien eingeschrieben. Weil er sich in einer Rede - er war von der Studentenschaft anläßlich der Feier zum Tode Richard Wagners zum offiziellen Trauerredner bestimmt worden - für den Anschluß Deutsch-Österreichs an Deutschland einsetzte und damit für die deutschnationale Sache, wurde er vom Rektorat vorgeladen und 1883 wegen seiner hochverräterischen Rede für immer von der Universität Wien verwiesen.Er wechselte an die Universität Graz, wo ihm wegen seines tollen Benehmens und seiner politischen Aufmüpfigkeit - er hatte zur Verbrüderung mit den italienischen Irredentisten aufgerufen - schon nach kurzer Zeit der Weggang von der Universität nahegelegt wurde. So blieb für ihn nur noch die Universität von Cernivci (Czernowitz) offen. Aber auch dort geriet er rasch in Schwierigkeiten. Ihm wurden zahlreiche Vergehen zur Last gelegt. Zum Beispiel war er beim Hoch auf den österreichischen Kaiser einfach sitzengeblieben. Wie in Graz wurde ihm erneut die Relegation angedroht. Da sich diese Wegweisung nicht vermeiden ließ, verließ Bahr freiwillig die Universität.

Von 1884 bis 1887 studierte er an der Universität Berlin. Dort überreichte er 1885 im Namen der deutschen Studentenschaft Österreichs eine Grußbotschaft an den deutschen Reichskanzler Otto von Bismarck (siehe Hinweis zu 5. 221) anläßlich seines 70. Geburtstages. Bismarck nahm die Grußadresse nicht persönlich entgegen und ließ ausrichten, es sei am besten, wenn die Deutsch-Österreicher im österreichischen Reichsverband verbleiben und helfen würden, Österreich stark zu machen. Dieser Bescheid setzte der irredentistischen Haltung Bahrs einen entschiedenen Dämpfer auf.

Während des Ersten Weltkrieges nahm Hermann Bahr den Standpunkt eines auf deutscher Seite stehenden österreichischen Patrioten ein. So vertrat er in seiner Schrift «Das österreichische Wunder» (Stuttgart 1915) die Ansicht: «Es braucht ein mächtiges, vom Vertrauen seiner Völker getragenes, Ungarn und Slawen bindendes Österreich, das deutschen Willens ist. Ob Österreich deutsch spricht, kann Deutschland gleichgültig sein, wenn es dafür nur gewiß ist, daß Österreich deutsch handelt. »

90 Da wird uns gleich im Anfang geschildert, wo dieser Franz sich überall herumgetrieben hat: Die von Rudolf Steiner erwähnte Schilderung findet sich im Ersten Kapitel von Bahrs Roman: «Als junger Mensch hat er gemeint, irgendein Buch finden zu müssen, aus dem er endlich die Wahrheit erfahren könnte, oder einmal einem Menschen zu begegnen, der ihm alles sagen könnte. So hat er die Wissenschaften abgesucht, erst Botaniker bei Wiesner, dann Chemiker bei Ostwald, in Schmollers Seminar, auf Richets Klinik, bei Freud in Wien, gleich darauf bei den Theosophen in London, und so die Kunst als Maler, Radierer, Bildhauer und so der Reihe nach alle Formen des Daseins, auf Schlössern, in den großen Hotels, mit Studenten, bei Kunstzigeunern, mit Tennisspielern. Und immer hat er anfangs geglaubt, jetzt endlich das Rechte zu haben, und immer hat er dann wieder bemerkt, daß man ihn nur eben so mittun läßt, aus Gnade, weil erja ein sehr netter Mensch ist, und noch dazu ein Graf, von dem man doch auch wirklich nicht mehr verlangen kann. »



173a-384 Hinweise zum Vortrag vom 10. Dezember 1916 Flip  arpa

Alle von Hermann Bahr in seinem Roman genannten Wissenschafter waren prominente Persönlichkeiten. Julius (Ritter von) Wiesner (1838-1916) war von 1873 bis 1909 Professor für Botanik an der Universität Wien und vor allem durch seine pflanzenphysiologischen Forschungen berühmt. Wilhelm Ostwald (1853 —1932) wirkte von 1887 bis 1906 als Professor für Chemie in Leipzig. Sein Spezialgebiet war die physikalische Chemie. Er erhielt 1909 den Nobelpreis für Chemie. Für die Zeit von 1911 bis 1915 war er Vorsitzender des «Deutschen Monistenbundes». Gustav (von) Schmoller (1838-1917) war Nationalökonom und ein Verfechter der historischen Methode in der Ökonomie. Als Professor für Staatswissenschaften wirkte er von 1884 bis 1912 an der Universität Berlin. Der Streit mit Carl Menger über die richtige Methode in der Sozialwissenschaft (Methodenstreit) beziehungsweise mit Max Weber über die Objektivität wissenschaftlicher Urteile (Werturteilsstreit) machte ihn in der Öffentlichkeit bekannt. Schmoller war von 1890 bis 1917 auch Vorsitzender des sozialreformerisch eingestellten «Vereins für Socialpolitik». Charles Robert Richet (1850-1935), Mediziner und Naturwissenschafter, wirkte von 1887 bis 1927 als Professor für Physiologie an der Universität Paris. Er galt als ein Pionier der Impfforschung. 1913 erhielt er den Nobelpreis für Medizin. Er war auch an parapsychologischen Phänomenen interessiert und übernahm die Präsidentschaft der Londoner «Society for Psychical Research» (siehe Hinweis zu 5. 275 in GA 173b) für das Jahr 1905. Sigmund Freud (1856 —1 939), Neurologe und Tiefenpsychologe in Wien, wurde vor allem durch die Entwicklung der psychoanalytischen Methode bekannt. Von 1885 bis 1938 lehrte er zunächst als Privatdozent, seit 1902 als Professor für Neuropathologie an der Universität Wien. Sein materialistisch geprägtes Verständnis der menschlichen Psyche war von größtem Einfluß auf das Denken im 20. Jahrhundert.

91 Deshalb will ich Ihnen jetzt ein Stück aus diesem Roman vorlesen: Das Zitat stammt aus dem siebenten Kapitel.

93 Er hatte nämlich einen Domherrn kennengelernt: Franz hatte während eines Spaziergangs den Domherrn Zingerl kennengelernt, dem er gestand (Sechstes Kapitel): «Ich habe die ganze Welt abgesucht und nichts gefunden. Ich gab es auf zu suchen und kam heim. Ich täusche mich vielleicht, aber mir kommt vor, daß es hier Menschen gibt, die das haben, was ich nirgends finden konnte. » Und während des langen Gesprächs auf diesem Spaziergang bekannte der Domherr: «In der Ecke stehen und traurig zusehen, wie sich das Böse, das Falsche, das Häßliche breit macht, heißt noch nicht, gut zu sein, und ich weiß nicht, ob nicht, wer wenigstens den Mut zum Bösen hat, in seiner Art sich eher zur Sittlichkeit bekennt, als wer zu feig zum Bösen, aber auch zu feig zum Kampf mit dem Bösen ist. Gut sein heißt, das Böse niedermachen wollen, um jeden Preis, an sich und an den anderen. Damit, daß der Gute sich versteckt, wird nichts anders. »

95 aber dieser Hermann Bahr hat schon jenen Engländer kennengelernt. Im Jahre 1899 hatte Hermann eine Reise nach Rom und Neapel unternommen. Wer dieser Engländer war, dem er in Rom begegnete, konnte nicht geklärt werden.

97 denn bei diesem Domherrn war er -Hermann Bahr -tatsächlich einmal eingeladen. Es handelt sich um den katholischen Theologen und Politiker Ignaz Seipel (1876-1932), der ein persönlicher Freund Hermann Bahrs war. Seipel wurde 1899 zum Priester geweiht und lehrte seit 1909 als Professor für Moraltheologie in Salzburg. 1917 wechselte er an die Universität Wien. Von 1918 an war er auch politisch tätig. Minister für soziale Fürsorge im letzten österreichischen Kabinett vor dem Zusammenbruch der Monarchie, war er von 1919 bis 1920 Mitglied der Konstituierenden



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Nationalversammlung, anschließend von 1920 bis 1932 Abgeordneter zum Nationalrat. Von 1921 bis 1929 bekleidete er das Amt eines Obmanns der Christlichsozialen Partei. In dieser Eigenschaft war er zweimal Bundeskanzler, in seiner zweiten Amtszeit zugleich auch Außenminister (vom Mai 1922 bis November 1924 und vom Oktober 1926 bis Mai 1929). Anschließend bekleidete er noch für kurze Zeit das Amt eines Außenministers (September bis Dezember 1930). Er vertrat einen rechtsgerichteten politischen Kurs. Ihm waren die Beendigung der Nachkriegsinflation und die Sanierung der Staatsfinanzen gelungen, allerdings auf Kosten der Arbeiterschaft. Er wurde von den Sozialdemokraten als «Prälat ohne Milde» bezeichnet. Ein Attentat, das 1924 auf ihn verübt wurde, zwang ihn vorübergehend, auf das Amt des Bundeskanzlers zu verzichten. Seipel war ein wichtiger Förderer der rechtsgerichteten, antimarxistischen Heimwehr-Bewegung.

97 Da führte ihn der Domherr also in sein Arbeitszimmer: Zitat aus dem achten Kapitel des Romans.

98 Von Theologie nur gerade das Nötigste: Als Bollandisten werden die Herausgeber der «Acta Sanctorum», einer nach den Festtagen der Heiligen kalendarisch geordneten Sammlung, bezeichnet. Die Arbeit wurde vom Jesuiten Jean Bolland (Bollandus, 1596-1665) im Jahre 1630 begonnen und ist bis heute noch nicht abgeschlossen. Sie wurde weitgehend lückenlos -abgesehen von einer kleinen Unterbrechung in den Jahren von 1794 bis 1837 —durch all die Jahrzehnte von Mitgliedern des Jesuitenordens fortgeführt. Seit 1882 erscheinen als Ergänzung zu den «Acta Sanctorum» die «Analecta Bollandiana» mit Nachträgen sowie die «Subsidia hagiographica», monographische Studien.Als «Franziskanisches» werden die Werke all jener Autoren bezeichnet, die sich dem Gedankengut von Franziskus von Assisi (Francesco d'Assisi, eigentlich Giovanni Battista Bernardone, 1181/1182-1226), dem Gründer des Franziskanerordens, verpflichtet fühlen. Meister Eckhart (eigentlich Eckhart von Hochheim, um 1260—um 1327), Mitglied des Dominikanerordens, gehört zu den großen deutschen Mystikern des Mittelalters. Die «Geistlichen Übungen» («Ejercicios espirituales») stammen vom spanischen Adligen und Gründer des Jesuitenordens Ignatius (Igancio) de Loyola (eigentlich Inigo Lopez de Loyola, 1491-1556). Im Kern waren sie in den Jahren 1522 bis 1523 entstanden; 1533 lagen sie in Paris in ihrer Grundform auf Spanisch vor. 1541 folgte dann die lateinische Ausgabe und 1548 gab ihnen Ignatius von Loyola ihre endgültige Form. Die «Exerzitien» sind die Grundlage für den jesuitischen Schulungsweg.

Die aus einer adligen Familie stammende Mystikerin Katharina von Genua (Caterina da Genova, ursprünglich Caterina Fieschi, 1448 —1510) war aus politischen Gründen mit dem Genueser Edel- und Lebemann Giuliano Adorno verheiratet worden. Ihre Enttäuschung über die unglückliche Ehe versuchte sie teils durch äußerliche Vergnügungen, teils durch innere Einkehr im Gebet zu überwinden. 1468 erfuhr sie ihre erste Erleuchtung; die Christus-Erfahrungen setzten sich regelmäßig fort. Durch die geistige Ausstrahlung seiner Frau veränderte sich auch das Leben ihres Mannes; er wurde Mitglied des Franziskanerordens. Das Ehepaar verzichtete auf seinen weltlichen Besitz und widmete sich fortan der Pflege der Kranken im Spital von Pammatone, insbesondere auch der Pestkranken. 1497 starb ihr Mann. Katharina von Genua wird als «dottoressa del purgatorio» («Sachverständige für das Fegefeuer») betrachtet - nicht nur aufgrund ihres schwierigen Lebens, sondern durch ihr Bewußtsein von der eigenen Unvollkommenheit und Sündhaftigkeit im Augenblick des Todes.

Joseph (von) Görres (1776 —1 848) war der Verfasser einer vierbändigen Geschichte der christlichen Mystik aus katholischer Sicht («Die christliche Mystik» Regensburg/Landshut



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1836-1842). Görres war seit 1827 als Professor für allgemeine Geschichte (und Literaturgeschichte) an der Universität München tätig -ein Amt, das er bis zu seinem Tode bekleidete. Görres war vorher Gymnasiallehrer gewesen, hatte aber 1819 wegen seiner radikalen politischen Ansichten -Ablehnung der Annexion der Rheinlande durch den preußischen Staat, Einführung von ständischen Verfassungen in den deutschen Fürstenstaaten, Wiederherstellung des deutschen Kaisertums und Garantie der Pressefreiheit -ins französische Straßburg und später nach Aarau in die Schweiz flüchten müssen, nachdem ein Haftbefehl gegen ihn erlassen worden war. Bereits 1816 waren die Behörden gegen Görres eingeschritten, indem sie seine Zeitschrift, den «Rheinischen Merkur», verboten, den er 1814 mit einer deutsch-nationalen Zielsetzung begründet hatte. In der Folge zeigte sich bei Görres eine starke Hinneigung zum katholischen Ultramontanismus, der sich auch im Politischen bemerkbar machte. Görres gehörte damit zu den Vätern des politischen Katholizismus. 1839 wurde er vom bayrischen König Ludwig I. geadelt.

Johann Adam Möhler (1796-1838) studierte katholische Theologie und erhielt 1819 die Priesterweihe. Nach einer kurzen Zeit als Pfarrvikar und Gymnasiallehrer schlug er 1823 die Universitätslaufbahn ein, indem er zum Privatdozenten für Kirchengeschichte an der Katholisch-Theologischen Fakultät in Tübingen ernannt wurde. 1826 wurde er zum außerordentlichen, 1828 zum ordentlichen Professor für katholische Theologie in Tübingen berufen. Wegen seiner «freisinnigen» Ansichten - in Abgrenzung zur ultramontanen Richtung innerhalb des Katholizismus - war seine Person innerhalb der Kirche umstritten. Aber auch von evangelischer Seite erfolgten scharfe Angriffe gegen seine Person. Dies veranlaßte ihn schließlich, 1835 dem Ruf nach München zu folgen und den neutestamentlichen Lehrstuhl an der dortigen Universität zu übernehmen. Möhlers Hauptwerk ist die «Symbolik oder Darstellung der dogmatischen Gegensätze der Katholiken und Protestanten nach ihren öffentlichen Bekenntnissen»; das Buch erschien erstmals 1832 in Mainz und wurde von Möhler kurz vor seinem Tode noch einmal wesentlich umgearbeitet. Auch wenn er an der Einzigartigkeit der katholischen Kirche festhielt und die Gegensätze zu den übrigen christlichen Konfessionen scharf herausarbeitete, verstand er den Katholizismus gerade auch als eine Einheit im Geist und nicht nur als bloße Einheit des kirchlichen Körpers. Insofern gilt Möhler heute als ein Wegbereiter der ökumenischen Bestrebungen innerhalb der katholischen Kirche. Kurz vor seinem Tode wurde er 1838 zum Domdekan von Würzburg ernannt - ein Amt, das er wegen seiner angegriffenen Gesundheit nicht mehr antreten konnte.

98 Philosophie schon mehr: Paul Deussen (1845-1919), Philosophiehistoriker und Indologe, hatte eine sechsbändige «Allgemeine Geschichte der Philosophie unter besonderer Berücksichtigung der Religionen» (Leipzig 1894 bis 1917) geschrieben, wo er sich in den ersten drei Bänden intensiv mit dem altindischen Geistesgut auseinandersetzte. Eine Frucht dieser Beschäftigung war zum Beispiel die Übersetzung der Upanischaden, die unter dem Titel «Sechzig Upanishad's des Veda» (Leipzig 1897) erschien. Paul Deussen war ein Jugendfreund Friedrich Nietzsches und lehrte von 1889 bis zu seinem Tode als Professor für Philosophie an der Universität Kiel. Deussen war stark von der Philosophie Arthur Schopenhauers beeinflußt. 1911 gründete er die «Schopenhauer-Gesellschaft», um das Verständnis für dessen Philosophie anzuregen. Er war auch für die Gesamtausgabe von Schopenhauers Werken verantwortlich.Der deutsche Philosoph Hans Vaihinger (1852-1933) lehrte von 1884 bis 1894 als außerordentlicher Professor, von 1894 bis 1906 als Ordinarius für Philosophie an der Universität Halle (an der Saale). Ein schweres Augenleiden zwang ihn zum



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Rücktritt. Bekannt wurde er vor allem durch sein Buch «Die Philosophie des Als Ob. System der theoretischen, praktischen und religiösen Fiktionen der Menschheit auf Grund eines idealistischen Positivismus. Mit einem Anhang über Kant und Nietzsche» (Berlin 1911), geschrieben in der Zeit von 1875 bis 1878. Vaihinger war der Herausgeber der 1896 gegründeten und 1897 erstmals erschienen «Kantstudien», einer philosophischen Zeitschrift zur Verbreitung der Ideen Kants. 1904 gründete er anläßlich des 100. Todestages von Immanuel Kant zur Unterstützung seiner Zeitschrift die «Kant-Gesellschaft». Seine philosophische Haltung bezeichnete Vaihinger als «idealistischen Positivismus»; für ihn stellten die menschlichen Begriffe bloße Fiktionen ohne Realitätsgehalt dar.

98 die Naturwissenschaftlichen Schriften Goethes: Die heute als die «Naturwissenschaftlichen Schriften» Goethes bekannten Werke erschienen in zeitlich auseinander liegenden Einzelausgaben, vereinzeltes Material zum Teil sogar erst nach seinem Tode. Zu erwähnen ist zum Beispiel die Schrift «Versuch die Metamorphose der Pflanzen zu erklären» (Gotha 1790) oder «Zur Farbenlehre» (Tübingen 1808 bis 1810) oder «Zur Naturwissenschaft überhaupt» (Stuttgart/Tübingen 1817 bis 1824). Rudolf Steiner gab die «Naturwissenschaftlichen Schriften» im Rahmen von zwei verschiedenen Goethe-Ausgaben heraus: in der Reihe «Kürschners Deutsche National-Litteratur» 114. bis 117. Band (Goethes Werke XXXIII. bis XXXVI. Band, Berlin/Stuttgart 1884/1887/1890/1897) sowie im Zusammenhang mit der Weimarer oder Sophien-Ausgabe von Goethes Werken VI. bis XII. Band (II. Abteilung, Weimar 1891/1892/1893/1894/1896).

99 Stellen aus dem Tridentinum: Als «Tridentinum» wird das - in der Zählung der katholischen Kirche - 19. ökumenische Konzil bezeichnet. Dieses Konzil fand in Trient (heute Trento) statt, und seine Verhandlungen, eingeteilt in drei -eigentlich vier -Sitzungsperioden, erstreckten sich mit Unterbrechungen über die Zeit zwischen 1545 bis 1563. Das Konzilsgeschehen stand ganz im Zeichen der katholischen Reformation, der sogenannten Gegenreformation. Die Beschlüsse des Konzils wurden in den «Canones» festgehalten.

99 Und wenn Zacharias Werner erzählt: Friedrich Ludwig Zacharias Werner (1768— 1823) war ein deutscher Dichter und Dramatiker der romantischen Schule. Von mystischen Strömungen angezogen, was ihn auch zum Eintritt in eine polnische Freimaurerloge bewogen hatte, konvertierte er schließlich 1811 zum Katholizismus und wurde 1814 zum katholischen Priester geweiht.

100 doch habe ich es öfters erwähnt: Zum Beispiel im Münchner Zweigvortrag vom 13. September (in GA 174a), im Stuttgarter Zweigvortrag vom 30. September 1914 (in GA 174b) oder in den Berliner Mitgliedervorträgen vom 31. Oktober 1914 und 19. Januar 1915 (beide in GA 157) sowie vom 20. Juni 1916 (in GA 169).

100 der Tod des Erzherzogs Franz Ferdinand von Österreich: Am 28. Juni 1914 wurden der österreichisch-ungarische Thronfolger Franz Ferdinand und seine Gattin, Sophie von Hohenberg, in Sarajevo, der Hauptstadt des Reichslandes Bosnien-Herzegovina, erschossen. Sie befanden sich seit dem 25. Juni 1914 auf offiziellem Besuch in Bosnien-Herzegovina. Für den 28. Juni 1914 war der Empfang in der Landeshauptstadt vorgesehen.Erzherzog Franz Ferdinand von Österreich-Este (1863-1914) war ein Neffe des regierenden Kaisers Franz Joseph I. 1875 hatte er vom letzten Herzog von Modena, Franz V. aus dem Hause Este, ein großes Vermögen geerbt; dieser hatte ihm unter der Bedingung, daß er die italienische Sprache lernen würde, zum Erben eingesetzt.



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Daher führte Franz Ferdinand den Namenszusatz Este. Franz Ferdinand war präsumtiver Thronfolger. Sein Vater Karl Ludwig (1833-1896)— er war der Bruder von Kaiser Franz Joseph -fühlte sich wenig geeignet, das Herrscheramt zu übernehmen und hatte einige Tage nach dem Selbstmord von Kronprinz Rudolf im Jahre 1889 (siehe Hinweis zu 5. 110) auf alle Thronfolgerechte zugunsten seines Sohnes verzichtet. Kaiser Franz Joseph aber ließ die Angelegenheit ungeregelt. Mit dem Tode seines Vaters im Jahre 1896 rückte Franz Ferdinand faktisch zum definitiven Thronfolger auf - eine formelle Anerkennung seines Ranges blieb jedoch noch immer aus und sollte auch nie erfolgen, was für Franz Ferdinand eine schwere Kränkung bedeutete. Zur Verstimmung zwischen dem Kaiser und dem Thronfolger trug auch die Verbindung von Franz Ferdinand mit Gräfin Sophie Chotek von Chotkova und Wognin (1868 —1914), der Tochter eines österreichischen Diplomaten aus Böhmen, bei, die der Kaiser als unstandesgemäß mißbilligte. Franz Ferdinand hatte Sophie 1894 in Prag kennengelernt. Obwohl sie dem tschechischen Uradel entstammte, wurde sie nicht als ebenbürtig angesehen. Franz Ferdinand mußte jahrelang warten, bis ihm der Kaiser schließlich die Heirat gestattete. Allerdings mußte er vorher am 28. Juni 1900 einen sogenannten «Renunziationsakt» unterzeichnen, in dem er auf die Thronfolgerechte für die Nachkommen aus seiner Ehe mit Sophie Chotek verzichtete. Damit war der Weg frei für die Eheschließung, die am 1. Juli 1900 erfolgte. Sophie wurde in den Rang einer Fürstin, seit 1909 Herzogin von Hohenberg erhoben, aber das änderte nichts an ihrer rechtlichen Zurücksetzung. Die beiden führten eine außerordentlich glückliche Ehe. Allmählich schien sich das Verhältnis zwischen dem Kaiser und Franz Ferdinand zu entspannen. Dieser wurde faktisch immer mehr als Thronfolger behandelt und mit verschiedenen offiziellen Aufgaben betraut. Franz Ferdinand hatte seit 1878 eine solide militärische Ausbildung erhalten und wurde schließlich 1913 zum «Generalinspekteur der gesamten bewaffneten Macht» ernannt. In dieser Eigenschaft verfolgte er am 26. und 27. Juni Manöver der österreichischen Truppen in Bosnien. Für den folgenden Tag war der Besuch in Sarajevo vorgesehen. Der 28.115. Juni war ein besonderer Tag für die Serben, galt doch dieser Tag als nationaler Gedenktag: Am sogenannten «Vidovdan», dem St. Veitstag, wurde der verlorenen Schlacht auf dem Amselfeld im Jahre 1389 und damit des Verlustes der nationalen Unabhängigkeit gedacht. Von den serbischen Nationalisten wurde daher der Besuch Franz Ferdinands als Provokation empfunden, was von ihm aber nicht so gemeint war.

Es waren insgesamt sechs bewaffnete Verschwörer auf den Thronfolger Franz Ferdinand angesetzt -in Form einer Schützenkette hatten sie sich entlang der Einfallstraße längs des Flusses Miljacka aufgereiht. Als sich die Fahrzeugkolonne mit dem Thronfolgerpaar auf der Fahrt von außerhalb der Stadt in Richtung Rathaus im Stadtinnern befand, passierte sie zunächst den ersten Verschwörer, Muhamed Mehmedbasic (1886-1943), der nichts unternahm. Der zweite Attentäter jedoch, Nedeljko Cabrinovic (1895 —1916), schleuderte eine Handgranate auf das Auto von Franz Ferdinand und Sophie. Die Handgranate explodierte aber erst unter dem nachfolgenden Auto und das Thronfolgerpaar blieb unverletzt. Nachdem die Fahrt fortgesetzt wurde, ließen die vier weiteren Verschwörer, Vasilo Cubrilovic (1897— 1990), Cvetko Popovic (1896—unbekannt), Gavrilo Princip (1894-1918), Trifko Graber (1895-1916) die Fahrzeuge unbehelligt passieren. Im Rathaus angekommen, wurde angesichts der beruhigenden Versicherungen des Landeschefs von Bosnien und Herzegovina, Oskar Potiorek (1853 —1 933), grundsätzlich die Fortsetzung des Besuchsprogramms beschlossen, aber unter Abänderung der Fahrtroute. Von einer solchen Änderung wusste der Fahrer des Wagens an der Spitze der Fahrzeugkolonne aber nichts. Als er in die falsche Richtung abbiegen wollte, erhielt er den



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Befehl zur sofortigen Richtungsänderung. Durch das notwendige kleine Manöver verlangsamte sich die Fahrzeugkolonne, und diesen Moment benützte Gavrilo Princip, der zufällig an diesem Ort stand, um zweimal auf den Thronfolger zu schießen. Er verletzte ihn und seine Ehefrau tödlich. Cabrinovic und Princip konnten sofort an Ort und Stelle verhaftet werden; ihr Versuch, sich durch Selbstmord mit Gift der Verhaftung zu entziehen, schlug jedoch fehl. Alle übrigen Attentäter - mit Ausnahme von Mehmedbacis, der flüchten konnte - wurden verhaftet und wegen ihres jugendlichen Alters bloß zu Kerkerstrafen, allerdings zu langjährigen, verurteilt. Cabrinovic und Graber starben 1916, Princip 1918 an Tuberkulose in der Haft, einzig Cubrilovic und Popovic überlebten die schweren Haftbedingungen und wurden 1918 freigelassen. Mehmedbasic wurde im Zusammenhang mit dem Prozeß in Saloniki (siehe Hinweis zu 5. 111) zu einer langjährigen Gefängnisstrafe verurteilt. Wie die Untersuchungen zeigten, war das Attentat allerdings nicht nur das Werk von fanatisierten Einzeltätern, sondern mindestens ebenso sehr die Frucht einer umfassenden Verschwörung (siehe Hinweise zu 5. 173 und 237).

100 Und zwar habe ich dazumal einen besonderen Wert darauf gelegt: In seinem Vortrag vom 19. Januar 1915 (in GA 157) sagte Rudolf Steiner zu den Mitgliedern: «Es kam [...] die Ermordung jenes österreichischen Erzherzogs, und da stellte sich jenes schon einmal erwähnte, furchtbar erschütternde Ereignis heraus. Ich habe es niemals früher erfahren, nicht auf direktem Wege, nicht durch andere Okkultisten. Wir wissen ja, was die Seele durchmacht, wenn sie durch den Tod gegangen ist. An dieser Seele, die damals durch den Tod gegangen ist, zeigte sich ganz besonders, daß sich um sie, wie um einen Mittelpunkt, alle Furchtelemente anfingen zu gruppieren, und nun hatte man in ihr etwas wie eine kosmische Macht vor sich. Nun wissen wir, daß etwas, was auf dem physischen Plan einen ganz bestimmten Charakter hat, den umgekehrten Charakter in der geistigen Welt hat. So war es auch in diesem Falle: Was erst den Krieg zerstreuend gewirkt hatte, das wirkte jetzt als das Gegenteil, wirkte sozusagen anspornend, anfeuernd.» Und am 30. September 1914 in Stuttgart (in GA 174b): «Das Schreckliche schwebte in der astralischen Welt, es konnte sich nur nicht niedersenken auf den physischen Plan, weil astralische Kräfte auf dem physischen Plan versammelt waren -Furchtkräfte, die ihm hindernd entgegenwirkten. Es war am 20. Juli, als ich wußte, daß die Furchtkräfte nun Kräfte des Mutes, der Kühnheit wurden. [...] Da war es nicht mehr unerklärlich, was auf dem physischen Plan als ein so einzigartiges Phänomen sich abspielte. jener Enthusiasmus. Das ist eine Tatsache, die mir einzigartig war, und soviel mir bekannt ist, auch keinem Okkultisten vorher bekannt war. »

101 daß also im Kreise unserer anthroposophisch orientierten Geisteswissenschaft hingewiesen wird. Im Berliner Mitgliedervortrag vom 31. Oktober 1914 (in GA 157) zum Beispiel wies Rudolf Steiner im Zusammenhang mit dem ermordeten Thronfolger auf ganz bestimmte geistige Hintergründe hin: «Die Individualität, welche damals hingemordet worden ist und dann durch die Pforte des Todes ging, zeigte nachher einen Anblick, wie ich ihn vorher weder selber gesehen noch ihn von anderen habe schildern hören. Ich habe verschiedentlich geschildert, wie Seelen aussehen, wenn sie durch die Pforte des Todes gehen. Diese Seele aber zeigte etwas Merkwürdiges. Sie war wie ein Kristallisationszentrum, um das sich bis zum Ausbruch des Krieges alles wie herumkristallisierte, was Furchtelemente waren. Nachher zeigte sie sich als etwas ganz anderes. War sie vorher eine große kosmische Kraft, die alle Furcht anzog, so ist sie jetzt etwas Entgegengesetztes. Die Furcht, die hier auf dem physischen Plan gewaltet hatte, hielt alle zurück. Nachdem aber dann diese Seele in den geistigen Plan hinaufgekommen war, wirkte sie in entegegengesetzter Weise und



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101 aber er tritt als ein ganz törichter Mensch auf und nimmt niedrige Dienste an: Gemeint ist der Blasi, der als einfacher Kutscher in den Diensten des Bruders von Franz stand (siehe Hinweis zu S. 90).

102 Nur als er verkündigen hört durch einen öffentlichen Anschlag: Es wird beschrieben, wie die Menschen sich um das Plakat versammelten (Zehntes Kapitel): «Da stand es jetzt zu lesen, und die Leute standen herum, grabesstill. Die es schon gelesen hatten, blieben stehen, und immer neue kamen, lasen es auch und blieben auch. Niemand sprach ein Wort, sie warteten nur, was sie tun sollten. Während sie so beisammen standen und noch immer wieder neue kamen, trat aus der Kirche, wo er, wie jeden Sonntagnachmittag, im Gebet gelegen, der Blasl, verwundert, so viele Menschen zu sehen, und auch er las die Schrift, las sie dann langsam noch einmal, nickte befriedigt und sagte: <Gut! So hat er enden müssen. Ganz richtig.>Einige wollten sogar gehört haben, er hätte ganz laut ausdrücklich <Bravo>gerufen. Der Wortlaut ließ sich nicht mehr feststellen, weil sogleich ein Bursche zornig auf ihn losgestürzt war, und während die meisten noch gar nicht wußten, was denn eigentlich geschehen, und einer den anderen erst fragte, einer dem anderen es erzählte, fielen schon alle über ihn her und bleuten ihn durch; auch dem Kaplan gelang es nicht, ihn zu schützen, bis der Gendarm geholt wurde, der den Verdächtigen gleich in die Stadt abzuliefern entschied, und alle zogen mit, als Zeugen. »Ein ähnlicher Vorfall ist historisch belegt und hat sich im Zusammenhang mit der Ermordung des serbischen Fürsten Michael (siehe Hinweis zu 5. 122) abgespielt. So schreibt Karl Gladt in seinem Werk «Kaisertraum und Königskrone. Aufstieg und Untergang einer serbischen Dynastie» (Graz/Wien/Köln 1972) über den Vorfall (VI. Kapitel, «Der Mord im Kosutnjak»): «Im Dorf Kremna im Bezirk Uzice lebte in der Zeit des Fürsten Mihailo ein Bauernbursch namens Mata Tarabic, den die Leute für geistig zurückgeblieben, aber harmlos und gutmütig ansahen. Man verwendete ihn zu kleinen Botengängen und achtete kaum mehr auf sein manchmal absonderliches Betragen. Am 9. Juni 1868 kam Mata wieder nach Uzice, erregte dieses Mal aber nicht geringes Aufsehen, denn er stellte sich mitten auf die Hauptstrasse und schrie in größter Erregung. <Leute, Brüder! Um Gotteswillen, helft! Sie töten unseren Fürsten! Sie ermorden unseren Prinzen! Um Gotteswillen, helft doch! Sie schlachten ihn mit ihren Yagatans! Oh, seht doch, Blut, Blut! Weh über uns, unser Prinz ist ermordet!>Ein Menschenauflauf entstand, und Mata beteuerte, daß er soeben in einer Vision Zeuge eines Attentats auf Fürst Mihailo geworden sei. Die Polizei kam und setzte ihn als Urheber einer Zusammenrottung und wegen Ausstreuung beunruhigender Gerüchte in den Arrest. Als am Abend des nächsten Tages ein offizieller Bericht über das Attentat auf den Fürsten einlangte, vermutete man zuerst, daß der Bursche mit den Verschwörern Verbindung gehabt habe, und unterzog ihn einem strengen Verhör, das allerdings bald seine Schuldlosigkeit ergab.»

102 im Grunde genommen ein verkappter Prinz ist. Blasl war in Wahrheit der seit Jahren verschollene spanische Thronfolger Don Tadeo, der den Kontakt zum gewöhnlichen Volk gesucht hatte und ein wahres christliches Leben in Armut führen wollte. Der Domherr erzählt (Elftes Kapitel): «Ich weiß noch, wie stark das damals auf mich gewirkt hat, als man erfuhr, der rote Prinz, durch seine volksfreundliche Gesinnung und die Rücksichtslosigkeit, mit der er seine Verachtung für die Günstlinge des Hofes zur Schau trug, ebenso berühmt wie durch seine Abenteuer, sein Glück



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102 er ein tief bedeutsames, mystisches Tagebuch hat. Don Tadeo führte in der Zeit seiner Abwesenheit vom spanischen Hof Tagebuch. Sein Inhalt, auf zahlreiche Hefte verteilt, war stark vom Gedankengut der spanischen Mystikerin, der heiligen Theresa von Avila (Teresa de Cepeda y Ahumada, Santa Teresa de Avila, 1515-1582), geprägt. Franz war stark beeindruckt von diesen Heften (Elftes Kapitel): «Ein ganzes Leben war hier völlig zu Geist geworden, indem jede seiner äußeren Tatsachen immer gleich zur inneren Begebenheit, aber ebenso aller Geist wieder immer gleich diesem Leben selbst unmittelbar einverleibt wurde. Die Hefte bezeugten einen Menschen, der unablässig sich selbst und seinen ganzen Inhalt rings in die Welt ausgoß, dann aber diese Welt, an die hin er sich zerstückt hatte, tief einatmend wieder in sich aufsog, bis nichts mehr von ihr übrig war als er, von dem eben noch, dem ganz Weggegebenen, ganz an sie Hingegebenen, schon nichts mehr übrig gewesen. Und der unsichtbare Punkt dieser geheimnisvollen Umschaltung, an dem bald er in die Welt zerfloß, bald die Welt zu ihm gerann, hieß in diesen Heften Gott.»

102 Und darüber steht nun folgendes: Im zwölften Kapitel von Bahrs Roman.

104 Hermann Bahr war nämlich wirklich auch in Spanien gewesen. Von Paris aus reiste Hermann Bahr 1889 durch Südfrankreich nach Spanien und von dort nach Marokko. 1890 kehrte er wieder nach Paris zurück.

104 auch noch versucht, den Expressionismus und alles andere, was sich so ergibt, zu verstehen. Hermann Bahr war immer bemüht gewesen, sich mit den aktuellen Zeitströmungen auseinanderzusetzen. So hatte er sich gegen den Naturalismus (siehe Hinweis zu 5. 158 in GA 173c) gewandt und für den Impressionismus Partei ergriffen (siehe Hinweis zu 5. 89). Diese Strömung war für ihn der Inbegriff der Moderne. In seiner Schrift über den «Expressionismus» (München 1916) bekennt Bahr (erstes Kapitel «Trost in Goethe»): «Mit dem Impressionismus bin ich aufgewachsen. Ich war Impressionist, bevor ich einen kannte. Wenn ich mich dann für den Impressionismus schlug, war es für mein eigenes Leben. Und als ich ihn nun plötzlich aber nicht mehr von den Alten, sondern von einer neuen Jugend bedroht sah -das mahnte mich daran, daß es Abend für uns wird. Ich schloß daraus zunächst nur, es sei Zeit, daß ich mit Anstand alt werden lerne. Die mit mir jung gewesen waren, wollten das aber nicht, und es verdroß mich, sie gegen die Jugend nun selbst wieder genauso töricht und ungerecht zu sehen, wie vor dreißig Jahren die Alten gegen uns.»Hatte sich Bahr früher für den Impressionismus begeistert, so war er nun bestrebt, den Expressionismus in seiner Abgrenzung zum Impressionismus zu verstehen. So schreibt er im Kapitel über «Das Auge des Geistes», womit er das Auge des Expressionisten meinte: «Der Impressionismus ist ja nur das letzte Wort der klassischen Kunst; er vollendet und erfüllt sie ganz, indem er das äußere Sehen



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auf das höchste zu steigern, das innere Sehen soviel als möglich auszuschalten, das <Eigenleben>, die Selbsttätigkeit, den Willen des Auges immer mehr abzuschwächen sucht und so den Menschen zum völligen Passivum seiner Sinne macht. » Im Gegensatz dazu der Expressionismus als Gegenentwicklung: «Jetzt aber scheint's, daß sich in der heraufkommenden Jugend mit Heftigkeit der Geist wieder meldet. Vom äußeren Leben weg kehrt sie sich dem inneren zu, lauscht den Stimmen der eigenen Verborgenheiten und glaubt wieder, daß der Mensch nicht bloß das Echo seiner Welt, sondern vielleicht eher ihr Täter oder doch jedenfalls ebenso stark ist wie sie. Ein solches Geschlecht wird den Impressionismus verleugnen und eine Kunst fordern müssen, die wieder mit den Augen des Geistes sieht: dem Impressionismus folgt der Expressionismus, auch wieder einseitig, auch wieder einen Teil der menschlichen Natur verleugnend, auch wieder nur eine halbe Wahrheit. » Und im Abschnitt «Expressionismus» bringt er den Unterschied auf den Punkt: «Der Impressionist stellt das Mehr des Objekts dar und unterschlägt das Mehr des Subjekts; der Expressionist hinwieder kennt nur das Mehr des Subjekts und unterschlägt das Mehr des Objekts.»

104 und bei den Theosophen in London war: Im Jahre 1910 hielt sich Herrmann Bahr mit seiner zweiten Frau zweimal für längere Zeit in London auf. Dort muß er auch den Anhängern der Theosophischen Gesellschaft begegnet sein.

104 Als ich ihn kennenlernte: Im Stenogramm steht folgender Wortlaut: «Als ich ihn kennenlernte, hatte er eben sein Drama <Die neuen Menschen>geschrieben [siehe Hinweis zu S. 104], dessen er sich jetzt sehr schämt; das war in streng sozialdemokratischem Sinn verfaßt, und es gab damals keinen glühenderen Sozialdemokraten als Hermann Bahr. Dann schrieb er einen kleinen Einakter [siehe Hinweis zu S. 104], der weniger bedeutend ist. Dann aber trat er über zur deutschnationalen Bewegung, und er schrieb <Die große Sünder [siehe Hinweis zu S. 105] von deren Gesichtspunkte aus. Wiederum. keiner war ein radikalerer Deutschnationaler als Hermann Bahr. Da war er also mittlerweile neunzehn Jahre alt geworden und mußte sich zu den Soldaten stellen - er wurde Einjährig-Freiwilliger. Keiner wurde ein so radikal militaristisch gesinnter Mann wie Hermann Bahr - er war jetzt ganz von soldatischer Gesinnung durchdrungen. » Diese Schilderung von Hermann Bahrs wandelnden Überzeugungen ist in ihrem zeitlichen Ablauf nicht durchwegs zutreffend.Zur richtigen zeitlichen Reihenfolge der einzelnen Lebensstationen und der Entwicklung seiner politischen Anschauungen ist zu bemerken: Nach erfolgreich bestandenem Abitur im Juli 1881 begann Hermann Bahr im Oktober 1881 an der Universität Wien mit dem Studium der klassischen Philologie und Philosophie. Er wechselte aber bald zum Studium der Rechte und später der Nationalökonomie. Politisch bekannte sich Bahr zu einem radikalen deutschnationalen, antisemitischen Standpunkt und befürwortete den Anschluß der deutschösterreichischen Gebiete an das Deutsche Reich. Seine politische Haltung führte schließlich im März 1883 zum Ausschluß von der Universität Wien. Der Versuch, seine Studien in Graz weiterzuführen, schlug im August 1883 endgültig fehl. Im Oktober 1883 gelang ihm die Aufnahme an der Universität in Cernivci (Czernowitz, damals Galizien in Österreich-Ungarn, heute in der Ukraine). Wegen seiner antiösterreichischen und antisemitischen Haltung mußte er im März 1884 auch diese Universität verlassen. Er entschloß sich, im Mai 1884 sein Studium der Nationalökonomie in Berlin fortzusetzen. Während seines Studiums in Berlin entwickelte er sich zum überzeugten Marxisten. So reichte er im April 1886 sogar eine Doktorarbeit über Karl Marx und dessen Arbeitswerttheorie ein; sie wurde aber nicht angenommen -nicht weil sie



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schlecht war, sondern weil sein Doktorvater, der Kathedersozialist Adolf Wagner, in ihr eher eine Monographie denn eine Dissertation mit eng begrenztem Thema sah. Aber es gelang Hermann Bahr nicht, seinen Anforderungen entgegenzukommen. Im Mai 1887 verließ er Berlin ohne Doktorat. Vom Oktober 1887 bis Oktober 1888 erfüllte er seine Militärdienstpflicht als Einjährig-Freiwilliger in Wien. Obwohl er sich bewährt hatte und für ein Offizierspatent vorgeschlagen wurde, wurde ihm dieses wegen seiner unpatriotischen Vergangenheit verweigert. Vom November 1888 lebte er in Paris, wo er, beeinflußt von Maurice Barres (siehe Hinweis zu S. 106), einen antiparlamentarischen, nationalistischen Standpunkt einnahm, zunächst in seiner französischen Färbung. Von Paris aus unternahm er vom August 1889 bis März 1890 eine Reise durch Frankreich, Spanien und Nordafrika. Wieder zurück in Paris erreichte ihn im Mai 1890 der Ruf, nach Berlin zurückzukehren, um an der Zeitschrift «Freie Bühne für ein modernes Leben» mitzuarbeiten. Bahr hielt es jedoch nicht allzu lange in Berlin aus; schließlich kehrte er im Oktober 1891 nach Wien zurück. Sein nationalistischer Standpunkt hatte sich insofern gewandelt, als er nun eine gemäßigt österreichisch-vaterländischen Haltung einnahm und sich für die Aufrechterhaltung der österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie aussprach. Bahr betrachtete sich als «Austroeuropäer» und befürwortete mit der Zeit sogar eine Föderalisierung der österreichisch-ungarischen Vielvölkerstaates.

Für die vorliegende Ausgabe wurden die entsprechenden Passagen in die richtige zeitliche Reihenfolge gebracht und die nötigen Ergänzungen durch eckige Klammern gekennzeichnet.

104 hatte er eben [als Student in Berlin]sein Drama «Die neuen Menschen» geschrieben: Dieses stark vom sozialistisch-marxistischen Ideengut beeinflußte Schauspiel erschien 1887 in Zürich im Druck. Hermann Bahr hatte es in Berlin verfaßt, als er dort Nationalökonomie studierte. Anschliessend schrieb er in seiner Militärdienstzeit den Einakter «La Marquesa d'Amaègui. Eine Plauderei», der 1888 vom gleichen Zürcher Verlag veröffentlicht wurde.

104 war er zur deutschnationalen Bewegung übergetreten: Als Deutschnationale wurden die nationalistisch gesinnten deutschsprachigen Österreicher bezeichnet, die sich in Opposition zu den herrschenden Deutschliberalen stellten. Sie verabschiedeten das Linzer Programm vom 1. September 1882, in dem neben sozialen und wirtschaftlichen Forderungen die Bewahrung der deutschen Vormachtstellung im österreichischen Landesteil gefordert wurde. Innerhalb der deutschnationalen Bewegung gab es aber verschiedene Richtungen. Die eine Richtung, die großdeutsche Richtung, befürwortete einen Anschluß der deutschösterreichischen Gebiete an das Deutsche Reich. Ihre Tätigkeit war somit gegen den Erhalt der österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie gerichtet. Deshalb wurde auch die politische Haltung des jungen Hermann Bahr von den Behörden als hochverräterisch eingestuft (siehe Hinweis zu 5. 90). Innerhalb dieser Bestrebungen, die eine zunehmend antisemitische Färbung annahmen, spielte Georg Ritter von Schönerer eine maßgebende Rolle. 1901 schloß sich diese Richtung zur «Alldeutschen Bewegung» zusammen. Die vaterländische Richtung der Deutschnationalen dagegen erkannte die Existenzberechtigung des österreichischen Staates und der habsburgischen Dynastie an, stand aber als «Vereinigte Deutsche Linke» ebenfalls in Opposition zur Regierung. 1891 bildete sich diese nationalreformerische Gruppierung zur «Deutschen Nationalpartei» um, 1896 zur «Deutschen Volkspartei». Dank dem Zusammenspannen der beiden Richtungen im Rahmen des 1910 gegründeten «Deutschen Nationalverbandes» wurden die Deutschnationalen in den Wahlen von 1911 zur stärksten Fraktion im österreichischen Abgeordnetenhaus., aber bereits nach wenigen Jahren



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105 und mußte sich endlich als Soldat stellen: Bahr war schon vierundzwanzig Jahre alt, als er endlich seine Militärdienstpflicht ableistete -wegen seines Studiums hatte er den Eintritt in die österreichische Armee immer wieder verschoben. Im Stenogramm steht aber, daß Hermann Bahr zu diesem Zeitpunkt «neunzehn» Jahre alt gewesen sei, was nicht richtig ist. Dieses Versehen ist aber insofern verständlich, als der Dienst als Einjährig-Freiwilliger in der Regel im Alter von 19 Jahren geleistet wurde. Hermann Bahr in seiner Selbstbiographie «Selbstbildnis» (Berlin 1923) über seine Dienstzeit: «Ich biß die Zähne zusammen und bin das ganze Jahr hindurch kein einziges Mal bestraft worden, hab niemals nachexerzieren müssen, keinen Stubenarrest, nicht den geringsten Verweis bekommen, ward unter den ersten zum Korporal ernannt und bestand die theoretische wie die praktische Offiziersprüfung <vorzügliche. Das war eine Leistung: nicht von mir, sondern meiner Offiziere, die mir dann, in ihrer Versammlung am Ende des Jahres befragt, einstimmig auch die Würdigkeit zum Offizier zusprachen. » Aber wegen seiner «unpatriotischen» Vergangenheit wurde Bahr das Offizierspatent verweigert.

105 Dann schrieb er «Die große Sünde»: Das in der ersten Pariser Zeit entstandene Trauerspiel «Die große Sünde. Ein bürgerliches Trauerspiel» erschien 1889 in Zürich im Druck. Die große Sünde des Helden in diesem Stück bestand darin, an die Schlagworte einer politischen Vereinigung zu glauben. Dieses Drama zeigt, wie sehr Bahr vom Sozialismus und der Politik im allgemeinem enttäuscht war.

105 nachdem er seine Soldatenzeit [und den sich anschließenden Pariser Aufenthalt] hinter sich hatte, ging er für kurze Zeit nach Berlin: Bahr ging unmittelbar nach Ableistung seiner Dienstzeit nach Paris und erst dann nach Berlin und nicht umgekehrt. Bei Rudolf Steiner liegt offensichtlich eine Verwechslung vor (siehe Hinweis zu 5. 104).

105 redigierte dort eine moderne Wochenschrift: Die Literaturzeitschrift «Freie Bühne für modernes Leben», ein Kampfblatt der Berliner Naturalisten, wurde 1890 begründet. Sie erschien im «S. Fischer Verlag». Hermann Bahr besorgte zusammen mit Arno Holz die ersten paar Monate die Redaktion. Nach internen Auseinandersetzungen wurde Bahr vom Verleger Samuel Fischer entlassen. Die Wochenschrift änderte mehrfach ihren Namen, gehörte aber schließlich unter dem Titel «Neue deutsche Rundschau» zu einer Institution des Berliner Geisteslebens.

105 In alles konnte er sich verwandeln, aber nur nicht in einen Berliner: In seiner Autobiographie «Selbstbildnis» (Berlin 1923) schrieb Hermann Bahr (Kapitel XXII): «Mein Berliner Leben verlor immer mehr an Reiz. Der Betriebsmensch kündigte sich schon deutlich an, zu dem mir jedes innere Verhältnis fehlt; ich kann einfach nicht verstehen, daß er sich erträgt. Ganz sinnlos kam mir mit der Zeit alles vor. » Von Berlin aus unternahm Bahr vom März bis April 1891 eine Reise nach Rußland, die in ihm den Entschluß reifen ließ, wieder nach Wien zurückzukehren.

105 über den Sonnenmenschen Boulanger: Georges Boulanger (1837-1891), französischer Berufsmilitär und seit 1884 Divisionsgeneral -in dieser Eigenschaft kommandierte er das französische Expeditionskorps, das Tunesien besetzte (siehe Hinweis zu 5. 172) — war der führende Kopf und Hoffnungsträger einer nationalkonservativen, rechtspopulistischen Bewegung, die die Unterstützung der Bonapartisten genoß. Vom Januar 1886 bis Mai 1887 war er französischer Kriegsminister. Mit seiner Forderung nach Rückgewinnung Elsaß-Lothringens und die Einsetzung ei-



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105 des Sultans von Marokko: Zum Zeitpunkt des Besuchs von Hermann Bahr in Marokko herrschte Sultan Mulai Hassan I. (aus der Dynastie der Alawiten) — er regierte vom September 1873 bis Juni 1894. Er versuchte die Unabhängigkeit des Landes zu bewahren, mußte aber in der Madrider Konvention von 3. Juli 1880 verschiedenen europäischen Staaten (Deutschland, Österreich-Ungarn, Großbritannien, Frankreich, Italien Spanien, Niederlande) sowie den Vereinigten Staaten die Meistbegünstigung sowie deren Staatsangehörigen das Recht auf Grundbesitz einräumen, was den ersten Schritt auf dem Weg zum Verlust der marokkanischen Souveränität bedeutete. Im Jahre 1912 wurde Marokko in eine französische und eine spanische Protektoratszone aufgeteilt (siehe Hinweis zu 5. 261 in GA 173b).

105 nicht als eine Kopie von Daudet: Alphonse Daudet (1 840-1897) war ein berühmter französischer Schriftsteller des 19. Jahrhunderts, der sich der Strömung des Realismus zuzählte.

105 denn er war als Mensch ein Rassen gemisch: Im Stenogramm steht «ein rassengemischter Mensch». Der Wortlaut in der Auflage von 1966 — «eine Art Rassenmensch» — läßt sich aufgrund des Stenogramms nicht halten. Wie Rudolf Steiner in der Folge erzählt, war Hermann Bahr nicht uneitel, sprach er doch von sich als dem schönsten Künstlerkopf in Paris.

105 in dem berühmten alten Café Griensteidl: In einem Brief an einen Freund vom 18. Februar 1887 schrieb Rudolf Steiner (Brief Nr. 113, in GA 39): «Wenn Du mir in den nächsten Tagen schreibst, adressiere mir: Rudolf Steiner, Café Griensteidl, Herrengasse 3, Wien. » Das Café Griensteidl, an der Ecke Herrengasse/Schauflergasse gelegen, wurde im Jahre 1847 eröffnet und fünfzig Jahre später wieder geschlossen, weil das Gebäude einem Neubau weichen mußte. Im Vortrag vom 10. Februar 1916 in Berlin (in GA 65) erzählte Rudolf Steiner: «Verzeihen Sie, daß ich dies einfüge, aber es ist zu interessant, denn man sah im Café Griensteidl gewissermaßen, wenn man so zu gewissen Tageszeiten hinkam, wirklich einen Ausschnitt österreichischen Literatentums. Nur wird heute vielfach, wenn man über diese Dinge liest, von den Zeiten des später zur Berühmtheit gelangten Kellners Heinrich erzählt - des berühmten Heinrich vom Griensteidl, der wußte, was jeder Mensch, schon wenn er zur Türe hereinkam, für Zeitungen vorgelegt haben mußte. Aber das war nicht mehr die echte Zeit, jene des etwas fidelen Heinrich, sondern die eigentlich echte Zeit war jene des Franz vom Griensteidl, der noch die Zeiten erlebt hat, in denen Lenau und Grillparzer und Anastasius Grün in jenem Café Griensteidl jeden Tag oder jede Woche zweimal versammelt waren, und der noch mit seinem unendlich würdigen Auftreten einem zuweilen, wenn man gerade auf eine Zeitung warten mußte, von allen diesen Literaturgrößen in seiner Art zu erzählen wußte. »

105 wo Lenau, Anastasius Grün und alle möglichen: Nikolaus Lenau (eigentlich Nikolaus Niembsch, Edler von Strehlenau, 1802-1850) war ein österreichischer Dich-



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Anastasius Grün war das Pseudonym, unter dem Alexander Graf von Auersperg (1808 —1876) seine Dichtungen veröffentlichte. Einer wohlhabenden aristokratischen Gutsbesitzerfamilie angehörig, genoß er eine vielfältige Universitätsausbildung und unternahm anschließend ausgedehnte Reisen in Europa. Er verfaßte nicht nur eine Reihe von zum Teil politisch gefärbten Dichtungen, sondern setzte sich auch als Politiker für liberale Ziele ein. Aufgrund seiner politischen Ausrichtung wurde er 1848 als Abgeordneter in die Frankfurter Nationalversammlung gewählt. Er war zeitweise auch Mitglied des Landtages der Länder Kram und Steiermark.

105 schrieb Karl Kraus eine Broschüre «Die demolierte Literatur»: Mit seinem Erstlingswerk, der Broschüre «Die demolierte Literatur» (Wien 1897) — es handelte sich um eine Satire auf die damalige Literaturszene in Wien -, legte Karl Kraus die Grundlage zu seinem Ruf als Schriftsteller mit einer ausgesprochen spitzen Feder.Karl Kraus (1874-1936) entstammte einer wohlhabenden jüdischen Fabrikantenfamilie aus Wien, so daß er sich sein Leben lang nie finanzielle Sorgen zu machen brauchte. Sein Studium an der Universität brach er ohne Abschluß ab, um schließlich eine Karriere als Journalist zu beginnen. Den unseriösen Journalismus verabscheute er aber zutiefst. Seine überragende Beherrschung der deutschen Sprache ließ ihn zum Kämpfer gegen die Verwahrlosung der deutschen Sprache werden. Mit seiner spitzen Feder entwickelte er sich zum gefürchteten Kritiker bekannter Persönlichkeiten wie zum Beispiel Maximilian Harden. 1899 gründete er unter dem Titel «Die Fackel» seine eigene Zeitschrift, die in zwangsloser Folge erschien. Kraus lehnte die Bewahrung der jüdischen Identität ab und empfahl die Assimilation der Juden als einzig gangbaren Weg. Diese Haltung gipfelte 1899 in seinem Austritt aus der jüdischen Religionsgemeinschaft und 1911 in seiner Konversion zum Katholizismus. Allerdings verließ er im Jahre 1923 die katholische Kirche bereits wieder.

106 daß er, der Linzer: Hermann Bahr war in Linz aufgewachsen, als Sohn des kaiserlich-königlichen Notars Dr. Alois Bahr.

106 wie er von Maurice Barres schwärmte: In seiner Autobiographie «Selbstbildnis» (München 1923) bekannte Hermann Bahr (Kapitel XIX): «Kein Dichter meiner Generation hat so tief auf mich gewirkt; und immer wieder, zwanzig Jahre lang. » Und: «Mir war Barres, noch bevor ich ihn in Person kennenlernte, gleich so vertraut, wirklich fast als wär's ein Zwillingsgeist von mir. Alle Stichworte meines inneren Lebens fand ich bei ihm, und wenn ich ihn las, war's ein Selbstgespräch.» Und auch später wirkte Maurice Barres immer noch auf ihn, «durch seine Wendung zum Regionalismus. Sie half auch mir, mich auf Österreich besinnen, auf mein Vaterland, a l'arbre dont je suis une des feuilles. Es war der erste zagende Schritt zur Besinnung auf den Weinstock, an dem ich die Rebe bin. »Maurice Barres (1862 —1923) war ein französischer Journalist und zugleich auch ein erfolgreicher Schriftsteller, der einen betont nationalistischen Standpunkt ein-



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nahm. Abgestoßen von der narzißtischen Dekadenz der Pariser Fin-de-siecle-Kultur, die er als überfeinert und überfremdet empfand, sah er in den nationalen und religiösen Traditionen die festen Grundlagen menschlicher Existenz. Diesen widmete er seine Werke. 1906 wurde der Dichter in die «Académie Française» aufgenommen. Barres betätigte sich aber auch als Politiker. Von 1889 bis 1893 gehörte er als überzeugter Anhänger des Generals Boulanger (siehe Hinweis zu S. 105) dem Abgeordnetenhaus an. 1906 wurde er als Vertreter der extremen Rechten erneut ins Abgeordnetenhaus gewählt, dem er bis zu seinem Tode angehörte. Barres zählte zu den Gegnern einer Rehabilitation von Alfred Dreyfus (siehe Hinweis zu S. 49), was ihn veranlaßte, an der Gründung der «Action française» (siehe Hinweis zu S. 230) mitzuwirken. Während des Ersten Weltkrieges - er war seit 1914 Präsident der weit rechtsaußen stehenden, von Paul Déroulède (1846-1914) gegründeten nationalen Vereinigung «Ligue des patriotes» —veröffentlichte er nahezu täglich einen antideutschen Artikel im «Echo de Paris». Sein zur Schau getragener Militarismus entsprach aber nicht immer seiner inneren Verfassung.

106 Dann gründete er selber mit einigen anderen zusammen in Wien eine Wochenschrift. 1894 gründete Hermann Bahr zusammen mit Isidor Singer (1857-1927) und Heinrich Kanner (1864-1930) «Die Zeit. Wiener Wochenschrift für Politik, Volkswirtschaft und Kunst». Sie erschien im «Vernay Verlag». Bahr übernahm die Feuilletonredaktion. 1899 schied er wieder aus und wurde Theaterkritiker beim «Neuen Wiener Tagblatt». Die Wochenschrift erschien bis 1904; sie wurde anschließend in eine Tageszeitung umgewandelt, die bis 1918 erschien. Die «Zeit» gilt als Spiegel des literarischen und kulturellen Lebens um die Jahrhundertwende.

106 so hat er sich nun weiter gewandelt wie einst vom Deutschnationalen zum Sozialdemokraten: Im Stenogramm steht die umgekehrte Reihenfolge «vom Sozialdemokraten zum Deutschnationalen», was aber auf einem Irrtum beruht (siehe Hinweis zu 5. 104).

106 In den letzten Jahren haben ihn öfters die Danziger, seine geliebten Danziger, eingeladen: An den Anfang seiner Schrift über den «Expressionismus» (München 1916) setzte Hermann Bahr seinen Danziger Zuhörern eine Art Denkmal (Abschnitt «Trost in Goethe»): «Ich spreche seit Jahren gern in Danzig. Diese Menschen sind mir lieb geworden. Sie hören gut zu und bringen dem Redner etwas entgegen, das ihn produktiver macht, als er in gemeinen Stunden ist. Ihre Teilnahme steigert ihn, ihre Gunst holt alle Kraft aus ihm heraus, und indem er sie, so leicht sie sich bewegen, so gern sie sich verlocken lassen, dabei doch kritisch aufmerksam, ja beim ersten Anlaß gleich zum Spott bereit merkt, muß er auf der Hut sein, nimmt sich zusammen und übertrifft sich selbst. Es ist mir dort geschehen, daß ich bei Vorträgen, die mir längst geläufig, ja durch Übung und Gewohnheit schon fast mechanisch geworden waren, Wendungen, Einfälle, Lebendigkeiten fand, die ich mir gar nicht anmaßen durfte, sondern, fast mit Neid, eigentlich diesen Zuhörern und ihrer geheimnisvoll mich belebenden Kraft zusprechen mußte. Darum ist es mir auch, wenn ich einen Vortrag zum ersten Mal halten soll, in Danzig am liebsten. »

106 denen er Vorträge hielt über Expressionismus, die sie sehr gut verstanden haben sollen. Hermann Bahr zum Zustandekommen seiner Danziger Kunstvorträge über den Expressionismus (gleicher Ort): «Nun bot mir Stadtrat Goeritz, der Leiter des Vereins, in dem ich immer spreche, das letzte Mal an, mich jetzt einmal über die neueste Kunst auszulassen. über Expressionismus, Kubismus, Futurismus. Goeritz, der selbst einen ganz entschiedenen Geschmack, ein ganz zuverlässiges Kunstgefühl hat, sich also sicher weiß, kann es sich erlauben, auf alles einzugehen, ohne Angst,



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106 die ja auch erschienen sind in seinem Buch über den Expressionismus: Bahrs Danziger Ausführungen stellten denn auch die Grundlage für seine Schrift über den «Expressionismus» (München 1916) dar; allerdings handelte es sich um eine wesentliche Erweiterung seiner Vorträge. Bahr (Abschnitt «Trost in Goethe»): «Ich wollte hinschreiben, was ich gesprochen hatte. Damit aber erging es mir höchst seltsam! Denn indem ich einfach niederzuschreiben glaubte, was ich in Danzig gesagt hatte, fand ich mich bald unversehens weggelockt, so weit weg, daß ich einhalten, umkehren und noch einmal von vorn anfangen mußte. Kaum aber war dies geschehen, als ich mich gleich wieder auf einem Abweg sah, und so fort und immer wieder, und ich hatte dabei noch immer das, was ich meinte, nicht herausgesagt! Mein Vortrag war schließlich mit diesen Extratouren so verflochten und umwunden, daß ich selber seine Züge kaum mehr erkennen konnte. »

106 Da schwärmt er nun auch von Goethes Naturwissenschaftlichen Schriften. In seiner Schrift über den Expressionismus ging Hermann Bahr auch auf Goethe und dessen «Naturwissenschaftlichen Schriften» (siehe Hinweis zu 5. 98) ein. Im Abschnitt «Der ganze Goethe» macht er auf eine in seinen Augen bisher vernachlässigte Seite von Goethes Wirken aufmerksam. Er schreibt: «Wenn ich an die Linde im Garten denke, muß ich sie mir schon erdenken. Sie ist das ja nie, sie wird es erst durch mich. Damit ich sie nur überhaupt gewahren kann, muß durch mich an ihr etwas geschehen. Was ich jedesmal von ihr erblicke, sind jedesmal wieder andere Modifikationen, und daß ich alle diese Modifikationen auf einen und denselben unbekannten Grund, immer auf ein und dasselbe Unbekannte beziehe, das ist schon meine Tat. Dies meint Goethe, wenn er unablässig immer wieder auf das Tun dringt. Durch Tun erst wird Wissen ganz. » Weiter: «Alles Wissen ist ohnmächtig, solange nicht aus unserem Innern noch eine Kraft dazu kommt, die, was wir wissen wollen, erst vollbringt. Diese Kraft in uns, die wir den Modifikationen antun, bleibt uns ebenso unbekannt als die hinter den Modifikationen wirkende, sie bewirkende Kraft; wir glauben nur gewiß zu sein, daß diese beiden Unbekannten einander durch uns hindurch die Hände reichen. So kommt Goethe zu seinem besonderen Begriff einer Wissenschaft, für die das Wissen nicht hinreicht, die mehr sein muß, nämlich Kunst.» Und die Schlußfolgerung: «Damit spricht er aus, was ihm Wissenschaft -jene Wissenschaft, die er sich zur Kunst gesteigert denkt - ist: Gesetz geben. Nicht die Natur enthält das Gesetz, und der Mensch entnimmt es ihr, sondern sie erhält es von ihm. » Diesen «geistigen» Goethe bezeichnete Hermann Bahr als den «katholischen» Goethe: «Ist auch unsere Zeit noch immer nicht reif für diesen Goethe, den ganzen und den man in mehr als einem Sinn, doch freilich auch mit mehr als einem Vorbehalt den katholischen Goethe zu nennen sich fast versucht fühlt?»

106 daß er auch ein wenig herangekommen ist an das, was wir als Anthroposophie kennenlernen. Im Abschnitt «Das Auge des Geistes» seiner Schrift über den Expressionismus schrieb Hermann Bahr: «Womit also bewiesen wäre, daß dieses geistige Sehen, dessen manche Menschen, in der Kindheit fast alle, fähig sind, mehr als ein bloßes Erinnern oder ein bloßes Reproduzieren des sinnlichen Sehens, daß es ein eigenes Produzieren ist, daß das geistige Sehen eine schaffende Kraft hat, die Kraft, eine Welt nach anderen Gesetzen zu schaffen als den Gesetzen des sinnlichen Sehens.



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Hermann Bahr unterließ es aber, in diesem Zusammenhang Rudolf Steiners Ansatz zu erwähnen - er erwähnt ihn in seiner Schrift über den Expressionismus nur einmal (Abschnitt «Dunkle Rede»), und zwar in Zusammenhang mit Martin Buber: «Kaum irgendein anderer deutscher Schriftsteller hat mich in den letzten Jahren so stark angezogen und auch festzuhalten vermocht wie Martin Buber. Was ich von ihm gelesen, erschien mir als gute Botschaft, als ein Zeichen dafür, daß die Menschheit vielleicht wieder einmal daran ist, sich umzuwenden. Er, Johannes Müller und Rudolf Steiner, diese drei vor allen, sagen uns das an. Die Menschheit hat ja die Gewohnheit, immer wenn sie eine Zeitlang ganz zum Sichtbaren hin, ganz im sinnlich Wahrnehmbaren stand - so ganz darin, daß ihr alles Unsichtbare entschwand -, sich plötzlich wieder umzukehren, nun wieder zum Unsichtbaren hin, so sehr, daß sie zuletzt das Sichtbare gar nicht mehr sehen will. Das sind dann die horchenden, ins Schweigen hineinhorchenden Zeiten, denen die Nacht zu reden beginnt. »

106 Man hat in letzter Zeit vielfach erzählt, Hermann Bahr sei katholisch geworden. In seiner Autobiographie «Selbstbildnis» (München 1923) erzählt Hermann Bahr (Kapitel XXIV): «Burckhard [Max Burckhard, der Jugendfreund Hermann Bahrs] und ich gefielen uns damals eine Zeitlang als neue Rosenkreuzer; wir wollten Katholizismus, aber einen sozusagen selbstgebackenen, <ohne Pfaffen>. Da war's ein Satz Nietzsches, der mir den letzten Star stach. In <Jenseits von Gut und Böse> las ich. <Denn autonom und sittlich schließt sich aus.>Gerade solche Selbstverständlichkeiten müssen uns immer erst gesagt werden, um einzuleuchten. Nun war mir klar, daß es wählen und, wenn meine Wahl für <sittliche entschied, auf <autonome verzichten hieß. Im Begriff <sittliche lag ja schon Anerkennung einer Autorität. » Und weiter: «Wenn mir eine Kirche zugibt, daß ich sie vielleicht entehren kann, wird mich der Ehrgeiz, es ohne sie zu versuchen, nicht ruhen lassen. Nur die Kirche, extra quam nulla salus, lohnt überhaupt einen Versuch. Denn wenn's vielleicht doch auch ohne sie geht, wozu dann erst? Eine Kirche, die selber sich bloß sozusagen als eine von vielen Varianten eines verlorenen Textes fühlt, kann mich nicht sichern; und Ungewissheiten hab ich an mir selber genug. »

107 Sie haben es nun auch in seinem neuesten Roman gesehen. Gemeint ist der Roman «Die Himmelfahrt» (Berlin 1916, siehe Hinweis zu 5. 90).

107 durch das sogenannte Testament Peters des Großen. Siehe Hinweis zu 5. 73.



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108 daß eine große Anzahl von slawischen Volksstämmen: Rudolf Steiner betrachtete die in den drei slawonischen Komitaten lebende Bevölkerung als eigenständige Völkerschaft. Slawonien gehörte vor dem Ersten Weltkrieg staatsrechtlich zum Königreich Kroatien-Slawonien und damit zum transleithanischen (ungarischen) Reichsteil der habsburgischen Doppelmonarchie. Die Slawonen können als eine Untergruppe der Kroaten betrachtet werden. Weitere Völkerschaften, die in der Bevölkerungsstatistik geführt wurden, aber von Rudolf Steiner nicht erwähnt werden, sind die rätoromanischen Ladiner - sie wurden in der Regel als der italienischen Sprachgruppe zugehörig betrachtet - und die von den Behörden als «Zigeuner» bezeichneten Roma.

108 daß in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts eine wesentliche Bestrebung: Im österreichischen Gesamtstaat spielte die Nationalitätenfrage im Verlaufe des 19. Jahrhunderts eine immer wichtigere Rolle. Der Habsburgerstaat war ursprünglich eine durch die gemeinsame Krone bewirkte staatliche Zusammenfassung der verschiedensten Herrschaftsgebiete. Der Versuch, nach der Revolution von 1848 bis 1849 den Absolutismus durchzusetzen und Österreich-Ungarn in einen Einheitsstaat umzuwandeln, scheiterte. Mit dem sogenannten Oktoberdiplom vom 20. Oktober 1860 wurde die Autonomie der Kronländer bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung des Gesamtstaates wieder anerkannt. Der Ausgleich mit Ungarn vom 18. Februar 1867 (siehe Hinweis zu 5. 254 in GA 173b) brachte eine Aufspaltung des Gesamtstaates in einen transleithanischen (ungarischen) und zisleithanischen (österreichischen) Reichsteil. Aber die Frage der nationalen Autonomie der einzelnen Völker war damit noch nicht gelöst. Die deutsch-ungarische Vorherrschaft in den beiden Reichsteilen wurde durch die anderen Völker in Frage gestellt. Vor allem die slawischen Bevölkerungsteile, das heißt die Tschechen, die Polen sowie die Serben und Kroaten, verlangten nach größerer nationaler Eigenständigkeit. Die Funktion des Reichsrates, des österreichischen Parlamentes, wurde durch die Obstruktionspolitik der oppositionellen Nationalitäten zum Teil empfindlich behindert. In seinen Wiener Jahren, das heißt vor allem in seiner Zeit als Redakteur bei der «Deutschen Wochenschrift» im Jahre 1888, konnte Rudolf Steiner diese innenpolitischen Kämpfe auf der Parlamentstribüne aus nächster Nähe verfolgen. Seine Sympathien galten der deutschliberalen Richtung, die die Interessen der deutschen Kulturnation in Österreich vertraten, allerdings stellte er das abstrakte Politisieren der Deutschliberalen zunehmend in Frage, da sie das ganze Ausmaß der sozialen und nationalen Probleme unterschätzten. Der Umbau Österreich-Ungarns von einem dualistischen zu einem trialistischen Staatsgebilde, wie es zum Beispiel dem Thronfolger Franz Ferdinand wenigstens zeitweise vorschwebte (siehe Hinweis zu 5. 109), sollte ebenfalls dem Ausgleich unter den Nationalitäten dienen.

109 die Balkanslawen, welche lange Zeit unter türkischer Herrschaft waren: 1352 setzte die türkisch-osmanische Eroberung des Balkanraumes ein. Ihren ersten Höhepunkt erreichte sie mit der Belagerung Wiens im Jahre 1529. 1683 nach dem verlustreichen Ausgang der zweiten Belagerung Wiens setzte der Niedergang der türkischen Herrschaft in Südosteuropa ein. 1913 hatte sie die türkische Herrschaft bis auf einen kleinen Rest um Adrianopel (Edirne) reduziert, nachdem im 19. Jahrhundert die nationale Befreiungsbewegung unter den Balkanslawen eingesetzt hatte. 1878 erreichten Serbien und Montenegro sowie Rumänien die volle staatliche Unabhängigkeit, 1908 Bulgarien und 1913 Albanien. Eine Vorreiterrolle spielte Griechenland, das 1832 seine nationale Souveränität erkämpft hatte.Die türkische Herrschaft über die Balkanregion läßt sich aufgrund ihrer Dichte in drei Herrschaftsräume einteilen: 1. die weitgehend autonomen Fürstentümer Moldau,



173a-401 Hinweise zum Vortrag vom 10. Dezember 1916 Flip  arpa

Walachai, Siebenbürgen, die heute zu Rumänien und zu Moldawien gehören, sowie Restungarn, das zentralistisch verwaltet wurde, 2. die mit unterschiedlichen Selbstverwaltungsrechten ausgestatteten Gebiete von Kroatien, Serbien, Montenegro, Bosnien, Kosovo, Albanien und Griechenland, wobei einzelne Teilregionen faktisch unabhängig waren wie zum Beispiel das Fürstentum Montenegro, die Stadtrepublik Dubrovnik oder die Mönchsrepublik Athos, 3. die grundsätzlich zentralistisch verwalteten, aber zum Teil mit lokalen Sonderrechten ausgestatten Gebiete von Bulgarien, Thrakien, Makedonien und der Dobrudscha, die heute zwischen Bulgarien, Makedonien, Griechenland und Rumänien aufgeteilt sind.

109 geradezu einen intensiven Freund des Slawentums nennen: Diese Meinung wurde zwar zum Teil durch die damalige Presse verbreitet, aber sie traf in dieser allgemeinen Form nicht zu. Erzherzog Franz Ferdinand nahm eine unterschiedliche Haltung gegenüber den slawischen Völkern ein. Von ihm geschätzt wurden vor allem die Kroaten -nicht nur wegen ihres römisch-katholischen Glaubensbekenntnisses und ihrer Treue zur habsburgischen Dynastie, sondern auch wegen ihrer Gegnerschaft zu den Ungarn. Seiner Sympathie konnten sich auch die Slowenen, die Slowaken und die Ruthenen erfreuen. Gegenüber den Polen verhielt er sich ablehnend, aber auch gegenüber den Tschechen, obwohl seine Gattin, Sophie von Chotek, dem tschechischen Uradel entstammte (siehe Hinweis zu 5. 100). Da sie im deutschen Kulturumfeld aufgewachsen war, sprach sie aber nur schlecht tschechisch.Um ein politisches Gegengewicht gegen Ungarn zu schaffen, das er wegen seines Hegemonialstrebens für die zunehmende politische Lähmung in der Doppelmonarchie verantwortlich machte, befürwortete Franz Ferdinand bei verschiedenen Gelegenheiten die Errichtung eines slawischen Königreiches, zum Beispiel anläßlich des offiziellen Staatsbesuchs des russischen Zaren Nikolaus II. (siehe Hinweis zu 5. 109 in GA 173b) in Österreich-Ungarn. Dieser fand vom 30. September bis 3. Oktober 1903 im Rahmen der seit 1898 bestehenden austro-russischen Entente statt - Zar Nikolaus wurde auf dem kaiserlichen Jagdschloß in Mürzsteg (Steiermark) empfangen. Franz Ferdinand gehörte damit zu den Befürwortern eines Umbaus der österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie: Der bestehende Dualismus sollte durch einen Trialismus ersetzt werden. Ob nun die Tschechen oder die Südslawen unter der Führung der Kroaten in den Genuß dieser Autonomie kommen sollten oder sogar beide, was eigentlich die Einführung eines Quadrilismus bedeutet hätte, wurde von ihm nicht immer gleich gesehen. Sehr starken Einfluß auf Franz Ferdinand übten zeitweise auch die Ideen des aus Siebenbürgen stammenden rumänischen Juristen und Politikers Aurel Popovici (1863-1917) aus, der ein Buch unter dem Titel «Die Vereinigten Staaten von Groß-Osterreich» (Leipzig 1906) veröffentlichte. Popovici schlug eine durchgreifende Föderalisierung Österreich-Ungarns durch die Schaffung einer Vielzahl (fünfzehn oder siebzehn, wenn Bosnien-Herzegovina eingerechnet) von national geschlossenen Gliedstaaten vor. Bemerkenswert ist auch, daß sich Franz Ferdinand ursprünglich entschieden gegen eine Annexion von Bosnien-Herzegovina ausgesprochen hatte und sich erst nach langen Diskussionen zu einer Zustimmung bereit fand.

Seine grundsätzliche politische Haltung zur Slawenfrage und zum Handlungsspielraum Österreich-Ungarns legte Franz Ferdinand verschiedentlich dar, zum Beispiel einige Monate vor seiner Ermordung in einem Brief an den Grafen Berchtold, den österreichisch-ungarischen Außenminister (siehe Hinweis zu 5. 253 in GA 173b). In diesem Brief vom 1. Februar 1913 warnt er (zitiert nach: Hugo Hantsch, Leopold Graf Berchtold. Grandseigneur und Staatsmann, Graz 1963,



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Band J, Siebentes Kapitel, «Die Mission des Prinzen Gottfried zu Hohenlohe-Schillingsfürst»): «Ohne daß wir uns etwas vergeben, sollten wir alles tun, um für uns den Frieden zu erhalten! Wenn wir den großen Krieg mit Rußland entamieren [anfangen], so ist dies ein Unglück, und wer weiß, ob unser linker und rechter Flankenschutz funktioniert; Deutschland hat mit Frankreich zu tun, und Rumänien wird sich auf die bulgarische Gefahr ausreden. Also jetzt ein sehr ungünstiger Moment. Führen wir einen Spezialkrieg mit Serbien, so werden wir es in kürzester Zeit über den Haufen rennen, aber was dann? Und was haben wir davon? Erstens fällt ganz Europa über uns her und betrachtet uns als Friedensstörer, und Gott behüte uns, daß wir Serbien annektieren; ein total verschuldetes Land mit Königsmördern und Spitzbuben etc. Und wo wir nicht einmal mit Bosnien fertig werden und dieser Spaß schon ein Heidengeld kostet und eine Brutstätte staatsrechtlicher Fragen ist, was wird erst mit Serbien werden! Da können wir dann die Milliarden hineinwerfen und werden dort immer eine schauerliche Irredenta haben. Und was die Irredenta bei uns im Lande anbelangt, die von den Kriegsstürmern immer ins Treffen geführt wird, so wird dieselbe sofort aufhören, wenn man unseren Slawen eine angenehmen, gerechte und gute Existenz schafft. » Und die Voraussetzung dazu: «Zuerst muß man Ordnung im eigenen Haus haben und alle Völker wie einen Mann hinter sich haben, dann kann man Hurrah-Politik machen. Nachdem dies aber nicht geschieht und man ganze Völker und Nationen wie die Kroaten, Rumänen und Dalmatiner etc. einer gewissenlosen Clique, hinter der die Freimaurer, Juden etc. etc. stecken, ausliefert, so kann man keine großzügige aggressive äußere Politik machen. » Und das heißt: «Aber Hand in Hand müßten alle maßgebenden Faktoren, die es mit Dynastie und Monarchie gut meinen, mit aller Kraft daran arbeiten, daß die Zustände im Inneren saniert werden, daß wieder Gerechtigkeit im Lande werde, daß die antidynastischen, jüdischen, freimaurerischen Elemente, die bis in die höchsten Kreise reichen, zurückgedrängt werden, daß die guten Elemente nicht fort vor den Kopf gestoßen werden und man wieder Stärke und Kraft erlange. Dann kann das Ausland in seinen Zeitungen (leider bis jetzt mit Berechtigung) uns nicht mehr als eine quantité négligeable ausrufen, als ein im Zugrundegehen begriffener Staat, dann werden wir wieder Achtung im Konzerte der Völker genießen, und dann kann man kräftige äußere Politik machen. »

110 es war einmal ein Thronfolger da gewesen. Erzherzog Rudolf von Habsburg-Lothringen (1858-1889) war der einzige Sohn von Kaiser Franz Joseph J. und Kaiserin Elisabeth (Sisi oder Sissi). Er war deshalb von Geburt an als Kronprinz für die Nachfolge seines Vaters vorgesehen. Kronprinz Rudolf mußte eine harte militärische Erziehung über sich ergehen lassen. Seine Mutter kümmerte sich wenig um ihn, und mit seinem Vater verstand er sich in politischen Dingen sehr schlecht; sie vertraten völlig gegensätzliche Auffassungen. Kaiser Franz Joseph I. war streng katholisch-konservativ eingestellt und stand damit in vollständigem Gegensatz zu seinem Sohn, der sich als moderner, liberal gesinnter Mensch verstand. Franz Joseph verwehrte ihm jeden wirklichen politischen Einfluß, so daß Rudolf auf lange Sicht nur die Perspektive eines einflußlosen Kronprinzen blieb. Seit 1881 war Erzherzog Rudolf mit der belgischen Prinzessin Stephanie (Stéphanie, Stefanie, 1864-1945) aus dem Hause Sachsen-Coburg-Gotha, der Tochter von König Leopold II. (siehe Hinweis zu 5. 128 in GA 173b), unglücklich verheiratet; eine von ihm angestrebte Scheidung lehnte Kaiser Franz Joseph I. ab. Unheilbar erkrankt, beging er am 30. Januar 1889 in Mayerling, zusammen mit einer seiner Geliebten, der achtzehnjährigen Mary Freiin von Vetsera (1871-1889), unter nicht restlos geklärten Umständen Selbstmord. Um seinen Freitod ranken sich bis heute die verschiedensten



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Gerüchte. Präsumtiver, wenn auch zunächst nicht formell anerkannter Thronfolger wurde Erzherzog Franz Ferdinand von Habsburg-Lothringen, ein Neffe Kaiser Franz Josephs I. (siehe Hinweis zu S. 100).

110 daß durch seine Seele etwas wirkte: Kronprinz Rudolf stand dem westlichen politischen Denken sehr nahe, war er doch mit dem späteren französischen Ministerpräsidenten Georges Clemenceau (siehe Hinweis zu S. 42) und dem damaligen Prince of Wales und späteren König Eduard VII. (siehe Hinweis zu S. 141) befreundet. Beide gehörten der Freimaurer-Bewegung an, und wahrscheinlich war auch Kronprinz Rudolf Mitglied des Freimaurer-Bundes. Es scheint, daß er in der Zeit nach 1883 im geheimen einer ungarischen Loge beigetreten ist, was aber im Grunde völlig unvereinbar war mit seiner Zugehörigkeit zum katholischen Herrscherhaus der Habsburger. Als Kronprinz beschäftigte sich Rudolf intensiv mit der politischen Zukunft der Habsburgermonarchie. Grundsätzlich liberal gesinnt, lehnte er jeden Nationalismus ab und vertrat die Idee einer Gemeinschaft von gleichberechtigten Völkern unter einem Dach mit absoluter religiöser Toleranz.So trat er für die Bildung eines großen Staatenbundes unter habsburgischer Führung ein, der vom Bodensee bis an den Bosporus reichen sollte. In diesem Staatenbund war Österreich-Ungarn eine Führungsrolle zugedacht, indem es seine bisherige, gegen die Balkanvölker gerichtete Politik aufgeben und aktiv deren Interessen und Wünsche aufgreifen sollte. Zu dieser als Austroslawismus zu kennzeichnenden Haltung bemerkte Werner Richter in seiner Biographie «Kronprinz Rudolf von Österreich» (Erlenbach 1941, im X. Kapitel, «Pläne und Zweifel»): «Im Innern sollten beispielsweise die Rumänen Ungarns und des Königreichs Rumänien zu einem Großrumänien unter habsburgischer Schutzherrschaft vereint, ein starkes Bollwerk zwischen Rußland und der Balkanhalbinsel bilden; auf ihr selbst sollte Bosnien und Herzegovina in ähnlicher Form mit Serbien, Montenegro, Albanien verbunden werden; Bulgarien und Griechenland, dieses bis Konstantinopel erweitert, sollten Militärkonventionen mit der Monarchie schließen. Innerhalb des Kontinents gesichert werden sollte diese Konstruktion [...] durch Angleichung ihrer Lebensmaximen an die liberalen Grundsätze, als auch an die demokratischen Westmächte, woraus sich freilich eine staatstheoretische Isolierung und damit auch eine politische Einklammerung Deutschlands automatisch ergeben haben würde. » Damit hätte die Habsburger Monarchie sich in den Dienst jenes politischen Konzepts gestellt, das in der Schaffung einer großen Balkanföderation einen wichtigen Schutzwall gegen das russische Vordringen sah (siehe Hinweis zu 5. 257 in GA 173b). Von daher ist es verständlich, daß Kronprinz Rudolf eher für ein Zusammengehen Österreich-Ungarns mit den westlichen Demokratien Frankreich und England eintrat. So war sein Verhältnis zum deutschen Reichskanzler Otto von Bismarck und vor allem auch zum deutschen Kronprinzen, dem späteren Kaiser Wilhelm II., gespannt. Er teilte durchaus die französische Besorgnis vor einer drohenden Aufteilung Österreich-Ungarns durch Deutschland (siehe Hinweis zu 5. 177).

Wie weit sich Kronprinz Rudolf in dieser Richtung politisch vorwagte und wie sehr er sich dabei auf die Seite der ungarischen Interessen stellte, ist nicht eindeutig geklärt. Auf jeden Fall geriet Rudolf mit seiner politischen Überzeugung in einen scharfen Gegensatz zu seinem Vater, Kaiser Franz Joseph, der in der politischen Haltung seines Sohnes Elemente des Hochverrates sehen mußte.

110 was der Russizismus mit dem Slawentum will: Als Russizismus werden all jene Bestrebungen bezeichnet, die auf eine politische Vormachtstellung Rußlands durch die Schaffung eines russischen Großreichs («Rossijskaja Imperija») hinzielten. Zeit-



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In seiner Schrift «Der Gegensatz zwischen Österreich-Ungarn und Rußland» (Stuttgart/Berlin 1915) schrieb der österreichische Journalist Alexander Redlich (siehe Hinweis zu 5. 84) über die grundsätzliche Haltung Rußlands gegenüber den Balkanvölkern (Kapitel «Die Balkanpolitik Österreich-Ungarns und Rußlands») — Rudolf Steiner hatte diese Schrift intensiv durchgearbeitet: «Die russische Politik ist also weit davon entfernt gewesen, sich irgendwie um das Wohl und Wehe der Balkanstaaten zu kümmern, und sie hatte nichts anderes im Auge als die Erfüllung langgehegter Eroberungspläne. Es zeigt aber auch [.1. daß der Weg, der zu diesem Ziele führen sollte, nichts anderes war als der skrupelloseste Schacher mit Ländern und Völkerschaften, ein Schacher mit jenen Völkern, deren Befreiung Rußland seit Jahrzehnten als eine seiner Hauptaufgaben hingestellt hat. Für Rußland war es vollkommen gleichgültig, was aus den Balkanstaaten wurde, wenn sie erst ihre Pflicht getan hatten. » Und die Schlußfolgerung: «Fragt man, warum die Balkanstaaten bisher von Rußland verschont wurden und warum sie nach dem Kriege ihm plötzlich zum Opfer fallen sollen, dann gibt es nur die eine Antwort: die Balkanstaaten leben, solange Österreich-Ungarn existiert, und sie verschwinden, wenn Österreich-Ungarn vernichtet wird. »

Ein wichtiger Vertreter dieser Bestrebungen war zum Beispiel - neben dem Journalisten und Verleger Michail Nikiforovic Katkov (siehe Hinweis zu 5. 63) — der einflußreiche russische Diplomat und Politiker Nikolaj Pavlovic Graf Ignatev (Ignatjew, 1832-1908). Seine Familie entstammte dem georgischen Adel, war aber nach Rußland ausgewandert. Ignatevs Vater, Pavel Nikolaeevic Graf Ignatev (1797-1880), war als Vertrauter des russischen Zaren Alexander II. zeitweise sogar Vorsitzender des russischen Ministerrates (vom März 1872 bis Januar 1880). Im russischen Pagenkorps erzogen, wurde der junge Ignatev bereits mit 17 Jahren Offizier, womit der Grundstein für seine Militärkarriere gelegt war, die ihm den Rang eines Generaladjutanten bringen sollte. 1856 wurde er zum russischen Militärattaché in London ernannt. Sein diplomatisches Talent sollte sich nicht nur während der Pariser Friedenskonferenz von 1856 zeigen, die den Krim-Krieg beendete und wo er eine günstige Grenzziehung für Rußland gegenüber Rumänien



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erreichen konnte, sondern auch als diplomatischer Beirat in Fernost (seit 1858) und schließlich als russischer Gesandter in Bejing (seit 1860). Im Rahmen der Verträge von Aigun (28./16. Mai 1858) und von Bejing (14.12. November 1860) gelang es ihm, von China nicht nur die Abtretung des linken Amur-Ufers, sondern auch der Nordost-Mandschurei zu erreichen. Zurück in St. Petersburg, übernahm er 1863 die Leitung des Asiatischen Departements in St. Petersburg, bis er 1864 zum russischen Gesandten in Istanbul ernannt wurde. 1867 erfolgte seine Rangerhöhung zum Botschafter -ein Amt, das er bis 1877 ausübte.

Sein Wirken in dieser Zeit stellte er ganz in den Dienst eines russizistisch gefärbten Panslawismus, der die Zertrümmerung der Türkei und die Ausdehnung des russischen Einflusses auf dem Balkan zum Ziel hatte. Mit allen Mitteln suchte er sein Ziel erreichen, und er scheute auch vor politischen Intrigen und Lügen nicht zurück, so daß er bald unter dem Beinamen «Menteur Pasa» bekannt wurde. In einem Aufsatz, der am 15. November 1914 unter dem Titel «Denkwürdigkeiten des Grafen Ignatjew» in der «Österreichischen Rundschau» (Band XLI Nr. 4) erschien, wird Ignatev mit den Worten zitiert: «Mir hat es immer geschienen, daß Rußland die geschichtliche Aufgabe habe, die Slawen zu sammeln und für sich zu behalten und keinen Fuß breit slawischen Landes freiwillig irgend jemandem zu überlassen. » Und weiter: «Im Interesse des Schutzes der Zukunft Rußlands hielt ich es für unbedingt notwendig, daß die slawische Fahne ausschließliches Attribut des Zaren sei und daß die Verstärkung des Einflusses irgendeiner anderen Macht, besonders Österreich-Ungarns, auf der Balkanhalbinsel durchaus nicht gestattet werde. » Tatsächlich gehörte Ignatev zu den entscheidenden Drahtziehern der Aufstandsbewegung in Bosnien-Herzegovina von 1875, die schließlich zum russisch-türkischen Krieg von 1877 bis 1878 führte (siehe Hinweis zu 5. 66). Sein Ziel war die Schaffung eines unter russischem Einfluß stehenden Großbulgarischen Reiches. Der Abschluß des in diese Richtung zielenden und für Rußland äußerst vorteilhaften Friedens von San Stefano vom 3. März/19. Februar 1878 (siehe Hinweis zu 5. 66) war hauptsächlich sein Werk. Allerdings verlor er an politischem Einfluß, als sein großer politischer Gegenspieler, der Diplomat Piotr Andreevic Graf Suvalov (siehe Hinweis zu 5. 80), vorläufig die Oberhand gewann. Vom Mai 1881 bis Juni 1882 war Ignatev russischer Innenminister und verantwortlich für die berüchtigten Mai-Gesetze von 1882, die den Judenpogromen sozusagen indirekte staatliche Unterstützung verliehen. Wegen angeblicher konstitutioneller Tendenzen fiel er beim neuen Zaren Alexander III. in Ungnade und wurde entlassen. Seine politischen Gegner, die Russizisten Pobedonoscev und Katkov (siehe Hinweis zu 5. 63), warfen ihm vor, die von ihm vorgeschlagene Einberufung einer Landesversammlung («Zemskij sobor») als Organ der Einheit zwischen dem einfachen Volk und dem Zaren würde allzu weit in Richtung westlicher Demokratie führen. Nach seiner Entlassung wirkte Ignatev schließlich ab 1888 als Präsident des Slawischen Wohltätigkeitskomitees, das nach wie vor Mittelpunkt der russisch-panslawistischen Agitation war (siehe Hinweis zu 5. 32).

Dieses Spannungsverhältnis zwischen Panslawismus und Russizimus beschreibt auch Hermann Wendel in seinem Buch «Der Kampf der Südslawen um Freiheit und Einheit» (Frankfurt am Main 1925). Ausgehend von den idealen Zielsetzungen des Panslawisten Danilevskij unterstreicht er den letztlich rein brutalen Machtcharakter des Russizismus (IX. Kapitel, «Die Großen und die Kleinen», 3. Abschnitt): «Danilevskij nährt die Hoffnung auf einen slawischen Kulturtyp, der zum ersten Mal alle Seiten der Kulturtätigkeit zusammenfasse, und stellte seine Ideologie eher auf Güte und Gerechtigkeit als auf Eroberung und Gewalt. Mochten die Aksakov und Katkov auch faustehrlichere Ziele predigen und bis in die Vorzimmer des Winterpalastes manches Ohr offen finden, so entsprachen ihre Mittel und Möglichkeiten



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bei weitem nicht den Befürchtungen Europas: Nur mit Ach und Krach brachte das Slawische Komitee in Moskau für die dringendsten Aufgaben jährlich siebzigtausend Rubel durch Sammlungen auf! Die große russische Politik aber hatte nur die Macht des Zarenreichs, nicht die Herrlichkeit des Slawentums im Auge und betrachtete im besten Fall den Panslawismus als eine Schutzfärbung. In einer Denkschrift mit dem unsentimentalen Ziel, die österreichischen und türkischen Slawen <zu Werkzeugen der russischen Politiker zu machen, warnte Ignatev vor dem Fehler, etwa das Mittel als Zweck zu nehmen und <die Befreiung der slawischen Völker vor Augen zu haben, dann aber zu gestatten, daß sie sich in den Dienst einer russenfeindlichen Politik stellen und sich mit dem humanitären Erfolg zufriedenzugeben>. »

Der für Rußland demütigende Ausgang des Krim-Krieges im Jahre 1856 führte zu einem Richtungswechsel in der russischen Außenpolitik: Die bisherige eher panslawistische Ausrichtung wurde durch eine russizistische Orientierung abgelöst. Das Streben Rußlands nach einer Vormachtstellung über alle slawischen Brüdervölker fand aber bei diesen nicht überall die gleiche politische Zustimmung. Besonders die Polen lehnten die Idee eines russisch-slawischen Großreiches ab; 1863 versuchten sie, die Unabhängigkeit von Rußland zu erringen. Einen Einfluß konnte Rußland dort gewinnen, wo seine Politik den Autonomiebestrebungen der einzelnen Balkanvölker entgegenkam. Wo sich einzelne Herrscher der russischen Hegemonialpolitik widersetzten, wurden Dynastiewechsel in die Wege geleitet, die eine prorussische Politik gewährleisten sollten - so 1888 in Bulgarien (siehe Hinweis zu 5. 32) und 1903 in Serbien (siehe Hinweis zu 5. 129). Von 1878 an, nach der großen Enttäuschung über die Ergebnisse des Berliner Kongresses, wo sich der Traum von einem russisch dominierten Großbulgarien politisch nicht durchsetzen ließ, schlug die russische Außenpolitik trotz der zeitweisen Wiederannäherung an die Mittelmächte (siehe Hinweise zu 5. 79 und 175) eine zunehmend antideutsche und antiösterreichische Richtung ein.

111 Manche sind tieferreichende Gesellschaften: Siehe Vortrag vom 11. Dezember 1916 (in diesem Band).

111 die «Narodna odbrana», das war eine Gesellschaft: Über die von Serbien ausgehende großserbische Agitation stellte das österreichisch-ungarische Außenministerium ein umfangreiches Dossier mit neun Beilagen zusammen, das es den Großmächten zusammen mit dem Wortlaut des Ultimatums an Serbien (siehe Hinweis zu 5. 78) am 24. Juli 1914 überreichen ließ. So heißt es dort (zitiert nach: Carl Junker, Dokumente zur Geschichte des Europäischen Krieges 1914, Wien 1914, Kapitel «24. Juli»): «Die von Serbien ausgegangene Bewegung, die sich zum Ziele gesetzt hat, die südslawischen Teile Österreich-Ungarns von der Monarchie loszureißen, um sie mit Serbien zu einer staatlichen Einheit zu verbinden, reicht weit zurück. In ihren Endzielen stets gleich bleibend und nur in ihren Mitteln und an Intensität wechselnd, hatte die Propaganda auf serbischem Boden zur Zeit der Annexionskrise [siehe Hinweis zu 5. 141] einen ihrer Höhepunkte erreicht. Den schützenden Mantel ihrer Heimlichkeiten abstreifend, war sie damals mit dem Einbekenntnisse ihrer Tendenzen offen hervorgetreten und hatte versucht, unter der Patronanz der serbischen Regierung mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln zur Verwirklichung ihrer Absichten zu gelangen. Während die gesamte serbische Presse in gehässigen, die Tatsachen entstellenden Ausfällen zum Kampfe gegen die Monarchie aufrief, bildeten sich - von anderen Propagandamitteln abgesehen -Assoziationen, die diesen Kampf vorbereiteten. »Als die wichtigste subversive Organisation, die gegen den Weiterbestand der Doppelmonarchie arbeitete, stufte das Wiener Außenministerium die «Narodna



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odbrana» ein (gleiche Quelle): «An Bedeutung ragte unter diesen die <Narodna odbrana>hervor. Aus einem damals bestandenen revolutionären Komitee hervorgegangen, war diese als Privatverein konstituierte, jedoch vom Belgrader Auswärtigen Amte völlig abhängige Organisation von serbischen Militär- und Zivilfunktionären ins Leben gerufen worden. Als ihre Gründer fungierten unter anderen: General Bozo Jankovic, die ehemaligen Minister Ljuba Jovanovic, Ljuba Davidovic und Velislav Vulovic, der Direktor der Staatsdruckerei Zivojin Dacic und die damaligen Hauptleute Voja Tankosic und Milan Pribicevic. Dieser Verein hatte sich die Bildung und Ausrüstung von Freischaren für den bevorstehenden Krieg gegen die österreichisch-ungarische Monarchie zum Ziele gesetzt. » Es sei klar erwiesen, daß die «Narodna odbrana» das Ziel eines bewaffneten Freiheitskampfes verfolge: «In ihren Statuten im Kleide eines Kulturvereines auftretend, dem nur die geistige und körperliche Entwicklung der Bevölkerung Serbiens sowie deren materielle Kräftigung am Herzen liegt, enthüllt die <Narodna odbrana> in ihrem Vereinsorgane den wahren und einzigen Grund ihres Daseins, ihr sogenanntes <reorganisiertes Programma, nämlich: In <fanatischer und unermüdlicher Arbeits dem serbischen Volke unter dem Vorwande, daß ihm die Monarchie <seine Freiheit und Sprache nehmen, ja Serbien zerschmettern>wolle, die <heilige Wahrheits zu predigen, daß es eine unerläßliche Notwendigkeit ist, gegen Österreich-Ungarn, diesen seinen <ersten und größten Feinde den <Ausrottungskampf mit Gewehr und Kanonen zu führen und das Volk <mit allen Mitteln>auf diesen Kampf vorzubereiten, der zuführen ist <zur Befreiung der unterworfenen Gebieten, in denen <sieben Millionen unterjochter Brüder schmachten>. »

Die Gründung der irredentistischen Organisation «Narodna odbrana» («Volksverteidigung» oder «Nationale Verteidigung») am 8. Oktober/25. September 1908 durch serbische Zivil- und Militärpersonen war eine Reaktion auf die Annexion Bosnien-Herzegovinas durch Österreich-Ungarn, die in Serbien als Diebstahl serbischer Erde empfunden wurde (siehe Hinweis zu 5. 141). Das Ziel dieser Organisation war die Rekrutierung von Freiwilligenverbänden, die als Guerillakräfte in Bosnien-Herzegovina den Boden für den Einmarsch der serbischen Armee vorbereiten sollten. Als Ausgangspunkt für die serbischen Aktivitäten war das serbische Städtchen Cuprija vorgesehen; die Leitung der militärischen Ausbildung sollte Voja Tankosic, der Kommandant der serbischen Guerillastreitkräfte in Makedonien (siehe Hinweis zu 5. 129), übernehmen. Als sich zeigte, daß Serbien nicht auf russische Unterstützung zählen konnte und deshalb gezwungen war, die Annexion Bosnien-Herzegovinas anzuerkennen, verlor die «Narodna odbrana» ihre Existenzgrundlage, denn die serbische Regierung sah sich veranlaßt, ihre Unterstützung für diese nationalistische Kampforganisation zunächst einmal einzustellen.

1911 kam es jedoch zu einer Erneuerung dieser Organisation. Sie wurde mit einem neuen Programm auf eine breitere Grundlage -nach außen als Turnverein - gestellt. Im Memorandum des österreichisch-ungarischen Außenministeriums vom 24. Juli 1914 wird eine 1911 in Belgrad erschienene Programmbroschüre erwähnt, in der unter dem Titel «Narodna odbrana: izdanje stredisnog odbora narodne odbrane» («Narodna odbrana: Ordentliches Programm der Volksverteidigung») die Ziele und die Tätigkeit der reformierten «Narodna odbrana» beschrieben werden. Zu den Beweggründen, die zu einer Neugründung führten, heißt es dieser Broschüre (zitiert nach: Carl Junker, Dokumente zur Geschichte des Europäischen Krieges 1914, Wien 1914, Kapitel «24. Juli», Beilage 2): «Man hat zur Zeit der Annexion die Erfahrung gemacht, daß Serbien für den Kampf, den ihm die Verhältnisse auferlegen, nicht vorbereitet ist und daß dieser Kampf, den Serbien aufzunehmen hat, viel ernster und schwieriger ist, als man dachte; die Annexion war nur einer der Schläge,



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den die Feinde Serbiens gegen dieses Land geführt hatten -ein Schlag, dem bereits viele Schläge vorangegangen sind und dem noch andere folgen werden. Damit ein neuer Überfall Serbien nicht ebenso unvorbereitet trifft, ist es notwendig, sich vorzubereiten, zu arbeiten. » Als Vereinsziele wurden genannt (gleiche Quelle): 1. Hebung, Ermutigung und Stärkung des Nationalgefühls 2. Einschreibung und Sammlung von Freiwilligen 3. Formierung von Freiwilligeneinheiten und der Vorbereitung zur bewaffneten Aktion 4. Sammlung von freiwilligen Beiträgen, Geld und anderen Erfordernissen zur Verwirklichung ihrer Aufgabe 5. Organisierung, Ausrüstung und Einexerzierung einer besonderen aufständischen Truppe (Komitee), bestimmt zu besonderer und selbständiger Kriegführung 6. Entwicklung einer Aktion in allen anderen Richtungen der Verteidigung des serbischen Volkes.

Der Verbreitung dieser Ziele im Volke sollten sogenannte Agitationsvorträge dienen, und zwar nicht nur in Serbien, sondern auch in den südslawischen Gebieten Österreich-Ungarns. Aufgrund dieser den österreichisch-ungarischen Behörden bekannten Zielsetzungen ist es verständlich, wenn sie der «Narodna odbrana» die Hauptverantwortung für das Attentat von Sarajevo zuschoben.

Es gab aber eine für die Sicherheit Österreich-Ungarns noch wesentlich gefährlichere Terrororganisation: die serbische Offiziersvereinigung, die sich den Namen «Vereinigung oder Tod» («Ujedinjenje III smrt») gegeben hatte und aufgrund ihres Emblems auch «Schwarze Hand» («Crna ruka») genannt wurde. Die Geheimorganisation war -nach einer längeren Vorbereitungszeit von 1909 an - am 9. Mai/26. April 1911 gegründet worden. Hinter dieser Gründung standen verschiedene Offiziere, die zu den Königsmördern gehörten und sich am Mai-Umsturz von 1903 beteiligt hatten, zum Beispiel Major Tankosic und Oberst Dimitrijevic-Apis (siehe Hinweis zu 5. 129), aber auch einige Zivilisten, zum Beispiel der einflußreiche, aber nach außen nur wenig in Erscheinung tretende Agitator Jovanovic.

Ljubomir (Ljuba)Jovanovic (genannt «Cupa», der «Buschige», 1877-1913), kam zwar aus ärmlichen Verhältnissen, konnte aber trotzdem an der Universität Belgrad Rechtswissenschaften studieren. In seiner Zeit als Student war er aktiver Teilnehmer der studentischen Vereinigung «Slovenski jug» («Slawischer Süden»), die -ein Ableger der Omladina-Bewegung (siehe Hinweis zu 5. 117) — die Einigung aller Südslawen auf revolutionärem Weg zum Ziel hatte. Während des Umsturzes von 1903 hielt er sich vorübergehend in Wien auf. Nach der Promotion im Jahre 1908 wurde Jovanovic von der serbischen Regierung ein Stipendium gewährt, und er verbrachte gut drei Jahre in Brüssel. Er unterhielt aber trotzdem engen Kontakt mit Gleichgesinnten aus seinem Heimatland. Während seiner Zeit in Brüssel wurde Jovanovic Freimaurer. Daß er tatsächlich der Freimaurer-Bewegung angehörte, bestätigte sein Mitstreiter Oberst Dimitrijevic-Apis; er betrachtete Cupa als den eigentlichen ideellen Inspirator der Geheimorganisation (zitiert nach: David MacKenzie, Apis. The Congenial Conspirator, New York 1988, Chapter XXII, «Apis testifies (April -May 1917)»: «Cupa war ein Freimaurer und schrieb die Satzung unserer Organisation unter Bezugnahme auf die Freimaurer. »1 Neben seinen Rechtsstudien arbeitete Jovanovic an einer Geschichte der Geheimbünde Europas.



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1910 entwickelte er den Plan, in Belgrad eine eigene Zeitung zur Propagierung der großserbischen Idee herauszugeben. 1911 erfolgte die Gründung der irredentistischen «Pijemont». In seiner Zeit als Herausgeber dieses Blattes pries er mehrfach die Tätigkeit der Freimaurer in Frankreich, Belgien und Ungarn, die weitgehend dem Einflußbereich der politisierten Großorient-Strömung angehörten (siehe Hinweis zu 5. 177). 1913 fiel Jovanovic als Offizier im Zweiten Balkankrieg; zum Zeitpunkt der Verschwörung war er allerdings nicht mehr am Leben.

Dragutin Dimitrijevic (1876-1917) — auch unter dem Decknamen «Apis», lateinisch der «Stier», bekannt - war der führende Kopf, wenn auch nicht der formelle Präsident der «Ujedinjenje III smrt». Er entstammte aus kleinbürgerlichen Verhältnissen, konnte aber das Gymnasium besuchen. 1892 entschied er sich für eine militärische Laufbahn als Berufsoffizier. Während seines Studiums wurde ihm klar, daß er sein Leben ganz in den Dienst der großserbischen Sache stellen wollte. 1900 schloß er seine Studien an der Militärakademie ab, womit für ihn der Weg für verschiedene höhere Kommandofunktionen innerhalb und ausserhalb des Generalstabes offen war. Obwohl ein äußerst begabter und tatkräftiger Stratege und Taktiker, was sich zum Beispiel im Verlauf der beiden Balkankriege (siehe Hinweis zu 5. 262 in GA 173b) zeigte, wurde er nicht mit den höchsten Kommandofunktionen betraut. Seine bedeutendste militärische Stellung erreichte er als Leiter des serbischen Geheimdienstes von 1913 bis 1915. Bereits als junger Militär gelangte er zur Überzeugung, daß die österreich-freundliche Willkürherrschaft der Obrenovici beendet werden müsse; nur durch den Herrschaftsantritt der rußland-freundlichen Karadjordjevici sei es Serbien möglich, seine Rolle als südslawisches «Piemont» zu erfüllen (siehe Hinweis zu 5. 121). So gehörte er zu den Hauptorganisatoren des blutigen Mai-Umsturzes von 1903, dessen Erfolg ihm zu einer äußerst einflußreichen Stellung im serbischen Staat verhalf.

Dimitrijevic und seine Mitstreiter betrachteten die nationalserbische Agitation der «Narodna odbrana» und die Außenpolitik der serbischen Regierung unter Ministerpräsident Pasic (siehe Hinweis zu 5. 33) als zu wenig entschieden im Sinne der großserbischen Sache wirkend, weshalb sie beschlossen, eine revolutionäre Geheimorganisation außerhalb des staatlichen Autoritätsbereiches zu gründen. Durch gezielte terroristischen Aktionen gegen wichtige Politiker des Auslandes, die eine südslawische Einigung zu verhindern suchten, hofften die Mitglieder der «Schwarzen Hand» den Boden für die Errichtung eines geeinigten großserbischen Vaterlandes zu bereiten. Es wurde nicht nur ein Anschlag auf König Ferdinand von Bulgarien (siehe Hinweis zu 5. 32) und Fürst Nikola von Montenegro (siehe Hinweis zu 5. 130) ins Auge gefaßt, sondern auch ein Attentat auf Kaiser Franz Joseph, das jedoch nicht zur Ausführung kam. In der Durchführung des Attentates gegen den Thronfolger Franz Ferdinand (siehe Hinweis zu 5. 173) war die «Schwarze Hand» aktiv beteiligt; die Verschwörer erhielten die nötige logistische Unterstützung - zum Beispiel Waffen -, die die Ausführung ihres Vorhabens erst möglich machten. Die Organisation «Schwarze Hand» entwickelte sich in den Augen der königlich-serbischen Regierung immer mehr zu einem Staat im Staate.

Die anfänglich guten Beziehungen Dimitrijevics zum neuen Königshaus kühlten sich im Laufe der Jahre ab, da insbesondere der Kronprinz Aleksandar im erfolgreichen Offizier einen gefährlichen Rivalen für seine Macht erblickte. Ebenso erwuchsen Dimitrijevic Neider und Gegner in den Reihen der serbischen Politiker und Offiziere. Als ein verdeckt-gefährlicher Feind sollte sich auch der langjährige serbische Ministerpräsident Pasic erweisen. So schrieb der zeitweilige österreichischungarische Gesandte in Serbien, Constantin Dumba (siehe Hinweis zu 5. 125), in seinen Erinnerungen «Dreibund- und Entente-Politik in der Alten und Neuen



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Welt» (Zürich/Leipzig/Wien 1931) zu dessen Verhalten gegenüber den Verschwörern (VI. Kapitel, Abschnitt 11.2, «Russisch-Japanischer Krieg und Annäherung an Bulgarien»): «Den Verschwörern entstand ihr gefährlichster Feind in der Person des Ministers Pasic selbst, der keine Macht im Staate neben der Regierung dulden konnte und langsam und vorsichtig zunächst nur ihre Stellung unterminierte. Erst als er und seine Partei den Staat ganz beherrschten, ging er im Jahre 1907 daran, die Häupter der Verschwörung in den Hintergrund zu schieben. » Nach der serbischen Kapitulation entschloß sich Pasic in seinem griechischen Exil auf Korfu - im Einverständnis mit dem serbischen Regenten Aleksandar -die Organisation zu zerschlagen. Am 15. Dezember 1916 wurde Apis an der Saloniki-Front, wo die serbisch-griechischen Truppen gegen die bulgarischen Truppen kämpften, verhaftet. Es wurde die völlig unbegründete Beschuldigung gegen ihn erhoben, einen Anschlag auf das Leben des Regenten Aleksandar veranlaßt zu haben. Die serbische Armee und Verwaltung wurde von Anhängern Dimitrijevics gesäubert. Nach einem manipulierten Prozeß vor einem serbischen Militärgericht in Saloniki wurde er zum Tode verurteilt und am 24. Juni 1917 mit zwei Mitstreitern hingerichtet.

111 die ganz genaue Fortsetzung einer früheren, ganz im Okkulten arbeitenden Gesellschaft war: Gemeint ist die «Ujedinjena omladina srpska» («Vereinigte serbische Jugend»), gewöhnlich unter dem Namen «Omladina» bekannt (siehe Hinweis zu 5. 117).

113 Wir werden morgen in diesen Betrachtungen weiterfahren: Siehe Vortrag vom 11. Dezember 1916 (in diesem Band).

113 wenn Nietzsche aus einem fast wahnsinnig gewordenen Kopf heraus das Wort geprägt hat: Dieser Satz findet sich im IV. Teil von Friedrich Nietzsches Schrift «Also sprach Zarathustra. Ein Buch für Alle und Keinen» (Kapitel «Das trunkene Lied», 6. Abschnitt). Der IV. Teil dieses Buches erschien 1885 in Leipzig als Privatdruck, nachdem Nietzsche die ersten drei Teile bereits 1883 veröffentlicht hatte.

113 noch ganz kurz etwas sprechen über die Goethe'sche «Walpurgisnacht»: Die Ausführungen Rudolf Steiners vom 10. Dezember 1916 über die «Romantische Walpurgisnacht» sind in GA 273 enthalten (siehe Hinweis zu 5. 61).



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Zum Vortrag vom 11. Dezember 1916:

115 Indem ich mit den Betrachtungen fortfahre, welche ich heute vor acht Tagen hier begonnen habe: Den ersten Vortrag im Rahmen der «Zeitgeschichtlichen Betrachtungen» hatte Rudolf Steiner am Sonntag, 4. Dezember 1916, gehalten (in diesem Band).

116 was sich im Westen ergeben hat und was im Osten als Zukunftsvölkisches lebt: Siehe Hinweis zu 5. 31.

117 wie zum Beispiel die «Omladina»: Im Laufe der sechziger Jahre hatten sich unter den serbischen Studenten eine ganze Reihe von politisch-kulturellen Gruppierungen gebildet. Aus dem Bedürfnis, sich zu einer einheitlichen Organisation zusammenzuschließen, wurde 1868 in Neusatz (heute Novi Sad), dem damaligen in Ungarn gelegenen Zentrum des serbischen Kulturlebens, die «Ujedinjena Omladina srpska» («Vereinigte Serbische Jugend») gegründet, ein Zusammenschluß verschiedener serbischer Jugendgruppen innerhalb und außerhalb Serbiens. Obwohl die «Omladina» nach den Statuten ein Bildungsverein war, der die serbische Jugend aller Klassen ansprechen wollte, handelte es sich um eine Organisation mit revolutionären Zielsetzungen, die bald in allen südslawischen Gebieten öffentliche und geheime Gruppen bildete. Sie war stark von den Geheimbund-Ideen des italienischen Revolutionärs Giuseppe Mazzini (siehe Hinweis zu 5. 110 in GA 173b) beeinflußt und stand in ideeller Verbindung mit der «Liga für Frieden und Freiheit» (siehe Hinweis zu 5. 257 in GA 173b). Eine wichtige Vermittlungsrolle spielte der in Neusatz lebende Vladimir (Vladan) Jovanovic. Dazu Hermann Wendel in seiner Schrift «Aus dem südslawischen Risorgimento» (Gotha 1921, Kapitel «Die Omladina», III. Abschnitt): «Da 1862 Vladimir Jovanovic als Sendbote des jungen Geschlechts in London bei Gladstone [siehe Hinweis zu 5. 129 in GA 173b] und Cobden [siehe Hinweis zu 5. 71]für das Schicksal der Serben war, geriet er gar in die Emigrantengemeinde hinein, deren Hohepriester Mazzini war, und sah bald sich und sein Volk in die Pläne des Allerweltsverschwörers verstrickt. »Aufgrund ihrer revolutionären, republikanisch-demokratischen Agitation erweckte die «Omladina» das Mißtrauen der ungarischen und serbischen Behörden. In Ungarn wurde die Bewegung 1871 und in Serbien 1872 bereits wieder aufgelöst. Zum Ende der Bewegung trugen auch die inneren Gegensätze zwischen den Vertretern der verschiedenen Richtungen bei. So stellt Hermann Wendel fest (gleiche Quelle): «Nicht nur war der Baustoff in Ungarn und Serbien für ein und dieselbe Richtschnur allzu verschieden, nicht nur störte Eifersucht zwischen Belgrad und Neusatz die gedeihliche Entwicklung, sondern vor allem trug an der Kehre der sechziger und siebziger Jahre der Aufeinanderprall der politischen Romantik mit Vladimir Jovanovic und des sozialen Rationalismus mit Svetozar Markovic einen Bruch in die Omladina hinein, der jeden Kittes spottete und über kurz oder lang die Sprengung von innen heraus herbeiführen mußte. » Aus den stark national und sozialistisch gefärbten Bestrebungen des Svetozar Markovic (siehe Hinweis zu S. 123) sollte sich später die für das politische Geschehen in Serbien wichtige «Radikale Volkspartei» entwickeln (siehe Hinweis zu 5. 123).

Trotz des formellen Endes der Bewegung lebten die Bestrebungen der Omladina im Untergrund weiter und bildeten den Nährboden für spätere Gründungen von Gruppierungen mit national-revolutionärer Zielsetzung. So wurde der Name «Omladina», wie das Beispiel der tschechischen «Omladina» (siehe Hinweis zu 5. 117) zeigt, zur Gattungsbezeichnung für alle solche Bestrebungen im slawischen Bereich.



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In dieser Richtung sind auch die Ausführungen von Charles William Heckethorn in seinem Buch «Geheime Gesellschaften, Geheimbünde und Geheimlehren (Leipzig 1900) über den Ursprung und das Wirken der «Omladina» gehalten (Zehntes Buch, «Politische Geheimgesellschaften», Abschnitt «Slawische Gesellschaften»): «Allmählich ging aus der panslawischen Bewegung [siehe Hinweis zu S. 69] ein Geheimbund hervor: die Omladina, die sich auf beide Teile der österreichisch-ungarischen Monarchie erstreckte. Das genaue Datum ihrer Entstehung kennen wir nicht; wahrscheinlich fällt diese in die Zeit um 1863, als Mazzini und seine Anhänger den Versuch machten, durch die Unterstützung der sogenannten Nationalpartei in Serbien, Montenegro und Rumänien die Österreicher in Italien zu schwächen, um die Wiedererlangung Venetiens zu erleichtern. » Auch Pläne in Richtung einer italienische dominierten Balkanföderation [siehe Hinweis zu 5. 81 in GA 173c]seien von dieser Organisation ausgearbeitet worden. Heckethorn (gleicher Ort): «1882 hegte die Omladina die -unausgeführt gebliebene -Absicht, den Fürsten von Montenegro zu entthronen und Menotti Garibaldi zum lebenslänglichen Vorsitzenden eines geplanten westlichen Balkanbundes zu machen. » Domenico Menotti Garibaldi (1840-1903) war der älteste Sohn Giuseppe Garibaldis und wie dieser ein Freischarenführer; von 1876 bis 1897 gehörte er der italienischen Deputiertenkammer an.

In diesem Zusammenhang ist der Hinweis des britischen Historikers John Mill auf die Existenz von Geheimkarten (siehe Hinweis zu 5. 31) zu sehen. In seinem Buch «The Ottomans in Europe, or Turkey in the present crisis» (London 1876) erwähnt er eine Geheimkarte der Omladina über die künftige Gestaltung des slawischen Raumes, die polnischer Herkunft sei und bis ins Jahr 1856 zurückreiche. Er schreibt über die in dieser Karte enthaltenen politischen Vorstellungen, die Neugestaltung des slawischen Ostens betreffend (Chapter VI, «Secret Societies»): «Die Omladina wünscht, wie aus unserer Karte ersichtlich wird, eine Republik zu errichten, die sich vom Schwarzen Meer bis zur Adria und von der Adria bis zum Baltischen Meer erstreckt; die Omladinisten würden die Hauptstadt der Russen von St. Petersburg nach Moskau, wenn nicht sogar nach Astrachan verlegen, und sie würden die europäischen Provinzen der Türkei im Balkan annektieren, Konstantinopel zu einer Freien Stadt machen und Österreich von der Weltkarte löschen, und sie würden Polen wiederherstellen, das wie Böhmen und Ungarn einen freien Staat in dieser großen Republik bilden würde.»' Diese Karte einer «Proposed Panslavonic Republic» würde sich inhaltlich völlig von den territorialen Zielen einer imperialrussisch gefärbten Politik, eines «Proposed Panslavonic Empire», unterscheiden. Auch davon gäbe es eine im geheimen zirkulierende Karte. Mill (gleiche Quelle, «Preliminary Notice»): «Die Karten, die in diesem Werk wiedergegeben werden, stammen von zwei verschiedenen Parteien. Die erste ist von der Omladina oder dem republikanischen Teil der Slawen, die andere ist imperial und russisch, sowohl der Anlage als auch dem Ziel nach. Es zirkulieren verschiedene andere Karten ähnlicher Art, aber die hier wiedergegebenen sind besonders charakteristisch für die Bestrebungen der Slawen. »2 Die von Mill erwähnten strategischen Konzeptionen



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der Omladina sind aber weniger im Zusammenhang mit der spezifischen Omladina-Organisation, der «Ujedinjena omladina srpska», zu sehen, als vielmehr mit solchen Vorstellungen, wie sie zum Beispiel vom polnische Staatsmann Fürst Czartoryski oder vom britischen Schriftsteller und Diplomaten David Urquhart vertreten wurden (siehe Hinweis zu 5. 80 in GA 173c).

117 durch einen Prozeß, der in Böhmen stattgefunden hat. Die «Omladina» war als Bewegung auch in dem zu Österreich gehörenden Königreich Böhmen aktiv, wobei für die Bezeichnung dieser geheimen Bruderschaft von der Polizei die serbische Bezeichnung «omladina» und nicht etwas das tschechische Wort für Jugend, «mlàdi», verwendet wurde. Eine festere organisatorische Form erhielt der tschechische Ableger der Bewegung im Jahre 1890, nachdem in Wien auf einem Kongreß der slawischen Studentenschaft beschlossen worden war, durch organisatorisches Zusammengehen mit der tschechischsprachigen Arbeiterschaft den nationalen Forderungen ein stärkeres Gewicht zu verschaffen. Zur Organisation dieser Gesellschaft schreibt Georg Schuster in seinem Werk «Die geheimen Gesellschaften, Verbindungen und Orden» (Leipzig 1906, Zweiter Band, Fünftes Buch, VIII. Kapitel, 2. Abschnitt, «Die Omladina in Prag»): «Sie war ganz nach anarchistischem Muster eingerichtet. Je fünf Mitglieder bildeten eine Gruppe oder eine <Hand>. Der <Daumen> wählte sich seine vier <Fingers, und diese fünf bestimmten wieder einen <Daumen>, der eine neue <Hand> zu bilden hatte. Die <Fingers waren nur untereinander, nicht aber mit den <Fingern> der andern <Händen bekannt. Nur der erste <Daumen>kannte alle übrigen. Er war der <Direktors und hatte einen Aufsichtsrat von fünf Genossen zur Leitung und Überwachung des ganzen Bundes zur Seite. » Ihren Schwerpunkt besaß die tschechische «Omladina» in Böhmen und Mähren, unterhielt aber auch Verbindungen mit ähnlich gesinnten galizischen und kroatischen Geheimorganisationen. Ihr Programm bestand aus einer Verbindung von nationalistischen und sozialistischen Zielsetzungen. In der Folge kam es immer wieder zu Zusammenstößen mit der Polizei. Am 17. August 1893, am Vorabend des kaiserlichen Geburtstages, erreichten die antidynastischen Kundgebungen einen ersten Höhepunkt. Laut den «Neuesten Mittheilungen», dem amtlichen Presseorgan Preußens, vom 19. Januar 1894 war es damals zu «sozialistischen Kundgebungen, <pereat>-Rufen, Steinwürfen, Verteilung hochverräterischer Zettel» gekommen.Die Unrast unter den jungtschechischen Omladinisten hielt weiter an. Am 12. September 1893 wurde in Prag der Ausnahmezustand ausgerufen, und es mußte Militär eingesetzt werden, um der Unruhen endgültig Herr zu werden. Eine ganze Anzahl von Mitgliedern wurde verhaftet in der Absicht, sie vor ein Sondergericht zu stellen. Aufgefundenes Belastungsmaterial und die Geständnisse der Verhafteten ermöglichten den böhmischen Behörden, die Organisation zu zerschlagen. Am 15. Januar 1894 wurde ein Massenprozeß gegen über siebzig Mitglieder des Geheimbundes eröffnet; am 14. Februar 1894 wurden die Urteile gesprochen. 68 Beschuldigte wurden wegen Hochverrat durch Bildung eines Geheimbundes, Beleidigung des Kaisers, Verletzung der öffentlichen Ordnung und Störung des öffentlichen Friedens zu Freiheitsstrafen verurteilt. Schuster (am angeführten Ort): «Aufgrund umfassender Geständnisse und sonstigen Beweismaterials, das der polizei in die Hände fiel, gelang es, das gefährliche Treiben der Omladina zu enthüllen. 77 ihrer Mitglieder die Mehrzahl hatte die raffinierte Bundesorganisation gegen Entdeckung geschützt - wurden wegen Hochverratsangeklagt und die meisten zu schweren Strafen verurteilt. »



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118 Eine solche Maske war die «Narodna odbrana» in Serbien: Siehe Hinweis zu 5. 111.

118 von dem großen kommenden Weltkriege gesprochen wurde: Siehe Hinweis zu 5. 31.

119 wie ich es gestern und vorgestern angedeutet habe: In den Vorträgen vom 9. und 10. Dezember 1916 (in diesem Band).

119 Einiges muß ich wenigstens sagen: Als Quelle für seine Ausführungen benutzte Rudolf Steiner zur Hauptsache den Aufsatz von Leopold Mandl, «Der Mord als Mittel der Politik in Serbien», der in der «Österreichischen Rundschau» vom 1. Mai 1915 (Band XLIII, Heft 3) erschienen war.Leopold Mandl (1860-1930), aus einer deutsch-böhmischen Fabrikantenfamilie stammend, hatte erst 1892 mit dem Studium an der Universität Wien begonnen und schließlich 1909 als Jurist promoviert. Nach einer kurzen Tätigkeit im elterlichen Geschäft wandte er sich der politischen Schriftstellerei zu. Sein Hauptinteresse galt vor allem den politischen Verhältnisse auf dem Balkan. Er war zunächst für verschiedene österreichische Zeitungen («Wiener Tagblatt», «Wiener Allgemeine Zeitung», «Neues Wiener Journal») tätig, dann wirkte er als Korrespondent für die Berliner «Vossische Zeitung». Später arbeitete er als freier Publizist. Mandl war ein außerordentlich guter Kenner der Verhältnisse auf dem Balkan, heißt es doch im «Österreichischen Biographischen Lexikon 1815-1950» (VI. Band, Wien 1975): «Reiche historische Kenntnisse, Reisen und persönliche Verbindungen zu führenden Persönlichkeiten vor allem Serbiens verschafften ihm tiefen Einblick in die serbischen Verhältnisse und machten ihn zu einem der besten Balkankenner, der in seinen Schriften, in denen er mit offensichtlicher Sachkenntnis besonders das Verhältnis zwischen Österreich-Ungarn und Serbien untersucht, manches überraschend vorausblickende Urteil fällt. » Politisch vertrat Mandl eine gegenüber der offiziellen Politik Serbiens kritische Haltung. Für ihn war klar, daß diese auf eine Zertrümmerung des habsburgischen Vielvölkerstaates hinauslaufe.

119 Michael Obrenovic, der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts: Mihailo (Michael) Obrenovic III. (1823-1868) wurde nach der Abdankung seines Vaters Milos Obrenovic I. und der kurzen Regierungszeit seines älteren Bruders Milan Obrenovic II. sowie der sich anschließenden Thronvakanz - er wurde noch als zu jung für die Übernahme des Herrscheramtes betrachtet - schließlich im März 1840 zum neuen Fürsten von Serbien bestimmt. Er konnte sich aber gegen die oppositionellen Kräfte, die einen Dynastiewechsel anstrebten, nicht behaupten und wurde im September 1842 zur Abdankung gezwungen. Nach der Absetzung des Karadjordjevic-Fürsten Aleksandar am 23. Dezember 1858 bestieg nicht er, sondern wieder sein Vater den Thron. Nach dessen baldigem Tod im September 1860 war der Weg zum Thron für ihn wieder frei. Seine Herrschaft währte nur einige wenige Jahre, wurde er doch am 10. Juni/29. Mai 1868 ermordet (siehe Hinweis zu 5. 122).

119 daß er mit seinen Ideen eigentlich: Fürst Mihailo Obrenovic III. vertrat die Idee einer Balkanföderation unter der Hegemonie Serbiens, aber außerhalb des habsburgischen Herrschaftsbereiches (siehe Hinweis zu 5. 80 in GA 173c). Seine Politik zielte nicht auf die Zertrümmerung des Habsburgerreiches, denn die von ihm angestrebte südslawische Konföderation sollte außer Serbien bloß Bosnien, die Herzegovina, Montenegro und Bulgarien -alles Gebiete, die damals unter türkischer Herrschaft standen -umfassen. All diese Gebiete wollte er ganz ohne Hilfe Oster



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120 was Milan Pirocanac: Milan Pirocanac (1837-1897) war vom November 1880 bis Oktober 1883 unter Fürst Milan Obrenovic IV. Ministerpräsident Serbiens. Er war einer der maßgebenden Persönlichkeiten der sogenannten Fortschrittspartei (siehe Hinweis zu 5. 123).

120 über das Ideal des Michael Obrenovic geäußert hat: Dieses Zitat findet sich ebenfalls im Aufsatz von Leopold Mandl.

120 Von einer solchen Konföderation sprachen in den guten Zeiten des westeuropäischen Okkultismus: Rudolf Steiner meint die Zeit von ungefähr 1840 bis 1870, als die okkult-politischen Bestrebungen noch mehr von idealistischen Zielsetzungen und weniger von den Machtinteressen einzelner Sondergruppen (siehe Hinweis zu 5. 177) geprägt waren. So glaubten die Vertreter des westlich-freimaurerischen Okkultismus, durch die Verbreitung des Britentums in der Welt einen wichtigen Kulturbeitrag für die Menschheitsentwicklung zu leisten (siehe Hinweis zu 5. 77). Von westlichen Ideen stark beeinflußt war auch der polnische Staatsmann Fürst Czartoryski, der in Paris im Exil lebte und für die Befreiung der osteuropäischen Völker von der russischen, habsburgischen und türkischen Fremdherrschaft -durch Bildung einer großen Föderation der osteuropäischen Völker -eintrat (siehe Hinweis zu 5. 80 in GA 173c).Auch die politisch-agitatorischen Geheimgesellschaften, die im Süden und Osten Europas wirkten, lebten in der Überzeugung, für die Befreiung der Völker von autokratischer Unterdrückung einzustehen. In diese Richtung gingen zum Beispiel die Überlegungen des italienischen Revolutionärs Giuseppe Mazzini, der die Befreiung und Einigung der südlichen Balkanvölker mit der Schaffung einer sogenannten Balkanföderation unter italienischer Führung verband (siehe Hinweis zu 5. 81 in GA 173c). Oder Lajos (Ludwig) Kossuth (1802-1894), der politische Anführer des ungarischen Aufstandes von 1848 bis 1849, der 1851 ein berühmtes Memorandum über die staatliche Zukunft eines freien Ungarns, das sogenannte «Exposé des principes de la future politique de la Hongrie», verfaßte und dabei für die Bildung einer Donauföderation unter ungarischer Vorherrschaft eintrat. Den Föderationsgedanken sah er insofern verwirklicht, als er die Gewährung der vollen, aber nicht auf dem Territorialprinzip beruhenden kulturellen Autonomie für die nicht-ungarischen Minderheiten befürwortete.

Ab 1870 trat diese idealistische Orientierung zunehmend in den Hintergrund und die okkult-politischen Bestrebungen traten immer mehr in den Dienst imperialer Zielsetzungen. So geriet der Panslawismus zunehmend in den Sog russischer Großmachtpolitik, die die weitere Ausdehnung des russischen Großreichs zum Ziele hatte (siehe Hinweis zu 5. 110). Ebenso diente die Vorstellung von der Weltmission des Britentums als ideeller Boden für den Aufbau eines weltumspannenden «British Empire» (siehe Hinweis zu 5. 220 in GA 173b).

120 namentlich unter der Führung von Jovan Ristic: Jovan Ristic (1 831-1899) war ein Anhänger der großserbischen Idee. Als Vertreter der Liberalen Partei gehörte er zu



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Zu den Grundzügen des großserbischen Programms von Jovan Ristic schreibt Mandl in dem bereits erwähnten Aufsatz «Der Mord als Mittel der Politik in Serbien» (siehe Hinweis zu 5. 119): «Grundidee des Jovan Ristic war, daß Serbien das <Nationalprogramm>, das ist die Befreiung aller Serben von der türkischen und österreichisch-ungarischen Verwaltung und deren Vereinigung in einem Staat, nur mit Hilfe Rußlands realisieren könne. Deshalb habe Serbien unter allen Umständen mit Rußland zu gehen. Dagegen müsse Serbien selbst dann Österreich-Ungarn gegenüber auf einem ablehnenden Standpunkt verharren, wenn es zeitweilig im russischen Interesse liegt, gemeinsam mit der habsburgischen Monarchie vorzugehen. Die handels- und verkehrspolitischen Interessen Österreich-Ungarns auf dem Balkan sind selbst dann zu bekämpfen, wenn aus ihrer Befriedigung für Serbien ökonomischer Nutzen resultieren könnte. Das serbische Volk muß in Österreich-Ungarn den unbedingten Feind seiner nationalen Ziele erkennen und hassen lernen. Wie ein roter Faden ziehen sich diese drei Prinzipien des Jovan Ristic richtunggebend seither durch die auswärtige Politik Serbiens und sind selbst während der Ara König Milans [siehe Hinweis zu 5. 123] bei den verschiedensten Anlässen nicht zu übersehen. »

120 zu deren Führern Jovan Ristic gehörte. Im gleichen Aufsatz gibt Mandl, ausgehend von Ristic, eine Charakterisierung der liberalen serbischen Politikerkaste der damaligen Zeit: «Ristic war der Typus jener gebildeten serbischen Politiker, die sich mit abendländischer Kultur vollkommen vertraut zu machen verstehen, gleichzeitig aber auch die orientalische Intelligenz, die hauptsächlich in der vollständigen Beherrschung



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120 mit Hilfe des «Testamentes Peters des Großen»: Siehe Hinweis zu 5. 73.

121 was Frankreich bei der Schöpfung des neuen Italiens für Piemont gewesen sei: Dazu Mandi in seinem Aufsatz: «Die Gründung Italiens durch das kleine Piemont mit Hilfe Frankreichs erregte in jener Zeit die Gemüter. Die im Auslande studierende serbische Jugend erblickte in diesem großen politischen Ereignisse ein Vorbild für die Befreiung und Vereinigung der Serben. » Diese nationalserbische Idee, die dem serbischen Königreich die gleiche Vorreiterrolle zuerkennen wollte, wie sie einst das Königreich Sardinien-Piemont bei der italienischen Einigung gespielt hatte, war in der serbischen Elite stark verwurzelt und fand auch Eingang in die mitteleuropäischen Intellektuellenkreise. So bezeichnete zum Beispiel der deutsche Historiker Heinrich von Treitschke in seinem Aufsatz «Deutschland und die orientalische Frage» («Preußische Jahrbücher», Band XXXVIII, Berlin 1876) Serbien als das «unruhige, kleine Piemont der Südslawen».Tatsächlich sahen eine Reihe von offiziellen Vertretern des serbischen Staates ihr Land durchaus in dieser Rolle, zum Beispiel Fürst Mihailo und sein konservativ gesinnter Ministerpräsident Ilija Garasanin (siehe Hinweise zu 5. 80 in GA 173c). Aber auch die liberale Seite vertrat solche Vorstellungen, zum Beispiel Milovan Jankovic (1828-1899), der als Anhänger der liberalen Opposition eine Zeitlang im Exil lebte, oder Jovan Ristic, ein anderer wichtiger serbischer Politiker (siehe Hinweis zu 5. 120). Im Gegensatz zu Garasanin hatten deren Vorstellungen aber eine deutlich antiösterreichische Spitze, indem sie auch die unter österreichischer Herrschaft stehenden südslawischen Gebiete in den Befreiungsprozeß einbezogen wissen wollten. In seinem Buch «Österreich-Ungarn und Serbien. Ein Beitrag zur Erkenntnis der herrschenden politischen Ideen unter den Serben» (Wien 1911) zitiert Mandl eine Aussage von Jankovic, die er in seinem in Genf herausgebrachten Exilblatt «La Serbie» im Jahre 1865 geschrieben haben soll (1. Kapitel, «Die herrschende politische Idee in Serbien»): «Die Mission Piemonts ist es, alle italienischen Länder von habsburgischer Herrschaft mit Hilfe österreichfeindlicher Mächte zu befreien und dann zu vereinigen. Dieselbe Mission habe auch Serbien. Serbien ist das Piemont des Balkans.» Und über die weitere Tätigkeit von Jankovic: «Nach dem Jahre 1866 kam Jankovic nach Südungarn und beteiligte sich dort lebhaft an der Omladina-Bewegung. Seine Idee, die Idee des <serbischen Piemonts>, wurde der politische Zeitgedanke der Omladina. Einigung aller Serben!» Damit war die Wendung zu großserbischen Zielsetzungen und damit zum voraussehbaren Konflikt mit Österreich-Ungarn endgültig vollzogen.

Die Vorstellung von Serbien als dem Kristallisationspunkt aller von den Serben bewohnten Länder geht auf den Beginn des 19. Jahrhunderts zurück. Mandl schreibt in seinem Buch (Kapitel «Die herrschende politische Idee in Serbien») dazu: «In Serbien faßt man den Gedanken in vier Worten zusammen. <oslobocenje i ujedinjenje Srbstva>(«Befreiung und Vereinigung des Serbentums», siehe Hinweis zu 5. 119). Man kann den Ursprung dieser politischen Idee im Jahre 1804



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nachweisen. Der Patriarch von Karlowitz entwickelt sie in einer geheimen unterschriftslosen Denkschrift, die er in einer Zeit, da Österreich von Napoleon J. niedergeworfen war, an den Kaiser von Rußland [Zar Alexander J.] sandte. Alle Serben sollten durch russische Hilfe befreit und unter einen orthodoxen Herrscher vereinigt werden. » Bei dem von Mandl erwähnten Patriarchen handelte es sich um Josif Rajacic (1785-1861), seit 1842 Erzbischof der serbisch-orthodoxen Kirche in Sremski Karlovci (Karlowitz), seit 1848 Patriarch. Von 1848 bis 1849 wirkte er - im Auftrag des österreichischen Kaisers - auch als Administrator der autonomen «Srpska Vojvodina» («Serbisches Herzogtum»). Es handelte sich um eine überwiegend von Serben bewohnte Region, die sich 1848 vom Königreich Ungarn losgesagt hatte und Autonomie innerhalb des österreichisch-ungarischen Staatsverbandes beanspruchte. Nach dem Ende der revolutionären Wirren wurde 1849 ein neues österreichisches Kronland gebildet, die «Serbische Wojwodschaft und Temeser Banat». Dieses Kronland hatte allerdings nur bis 1860 Bestand; es wurde aufgelöst und wieder dem Königreich Ungarn einverleibt. Rajacic war ein großer Befürworter der serbischen Autonomie und versuchte, vor allem durch die Pflege des Erziehungswesens das serbische Nationalbewußtsein zu fördern.

121 daß da Kollisionen herauskommen müssen: Ausgehend vom Unterschied zwischen Italien und Serbien meint Mandl: «Das Serbenvolk aber, ich nenne seine gegenwärtige Bevölkerungszahl, besteht bloß aus nicht ganz sechs Millionen Seelen, von welchen höchstens dreieinhalb Millionen in Serbien und Montenegro, zweieinhalb Millionen in Österreich-Ungarn leben. Diese letzteren sind umringt und durchsetzt von vier Millionen katholischer und einer halben Million mohammedanischer Südslawen auf einem Ländergebiete, das durch seine geographische Lage, topographische Beschaffenheit und durch die natürliche Gegnerschaft aller nachbarlichen Staatsvölker zu einer einheitlichen selbständigen dauernden Staatsgründung ganz ungeeignet ist. »

121 in Serbien und Montenegro: Serbien und Montenegro waren die zwei Staaten mit einer überwiegend serbischen Bevölkerung, die im Laufe des 19. Jahrhunderts ihre Unabhängigkeit vom Osmanischen Reich, das häufig auch als «Türkisches Reich» bezeichnet wurde, erkämpft hatten. Das Osmanische Reich, genau die «Osmanischen Länder» («Memâlik-i-Osmanije») oder das «Hohe Reich» («Devlet-Alije») war ein Vielvölkerstaat, der sich vom Balkan über die Türkei nach Arabien und Nordafrika erstreckte. All diese Gebiete unterstanden der Herrschaft des Sultans aus dem Hause Osman. Obwohl formell seit 23. Dezember 1876 eine konstitutionelle Monarchie, lag die höchste weltliche Gewalt faktisch beim Sultan, der seine weltliche Macht mit dem höchsten geistlichen Amt, dem Kalifat, verband. Der damalige Sultan Abdülhamit (Abdül-Hamid) II. (1842 —1912)— er regierte von August 1876 bis April 1909—hatte am 13. Februar 1878 das Parlament, bestehend aus einem Abgeordnetenhaus und einem Senat, aufgelöst und regierte seitdem ohne dessen Legitimation. Erst im Zusammenhang mit der Jungtürkischen Revolution wurde am 24. Juli 1908 die Verfassung wieder vollumfänglich in Kraft gesetzt.Serbien kann auf eine lange, komplexe Geschichte serbischer Selbständigkeit im Mittelalter -mitten im Spannungsfeld zwischen den byzantinischen, bulgarischen, ungarischen sowie osmanischen Großreichen -zurückblicken. Die Niederlage auf dem Amselfeld (Kosovo Polje) von 1389 gegen die türkischen Truppen leitete das Ende der serbischen Selbständigkeit ein; 1459 erloschen die letzten Reste serbischer Staatlichkeit, und die serbischen Gebiete -mit Ausnahme Montenegros -standen nun alle unter der Herrschaft der Türken. In der Zeit der türkischen Fremdherrschaft sorgte die serbisch-orthodoxe Kirche dafür, daß die serbische Staatstradition



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nicht in Vergessenheit geriet. Erst im Laufe des 19. Jahrhunderts konnte sich Serbien seine Selbständigkeit schrittweise wieder erkämpfen. Ein erster Aufstand, der 1804 ausbrach, wurde 1813 niedergeschlagen, aber der zweite Aufstand von 1815 war wesentlich erfolgreicher; er endete 1817 mit der faktischen Autonomie und führte schließlich 1830 zur Anerkennung eines autonomen serbischen Staates im Rahmen des Osmanischen Reiches durch den türkischen Sultan.

Die Geschichte des Fürstentums Serbien wurde in der Folge wesentlich durch die dynastische Gegnerschaft zwischen den Karadjordjevici und den Obrenovici bestimmt, die sich in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts herausgebildet hatte (siehe Hinweis zu 5. 122). Nach der Beteiligung am Krieg gegen die Türkei (siehe Hinweis zu 5. 66) erlangte das Fürstentum Serbien durch den Berliner Friedensvertrag vom 13./1. Juli 1878 die vollständige staatliche Souveränität und setzte eine bedeutende Erweiterung seines Territoriums durch. Am 6. März/22. Februar 1882 erklärte sich Serbien zum Königreich. Der Friede von Bukarest von 1913 nach den beiden Balkankriegen brachte noch größere territoriale Gewinne. Im Ersten Weltkrieg stand Serbien auf der Seite der Entente. 1915 mußten seine Truppen der österreichisch-ungarischen Übermacht weichen, und Serbien wurde militärisch besetzt. Der Zusammenbruch der Donau-Monarchie ermöglichte die Umsetzung des Planes zur Bildung eines großen südslawischen Reiches: Nach dem Anschluß der südslawischen Gebiete Österreich-Ungarns und Montenegros wurde am 1. Dezember 1918 das Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen (seit 3. Oktober 1929 Jugoslawien) unter der serbischen Dynastie der Karadjordjevici proklamiert. Die Abschaffung der Monarchie und die Proklamation einer Föderativen Volksrepublik Jugoslawien am 29. November 1945 konnten den Zusammenhalt Jugoslawiens zwar für weitere Jahrzehnte gewährleisten, aber der Zerfall des südslawischen Staates war nicht aufzuhalten. 1991 blieben vom ursprünglichen Jugoslawien nur noch Serbien und Montenegro übrig.

Das Gebiet von Montenegro geriet als letztes serbisches Rückzugsgebiet 1499 endgültig unter türkische Oberherrschaft, konnte sich aber eine gewisse Autonomie bewahren. Die Geschichte der folgenden Jahrhunderte zeichnete sich durch einen Schwebezustand zwischen faktischer Unabhängigkeit und türkischer Herrschaft aus. Seit 1697 zunächst unter der geistlichen Herrschaft, seit 1852 unter der weltlichen Herrschaft der Fürstendynastie der Petrovic-Njegos gelang es Montenegro, eine weitgehende Autonomie zu behaupten und sein Herrschaftsgebiet auszudehnen. Seit 1842 indirekt als autonomes Fürstentum anerkannt, erhielt Montenegro aber erst mit dem Berliner Friedensvertrag vom 13/1. Juli 1878 die formelle Unabhängigkeit vom Osmanischen Reich zugesprochen. Am 28/15. August 1910 erklärte sich das Fürstentum zum Königreich. Diese Proklamation sollte den Wunsch Montenegros nach Behauptung seiner Unabhängigkeit gegenüber den serbischen Expansionsbestrebungen unterstreichen. Die Beteiligung an den Balkankriegen von 1912 und 1913 brachte Montenegro große Gebietsgewinne. Im Ersten Weltkrieg kämpfte es auf der Seite Serbiens und wurde 1916 von den österreichisch-ungarischen Truppen vollständig besetzt. Nach dem Abschluß des Waffenstillstands zwischen Österreich-Ungarn und den Ententemächten am 3. November 1918 setzte sich die großserbische Tendenz durch, und am 26. November 1918 wurde die Vereinigung mit Serbien und damit am 1. Dezember 1918 das Aufgehen im neuen Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen (dem späteren Jugoslawien) beschlossen. Seine vollständige staatliche Unabhängigkeit erlangte Montenegro erst wieder im Jahre 2006 nach Auflösung der staatlichen Gemeinschaft von Serbien und Montenegro.



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121 sie sind in vorhergehenden Zeiten dort eingewandert: Im Zusammenhang mit der osmanischen Eroberung Südosteuropas -die kriegerischen Auseinandersetzungen begannen im 15. Jahrhundert und dauerten bis ins 17. Jahrhundert - waren zahlreiche Serben dem Druck nach Nordwesten ausgewichen, zum Beispiel in das Save-Donau-Gebiet oder in das Gebiet von Bosnien. Im Verlauf dieser Nordwanderung hatten sich einzelne serbische Bevölkerungsteile als Flüchtlinge in den unter habsburgischer Herrschaft stehenden Territorien wie Siebenbürgen, Ungarn, Kroatien-Slawonien niedergelassen. So fand zum Beispiel im Jahre 1690 ein serbischer Auszug unter der Leitung des serbisch-orthodoxen Patriarchen Arsenije III. Carnojevic (Crnojevic, 1633-1706) nach Ungarn statt. Den serbischen Einwanderern wurde von kaiserlicher Seite ein privilegierter Rechtsstatus eingeräumt, so zum Beispiel im Diplom Kaiser Leopolds J. vom 21. August 1690, der den Serben in Südungarn das Recht auf Religionsfreiheit und eine eigene Kirchenorganisation sowie Steuerprivilegien gewährte. Die Serben siedelten sich aber auch als Wehrbauern an der sogenannten «Militärgrenze» an, die als besondere staatlich-militärische Organisationsform der Sicherung der Grenze zum Osmanischen Reich dienen sollte. 1538 war die kroatische Militärgrenze entstanden, 1702 wurde das slawonische, 1742 das ungarische und 1764 das siebenbürgische Generalat begründet. Nach den revolutionären Wirren von 1848/1849, von denen auch die Gebiete der Militärgrenze erfaßt worden waren, wurden die drei westlichen Gebiete der Militärgrenze durch das Grundgesetz vom 7. Mai 1850 vereinigt und erhielten den faktischen Status eines Kronlandes, während das siebenbürgische Generalat 1851 aufgelöst wurde. Der Prozeß der Provinzialisierung war nicht aufzuhalten: 1872 wurde die ungarische Militärgrenze mit Ungarn vereinigt, 1881 wurden die kroatisch-slawonischen Bezirke an Kroatien angeschlossen. Durch diese serbische Binnenwanderung und die Annexion Bosnien-Herzegovinas entwickelten sich die Serben zu einer starken ethnischen Minderheit in Österreich-Ungarn. Ein wichtiges serbisches Zentrum war zum Beispiel das ungarische Neusatz (heute Novi Sad), wo sich während der revolutionären Wirren von 1848/49 ein autonomes «Serbisches Herzogtum» gebildet hatte (siehe Hinweis zu 5. 121).

121 So kam es, daß Michael Obrenovic' eine furchtbare Gegnerschaft fand: Mandl über die vielfältige Gegnerschaft gegen König Mihailo in seinem bereits erwähnten Aufsatz: «Fürst Michael enttäuschte jedoch bald das revolutionäre Element in der 0mladina. Er geriet der Reihe nach in Konflikte mit der russischen Diplomatie und den Konstitutionellen in Serbien. Die Zettelungen seiner Minister in Ungarn erweckten das Mißtrauen des Wiener und Budapester Kabinetts. Die Führer der Omladina grollten, weil er weder ihre revolutionären Ideen bei der inneren Organisation Serbiens noch ihre Forderungen nach sofortigem Beginn des Befreiungskrieges gegen die Türken ausführen wollte. Die Konstitutionellen unter Führung des Jovan Ristic haderten mit ihm, weil er an dem Prinzip des aufgeklärten Absolutismus festhielt. Von so vielen Seiten bekrittelt, beargwöhnt und angefeindet, achtete er nicht auf die geheimnisvollen Drohungen in der serbischen Presse Südungarns noch auf die gereizten Warnungen der oppositionellen Führer. »Und in seinem schon früher erschienen Buch über «Österreich-Ungarn und Serbien. Ein Beitrag zur Erkenntnis der herrschenden politischen Ideen unter den Serben» (siehe Hinweis zu 5. 121) stellte Mandl fest (1. Kapitel, «Die herrschende politische Idee in Serbien»): «Fürst Michael, die Verkörperung der großserbischen Idee, wurde trotzdem ihr Opfer. Seine Politik erschien der Omladina zu kunktatorisch [zögerlich]. Man schmähte ihn daher als Verräter des nationalen Gedankens. (Dies erweckte bei den Anhängern der vertriebenen Familie Karadjordjevic'



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die Hoffnung auf die Möglichkeit einer Restauration.) Fürst Michael wurde am 11. [10.]Juni 1868 ermordet.»

122 die dynastische Gegnerschaft zwischen den Obrenovici und den Karadjordjevici: Der Kampf um die Macht zwischen den beiden Dynastien der Karadjordjevici und der Obrenovici begleitete die Unabhängigkeitsbestrebungen Serbiens während des ganzen 19. Jahrhunderts.Stammvater der Karadjordjevici (Karadordevici) war Djordje (Dorde =Georg) Petrovic (1762-1817). Er wurde Karadjordje, der «Schwarze Georg» — «kara» heißt auf Türkisch «schwarz» —genannt. Er war der Führer des Ersten Serbischen Aufstandes, der am 14/2. Februar 1804 nach der Niedermetzelung der serbischen Elite durch die türkischen Amtsträger ausgebrochen war. Im März 1804 wurde Karadjordje zum militärischen Führer («vozd»), im Dezember 1808 zum Obersten militärischen Führer («vrhovni vozd») der Serben gewählt. Zunächst konnten sich die Serben unter Karadjordjes Führung erfolgreich behaupten und befreiten immer größere Gebiete von der türkischen Herrschaft. Karadjordje war aber mit der von Rußland im Frieden von Bukarest am 28./16. Mai 1812 ausgehandelten serbischen Autonomie im Rahmen des Osmanischen Reiches nicht zufrieden -Serbien wurde nur als eine privilegierte Provinz der Osmanen anerkannt - und setzte den Kampf auf eigene Faust fort. Er konnte sich jedoch gegen die osmanischen Truppen nicht mehr behaupten und mußte sich im Oktober 1813 nach Österreich ins Exil begeben. Fest entschlossen, Serbien endgültig von der türkischen Herrschaft zu befreien, kehrte er im Juli 1817 im geheimen nach Serbien zurück. Wegen seiner großen Popularität ließ ihn jedoch Milos Teodorovic (1780-1860), der von seinem Stiefbruder den Zunamen Obrenovic übernommen hatte, in der Nacht vom 24. auf den 25. Juli 1817 im Einverständnis mit den osmanischen Behörden ermorden. Milos war der neue Führer der Serben im Zweiten Serbischen Aufstand, der am 23./11. April 1815 ausgebrochen war. Im November 1815 wurde er als oberster Fürst («vrhovni knez») der Serben von der Türkei durch eine mündliche Vereinbarung anerkannt. Damit endete der zweite Aufstand gegen die Türken mit der faktischen Gewährung einer begrenzten Autonomie für Serbien. Im November 1817 wurde Milos zum erblichen Fürsten von Serbien gewählt. In der Konvention von Akkerman (heute Bilgorod-Dnistrovskj) vom 6. Oktober/24. September 1826 und im Friedensvertrag von Adrianopel (heute Edirne) zwischen Rußland und der Türkei vom 14./2. September 1829 wurde der Autonomiestatus von Serbien vertraglich festgeschrieben. Am 15./3. August 1830 wurde Serbien durch einen Erlaß («Hatiserif») vom türkischen Sultan formell zu einem autonomen Fürstentum unter türkischer Oberherrschaft erhoben. Serbien hatte damit endgültig die Autonomie erreicht; es blieb allerdings formell noch bis 1878 türkischer Vasallenstaat (siehe Hinweis zu S. 121)— zunächst unter russischem Schutz, seit dem Pariser Frieden vom 30. März 1856, der den Krim-Krieg beendete, unter dem Schutz der Großmächte.

Die Obrenovici saßen von 1815 bis 1842 und von 1858 bis 1903 auf dem serbischen Thron, die Karadjordjevici von 1842 bis 1858 und 1903 bis 1918. Diese übernahmen 1918 die Königswürde im vereinigten Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen - gegen den Widerstand der montenegrinischen Dynastie Petrovic-Njegos (siehe Hinweis zu 5. 130). Die Obrenovici waren konservativ eingestellt und suchten die Unabhängigkeit Serbiens durch eine Balancepolitik zwischen Österreich und Rußland zu sichern, wobei die Anlehnung an Österreich-Ungarn zunehmendes Gewicht gewann. Die Karadjordjevici waren eher liberal gesinnt und suchten die Unterstützung Frankreichs und Rußlands. Ob es richtig ist, die Karadjordjevici als Freimaurerdynastie zu bezeichnen und die Obrenovici nicht,



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ist fraglich, da Vertretern beider Herrscherhäuser, zum Beispiel Karadjordje und Mihailo, Verbindungen zur Freimaurerei nachgesagt werden.

Die Liste der Fürsten von Serbien: Milos Obrenovic I. (1817 bis 1839) I Milan Obrenovic II. (1839) I Jevrem Obrenovic (Regent, 1839 bis 1840) I Mihailo Obrenovic III. (1840 bis 1842) I Thronvakanz I Aleksandar Karadjordjevic (1842 bis 1843) I Thronvakanz 1843 I Aleksandar Karadjordjevic (1843 bis 1858) I Milos Obrenovic I. (1858 bis 1860) I Mihailo Obrenovic III. (1860 bis 1868) I Thronvakanz 1868 I Milan Obrenovic IV. (1868 bis 1882). Die Liste der Könige von Serbien: Milan J. (Obrenovic, 1882 bis 1889) I Aleksandar J. (Obrenovic, 1889 bis 1903) I Thronvakanz (1903) I Petar J. (Karadjordjevic, 1903 bis 1918).

122 man kann, indem man sozusagen Hand in Hand arbeitet: Leopold Mandl in seinem Aufsatz (siehe Hinweis zu 5. 119) über die Hintergründe der Tat: «Da eine revolutionäre Erhebung bei der Beliebtheit des Fürsten Michael im Volke keine Aussicht hatte, bestach man mit dem Gelde, das einem Verschworenen der Szegediner Vermögensverwalter des Fürsten Alexander Karadjordjevic' über Weisung dessen ältesten Sohne Peter übergeben hatte, mehrere Sträflinge, die am 10. Juni 1868 im Park von Topcider den Fürsten Mihailo ermordeten. Zwei Wochen zuvor waren dem unglücklichen Fürsten Warnungen von verschiedenen Seiten zugegangen. Er hatte sie nicht beachtet. Und so geschah, was seither südlich der Donau sich immer wieder aufs neue ereignet: Auf dem Balkan fällt nur der durch die Hand eines politischen Mörders, der die ihm zugegangenen Warnungen nicht beachtet. » Im ungarischen Szeged besaßen die Karadjordjevici neben dem siebenbürgischen Temesvár (rumänisch Timisoara), dem Exilsitz des abgesetzen Fürsten Alexander, ein weiteres wirtschaftliches Standbein. Die Fäden der politischen Verschwörung gegen Michael gingen allerdings vom ungarischen Neusatz (serbisch Novi Sad) aus. Mittelsmann und Drahtzieher war der Journalist Dimitrije Jovanovic. Es scheint, daß ihm entsprechende Finanzmittel zur Verfügung gestellt wurden, mit deren Hilfe der Staatsstreichversuch vorbereitet wurde.

122 diese Sträflinge ermordeten am 10. Juni 1868 den Michael. Der Mord an Fürst Mihailo Obrenovic III. im Park des in der Nähe von Belgrad gelegenen Landsitzes Topcider (Topschider) geschah am 10.juni/29. Mai 1868. Fürst Mihailo befand sich in Begleitung einer kleinen Gesellschaft auf dem Spaziergang im Naturpark seiner Residenz, als er von drei Attentätern, Sträflingen aus der naheliegenden Belgrader Strafanstalt, angegriffen wurde. Er und seine Cousine Anka Konstantinovi~-Obrenovi~ kamen bei diesem Attentat ums Leben. Ilija Garasanin (siehe Hinweis zu 5. 80 in GA 173c) befand sich zu diesem Zeitpunkt gerade in Topcider und veranlaßte alle die nötigen Maßnahmen zur Verhinderung der Machtübernahme durch die Verschwörer und zur Sicherung der Ordnung im Lande. Er ermöglichte damit die Bildung einer provisorischen Regentschaft, die die Macht übernahm. Was Garasanin aber nicht gelingen sollte, war, seinen großen politischen Gegenspieler Jovan Ristic (siehe Hinweis zu 5. 120) von einer Beteiligung an der definitiven Regentschaft auszuschließen.

122 Der alleinige männliche Nachfolger.. Nach der Ermordung des Fürsten Mihailo Obrenovic III. wurde die oberste Staatsgewalt zunächst einer dreiköpfigen provisorischen Regentschaft unter der Leitung von Jovan Marinovic übertragen. Am 14.12.Juli 1868 wurde der noch minderjährige entfernte Verwandte Milan Obrenovic (1854-1901) — er war der Enkel von Jevrem Obrenovic (siehe Hinweis zu 5. 122) — zum neuen Fürsten ausgerufen. Da er noch minderjährig war, übte bis zu seiner Volljährigkeit im August 1872 ein dreiköpfiger Regentschaftsrat an seiner Stelle



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Was diese Ermordung des Fürsten Mihailo für die Dynastie der Obrenovici bedeutete, beschreibt Leopold Mandl in seiner Abhandlung: «Fürst Mihailo war ohne Testament gestorben. Die Dynastie der Obrenovici erhielt dadurch einen Schlag, vom dem sie sich nicht erholen konnte. Das große Vermögen, das der Dynastiegründer Milos zur Festigung der Herrschaft seiner Familie aus dem serbischen Staatsgute angehäuft hatte, erbten die an die ungarländischen Barone Baic und Nikolic' vermählten zwei Schwestern des Ermordeten. Von den Obrenovici männlichen Geschlechtes erbte bloß ein vierzehnjähriger Knabe [namens] Milan, der Sohn eines Vetters des Fürsten Mihail. Für diesen Knaben, der bettelarm auf den serbischen Fürstenstuhl kam, führten bis zu dessen Volljährigkeit vier Jahre lang drei Regenten, darunter der ebenso schlaue wie herrschsüchtige Jovan Ristic die Regierung. »

122 Da Ristic all diese Gesichtspunkte auch in seinen Werken vertreten hat. Mandl weist in seinem Aufsatz auf die Memoiren von Jovan Ristic hin, die unter dem Titel «Spoljasni odnosaji Srbije novijega vremena» («Die auswärtigen Beziehungen Serbiens») im Jahre 1901 in Belgrad erschienen waren. Darin hatte Ristic die Grundzüge des großserbischen Nationalprogramms klar herausgearbeitet (siehe Hinweis zu 5. 120).

123 denn den Milan Obrenovic liebten die Serben -[wenigstens solange er an der Herrschaft war]—nicht. König Milan war als Herrscher wenig beliebt. Politisch hing das nicht nur mit seinen autokratischen Neigungen, sondern auch mit seiner österreichfreundlichen Haltung zusammen, die die Umsetzung der großserbischen Träume immer unwahrscheinlicher erscheinen ließen. In der Zeit, als die Fortschrittspartei unter Ministerpräsident Milan Pirocanac (siehe Hinweis zu 5. 120) das Sagen hatte, schloß Serbien am 28./16. Juni 1881 einen Geheimvertrag mit Österreich-Ungarn (siehe Hinweis zu 5. 124). Durch diese Bestimmungen wurde Serbien in einem gewissen Sinne auf die Stufe eines österreichisch-ungarischen Vasallenstaates niedergedrückt. Als der Inhalt dieses Vertrages bekannt wurde, erhob sich, vor allem unter der radikal gesinnten Jugend, ein Sturm der Entrüstung gegen den König und seine Politik. Auch wenn die feierliche Ausrufung Serbiens zum Königreich am 6. März/22. Februar 1882 die Wogen etwas glättete, blieb Milan unpopulär. Schließlich kam der unglückliche Ausgang des Krieges gegen Bulgarien hinzu (siehe Hinweis zu 5. 125).König Milan war zwar intelligent und besaß durchaus Verständnis für die Aufgaben seines Amtes, hatte aber einen sprunghaften Charakter, weshalb sein Lebenswandel wenig gefestigt war. Er war ein großer Frauenheld und Lebemann. Dies belastete seine Ehe mit Natalija Kesko (1859-1941), einer aus dem russischmoldauischen Adel stammenden Frau, die er 1875 geheiratet hatte. Der endlose Ehekrieg wurde in aller Öffentlichkeit ausgetragen und führte immer wieder zu größeren Skandalen und innenpolitischen Schwierigkeiten. In der Verfassung von 1889 (siehe Hinweis zu 5. 129) wurde deshalb das Thronfolgerecht auf den gemeinsamen Sohn Aleksandar und seine Nachkommen beschränkt, unter Ausschluß der Nachkommen aus einer eventuellen zweiten Ehe König Milans. Die 1888 von Milan erzwungene Scheidung wurde 1893 wieder rückgängig gemacht; trotzdem kam es bis zum vorzeitigen Tode König Milans im Jahre 1901 zu keiner echten Versöhnung mehr zwischen den Eheleuten.

Alle diese politischen und persönlichen Schwierigkeiten veranlaßten Milan schließlich im März 1889 — zur Bestürzung seines Kabinetts unter der Führung des Liberalen Jovan Avakumovic (1841-1 928, das um die Stabilität des serbischen



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Staates fürchtete -abzudanken. Der Entscheid, auf alle seine dynastischen Rechte und Privilegien zu verzichten und die serbische Staatsbürgerschaft aufzugeben, mag Milan angesichts der Zahlung einer größeren Geldsumme an seine Person durch Rußland versüßt worden sein; er war immer in Geldnot, denn sein Lebensstil war kostspielig. Aber Milan kehrte, nachdem Alexander seine Volljährigkeit erlangt hatte, im Jahre 1894 nach Serbien zurück und erhielt seine früheren Rechte wieder zugesprochen. Erstaunlicherweise gewann er in der Bevölkerung eine gewisse Popularität. Man glaubte, nur ihm mit seiner politischen Erfahrung könne es noch gelingen, die zeitweise völlig ungefestigte Situation in Serbien zu stabilisieren. Nachdem Milan Serbien 1895 wieder verlassen hatte, kehrte er 1897 erneut zurück, um seinem Sohn in der damaligen schwierigen innenpolitischen Situation nach dem Zusammenbruch der Fortschrittspartei im Dezember 1896 beizustehen. Tatsächlich nahm Milan entscheidenden Einfluß auf die innenpolitischen Entscheidungen und versuchte immer wieder, den Einfluß der Radikalen Partei zu beschneiden und ihn, wenn möglich, ganz auszuschalten (siehe Hinweis zu 5. 124). Wenn er auch das Ziel einer innenpolitischen Stabilisierung nur unzulänglich erreichte, so konnte Milan als Oberbefehlshaber der serbischen Armee jedoch einen großen Erfolg verbuchen. Da sich König Alexander wenig für die Belange der Armee interessierte, hatte er seinen Vater im Januar 1898 mit diesem Amt betraut. Die von Milan eingeleiteten Reformmaßnahmen zeigten bald eine günstige Wirkung. Als aber Alexander seine Verlobung mit Draga Masin bekanntgab (siehe Hinweis zu 5. 126), trat dieser im Juli 1900 von seinem Amt zurück und betrat nie mehr serbischen Boden.

123 es durfte natürlich niemand die geheimen Fäden auch nur ahnen: Hinter der Ermordung des Fürsten Mihailo steckte ein weitverzweigtes Komplott mit mehreren Aktionsebenen, die für die Außenwelt nicht leicht zu erkennen waren. Insofern lagen die Verhältnisse ähnlich wie im Falle des Mordes von Sarajevo (siehe Hinweis zu 5. 173). Zunächst gab es den Kreis der eigentlichen Attentäter, die die Mordtat ausführten. Hinter diesen standen jene Verschwörer, die aus persönlichpolitischen Gründen an einer Ausschaltung des Fürsten Mihailo interessiert sein mußten. Dazu gehörten zunächst einmal die republikanisch gesinnten Anhänger der in den Untergrund abgetauchten radikalnationalistischen «Omladina» (siehe Hinweis zu S. 117), deren Unterdrückung Fürst Mihailo 1867 in Serbien eingeleitet hatte und die dem Fürsten ein zu vorsichtiges Taktieren in der Verwirklichung des großserbischen Programms vorwarfen. Und dann gab es die überzeugten Anhänger der Karadjordjevic, die auf einen Dynastiewechsel hofften. Leopold Mandl bemerkt in seinem von Rudolf Steiner benutzten Aufsatz (siehe Hinweis zu 5. 65) dazu: «Vollständig klar durch die Gerichte aufgehellt waren die Personen und die Triebkräfte, die bei der Ermordung des Fürsten Mihailo mitwirkten. Es war eine Verschwörung, die mehrere Belgrader Sozialrevolutionäre, Vorläufer der Radikalen Partei, im Vereine mit Todfeinden der Obrenovici und die Brüder und Vettern der Fürstin Persida, geborene Nenadoviç', zugunsten ihres Gemahls und ihres Sohnes Peter anzettelten. » Tatsächlich spielten Anhänger der Karadjordjevici eine wichtige Rolle, zum Beispiel der Advokat Pavle Radovanovic oder der Direktor der Belgrader Strafanstalt Sima Nenadovic, ein Vetter der Exfürstin Persida Karadjordjevic-Nenadovic (1813-1873). Es gelang den serbischen Behörden, diesen Verschwörerkreis zusammen mit den Attentätern dingfest zu machen; in einem Schauprozeß wurden sie zum Tode verurteilt und am 28. Juli 1868 hingerichtet.Damit war die Angelegenheit nur scheinbar erledigt. Im Verlauf der Gerichtsverhandlungen hatte sich herausgestellt, daß die Verschwörer vom Ausland her finanziert worden waren. So stellte sich die Frage, wie sehr die Karadjordjevici



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selber direkt in die Verschwörung verwickelt waren. Eine aktive Rolle schien vor allem Petar Karadjordjevic (siehe Hinweis zu 5. 129), der Sohn des Thronprätendenten Aleksandar Karadjordjevic (1806-1885), gespielt zu haben - dieser lebte in Temesvár (Timisoara) im Exil, und sein Sohn soll sich zum Zeitpunkt des Umsturzes in der Nähe Serbiens auf ungarischem Gebiet befunden haben. In einem offenen Brief verwahrte sich Petar gegen jegliche Verdächtigungen, allerdings für die Öffentlichkeit wenig überzeugend. Ristic, der damalige starke Mann in Serbien nach der Ermordung des Fürsten Mihailo (siehe Hinweis zu 5. 122), zeigte sich von einer Mittäterschaft der Karadjordjevici überzeugt. Dazu Mandl in seinem Aufsatz: «Ristic' selber beeilte sich, die Karadjordjevici auf Indizien in contumaciam [im Rahmen eines Versäumnisverfahrens, das heißt in Abwesenheit] zu vieljähriger Kerkerhaft verurteilen zu lassen und ihr in Serbien befindliches unbewegliches Vermögen im Werte von drei Millionen Francs zu konfiszieren.» Tatsächlich war von Serbien das Begehren an Österreich-Ungarn gestellt worden, Fürst Alexander auszuliefern, was jedoch aufgrund des geltenden internationalen Asylrechtes von den dortigen Behörden abgelehnt wurde. Aleksandar wurde in Abwesenheit zu zwanzig Jahren Zuchthaus verurteilt. Aber um Serbien nicht ganz zu brüskieren, wurde von den ungarischen Behörden im Jahre 1870 schließlich doch Anklage gegen Aleksandar erhoben. Er wurde in Untersuchungshaft gesetzt, aber mangels Beweisen freigesprochen. Eine Revision des Prozesses führte zu einer Verurteilung zu acht Jahren Gefängnis; der Urteilsspruch wurde allerdings nicht vollzogen und der ehemalige Fürst auf freien Fuß gesetzt. Diesen Vorgang wertete der serbische Politiker Jovan Ristic (siehe Hinweis zu 5. 120) in seinen Memoiren als Beweis für die Verwicklung der ungarischen Regierung in das Attentat und bezeichnete den Mord als Werk des österreichisch-ungarischen Generalkonsuls, Benjamin von Kallay (1839-1903). Kallay, ein ungarischer Adliger, der mit den Verhältnisse auf dem Balkan sehr gut vertraut war, wirkte von 1868 bis 1875 als Vertreter Österreich-Ungarns in Belgrad. Auf alle Fälle war Ristic bestrebt, den Haß der serbischen Bevölkerung auf die Habsburgermonarchie zu schüren. Zudem stellt sich die Frage, ob Ristic nicht selber auch ein Interesse an der Beseitigung des Fürsten Mihailo hatte, weil dieser andere politische Vorstellungen zu entwickeln begann. Jedenfalls dominierte er nach der Ermordung des Fürsten Mihailo für einige Jahre -während der Minderjährigkeit des neuen Fürsten Milan -das politische Geschehen in Serbien. Unklar ist auch die Rolle Rußlands, dem die auf Unabhängigkeit bedachte Politik des Fürsten Mihailo ein Dorn im Auge war und das einen Dynastiewechsel in Betracht zog (zitiert nach: Karl Gladt, Kaisertraum und Königskrone. Aufstieg und Untergang einer serbischen Dynastie, Graz/Wien/Köln 1972, VI. Kapitel, «Der Mord im Kosutnjak», Anmerkung 37): «Am 3. Juni 1868, also eine volle Woche vor dem Attentat, war in der Petersburger Zeitung <Golosa ein Artikel erschienen, in dem es hieß, die Dynastie Obrenovic sei nicht geeignet, die slawischen Zukunftspläne zu verwirklichen. Der einzige und würdige Kandidat für den serbischen Fürstenthron sei Petar Karadjordjeviç', der Sohn Aleksandars; nur er könne zum Heil der Serben und der nach Erlösung lechzenden Bosnier, Montenegriner und Herzegowiner den serbischen Fürstenthron besteigen. »

123 noch eine andere hinein, die von zehn Menschen im Jahre 1872 gegründet worden ist: Im Zusammenhang mit der Gründung einer anarchistisch-nationalistisch orientierten Gruppierung von meist studentischen Exilserben in Zürich schreibt Mandl in seinem Aufsatz: «Im Jahre 1872 hatten sie -damals meist achtundzwanzig- und dreißigjährige Männer -in Zürich unter Führung des Svetozar Markovic eine Zehner-Gruppe der serbischen Sozialdemokratie der internationalen und Jura-Föderation,



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War die öffentliche politische Meinung in Serbien bisher vor allem durch den Widerstreit zwischen den konservativen und liberal orientierten Parlamentsfraktionen bestimmt worden -die liberale Fraktion hatte sich 1858 gebildet, während 1868 die Abspaltung der Jungkonservativen hinzukam -, bildeten sich zu Beginn der achtziger Jahre eigentliche Parteien, die mit einem eigenen Programm um die Wählergunst kämpften. So entstanden im Jahre 1881 neben der bereits bestehenden Konservativen Partei («Konservativna Stranka») die Liberale Partei («Liberalna Stranka»), die Fortschrittspartei («Napredna Stranka») der Jungkonservativen und die Radikale Volkspartei («Narodna Radikalna Stranka»). Während die Konservative Partei für eine möglichst weitgehende Erhaltung der sozialen Ordnung mit weitgehenden Vollmachten für den Monarchen eintrat, setzte sich die Fortschrittspartei für bürokratische Reformen, allerdings unter Beibehaltung der königlichen Prärogativen ein. Die Liberale Partei strebte die Schaffung eines zentralistisch organisierten Rechtsstaats mit einer starken monarchischen Gewalt an, während die Anhänger der Radikalen Volkspartei die Verwirklichung einer umfassenden Volkssouveränität, gepaart mit Sozialreformen und lokaler Selbstverwaltung, forderten. Außenpolitisch zeichnete sich zunehmend eine tiefe Spaltung des serbischen Volkes in zwei gegensätzliche Lager ab, die bis in die heutige Zeit andauert: in ein westliches, austrophiles und in ein östliches, russophiles Lager. Die Anhänger der Fortschrittspartei erhofften sich eine Stärkung der Machtstellung Serbiens durch die Anlehnung an Österreich-Ungarn, während die Radikalen die Hinwendung zu Rußland befürworteten. Dazwischen standen die Liberalen, die eher eine neutrale Balancepolitik befürworteten.

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts verschob sich die Parteienlandschaft in Serbien erneut. Die Liberale Partei spaltete sich 1904 und wurde politisch nahezu bedeutungslos, während die Fortschrittspartei als Überbleibsel der Konservativen nur noch begrenzten politischen Einfluß ausüben konnte. Die Radikale Partei hatte sich zwar zur stärksten Partei entwickelt, aber 1904 spaltet sich die «Unabhängige Radikale Partei («Samostalna Radikalna Stranka») ab. Im Unterschied zu den Altradikalen, die als Regierungspartei einen zunehmend gesellschaftspolitisch konservativen Kurs einschlugen, vertraten die Jungradikalen sozialistische Programmpunkte und bekannten sich zu einer «europäischen» Orientierung - im Gegensatz zum zunehmend konservativ geprägten Anti-Westlertum der Altradikalen.

123 In diesem Programm heißt es wörtlich: Das von Rudolf Steiner erwähnte Programm stammte von Svetozar Markovic (1846-1875), dem Begründer des anarchistischen



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In seinem Buch über die in Serbien verbreiteten politischen Ideen (siehe Hinweis zu 5. 121) erwähnt Mandl eine Denkschrift vom März 1904, die Pasic in seiner Eigenschaft als serbischer Außenminister (siehe Hinweis zu 5. 33) zuhanden von König Peter hatte verfassen lassen. In diesem stark anti-österreichisch geprägten Aktionsprogramm werden die Ziele der serbischen Außenpolitik dargelegt (1. Kapitel):

123 dieses Programm [der Radikalen]immer mehr und mehr in die [liberale]Strömung des Ristic hineinzuarbeiten. Unter dem Einfluß von Ristic betrieb Serbien zunehmend eine antihabsburgische Politik. Mandl gibt in seinem Aufsatz ein Beispiel: «Im Herbst 1870 ließ der ungarische Ministerpräsident Graf Andrassy [siehe Hinweis zu 5. 165 in GA 173b] dem Ristic durch Herrn von Kallay [österreichisch-ungarischer Generalkonsul in Belgrad, siehe Hinweis zu 5. 123] einen Geheimvertrag anbieten. Österreich-Ungarn bot Serbien den Besitz Bosniens, [der]Herzegovina und Altserbiens an, wofern es nur wohlwollend neutral bleibe, wenn Österreich-Ungarn in einen Krieg verwickelt werden sollte. Ristic aber gab auf dieses Anerbieten keine Antwort. » Als Grund gab er in seinen Memoiren an, daß Serbien in einem möglichen Krieg zwischen Österreich-Ungarn und Rußland in keinem Falle neutral bleiben wolle, da nur Rußland das Endziel der serbischen Außenpolitik -die Zertrümmerung Österreich-Ungarns - zur Erfüllung bringen könne.

124 der Machthaber, neben dem minderjährigen Milan. Vom Juli 1868 bis August 1872 war Ristic das maßgebende Mitglied des dreiköpfigen Regentschaftsrates für den minderjährigen Fürsten Milan Obrenovic IV. (siehe Hinweis zu 5. 122). 1. Bündnis mit Montenegro. Der Fürst muß sich verpflichten, eine gemeinsame von Belgrad aus dirigierte auswärtige Politik zu machen. 2. Verständigung mit Bulgarien über Reformen in Makedonien und Altserbien. Abschluß einer Zollunion behufs Erweiterung des serbischen Wirtschaftsgebietes. 3. Wirtschaftliche Emanzipation von den österreichisch-ungarischen Märkten; zielbewußte Förderung der handelspolitischen Interessen der Westmächte, Rußlands und Italiens, in Serbien als bestes Mittel, die großserbische Idee in Europa populär zu machen. 4. Förderung der Koalitionsidee der kleinen serbischen und serbenfreundlichen Parteien in Kroatien behufs Unterstützung der ungarischen Unabhängigkeitspartei in ihrem Kampfe gegen Krone und Dualismus. 5. Agitation in Bosnien behufs Anschluß an Serbien. Diskreditierung der dortigen österreichisch-ungarischen Administration durch systematische publizistische Propaganda und Nährung der Unzufriedenheit der orthodoxen und mohammedanischen Bevölkerung Bosniens und der Herzegovina.



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124 Der Universitätsprofessor Jovan Skerlic, der auch ein wenig Verbindung hatte mit dieser radikalen Richtung: Dieses Zitat stammt von Svetozar Markovic (siehe Hinweis zu S. 123). In seinem Buch über «Svetozar Markovic» (Belgrad 1910) beschreibt der serbische Universitätsprofessor Jovan Skerlic das national-revolutionäre Programm von Markovic. Dazu Mandls Kommentar (zitiert nach: Leopold Mandl, Der Mord als Mittel der Politik in Serbien, siehe Hinweis zu 5. 119): «Die negative Seite des Programms des Svetozar Markovic' ist die Vernichtung der türkischen und österreichisch-ungarischen Verwaltung über die Serben, die positive ist deren Vereinigung mit den Kroaten und Bulgaren. Diese durchzuführen ist die Aufgabe Serbiens, das durch seine geographische Lage nicht nur ein Zentrum der Revolution unter den Serben, sondern der Slawen überhaupt ist. » Jovan Skerlic (1877-1914), seit 1910 Professor für serbische Literatur an der Universität Belgrad, gehörte der radikalen Parteiströmung an.

124 Als dann Milan Obrenovic' volljährig wurde, da brachten es die Umstände mit sich, daß er sich freimachen wollte von dieser radikalen Strömung: Am 22./10. August 1872 wurde Milan volljährig. Mit diesem Datum übernahm er die uneingeschränkte königliche Herrschaftsgewalt. Politisch stand Milan gar nicht auf der Seite der Radikalen; er teilte weder ihre Forderung nach Verwirklichung einer umfassenden Volkssouveränität noch nach einer Zerschlagung Österreich-Ungarns. Aufgrund seiner Erziehung und seines Lebensstils neigte er mehr dem Westen Europas zu als Rußland. Diese Haltung verschärfte auch den Ehekonflikt mit seiner Frau Nataljia, deren politische Sympathie zunächst den Radikalen und Rußland galt.Nach dem Ende des Russisch-Türkischen Krieges und der anstehenden politischen Neuordnung auf dem Balkan (siehe Hinweis zu 5. 66) stand Serbien vor der schwierigen Entscheidung, sich entweder an Rußland oder an Österreich-Ungarn anzulehnen. Auf dem Berliner Kongreß (siehe Hinweis zu 5. 79) wurde Serbien mit seinen Forderungen nach Unabhängigkeit und Vergrößerung seines Staatsterritoriums vor allem von Österreich-Ungarn unterstützt, während zum Beispiel Großbritannien eine Rückkehr Serbiens unter die osmanische Oberherrschaft befürwortete. Die österreichisch-ungarische Unterstützung für Jovan Ristic (siehe Hinweis zu 5. 120), den serbischen Vertreter auf dem Kongreß, war aber nicht uneigennützig, hoffte man doch in Wien, die serbischen Expansionsbestrebungen dadurch besser kontrollieren und von Österreich-Ungarn ablenken zu können. Rußland konnte auf dem Kongreß seine ehrgeizigen machtpolitischen Ziele nicht durchsetzen und schien -wie es sich schon bei den Vorgängen um die Ermordung des Fürsten Mihailo gezeigt hatte (siehe Hinweis zu 5. 122) —eher auf die Karte der konkurrierenden Dynastie der Karadjordjevici zu setzen. Wollte Milan seine außenpolitischen Ziele erreichen und seine Dynastie an der Macht erhalten, so mußte er sich notgedrungen an Österreich anlehnen. Er mußte dafür aber eine Beschränkung seines außenpolitischen und wirtschaftlichen Spielraums in Kauf nehmen.

Aufgrund des österreichischen Druckes mußte sich Fürst Milan im Oktober 1880 von seinem liberal gesinnten Ministerpräsidenten Ristic, der seit Oktober 1878 im Amt und gegen eine zu enge wirtschaftliche und politische Bindung an Österreich war, trennen. Er ersetzte ihn durch Milan Pirocanac, einem Vertreter der Fortschrittspartei (siehe Hinweis zu 5. 120). Am 24. April 1881 wurde als Auftakt ein Handelsvertrag mit Österreich-Ungarn unterzeichnet, der zum Teil faktisch auf eine Zollunion hinauslief. Zwei Monate später folgte ein weiteres Abkommen mit Österreich-Ungarn: der in Belgrad unterzeichnete Geheimvertrag vom 28/16. Juni 1881. In diesem Vertrag erklärte Serbien, alle Bemühungen um den Anschluß der zu Österreich-Ungarn gehörigen südslawischen Gebiete, insbesondere



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auch der durch österreichische Truppen besetzten Gebiete von Bosnien-Herzegovina und des Sandzak, zu unterlassen. Österreich-Ungarn wurde eine gewisse Oberaufsicht über die serbische Außenpolitik zugestanden, indem sich Serbien bereit erklärte, keine Verträge mit ausländischen Mächten ohne Vorwissen Österreichs abzuschließen. Weiter hatte Serbien den österreichischen Truppen im Falle von kriegerischen Verwicklungen das Durchmarschrecht einzuräumen. Dafür versprach Österreich, die Dynastie Obrenovic gegen alle Schwierigkeiten, notfalls auch militärisch, zu schützen. Außerdem war Österreich bereit, die serbische Expansion in Richtung Makedonien zu unterstützen und auch die Erhebung Serbiens zu einem Königreich zu befördern (siehe Hinweis zu 5. 121). Gerade die Bestimmung, die die außenpolitische Souveränität Serbiens wesentlich einschränkte, stieß bei Ministerpräsident Pirocanac auf so erhebliche Bedenken, daß am 25.113. Oktober 1881 in Belgrad eine ergänzende Erklärung unterzeichnet wurde, in der Serbien sich das Recht vorbehielt, selbständig Verträge abzuschließen, und sich lediglich verpflichtete, daß diese Verträge nicht im Widerspruch zum Geheimvertrag stehen durften.

Auch in der Zeit nach seiner Abdankung - im Zusammenhang mit seinen gelegentlichen politischen Interventionen - nahm Milan deutlich eine österreichfreundliche Haltung ein. Ebenso behielt er seine Abneigung gegenüber den radikalen Politikern bei; er hätte sich ihrer am liebsten entledigt. So drohte nach dem mißlungenen Attentat auf Milan im Jahre 1899 Nikola Pasic die Todesstrafe (siehe Hinweis zu 5. 127).

124 daß zur Krönung Alexanders III. von Rußland: Diese Tatsache führt Mandl in seinem Aufsatz als eines der Beispiele für die russische Unterstützung der im Exil lebenden Dynastie der Karadjordjevici an, da Rußland mit der pro-österreichischen Politik des serbischen Fürsten Milan unzufrieden war. In seinem Aufsatz schreibt er: «In Rußland aber brach man über ihn den Stab. Zur Krönung Alexanders III. wurde nicht König Milan, sondern der Prätendent, Peter Karadjordjeviç', geladen. In Petersburg erhielt er die Weisung, nach Cetinje zu fahren, wo Fürst Nikola von Montenegro den Befehl erhalten hatte, dem serbischen Prätendenten seine älteste Tochter zur Gemahlin zu geben. Zähneknirschend gehorchte der Knez in den schwarzen Bergen. Die vom Zaren gespendete Million Francs Mitgift steckte er ein als mäßige Entschädigung, daß er genötigt war, eine Dynastie für ein Land begründen zu helfen, in dem er selbst einmal zu herrschen auch heute noch nicht die Hoffnung aufgegeben hat. »Zar Alexander (Aleksandr) III. (1845-1894) von Rußland wurde am 27.115. Mai 1883 zum Zaren gekrönt, nachdem er am 13./1. März 1881, nach der Ermordung seines Vaters, des Zaren Alexander II., auf den russischen Thron gelangt war (siehe Hinweis zu 5. 63). Milan I. Obrenovic war zum Zeitpunkt der Krönung Zar Alexanders III. bereits König von Serbien; den Königstitel hatte er am 6. März 1882 angenommen. Diese Nichtberücksichtigung des regierenden serbischen Königshauses bedeutete einen großen politischen Affront, um so mehr, als Petar, der Sohn des damaligen serbischen Thronprätendenten Aleksandar Karadjordjevic (1806-1886), zu den Krönungsfeierlichkeiten eingeladen worden war. Petar hatte 1883 Prinzessin Ljubica «Zorka» (1864-1890), die älteste Tochter des Königs Nikola I. von Montenegro, geheiratet (siehe Hinweis zu 5. 130).

Bereits zu diesem Zeitpunkt war klar, daß Rußland nicht mehr auf die regierende Dynastie der Obrenovici, sondern auf die Karadjordjevici setzte. Schon damals genossen diese die Unterstützung einflußreicher politischer Kreise in Rußland. So schrieb zum Beispiel die in St. Peterburg erscheinende Zeitung «Golos» (zitiert nach: Alfred Fischel, Der Panslawismus bis zum Weltkrieg, Stuttgart/Berlin 1919,



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9. Abschnitt) eine Woche vor der Ermordung des Fürsten Mihailo Obrenovic III. am 10. Juni 1868 (siehe Hinweis zu S. 122): «Die Dynastie der Obrenovic' ist unfähig, den Plan der slawischen Zukunft auf der Halbinsel zu verwirklichen. Es gibt einen einzigen Kandidaten, der würdig wäre, den Thron Serbiens einzunehmen und das ist Peter Karadjordjevic'. Ihn muß man auf den Thron Serbiens erheben, zum Wohl der Serben und der unglücklichen Bosnier, Herzegoviner und Montenegriner. »

125 das in die Zeit dieses unglücklichen Krieges Serbiens gegen Bulgarien fällt: 1867 hatten die bulgarischen Nationalisten im Exil in Bukarest der Bildung eines serbisch-bulgarischen Föderativstaates unter der Herrschaft des serbischen Fürstenhauses zugestimmt. Aber aufgrund der Beschlüsse des Berliner Kongresses erhielt Bulgarien 1878 eine von Serbien unabhängige, eigenständige Autonomie. Diese Ausgangssituation erklärt, warum sich zwischen Serbien und Bulgarien nach dem Berliner Kongreß zunehmend Spannungen bemerkbar machten, wobei sich die serbischen und die bulgarischen Interessen vor allem in dem noch türkischen Makedonien überschnitten. Schließlich kam es 1885 zu einem bewaffneten Konflikt um die Vorherrschaft auf dem Balkan.Anlaß für den Kriegsausbruch war die am 18./6. September 1885 erfolgte Proklamation eines Anschlusses des autonomen türkischen Fürstentums Ostrumelien an Bulgarien; der bulgarische Fürst Alexander J. wurde zugleich auch Generalgouverneur Ostrumeliens. Serbien verlangte entsprechende territoriale Kompensationen, um das Gleichgewicht zwischen den beiden Fürstentümern zu wahren. Als die am 5. November/24. Oktober 1885 in Istanbul zusammengetretene Botschafterkonferenz zunächst zu keiner Einigung gelangte, kam es in der Nacht vom 13. auf den 14. November 1885 zur serbischen Kriegserklärung an Bulgarien und zum Einfall der serbischen Truppen in Bulgarien. Dieses kriegerische Vorgehen stand durchaus im Interesse Österreich-Ungarns, erhoffte es sich doch eine Ablenkung Serbiens in Richtung Balkan. Rußland erhoffte sich eine Demütigung Bulgariens, denn ihm war der eigenständige Kurs des bulgarischen Fürsten Alexander J. schon länger ein Dorn im Auge.

Trotz der anfänglichen militärischen Überlegenheit der serbischen Truppen erlitten diese in der Schlacht von Slivinica in der Nähe von Sofia vom 17. bis 19. November eine vernichtende Niederlage. Die bulgarischen Truppen gingen nun ihrerseits in die Offensive und überquerten am 25. November 1885 die serbische Grenze. Am 28/16. November 1885 mußte Bulgarien in einen Waffenstillstand einwilligen, da sich der österreichisch-ungarische Außenministers Gusztav Zsigmond Kalnoky Graf («Grof») von Köröspataki (1832 —1898), der vom November 1881 bis Mai 1895 Außenminister der Doppelmonarchie war, entschieden hinter den serbischen König Milan J. stellte; er erklärte, Österreich-Ungarn würde die Vernichtung Serbiens nicht untätig hinnehmen. Im Frieden von Bukarest vom 3. März/19. Februar 1886 konnte Serbien seinen Besitzstand wahren, ohne eine Kriegsentschädigung zahlen zu müssen. Einen Monat später, am 5. April/24. März 1886, wurde im Vertrag von Tophane (Stadtteil von Istanbul) anläßlich einer Botschafterkonferenz die Personalunion Ostrumeliens mit Bulgarien anerkannt. Rußland hielt jedoch an seinem Ziel, Fürst Alexander zu stürzen, fest (siehe Hinweis zu 5. 32). Dies konnte es um so leichter bewerkstelligen, als von vielen bulgarischen Patrioten der Friede von Bukarest als Schmach empfunden wurde.

125 haben eine merkwürdige Statistik aufgestellt: Mandl stellt in seinem öfters erwähnten Aufsatz «Der Mord als Mittel der Politik in Serbien» im Hinblick auf das Streben der omladinistisch inspirierten Radikalen Partei nach der Übernahme der politischen Macht in Serbien (siehe Hinweis zu 5. 125) fest: «Durch 364 politische



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Ein guter Kenner der damaligen Verhältnisse in Serbien war auch Constantin Theodor Dumba (1856-1947), von 1913 bis 1915 der letzte österreichisch-ungarische Botschafter in den Vereinigten Staaten. Zur Zeit des Mai-Umsturzes war er österreichisch-ungarischer Gesandter in Belgrad; er war dort von 1903 bis 1905 im Amt. Im Zusammenhang mit der Ermordung des serbischen Königspaares (siehe Hinweis zu 5. 129) schrieb er in seinen Memoiren «Dreibund- und Entente-Politik in der Alten und Neuen Welt» (Zürich/Leipzig/Wien 1931, VI. Kapitel, Abschnitt 1.5, «Das Komplott gegen das Königspaar -Doppelmord»): «Soweit die Bauernbevölkerung in Betracht kommt, so ist zu bedenken, daß das Menschenleben bei den in Serbien vorwaltenden, gewalttätigen Sitten nicht sehr hoch eingeschätzt wurde. Bei den Gemeinde- und noch mehr bei den Skupstina-Wahlen gab es immer zahlreiche Tote und Verwundete. Auch erinnere ich mich an eine Statistik, wonach in Serbien, mit einer Bevölkerung von 2½Millionen, jährlich über 200 Morde registriert wurden. Die Offiziere waren ja vielfach die Söhne oder Enkel von Bauern und ihre ethischen Begriffe nicht so gefestigt wie in den westlichen Kulturstaaten. »

125 der große Aufschwung ins Auge gefaßt werden, den diese Partei in den neunziger Jahren erfuhr. Es handelt sich um die «Radikale Volkspartei» («Narodna Radikalna Stranka»), die im Jahre 1881 gegründet worden war (siehe Hinweis zu 5. 123). Bereits in den Wahlen von 1883 erwies sie sich als stärkste Partei. König Milan I. weigerte sich jedoch, ihr Regierungsverantwortung zu übertragen. Die darauf ausgebrochenen Unruhen veranlaßten König Milan, nahezu die gesamte Führung der Radikalen Partei auszuschalten. Erst nach der Niederlage Serbiens gegen Bulgarien (siehe Hinweis zu 5. 125) sah er sich veranlaßt, einen Kompromiß mit der Radikalen Partei zu schließen und sie im Dezember 1887 mit der Regierungsbildung zu beauftragen. Zum ersten Ministerpräsidenten der Radikalen Partei wurde der ehemalige General Sava Grujic (1840-1913) ernannt, der allerdings nur bis April 1888 im Amt blieb. Trotzdem ließ sich die Umgestaltung Serbiens zu einer konstitutionellen Monarchie nicht mehr aufhalten: Am 3.Januar 1889/22. Dezember 1888 wurde eine neue liberale Verfassung proklamiert -die Verfassung von 1888. König Milan, der im Grunde die Entwicklung zu einem konstitutionell-parlamentarischen Regierungssystem ablehnte, wollte nicht länger die Herrschaft ausüben, dankte am 6. März/22. Februar 1889 zugunsten seines Sohnes ab und verließ am 19/7. März 1889 Serbien auf dem Weg ins Exil. Damit gelangte Alexander (Aleksandar) I. (Obrenovic, 1876-1903) auf den serbischen Thron, und es begann eine instabile Periode in der serbischen Innenpolitik, die schließlich mit dem Sturz der Dynastie der Obrenovici endete.Da Alexander noch minderjährig war, wurde eine Regentschaft unter der Leitung von Jovan Ristic (siehe Hinweis zu 5. 120) eingesetzt; sie wurde von der Liberalen Partei beherrscht. Mit der Regierungsverantwortung wurden aber die Radikalen



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betraut. An der Spitze der Regierung stand nun erneut Sava Grujic; im Februar 1891, nach dem großen Wahlsieg der Radikalen, wurde er durch Nikola Pasic (siehe Hinweis zu 5. 33) ersetzt. Aber im August 1892 fand die Herrschaft der Radikalen aufgrund eines Machtwortes von seiten des Regentschaftsrates wieder ein Ende, und die Liberalen übernahmen erneut die Herrschaft. Aber die neuen Machtverhältnisse sollten nicht lange dauern. Unter Einfluß seines politischen Ziehvaters Lazar Dodic (1845-1893), der in Verbindung mit dem im Exil lebenden früheren König Milan stand, führte König Alexander am 13. April 1893 einen Staatsstreich durch, der sich gegen die herrschenden Liberalen richtete. Er erklärte sich vorzeitig für volljährig, setzte den Regentschaftsrat ab und ernannte ein von der Radikalen Partei dominiertes Kabinett unter der Leitung von Dodic. Dieser mußte aber bereits im Dezember 1893 als Ministerpräsident zurücktreten, da er schwer erkrankt war. Um die endgültige Machtübernahme durch die Radikalen zu verhindern, entschloß sich Milan zur Rückkehr nach Belgrad, denn nach der Volljährigkeitserklärung war die Bestimmung hinfällig geworden, daß er im Ausland im Exil bleiben mußte. Am 21./9. Januar 1894 traf Milan in Belgrad ein. Das radikale Kabinet unter Sava Grujic mußte zurücktreten, und es wurde eine parteilose Regierung eingesetzt. Am 20./8. Mai 1894 wurde die Aufhebung der liberalen Verfassung von 1888 verkündet und die alte autokratische Verfassung von 1869 wieder in Kraft gesetzt. Damit war die Radikale Partei von der Macht verdrängt, die sie -nach kurzen Zwischenspielen in den Jahren 1896 bis 1897 und 1901 bis 1902 — erst im Oktober 1903, nach dem Sturz der Obrenovici, wieder erlangen sollte. 1901 war es der vom April/März 1901 bis Oktober 1902 amtierenden von den Radikalen beherrschten Regierung unter Ministerpräsident Mihailo Vujic (1853 —1913) gelungen, eine verhältnismäßig liberale Verfassung, die Verfassung vom 19/6. April 1901, durchzubringen, die die Einführung des Zweikammersystems vorsah. Die Verfassung wurde allerdings am 7. April/25. März 1903 aufgrund eines königlichen Staatsstreiches für eine halbe Stunde außer Kraft gesetzt, um verschiedene Gesetzesgrundlagen im konservativen Sinne abzuändern. Dieser von König Alexander ausgehende Gewaltakt veranlaßte die Verschwörer endgültig, ihre Pläne zur Beseitigung des Königspaares in die Tat umzusetzen (siehe Hinweis zu 5. 129).

125 als eines Tages in den neunziger Jahren sämtliche Städte in Serbien beflaggt waren: Rudolf Steiner stützte sich auch mit dieser Angabe auf den Aufsatz von Mandl: «Die französisch-russische Annäherung war seit dem Jahre 1891 offenkundig geworden. Im Jahre 1895 [richtig 1892 beziehungsweise 1894, siehe Hinweis zu 5. 173] kam das Bündnis zwischen Frankreich und Rußland in Paris zustande. An diesem Tag [als das Bündnis bekannt wurde], hatten alle Städte geflaggt. Das Pariser Ereignis erregte in ganz Serbien lauten Jubel. Noch wähnten die Könige Milan und Alexander die Ereignisse durch den Einsatz ihrer Persönlichkeiten beeinflussen zu können, allein sie täuschten sich über die Macht der in Serbien erstarkten Volkskräfte, welche die Zeit für nahe erachteten, in der die Ideen des Jovan Ristic und des Svetozar Markovic' mit Hilfe des russisch-französischen Zweibundes realisiert werden konnten. » Das französisch-russische Bündnis wurde endgültig am 4. Januar 1894/ 23. Dezember 1893 geschlossen. Zum Zeitpunkt des Bündnisabschlusses drohte den Radikalen, die gegen Österreich eingestellt waren und die Zusammenarbeit mit Frankreich und Rußland suchten, bereits die Verdrängung von der Macht. Die Flaggenaktion war offensichtlich eine Machtdemonstration der Radikalen Partei gegen das herrschende Königshaus der Obrenovici.Zur Geschichte mit den Gewehren: «Ein Jahr später suchte ein radikales Kabinett hinter dem Rücken der Könige Milan und Alexander in Frankreich hunderttausend



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Gewehre zu bestellen, ein revolutionärer Akt der Radikalen, der ihren Sturz herbeiführte, zugleich aber auch die Tatsache enthüllte, daß die Dynastie Obrenovic sich auf keine einzige der drei serbischen Parteien mehr zu stützen vermochte. » Ein wichtiger Programmpunkt der Radikalen war der Aufbau einer Milizarmee; der Ankauf von 80 000 modernen Gewehren und die Verteilung an die Milizionäre sollte diesem Zweck dienen. Da Serbien keine eigene Waffenindustrie hatte, mußten die Waffen im Ausland besorgt werden. Im Rahmen einer Finanzhilfe an Serbien sollte dieses von Rußland 80 000 Gewehre erwerben. Es handelte sich aber um französische Ausschußware, deren Annahme Rußland verweigert hatte. Auf diese Weise hätte die französische Lieferfirma ihr Geld erhalten und Rußland hätte sich seiner Verpflichtungen entledigen können. Und auch die russischen Vermittler des Waffengeschäftes hätten ihre Profite einstreichen können. Das für Serbien unvorteilhafte Geschäft - die Verhandlungen begannen im Dezember 1893 — kam aber nicht zustande. Angesichts dieses ganzen skandalösen Hintergrundes weigerte sich der junge König, seine Zustimmung zu geben. Außerdem hatte er berechtigte Zweifel an der Loyalität der geplanten Milizarmee, mußte er in ihr doch den bewaffneten Arm der Radikalen sehen. Diese Waffengeschichte war aber nur einer der Gründe, die schließlich im Januar 1894 zur Verdrängung der Radikalen von der politischen Macht durch den Sturz der Regierung unter Sava Grujic führten (siehe Hinweis zu 5. 125).

126 die Alexander Obrenovic 1897 zunächst zu seiner Mätresse erheben durfte: 1897 wurde die Hofdame von Ex-Königin Natalija (siehe Hinweis zu 5. 123), Draga Masin, offiziell als Geliebte von König Alexander anerkannt und bezog in Belgrad, in der Nähe des alten Königspalastes, ein eigenes Haus. Draga Masin (1867-1903) war wesentlich älter als König Alexander; ihr Geburtsdatum ist allerdings umstritten -als Geburtsdatum werden die Jahre 1866, 1864 oder sogar 1861 angegeben. Als Mädchen hieß Draga ursprünglich Lunjevica, und ihr Großvater Nikola Lunjevic war ein naher Freund von Milos Obrenovic, der ihn einst finanziell unterstützt hatte. Sie hatte 1883 im Alter von 15 Jahren den tschechischen Ingenieur Svetozar Masin geheiratet. Die Ehe war unglücklich, denn Masin war ein schwerer Alkoholiker. Draga reichte die Scheidung ein, aber bevor sie ausgesprochen werden konnte, starb ihr Mann im Jahre 1887. Draga Masin war eine attraktive Frau, und als beinahe mittellose Witwe soll sie in den folgenden Jahren nur dank verschiedener Affären überlebt haben. 1890 schließlich wurde Natalija auf die junge Frau aufmerksam und beschloß, ein gutes Werk zu tun und Draga in ihren Hofstaat aufzunehmen. Draga erhielt eine entsprechende Schulung, so daß sie sich ohne Mühe in der Welt des Adels zurechtzufinden wußte. König Alexander lernte Draga 1894 kennen, als er seine Mutter im Exil in Biarritz besuchte. Obwohl sie wesentlich älter war als der König, fühlte sich dieser von ihrem Wesen völlig bezaubert und verliebte sich heftig in sie. Er konnte sich ein Leben ohne sie nicht mehr vorstellen. Seine Eltern, die zwar getrennt lebten, waren sich einig in ihrer Ablehnung einer Verbindung mit Draga; sie sahen dadurch die Zukunft der Dynastie gefährdet. Natalija entließ Draga 1897 aus ihrem Hofstaat, und Alexander holte sie im Einverständnis mit der Regierung als seine Geliebte nach Belgrad.Die Situation war deshalb besonders brisant, weil für König Alexander verschiedene standesgemäße Heiratsprojekte bestanden, die die Zukunft der Dynastie sichern sollten. Alexanders Mutter wünschte eine Verbindung mit einer russischen Prinzessin, sein Vater Milan dagegen mit einer deutschen. Von einer solchen Verbindung erhoffte er sich eine noch stärkere Anbindung Serbiens an den Dreibund. In Frage kam Prinzessin Alexandra von Schaumburg-Lippe (1879-1949), eine



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der Enkelinnen des regierenden Fürsten Georg Wilhelm von Schaumburg-Lippe. Aber das geplante Zusammentreffen zwischen den beiden kam nicht zustande. Am 20./7. Juli 1900 teilte König Alexander seinem Vater mit, er wolle Draga Masin heiraten. Am 21./8. Juli 1900 gab er die Verlobung mit Draga Masin bekannt, trotz des einhelligen Protestes der Regierung unter dem amtierenden Ministerpräsidenten und Finanzminister Vukadin Petrovic —Ministerpräsident Djordjevic (siehe Hinweis zu 5. 126) befand sich zu diesem Zeitpunkt in der Schweiz. Die Regierung trat am gleichen Tag zurück, nachdem Petrovic vergeblich versucht hatte, König Milan zu bewegen, nach Belgrad zu kommen und die Heirat zu verhindern. Angesichts der Zurückhaltung des österreichisch-ungarischen Außenministeriums, das die ganze Heiratsangelegenheit zur Privatsache erklärt hatte, fühlte er sich nicht mehr in der Lage, politisch aktiv zu werden. Der bejahrte konservative Politiker Nikola Hristic (1816-1911), dessen Hilfe in schwierigen politischen Situationen schon öfter in Anspruch genommen worden war, erhielt zwar den Auftrag, ein Übergangskabinett zu bilden, doch schließlich kamen auch ihm Bedenken. Dem parteillosen Juristen Aleksa Jovanovic (1846-1920) gelang es schließlich, am 24./ 12. Juli, eine neue Regierung zu bilden, die bereit war, die Hochzeitspläne des Königs zu unterstützen. Es handelte sich allerdings bloß um ein parteiloses Beamtenkabinett. Schließlich fand am 5. August/23. Juli 1900 die Hochzeit in Belgrad statt. Obwohl die Zuschauer an diesem Tag dem Königspaar zujubelten, verurteilte die große Mehrheit der serbischen Bevölkerung den Schritt des Königs. Vor allem in der Armee wurde das Heiratsprojekt als große Schande für Serbien empfunden. Die Anhänger der Familie Karadjordjevic feierten die Hochzeit Alexanders als den Anfang vom Ende der herrschenden Dynastie.

Eine seltsam zwielichtige Rolle spielte Rußland in dieser ganzen Heiratsangelegenheit. Bereits am 26/14. Juli 1900 hatte der russische Zar Nikolaus II. (siehe Hinweis zu 5. 109 in GA 173a) seine Glückwünsche zur Verlobung und zur bevorstehenden Hochzeit ausrichten lassen, und als Hochzeitsgeschenk erhielt Draga vom Zaren ein wertvolles Halsband mit Brillanten und Smaragden. Offensichtlich sah Rußland mit dieser Heirat die Gelegenheit gekommen, den Sturz der «unzuverlässigen» Obrenovic-Dynastie in die Wege zu leiten -eine Zielsetzung, die sie schon seit längerer Zeit verfolgte. Während der Herrschaft von König Milan und auch nach seiner Abdankung war Serbien endgültig ins österreichische Lager geschwenkt. In Rußland war man überzeugt, daß nur noch die Ersetzung der Obrenovici durch die rußlandfreundlichen Karadjordjevici einen dauerhaften Umschwung bringen konnte. In der Zeit, als Nikola Pasic außerordentlicher Gesandter in St. Petersburg war - das war in den Jahren 1893 bis 1894 —, wurde offensichtlich von ihm die Frage eines Dynastiewechsels mit Vertretern der russischen Regierung diskutiert, was insofern begreiflich ist, als die Könige Milan und Alexander die Anhänger der Radikalen Partei nach Kräften politisch auszuschalten versuchten (siehe Hinweis zu 5. 124).

König Milan war sich dieser großen Gefahr, die der Dynastie von seiten Rußlands drohte, durchaus bewußt, und das war auch einer der Gründe, warum er nach seiner Abdankung zweimal, 1894 und 1897, nach Serbien zurückkehrte. Er wollte seinen Sohn im Kampf gegen die Radikalen, die er als Handlanger Rußlands betrachtete, unterstützen. Die Russen ihrerseits setzten alles daran, um Milan auszuschalten, den sie als Söldling Österreich-Ungarns betrachteten. Das «Asiatische Departement» — die außenpolitische Abteilung, in deren Zuständigkeit Serbien fiel -brauchte kaum eigene Agenten einzusetzen zur Verwirklichung seiner Ziele, sondern konnte auf die Mithilfe radikaler Parteigänger zählen. In Rußland hatte man erkannt, daß Draga Masin eine wichtige Figur in diesem Schachspiel abgeben konnte. Da man



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wußte, daß König Milan die Geliebte seines Sohnes ablehnte und um keinen Preis bereit war, sie als künftige Königin von Serbien anzuerkennen, sah man in ihr eine Möglichkeit, einen Keil zwischen Vater und Sohn zu treiben. Tatsächlich war der unversöhnliche Gegner Österreichs, Aleksandr Petrovic Izvolskij (siehe Hinweis zu 5. 141), für kurze Zeit, von 1896 bis 1897, russischer Gesandter in Serbien gewesen. Gegen Ende des Jahres 1897 wurde er zum Gesandten in Bayern ernannt. Es war in dieser Übergangszeit, als er im Winter 1897/98 Draga Masin in Meran besuchte, wo sie zusammen mit König Alexander in den Ferien weilte. Draga pflegte überhaupt eine enge Verbindung mit einigen Vertretern der russischen Gesandtschaft. Man schien Draga bestärkt zu haben, eine endgültige Verbindung mit dem serbischen König anzustreben. Offensichtlich wurde sie als Werkzeug benutzt in der Hoffnung, durch eine unstandesgemäße Heirat die Obrenovic-Dynastie endgültig destabilisieren zu können. Ein Umsturz konnte damit sicher - ohne allzu großes russisches Zutun -erwartet werden. Das würde die erstaunliche Passivität des russischen Gesandten Carykov anläßlich der blutigen Vorgänge in der Nacht vom 10. auf den 11. Juni 1903 erklären (siehe Hinweis zu 5. 129).

Zur Rolle Rußlands in dieser ganzen Heiratsangelegenheit schrieb Hermann Wendel in seinem Buch «Der Kampf der Südslawen um Freiheit und Einheit» (Frankfurt am Mai 1925) kritisch zusammenfassend (IX. Kapitel, «Die Großen und die Kleinen», 11. Abschnitt): «Im gleichen Jahre 1897 war der Empfang des Thronprätendenten Petar Karadjordjevic' durch den Zaren, der mit ihm <die kritische Lage in Serbien>besprach, mehr als eine knüppeldicke Drohung. Wie ein Gottesgeschenk kam da die Verbindung Aleksandars mit Draga Masin, derentwegen das Kabinett Djordjevic abtrat und Milan, mit seinem Sohne tödlich überworfen, für immer Serbiens Staub von den Schuhen schüttelte. Entschlossen, den Familienskandal ergiebig zu nutzen, riet Petersburg zu der Heirat mit der Frau, von der des Bräutigams Vater schrieb: <Das ganze Volk ist gegen die Hure!>; zur Verlobung ließ der Selbstherrscher aller Reußen herzlichst Glück wünschen; bei der Hochzeit vertrat der Gesandte Manurov den Zaren, der das ehrenvolle Amt des ersten Trauzeugen übernommen hatte [...].»

126 daß ein Freund der Dynastie Obrenovic, Vladan Djordjevic<: Das Buch von Vladan Georgevitch, «Das Ende der Obrenovitch. Beiträge zur Geschichte Serbiens 1897-1900» (Leipzig 1905) befindet sich in der Bibliothek Rudolf Steiners. Vladan Djordjevic (1844-1930) hatte in Wien Medizin studiert und war mit einer Wienerin verheiratet. In seiner ganzen Haltung war er austrophil. Er wirkte in Serbien als Facharzt für Chirurgie und Hygiene. In seiner Stellung als Sektionschef im Innenministerium war er bemüht, das serbische Gesundheitswesen von Grund auf zu reformieren. Eine Zeitlang war er auch der Leibarzt von König Milan - ein Zeichen für seine Ergebenheit gegenüber der Dynastie der Obrenovici, wobei seine Sympathien vor allem König Milan galten. Vom Oktober 1897 bis Juli 1900 war er unter König Alexander der Leiter eines parteipolitisch neutralen Beamtenkabinetts, dem es vorübergehend gelang, den serbischen Staat durch eine geregelte Verwaltungstätigkeit zu stabilisieren. Djordjevic war ein hervorragender Redner und guter Organisator und wirkte durch seine würdevolle Erscheinung auch auf seine politischen Gegner vertrauenerweckend.

126 wenn Sie die umschleierte Darstellung von Vladan Djordjevic im viertletzten Kapitel seines dicken Buches: Im XIX. Kapitel seines Buches, betitelt mit «Eintritt ins XX. Jahrhundert», beschreibt Djordjevic den Eindruck, den Draga Masin auf ihn machte, als er sie wegen Aufklärung einer anonymen Verleumdung besuchte: «Sobald ich in den Salon getreten war, merkte ich an den Parfüms, mit denen die



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127 ein Attentatsversuch gegen den zwar längst zurückgetretenen König Milan: Am 3. Juli 1899 wurde ein Attentat auf den aus dem Exil zurückgekehrten Ex-König Milan ausgeführt. Der Attentäter, der Bosnier Djuro Knezevic, verfehlte allerdings sein Opfer, und Milan blieb unverletzt. Knezevic gestand, im Auftrag der rußlandfreundlichen Richtung gehandelt zu haben. Er habe mit Mitgliedern der Radikalen Partei und auch mit russischen Offizieren in Kontakt gestanden, die an einer Beseitigung des österreich-freundlichen Milan interessiert gewesen sein. Es ging eine Verhaftungswelle durch das Land. So wurde auch der ehemalige Ministerpräsident Nikola Pasic als prominente Führungspersönlichkeit ins Gefängnis geworfen, denn Knezevic war Bediensteter im Hause Pasic gewesen. Aufgrund einer Intervention des österreichisch-ungarischen Gesandten Franz von Schiessl-Perstorff, der sich mit der russischen Diplomatie abgesprochen hatte, wurde Pasic im September 1899 vom Standgericht nicht -wie erwartet - zum Tode, sondern bloß zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt. Noch am Abend der Urteilsverkündung wurde Pasic von König Alexander mit sofortiger Wirkung begnadigt und später sogar von ihm und seinem Vater in Audienz empfangen. Auch wenn der ehemalige König in Pasic seinen größten Feind sah und diesen Gegner am liebsten für immer hätte unschädlich machen wollen, mußte er sich doch den politischen Realitäten beugen. Eine wichtige Rolle im Hintergrund muß auch der damalige österreich-freundliche Ministerpräsident Vladan Djordjevic (siehe Hinweis zu 5. 126) gespielt haben. Für Knezevic setzte sich niemand ein; er wurde am 25. September 1899 außerhalb von Belgrad hingerichtet. Es gibt heute auch die Ansicht, daß dieses Attentat von König Milan selber in Szene gesetzt worden sei, um sich der oppositionellen Radikalen Partei endgültig zu entledigen. In diese Richtung würde die Tatsache deuten, daß Knezevic bis Sekunden vor seinem Tode nicht mit seiner Hinrichtung, sondern bloß mit einer Scheinhinrichtung gerechnet hatte.

127 Dabei wurde Nikola Pasic'[beinahe]auch mit zum Tode verurteilt: An dieser Stelle ist Rudolf Steiner eine Ungenauigkeit unterlaufen, indem er die Situation von 1899 mit derjenigen von 1883 verwechselte. Schon damals und nicht erst 16 Jahre später wurde Pasic zum Tode verurteilt.Das hing damit zusammen, daß er mit anderen Führern der Radikalen Partei für den Ausbruch des sogenannten «Timok»-Aufstand («Timocka buna») — benannt nach dem Timok-Tal - verantwortlich gemacht wurde. Dieser Aufstand war im November 1883 ausgebrochen, weil die neue serbische Regierung, ein konservatives Beamtenkabinett unter Nikola Hristic, auf der Entwaffnung der Volksmiliz bestand. Die Bildung einer schlagkräftigen Volksmiliz war aber ein wichtiger Programmpunkt der Radikalen Partei, die zwar im September 1883 die Wahlen gewonnen hatte, aber nicht mit der Regierungsbildung betraut worden war. So riefen die Führer der Radikalen Partei, unter anderem auch Pasic, die Bauern zum Widerstand gegen die Entwaffnung auf. Erst durch den Einsatz der Armee konnte der «Timok»-Aufstand niedergeschlagen werden. Eine blutige Repression setzte ein - zahlreiche Aufständische wurden verhaftet und eine Reihe von ihnen hingerichtet. Pasic und einige andere Anführer aus der Radikalen Partei konnten sich nach Bulgarien



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ins Exil retten. So wurden sie im Dezember 1883 in Abwesenheit zum Tode verurteilt. Pasic lebte von 1883 bis 1889 in Bulgarien; der Schutz von Pasic und seiner radikalen Gesinnungsgenossen durch die bulgarischen Behörden mag wohl einer der Gründe gewesen sein, warum sich König Milan 1885 zum Krieg gegen Bulgarien entschloß (siehe Hinweis zu 5. 125). Nach der Abdankung König Milans wurde Pasic begnadigt, so daß er erst dann nach Serbien zurückkehren konnte.

128 die bis zur Vorspiegelung einer guten Hoffnung auf einen künftigen Thronfolger ging: Am 16.13. Mai 1901 sah sich der damalige serbische Ministerpräsident Mihailo Vujic (siehe Hinweis zu 5. 125) gezwungen, öffentlich zu erklären, daß sich die Hoffnungen auf eine Schwangerschaft Königin Dragas endgültig zerschlagen hätten. Vermutlich handelte es sich um eine «eingebildete Schwangerschaft» —eine Folge des großen psychischen Druckes auf die Königin, unbedingt ein Kind zu gebären. Die Enttäuschung über die Kinderlosigkeit des serbischen Königspaares war in der Bevölkerung groß, galt doch reicher Kindersegen als Zeichen besonderer göttlicher Huld für die Dynastie. Von den politischen Gegnern wurde die ganze Angelegenheit als ein übler Betrugsversuch der Obrenovic-Dynastie ausgeschlachtet. Es verbreitete sich das Gerücht, daß König Alexander mit dem Gedanken spiele, den ältesten Bruder Dragas, Nikodem Lunjevic, zum Thronfolger zu ernennen (siehe Hinweis zu 5. 70).

128 daß ganz sonderbare Persönlichkeiten aufgegriffen wurden: Mandl nennt an erster Stelle Djordje Gencic, der sich als Innenminister gegen die Heirat König Alexanders gestellt hatte und deshalb von ihm im Verlaufe eines heftigen Streites anläßlich der Kabinettssitzung vom 21./8. Juli 1900 geohrfeigt wurde (siehe Hinweis zu 5. 126). Er gehörte zu den maßgebenden Persönlichkeiten des zivilen Verschwörerkreises. Er war der Vetter von Antonije Antic, einem jungen Offizier, der sich 1901 entschlossen hatte, das Königspaar zu beseitigen, und zu den führenden Offizieren des militärischen Verschwörerkreises gehörte. Mandl: «Von da an sann Gencic auf Rache. Er suchte einen neuen Chef für eine neue Karriere. In Genf wurde er vom Prinzen Peter nicht vorgelassen, um so eifriger besprach er sich mit dessen Neff en Dr. Jasa Nenadovic'. Aus Petersburg hatte der Genfer Prätendent die strenge Weisung, in Belgrad nichts zu unternehmen. Widerwillig und bloß scheinbar fügte er sich, während seine Parteigänger Dr. Jasa Nenadoviç', Andrea Comunudis, Zivojin Baludgsic' und der Montenegriner Steva Lukacevic' für ihn tätig waren. » Jasa Nenadovic (unbekannt-1915) war ein Cousin Petar Karadjordjevics - sein Vater war der Bruder von Persida Nenadovic, der Gemahlin von Fürst Alexander Karadjordjevic (siehe Hinweis zu 5. 122) — und er wirkte als dessen politischer Agent von Wien aus. Nenadovic stellte die Verbindung der serbischen Verschwörergruppe zum Thronprätendenten in Genf her und pflegte die Kontakte zu Rußland. Später nach der Thronbesteigung Peters wirkte er zwischen 1903 bis 1905 als dessen Kabinettschef und war von 1907 bis 1912 serbischer Gesandter in Konstantinopel.Der ehemalige österreichisch-ungarische Gesandte in Belgrad, Constantin Dumba (siehe Hinweis zu 5. 125), schreibt in seinen Erinnerungen «Dreibund- und Entente-Politik in der Alten und Neuen Welt» (Zürich/Leipzig/Wien 1931, VI. Kapitel, Abschnitt 1.5, «Das Komplott gegen das Königspaar -Doppelmord»): «Die unleidlichen Zustände unter Königin Draga führten schon im Frühjahr 1902 zu einem Offizierskomplott und, nach einer Version, auch schon 1902 ganz getrennt von der Offiziersverschwörung zum Zusammenschluß von unzufriedenen Zivilisten, größtenteils Kaufleuten, die durch persönliche Vexationen über das willkürliche Vorgehen der Behörden entrüstet waren. Die Offiziere bildeten zunächst einen Hauptausschuß in Belgrad, der sich aus zehn Mitgliedern zusammensetzte. Jeder



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von ihnen versprach, wieder zehn Anhänger als Unterausschuß, sei es in der Hauptstadt, sei es in der Provinz zu werben, und zwar nach dem Zellensystem, wonach nur er diesen Neugeworbenen bekannt war. Da die Verschworenen sehr vorsichtig vorgingen, zog sich die Sache sehr in die Länge. » Und: «Nach einer Version sollen die Offiziere schon im Herbst 1902 auch Politiker herangezogen haben, da sie ja im Falle des Gelingens ihres Planes eine Revolutionsregierung sofort bilden wollten. Man wandte sich also an die liberalen Führer Avakumovic und Gencic, welche vom Herbst 1902 an allen sehr zahlreichen Sitzungen des Hauptausschusses beigewohnt hatten. » Für Dumba war klar, «daß [Jovan]Avakumoviç, der vom Herbst 1902 an des öfteren nach Wien und auch nach Genf fuhr, damals mit [Jakov] Nenadovic, dem energischen Vetter des Peter Karadjordjeviç, der in Wien sein Haptquartier aufschlug und alle Fäden des Komplotts in seiner Hand hatte, das Einvernehmen pflog. »

128 So gab es zum Beispiel einen Unterhändler, einen Montenegriner: Es handelt sich laut Mandl um den aus Montenegro stammenden Steva Lukacevic. Mandl: «Der Letztgenannte, ein Händler mit gesalzenen Fischen, war unaufhörlich auf der Suche nach Leuten, die für Geld oder sonstige Versprechungen den König Alexander ermorden sollten. Einen Briefwechsel, den er über diese Zettelungen mit dem Genfer Prätendenten führte, hat dieser im Jahre 1907 für 150 000 Francs von dem schlauen Montenegriner zurückgekauft, jedoch erst dann, als er ihn in Wien zum Kaufe angeboten hatte. »

128 Ich will auf diese Dinge nur hindeuten. Auch für die folgenden Einzelheiten stützt sich Rudolf Steiner auf Leopold Mandl. Mandl war als Quelle insofern bedeutsam, als er selbst mit vielen Akteuren der Verschwörung bekannt war. In seinem Aufsatz bekennt Mandl: «Ich komme nun zur Schilderung der Verschwörung, die zur Ermordung König Alexanders führt. Ich bin durch eine Reihe von Zufällen, wie sie im Leben eines politischen Publizisten vorkommen, in die Entwicklung der Verschwörung eingeweiht gewesen, ohne irgendeinem Verschworenen gegenüber irgendwelche Verpflichtungen übernommen zu haben. Mit allen an der Verschwörung tätigen Personen persönlich bekannt, war es mir leicht, in der Folge ein volles Bild über das große sensationelle Ereignis des Jahres 1903 zu gewinnen. »

128 was sich abgespielt hat dazumal in Wien im Restaurant Hopfner. Mandl in seinem Aufsatz: «Georg Gencic hatte mit Dr. Nenadovic eine zweite Zusammenkunft in Wien, wo in einem <chambre séparée>des Restaurants Hopfner die Verschwörung in Anwesenheit von Frau Gencic beschlossen wurde. In Belgrad erklärten dann rasch mehrere Mitglieder der Liberalen Partei und einige höhere Offiziere, die sich vom Hofe zurückgesetzt fühlten, ihr Einverständnis mit dem geplanten Umsturz. Die meisten Verschwörer waren untereinander verwandt. » Und: «Unter den Mitwissern der Verschwörung befand sich auch der Schwiegervater des Gencic, der Advokat Aza Novakovic'. » Bei der von Mandl erwähnten Gaststätte handelt es sich vermutlich um «Dommayers Casino» (heute «Café Dommayer») an der Dommayergasse, das seit 1889 dem Weingroßhändler und Hotelier Paul Hopfner gehörte.

128 was sich abgespielt hat am 22. Januar 1903 in Linz: Novakovic warnte laut Mandl «eindringlich, daß man sich nicht für einen Mann einsetzen dürfe, den niemand kennt und der nach dem geglückten Umsturz sogar die Verschwörer vor Gericht stellen könnte. Unerläßlich sei, daß der Prätendent sich mit den Verschwörern solidarisch erkläre und gewisse Sicherstellungen in materieller und politischer Hinsicht übernehme. » Im Hinblick auf die materielle Entschädigung wurde folgende Lösung gefunden: «Peter Karadjordjevic' war damals fast mittellos. Nur in Rumänien



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128 was sich abgespielt hat im April in Mödling im Hotel Biegler: Das Hotel Biegler war ein Gasthof im Wienerwald, in der Gruberau bei Mödling. Geführt wurde es zum damaligen Zeitpunkt von einem gewissen Ignaz Biegler. Dieser war von Beruf ursprünglich Schuster, weshalb der Gasthof im Volksmund «Schusternazl» genannt wurde und auch heute noch unter diesem Namen geführt wird.Im Hinblick auf die politischen Garantien von Petar Karadjordjevic gegenüber den Verschwörern, die er damals in dieser Gaststätte abgegeben haben soll: «Er kam im April nach Mödling [bei Wien], wo Andrea Comunudis im Hotel Biegler eine Wohnung gemietet hatte. In Wien wurde dann in Anwesenheit des Obersten Alexander Masin der von Aza Novakovic' gearbeitete Akt unterschrieben, in dem Peter Karadjordjevic' sich mit den Verschwörern solidarisch erklärte, ihnen seine unverlierbare Huld und Gnade zusichert, gleichzeitig gelobte, sich für die Ausgestaltung der Armee stets einzusetzen und im Heer keinerlei Günstlingswirtschaft zu dulden.» Dazu Mandl über die Bedeutung dieses Schriftstückes: «Dieses oft abgeleugnete, zweifellos aber existente Schriftstück ist die <magna chartam der Verschwörer des Belgrader Offizierskasinos, dessen Eingriffe in die innere Politik vom Volke als Aktionen der <Schwarzen Hand> bezeichnet wurden. »

129 die Besprechung, die einige im Dienste dieser Sache stehende Offiziere im Gasthaus Kolarac in Belgrad hatten. Das Gasthaus Kolarac in Beograd (Belgrad), an der «Fürst-Michael-Strasse» («Ulica Knez Mihailova» oder «Kneza Mihajlova») in der Nähe des «Platzes der Republik» («Trg Republike») gelegen, war ein beliebter Treffpunkt von «Studenten und Offizieren» (A. Keßler und H. Mannhof, Das Todesspiel der Draga Maschin, Berlin 1932, 6. Kapitel); dort trafen sich die Offiziere, die zur Gruppe der Verschwörer gehörten. Dazu Mandl in seiner Darstellung: «Eine Schar junger Offiziere, gewesene Zöglinge des dreiundzwanzigsten Jahrganges der Belgrader Kriegsakademie, war in dem ersten Viertel des Jahres [1903] im Gasthause Kolarac zu einer Besprechung der Lage zusammengetreten. Schon in die erste Sitzung wurde Georg Gencic durch seinen Neffen, den Gardeoberleutnant Antonin Antic', eingeführt. Die Ermordung des Königspaares und der Generale Cincar-Markoviç', Pavlovic' und Petrovicky und mehrerer anderer Personen wurde beschlossen und in der Nacht vom 10. auf den 11. Juni 1903 durchgeführt ... .»

129 der in der Welt ja in anderer Weise -[ohne Wissen um solche Hintergründe] bekannt gewordene Mord. Von den Verschwörern wurden verschiedene Pläne ausgearbeitet, um die Königsdynastie auszuschalten. Aber sie schlugen alle fehl; der König verhielt sich sehr vorsichtig, waren ihm doch verschiedentlich Warnungen vor einem Attentat zugegangen. Schließlich wurde im Mai 1903 der Plan gefaßt, das Königspaar in seinem Palast in Belgrad zu ermorden. Am 8. Juni/26. Mai tra



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Das Königspaar war zunächst unauffindbar - es hielt sich in einem Geheimzimmer verborgen -, aber schließlich wurde es in seinem Versteck doch gefunden und auf bestialische Art ermordet. Gleichzeitig wurden auch der Ministerpräsident Dimitrije (Demetrius) Cincar-Markovic (1849-1903) und der Kriegsminister Milan Pavlovic in ihrer Wohnung ermordet. Der Innenminister Velimir Todorovic überlebte nur deshalb, weil er für tot gehalten wurde. Ermordet wurden auch die beiden Brüder der Königin Draga (siehe Hinweis zu 5. 126). Angeführt wurden die Verschwörer von Aleksandar Masin, dem ehemaligen Schwager der Königin und ein von ihr abgewiesener Liebhaber, und von Dragutin Dimitrijevic-Apis (siehe Hinweis zu 5. 111), der später im Zusammenhang mit dem Attentat auf den österreichisch-ungarischen Thronfolger noch eine wichtige Rolle spielen sollte; bei der ganzen Aktion kamen einige Dutzend Menschen ums Leben, und auch Dimitrijevic-Apis wurde während der Schießereien im Palast verletzt.

Sofort nach der Beseitigung des Königs und der Regierung übernahm am frühen Morgen des 11. Juni eine provisorische Regierung unter der Leitung des Liberalen Jovan Avakumovic (1841-1921) die Macht. Avakumovic übte zugleich auch die Regentschaft aus. Die neue «Regierung des Königreichs Serbien» setzte sich aus Mitgliedern der Verschwörergruppe sowie - um dem Ganzen einen legalen Anstrich zu geben - aus Parteivertretern aus dem liberalen, dem progressiven und dem unabhängig-radikalen Lager zusammen. Sich vom Umsturz ferngehalten hatten sich die Radikalen unter Pasic (siehe Hinweis zu 5. 33), der zum Zeitpunkt des Staatsstreiches sich nicht in Belgrad aufhielt. Für den 13. Juni/31. Mai wurde das Parlament, bestehend aus der Volksversammlung («Skupstina») und dem Senat, einberufen. Dieses verabschiedete am 18/5. Juni 1903 eine neue Verfassung, die die Einführung eines auf einer Kammer beruhenden parlamentarischen Systems brachte. Bereits am 15/2. Juni 1903 war Petar Karadjordjevic zum neuen König gewählt worden (siehe Hinweis zu 5. 129).

Im Ausland reagierte man entsetzt auf die Nachrichten von der Abschlachtung des serbischen Königspaares und verurteilte die Tat entschieden. Eine im ganzen Geschehen undurchsichtige Rolle spielte Rußland, das schon seit längerer Zeit den Obrenovici seine Unterstützung entzogen hatte und auf einen Dynastiewechsel hinarbeitete (siehe Hinweis zu 5. 126). König Alexander bemühte sich nach seiner Heirat mit Draga Masin um eine Annäherung an Rußland, und er gab mehrfach seinem Wunsch nach Einladung an den russischen Zarenhof kund, die aber nie erfolgte. Die beiden nach Rußland verheirateten Töchter des montenegrinischen Königs (siehe Hinweis zu 5. 130) taten alles, um dem Ruf des serbischen Königspaares am russischen Hof zu schaden. Es scheint, daß Rußland die Obrenovic-Dynastie zu diesem Zeitpunkt bereits fallen gelassen hatte. Wie weit der seit 1901 in Serbien weilende russische Gesandte Nikolaj Valerivic Carykov (1855-1930), seit 1875 im diplomatischen Dienst, in das ganze Verschwörungsgeschehen verwickelt war, ist umstritten. Uber die Vorbereitungen war er vermutlich informiert -hatte doch auch der russische Geheimdienst Kenntnis der Vorgänge -, war aber selber nicht aktiv an der Ausführung beteiligt. In der Mordnacht tat er aber auch nichts zum Schutze des Königspaares, obwohl er das Geschehen vom Sitz der russischen Gesandtschaft



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unmittelbar beobachten konnte. Er anerkannte als erster ausländischer Botschafter die serbische Revolutionsregierung, was vom russischen Außenminister Vladimir Nikolaevic Lambsdorff (1845 —1907), der vom Juni 1900 bis Mai 1906 das russische Außenministerium leitete, als übereilter Akt eingestuft wurde und Carykovs sofortige Rückberufung zu Folge hatte. Der österreichische Botschafter Constantin Dumba schrieb in seinen Erinnerungen «Dreibund- und Entente-Politik in der Alten und Neuen Welt» (Wien 1931) zur Person von Carykov (V. Kapitel, Abschnitt 11.1, «König Peter»): «Merkwürdig ist es immerhin, daß Carykov nach jeder Ungnade über kurz oder lang wieder in den aktiven Dienst, und zwar womöglich mit Avancement, aufgenommen wurde. Er hatte offenbar an den orthodoxen Panslawisten in Moskau einen sehr starken Rückhalt. Ich hielt ihn für einen unpraktischen Ideologen mit fixen Ideen, ganz ohne Menschenkenntnis. [.1 Carykov wurde sogar Botschafter in Konstantinopel, wo er, entgegen den Absichten des russischen Außenministers [Sergej Dmitrievic Sazonov], einen Balkanbund unter Führung der Türkei ins Leben zu rufen trachtete und wieder abberufen werden mußte [siehe Hinweis zu 5. 141]. Allein er fiel wieder weich und rückte sogar zum Gehilfen des Ministers des Äußern vor.»

129 ein gewisser Leutnant Voja Tankosic: Vojislav (Voja, Vojin) Tankosic (1881-1915) war ein junger Leutnant der königlich-serbischen Armee, als er sich 1902 der serbischen Offiziers-Verschwörergruppe anschloß, die sich den Sturz König Alexanders zum Ziele setzte (siehe Hinweis zu 5. 129). Von 1904 an war Tankosic einer der maßgebenden Anführer der serbischen Guerillaverbände, der sogenannten «Komitadzi», die in Makedonien operierten; Makedonien unterstand damals noch türkischer Herrschaft, sollte aber Bestandteil des angestrebten Groß-Serbiens werden. Von 1912 bis 1913, in der Zeit der Balkankriege, zeichneten sich die Komitadzi vor allem durch ihre äußerst grausame Kriegsführung aus. Tankosic gehörte zu den Gründungsmitgliedern der Terrororganisation «Crna ruka» («Schwarze Hand», siehe Hinweis zu 5. 111), denen die Agitation der irredentistischen Volksorganisation «Narodna odbrana» zu wenig weit ging. In dieser Organisation wirkte Tankosic sozusagen als die rechte Hand von Dragutin Dimitrijevic-Apis (siehe Hinweis zu 5. 111), der dessen Entscheidungen umsetzte. So spielte Tankosic, inzwischen zum Major befördert, in der Vorbereitung des Attentats gegen den österreichisch-ungarischen Thronfolger eine wichtige Rolle - er hatte den Attentätern nach Rücksprache mit Dimitrijevic-Apis die nötige logistische Unterstützung zukommen lassen (siehe Hinweis zu 5. 173). Es gehörte offensichtlich zu den Aufgaben von Tankosic, terroristische Aktionen in den unter österreichisch-ungarischer Herrschaft stehenden Gebieten durchzuführen. Tankosic kam in den Kämpfen, die durch die große deutsch-österreichische Offensive gegen Serbien vom Oktober 1915 ausgelöst wurden, ums Leben.

129 die beiden Brüder Lunjevici, die Brüder der Draga Masin, zu ermorden: Der Leutnant Vojislav Tankosic war noch nicht ganz 22 Jahre alt, als er im Rahmen des blutigen Staatsstreichs von 1903 den Auftrag erhielt, die beiden Brüder der Königin Draga, Nikolu (Nikola) und Nikodije (Nikodem) Lunjevic, aus dem Weg zu räumen. Die Schilderung von Mandl: «Die beiden Brüder der Königin Draga, die Leutnants Nikola und Nikodem Lunjeviç, standen auf der Liste der zu ermordenden Personen. Der blutjunge Leutnant Voja Tankosic machte sich erbötig, diesen Auftrag zu vollstrecken. Die Lunjevici wurden von dem von Tankosic geführten Zug erschossen. Unteroffiziere und Soldaten raubten die Leichen aus und zogen ihnen sogar die Stiefel von den Füßen. Leutnant Tankosic aber ging in die Wohnung der Lunjevici und nahm das dort befindliche Schmuckkästchen der ältesten Schwester



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129 und es handelte sich darum, den Karadjordjevic auf den serbischen Thron zu bringen: Die Karadjordjevici hatten ihren Anspruch auf den serbischen Thron nie wirklich aufgegeben; Fürst Alexander Karadjordjevic versuchte nach seiner erzwungenen Abdankung im Dezember 1858, unter allen Umständen den Thron zurückzuerlangen. So scheint er in die Verschwörung verwickelt gewesen zu sein, die in der Ermordung von Fürst Mihailo Obrenovic III. am 10. Juni/29. Mai 1868 gipfelte (siehe Hinweis zu 5. 122). Nach dem Tode Alexanders im Jahre 1885 übernahm sein Sohn Petar Karadjordjevic dessen Anspruch auf den serbischen Thron. Auch wenn er sich den Anschein gab, persönlich von jeder politischen Einflußnahme abzusehen, so verfügte er doch über ein kleines Heer von Mittelsmännern, die gezielt für seine Rückkehr nach Serbien agitierten (siehe Hinweis zu 5. 71). Da sich die beiden Obrenovic-Monarchen als wenig brauchbar für die Durchsetzung der russischen Interessen erwiesen, konnte er sich berechtigte Hoffnung auf eine Rückkehr nach Serbien machen.In den geheimen Verhandlungen, die Pasic als serbischer Sondergesandter mit russischen Regierungsvertretern führte, stand zunächst aber die Übernahme der serbischen Königskrone durch einen russischen Großfürsten zur Diskussion. Später schien Rußland den Prinzen Mirko Petrovic-Njegos (1879-1918) favorisiert zu haben. Er war der zweite Sohn von König Nikola J. von Montenegro und aufgrund seiner Heirat mit Natalija Konstantinovic (1882-1950) mit den Obrenovici verwandt. Seine Frau war nämlich die Enkelin von Aleksandar Konstantinovic, der Anka Obrenovic, die Tochter von Jevrem Obrenovic (siehe Hinweis zu Seite 122) geheiratet hatte. Dieser hatte als jüngerer Bruder von Fürst Milos Obrenovic II. eine Seitenlinie der Obrenovici begründet, der auch König Milan angehörte (siehe Hinweis zu 5. 122). So war Natalija Konstantinovic eine direkte Cousine von König Alexander. Aber es zeigte sich, daß sich dieser Anspruch nicht durchsetzen ließ, ohne eine scharfe Reaktion Österreich-Ungarns herauszufordern; eine solche dynastische Erbfolge konnte den Auftakt für eine Vereinigung von Serbien und Montenegro bilden, was Österreich-Ungarn unter keinen Umständen bereit war zu akzeptieren. Als sich von 1901 an ein innerserbischer Verschwörerkreis gegen König Alexander und seine Herrschaft zu bilden begann (siehe Hinweis zu 5. 128), der sich für die Wiedereinsetzung der Karadjordjevici aussprach, setzte Rußland schließlich endgültig auf die Karte von Petar Karadjordjevic.

Nach der Ermordung König Alexanders und Königin Dragas war für Petar Karadjordjevic der Weg nach Serbien endgültig frei. Am 15/2. Juni 1903 wurde er als Thronprätendent der Karadjordjevici von der Volksversammlung und vom Senat zum neuen König Serbiens gewählt. König Peter I. (1844 —1 921) war der dritte Sohn von Fürst Alexander Karadjordjevic. Nach der erzwungenen Abdankung von Fürst Alexander im Jahre 1858 lebte dieser mit seiner Familie im Exil, zunächst in Ungarn, später in der Schweiz. Er studierte zunächst in Genf und begab sich anschließend nach Frankreich, wo er eine militärische Ausbildung erhielt. Im Deutsch-Französischen Krieg von 1870 bis 1871 kämpfte er als einfaches Mitglied der Französischen Fremdenlegion gegen deutsche Truppen und erhielt für seine Tapferkeit eine Auszeichnung. Während des bosnischen Aufstandes gegen die Osmanen von 1875 bis 1877 (siehe Hinweis zu 5. 66) kämpfte er unter dem Namen Petar Mrkonjic auf seiten der Aufständischen. Als Österreich die Repression gegen die bosnischen Aufständischen verstärkte, begab sich Peter 1883 nach Montenegro und heiratete



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dort die älteste Tochter des Fürsten von Montenegro, Prinzessin Ljubica («Zorka») Petrovic-Njegos (1864-1890, siehe Hinweis zu 5. 130). Diese Heirat bedeutete eine wichtige dynastische Aufwertung für die Karadjordjevici, und so wurde sie von König Milan J. von Serbien als Bedrohung für die Herrschaft der Obrenovici empfunden. Er vermochte der Erklärung von Fürst Nikola J. von Montenegro keinen Glauben zu schenken, er habe Peter seine Tochter nur zur Frau gegeben, nachdem dieser auf seine Rechte auf den serbischen Thron verzichtet habe. Die Familie lebte in Cetinje, der Hauptstadt des Fürstentums Montenegro. Aus der Ehe mit Peter entstammten die beiden Prinzen Georg (Djordje) und Alexander (Aleksandar). Nach dem Tod von Prinzessin Zorka im Jahre 1890 begab sich Peter mit seiner Familie nach Genf ins Exil. Peter war liberalem Gedankengut gegenüber aufgeschlossen und gehörte zu den Bewunderern von John Stuart Mill, dessen Schrift über die Freiheit (siehe Hinweis zu 5. 150 in GA 173b) er ins Serbische übersetzte. Er war ein Befürworter der parlamentarischen Demokratie. Gleichzeitig strebte er die Rückkehr auf den serbischen Thron an; von den Vorbereitungen zum Sturz der autokratisch regierenden Obrenovici hielt er sich persönlich fern und überließ die Angelegenheit seinen Parteigängern.

Zur Wahl von Peter Karadjordjevic zum neuen König Serbiens im Jahre 1903 schreibt Mandl in seinem Aufsatz: «Als man zur Königswahl schritt, zeigte sich, wie wenig Anhang Peter Karadjordjevic in Serbien hatte. Nur die Verschwörer waren für die Wahl des Genfer Prätendenten. Eine Gruppe der Radikalen war für die Berufung des Fürsten von Montenegro; Nikola Pasic und jene Liberalen, die an der Verschwörung keinen Anteil hatten, wünschten, daß ein ausländischer Prinz, wenn möglich ein Engländer, den serbischen Thron besteige. Am Vorabend der Königswahl erschien der russische Gesandte, Herr Carykov [siehe Hinweis zu 5. 129], in voller Gala in der Vorbesprechung der Skupstina. <Ich bin gekommen>, sagte er, <um der Skups~tina Mitteilung zu machen, daß meine Regierung nur dann die Gültigkeit des neuen Zustandes anerkennt, wenn bei der morgigen Königswahl Prinz Peter Karadjordjevic' einstimmig zum König von Serbien gewählt wird ... Unter den Enttäuschten befand sich Fürst Nikola von Montenegro und seine Familie, die bestimmt gerechnet hatten, daß der Zar den notorischen Anstifter des Mordes seines Patenkindes [Zar Alexander II. und sein Sohn, der spätere Zar Alexander III., waren Paten von König Alexander J. von Serbien]niemals auf dem Throne dulden werde. » Tatsächlich hatten sich mit der Wahl Peters die Karadjordjevici endgültig als regierende Dynastie in Serbien durchgesetzt.

Bereits am folgenden Tag wurde der neue König durch Rußland anerkannt; die anderen Mächte verhielten sich vorerst noch abwartend. Am 25.112. Juni 1903 übernahm Peter (Petar) I. die Regierung. Am 21.18. September 1904 wurde er feierlich zum König gekrönt und ein Monat später gesalbt. Nach Monaten des Boykotts entschloß sich im Juni 1906 schließlich auch Großbritannien, das neue Regime anzuerkennen. Leopold Mandl schrieb dazu in einem unveröffentlichten Aufsatz (Manuskript Österreichisches Staatsarchiv): «Trotz seiner Abscheu vor Peter Karadjordjeviç, in dem er den Mörder des letzten Obrenovic sah, willigte König Eduard [VII.] in ein Arrangement der Verschwörerfrage zwecks Wiederaufnahme der unterbrochenen Beziehungen zum serbischen Hofe ein, das geradezu einer Verhöhnung der von englischer Seite jahrelang verfochtenen Forderung nach Sühne des Treueidbruches der verschworenen Offiziere gleichkam. Wieder zeigte es sich hier, daß Politik und Moral wesensfremde Begriffe sind. Die Nachgiebigkeit gegenüber dem französischen <enfant gâté>[«verwöhntes Kind», gemeint ist Serbien]auf dem Balkan war sichtlich auch eine Etappe der Verständigung Englands mit Rußland, die schon ein Jahr später perfekt wurde [siehe Hinweis zu S. 173]. Nachdem die fünf



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Hauptverschwörer aus der Armee entfernt wurden, anerkannte Großbritannien im Juni 1906 die neue Regierung.» Und zur Folge dieses Entschlusses: «Die Wiederernennung des englischen Gesandten hatte die Ausschaltung der Verschwörerfrage aus der innern Politik Serbiens zur Folge. Wenn England auf die Prozessierung der Offiziersverschwörer nicht mehr bestand, war sie auch für Serbien eine gelöste Frage. Nikola Pasic zog sofort die Konsequenzen [aus] dieser Situation. Er beeilte sich, die Verschwörerfrage kaltzustellen. Die Verschwörer und ihre Freunde konnten von nun an ihr Haupt wieder kühn erheben.» Mit Österreich-Ungarn normalisierte sich das Verhältnis erst im Juni1907.

Außenpolitisch stand König Peter für eine enge Anlehnung an Rußland; er versprach sich davon eine wirksame Unterstützung seines Ziels, ein geeintes Großserbien zu schaffen. Die Annexion Bosnien-Herzegovinas durch Österreich-Ungarn (siehe Hinweis zu S. 141) verschärfte seine Gegnerschaft zum habsburgischen Vielvölkerstaat. 1909 wurde Prinz Aleksandar (1888-1934) anstelle seines älteren Bruders Djordje (siehe Hinweis zu S. 129) zum serbischen Thronfolger proklamiert, da dieser 1909, nachdem er einen Dienstboten zu Tode geprügelt haben soll, für unzurechnungsfähig erklärt wurde. Als Prinz Djordje im Jahre 1911 seine Abdankung rückgängig machen wollte, versuchte Prinz Aleksandar ihn mit Unterstützung aus den Reihen der Königsmörder zu vergiften. Da Dragutin Dimitrijevic-Apis (siehe Hinweis zu 5. 111) als Oberhaupt der Königsmörder befahl, den Anschlag nicht durchzuführen, konnte Aleksandar seinen Plan nicht umsetzen. Von diesem Zeitpunkt an war der Kronprinz gegenüber Oberst Dimitrijevic-Apis mit Mißtrauen erfüllt, was dieser später mit dem Leben bezahlen sollte.

Offiziell wegen seines schlechten Gesundheitszustandes, aber auf Druck seines Sohnes setzte Peter diesen im Juni 1914 zum Regenten ein -ein Amt, das dieser bis zur Proklamation des vereinigten südslawischen Königreiches beibehielt. Während der Kampfhandlungen im Ersten Weltkrieg weilte Peter bei seinen Truppen und beteiligte sich sogar persönlich an Grabenkämpfen. 1915 begleitete er die geschlagenen Truppen auf ihrer Flucht ins Exil nach Griechenland. Seit November 1915 fand er mit seiner Regierung Zuflucht auf der Insel Korfu. Nach dem Zusammenbruch der Habsburger Monarchie wurde Peter am 1. Dezember 1918 — unter Ausschaltung des Herrschaftsanspruchs seines ehemaligen montenegrinischen Schwiegervaters Nikola - zum ersten König des «Königreichs der Serben, Kroaten und Slowenen» («Kraljevina Srba, Hrvata i Slovenaca»: Königreich SHS) proklamiert. Nach seinem Tod übernahm im August 1921 sein Sohn Alexander I. die Herrschaft als König der Serben, Kroaten und Slowenen. Am 3. Oktober 1929 proklamierte dieser die Umbenennung des südslawischen Königreichs in «Königreich Südslawien» («Kraljevina Jugoslavija»). Damit hatten sich die Karadjordjevici endgültig als südslawische Herrscherdynastie durchgesetzt.

Auch wenn die Zeit nach dem Umsturz von 1903 nach außen als das «goldene Zeitalter» der Demokratie gilt, so übte die Gruppe der Offiziersverschwörer doch einen wichtigen politischen Einfluß in Serbien aus und bildete sozusagen einen Staat im Staate. Der Kopf dieses inoffiziellen Machtzentrums war Oberst Dimitrijevic-Apis, der sich am Umsturzversuch von 1903 an vorderster Stelle beteiligt hatte. Das Ausmaß seines Einflusses beschreibt der ehemalige serbische Gesandte in Berlin Milos Bogicevic (siehe Hinweis zu 5. 173) in seinem Aufsatz «Mord und Justizmord. Aus der Vorgeschichte des Mordes von Sarajewo und des Königreichs Jugoslawien» (zitiert nach: «Süddeutsche Monatshefte» vom Februar 1929, 26. Jg. Nr. 5) so: «Apis Einfluß in der Armee war groß. In dieser Beziehung konnten ihm die politischen Machthaber nichts anhaben. Dieser Einfluß machte sich geltend bei jeder Ernennung der Kriegsminister. Sein Druck auf die Regierung und Parlament



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bei Heeresanschaffungen und bei der Reorganisation der Armee zeitigte Ergebnisse, deren Folgen sich in der fruchtbarsten Weise in den Balkankriegen und im Weltkriege geltend machten. Auf den verschiedensten Gebieten verstärkte er seine Tätigkeit und machte sich, unbekümmert um Krone und Regierung, sein eigenes nationales Programm. Er wuchs mit seinen Zwecken. Hof und Regierung mußten zur Überzeugung gelangen, daß er durch nichts zu bewegen sei, sich ihnen gegenüber in die normale untergeordnete Stellung einzufügen. Die Krone sah sich von ihm in den Schatten gestellt, und das konnte sie ihm nie verzeihen. Eine immer größere Entfremdung trat ein, und Apis hörte auf die Stütze der Krone zu sein. Damit war er aber auch nicht mehr der <Retter des Vaterlandes>, der Mann, welcher der Dynastie zum Throne verholfen, der das auseinandergetriebene Parlament wieder vereinigt, die alte Verfassung wieder eingeführt und der radikalen Partei die Regierungsgewalt übertragen hatte. »

Diese überragende Stellung, die sich Dimitrijevic-Apis mit der Zeit erringen konnte, führte zur Aufspaltung des Offizierslagers, das sich zum Teil auf die Seite der Krone, zum Teil auf die Seite von Apis stellte. Bogicevic (gleicher Ort): «Die an der Verschwörung von 1903 beteiligten Offiziere bildeten nun zwei besondere Lager um Apis und um die Krone. Für das eine war die Mission des alten nationalrevolutionären Geistes mit dem Sturz der Dynastie Obrenovic noch nicht beendet. Dieser Umsturz sollte erst der Anfang zur Erreichung des nationalen Ideals der Vereinigung aller Serben unter dem Königreiche Serbien als Piemont sein. Für das andere war der Wechsel der Dynastie das Endziel, das eine behagliche Existenz zu verbürgen schien. Dem ersten Lager stand die Fortsetzung eines noch ungewissen Kampfes bevor, dem zweiten winkte die rosige Zukunft, eine bevorzugte Hofkamarilla zu werden. So scharten sich um Apis alle diejenigen, die dem wahren Ideale der Tat des 29. Mai, eine nationale Tätigkeit entfalten zu können, zugetan waren. Sie blickten, unbekümmert um die Dynastie, auf die große Zukunft ihres Volkes. Die andern waren von engherzigen Gesichtspunkten aus nur auf die Erhaltung dieser Dynastie bedacht und nützten die dynastische Mißstimmung gegen die erste Gruppe aus, um Apis und seine Anhänger zu bekämpfen und sich eine gesicherte Zukunft zu schaffen.»

Auf der Seite der Gegner von Apis, die um ihren machtpolitischen Einfluß fürchteten, standen an höchster Stelle der Kronprinz Aleksandar Karadjordevic und der einflußreiche serbische Politiker Nikola Pasic. Bogicevic (gleicher Ort): «Mit großer Mühe war es Nikola Pasic gelungen, sich nach der Ermordung König Alexanders einigermaßen politisch und moralisch zu rehabilitieren. Zu Beginn des neuen Regimes waren seine Aussichten, an die Regierung zu gelangen, nur gering. Seine Opportunitätspolitik während der letzten Regierungsjahre König Alexanders wurde ihm zum Vorwurf gemacht. Seine persönliche Feigheit anläßlich des Attentates auf König Milan und seine darauffolgende politische Verzichterklärung und Desavouierung der eigenen Partei wurde ihm von dieser stark verübelt, zumal er dafür 40 000 Dinar, angeblich als rückständiges Gehalt für drei Jahre, erhielt. » Die politische Rehabilitierung gelang ihm aber verhältnismäßig schnell. Schon 1903 schaffte er die Wiederwahl in die Abgeordnetenkammer; und bereits im Dezember 1904 wurde er zum Ministerpräsidenten ernannt. Bogicevic (gleicher Ort): «Nach seiner Rehabilitierung war es eine seiner politischen Hauptsorgen, den König dem Einflusse seines engeren Freundes- und Verwandtenkreises zu entziehen. [.1 Mit Hilfe der jüngeren Gruppe der Verschwöreroffiziere gelang es ihm, auch ihre ehemaligen älteren Führer, die Obersten Damnjan Popovic Aleksandar Masin und andere zu entfernen. Nun hatte er nur noch die ihm gefährlichen Elemente der Verschwörergruppe zu eliminieren, um die neue Dynastie und das neue Regime ganz unter



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seinen Einfluß zu bringen.» Zu den Gegnern von Dimitrijevic-Apis gehörten auch die Offiziere der Geheimorganisation «Weiße Hand» («Bela ruka»), die den Einfluß der von ihr abgespalteten «Schwarzen Hand» einzugrenzen versuchte.

Allerdings sollte es den Gegnern von Dimitrijevic-Apis erst im Laufe des Jahres 1917 gelingen, ihn endgültig auszuschalten. Angeblich am 11. September! 29. August 1916 —das Datum wurde nach Wochen rückwirkend festgelegt - soll ein Attentat auf den Prinzregenten Alexander während seiner Fahrt an die Saloniki-Front verübt worden sein; als dessen Auftraggeber wurde Dimitrijevic-Apis bezeichnet. Am 15.!2. Dezember 1916 wurde er in einer Uberraschungsaktion von den serbischen Militärbehörden auf griechischem Gebiet verhaftet. Gleichzeitig fand eine Säuberung des Offizierskorps und der Beamtenschaft statt. Obwohl die Anschuldigung aus der Luft gegriffen war, wurde er im Rahmen des Prozesses von Saloniki zum Tode verurteilt und am 26.!13. Juni 1917 zusammen mit zwei Mitstreitern hingerichtet. Als Belastungszeuge hatte auch Milan Ciganovic, der Kontaktmann der Attentäter von Sarajevo in Belgrad (siehe Hinweis zu S. 237), ausgesagt.

Es handelte sich um eine gezielte Aktion von Pasic. In einem Telegramm, das an den Prinzregenten gerichtet war, schrieb er am 7. März!24. Februar 1917 nach Bogicevic (gleiche Quelle): «Kein Minister kann mehr seine Obliegenheiten mit Sicherheit erfüllen, solange er nicht von Männern befreit ist, die außer ihrem dem König und dem Staat geleisteten Eid an eine geheime Organisation durch einen andern Eid gebunden sind, der es ihnen zur Pflicht macht, für die Interessen dieser Organisation diejenigen des Staates preiszugeben. Unmöglich ist es, die Verantwortlichkeit der Regierung zu gewährleisten, wenn es unter den Staatsbeamten Leute gibt, die, treu dem der Organisation geschworenen Eide, verpflichtet sind, diese von allen Maßnahmen der Behörden zu unterrichten. Wir alle sind der Ansicht, daß das Gesetz den Eintritt in eine derartige Organisation verbieten muß. Es wäre weder angebracht noch praktisch, ein gerichtliches Verfahren gegen alle Mitglieder der Organisation einzuleiten. Ein radikales Mittel scheint jedoch dringlich: die Auflösung. Selbst wenn diese Organisation nicht der Herd einer umstürzlerischen Wühlarbeit geworden wäre, würde es klug sein, diese Maßregel zu ergreifen; ihre Tendenz macht es uns zur Pflicht, eine dahingehende Entscheidung zu treffen. »

130 So zum Beispiel konnten in St. Petersburg Leute. Mandl beschreibt diese Szene in seinem bereits öfters erwähnten Aufsatz: «Als die beiden Söhne König Peters [die Prinzen Alexander und Georg] kurze Zeit nach der Wahl [ihres Vaters] von Petersburg nach Belgrad über Wien reisten, sagte mir Prinz Alexander. Wir hatten am 29. Mai [10. Juni] um die Mittagsstunde erfahren, daß König Alexander in Belgrad ermordet worden war. Wir befanden uns damals in unserem im Hochparterre gelegenen Zimmer, dessen Fenster in den Garten gingen. Uber unserem Gemach lag der Frühstückssalon unserer Tante, der Großfürstin Milica Nikolajevna. Plötzlich hörten wir ihre helle Stimme durch das Tafelgeräusch-sie rief <Trinken wir auf das Wohl des Königs Nikola von Serbien! >» Tatsächlich strebten nicht nur die serbischen Obrenovici und Karadjordjevici nach der südslawischen Königskrone, sondern auch die montenegrinische Dynastie der Petrovici-Njegosi.Die überragende Herrscherpersönlichkeit dieser Dynastie im 19. Jahrhundert war Fürst Nikola (Nikita) J. Petrovic-Njegos (1841-1921). Nach der Ermordung seines Onkels Fürst Danilo J. am 13.!1. August 1860 bestieg er den Fürstenthron von Montenegro und leitete eine umfassende Modernisierungspolitik für das rückständige



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und arme Land ein. Durch die Beteiligung an den verschiedenen Balkankriegen gelang es ihm, die Grenzen seines Landes erheblich auszudehnen. In den Jahren zwischen 1868 und 1903, also in der Zeit zwischen der Ermordung des Fürsten Mihailo Obrenovic von Serbien und der blutigen Beseitigung von König Alexander J. Obrenovic, gelang es Nikola in enger Anlehnung an Rußland, sich als Führer einer serbischen Wiedervereinigung zu profilieren. Nikola J. hatte drei Söhne und sechs Töchter. Durch eine gezielte Heiratspolitik für seine zahlreichen Töchter gelang es ihm, ein weitreichendes Beziehungsnetz zu knüpfen, so daß seine Hoffnung auf die Königskrone eines geeinten südslawischen Königreiches nicht unbegründet war.

Die entscheidende Gelegenheit sah er 1903 gekommen, als er glaubte, anstelle des durch den blutigen Staatsstreich ins Zwielicht geratenen Petar Karadjordjevic zum neuen König von Serbien gewählt zu werden. Er hatte diesem allerdings 1883 seine älteste Tochter, Prinzessin Ljubica («Zorka») Petrovic-Njegos, zur Frau geben müssen (siehe Hinweis zu 5. 129), aber zum Zeitpunkt des Staatsstreiches in Serbien war sie schon lange Jahre tot. Als sich Nikolas Hoffnung als unbegründet erwies und an seiner Stelle Petar zum neuen König gewählt wurde, mußte er die neue Führungsrolle Serbiens im südslawischen Einigungsprozeß anerkennen. Sein außenpolitischer Rückhalt verschlechterte sich zusehends. Das Ende des Ersten Weltkriegs bedeutete auch das Ende seiner Herrschaft. Bereits im Januar 1916 mußte er nach der Besetzung seines Landes durch österreichische Truppen über Italien nach Frankreich ins Exil gehen. Seinen zweitältesten Sohn, den Prinzen Mirko, ließ er allerdings in Montenegro zurück, was ihm den Vorwurf, einen Separatfrieden mit den Mittelmächten zu suchen, eintrug. Nikolas Herrschaft wurde am 26. November 1918 für beendet erklärt, und Montenegro vereinigte sich mit Serbien (siehe Hinweis zu 5. 121).

Die beiden jüngeren Schwestern Zorkas, die in Rußland erzogenen Großfürstinnen Milica («Missia», 1866-1951) und Anastasija («Stana», 1868-1935) unterstützten nach Kräften die dynastischen Aspirationen ihres Vaters. Sie hatten in den russischen Hochadel eingeheiratet: Milica war seit 1889 mit einem Onkel des Zaren Nikolaus II., mit dem Großfürsten Petr Nikolaevic Romanov (1864-1931), verheiratet, Anastasija seit 1907 in zweiter Ehe mit dessen Bruder, dem Großfürsten Nikolaj Nikolaevic Romanov (dem Jüngern, 1856-1929). Eine weitere Tochter, die die Ansprüche ihres Vaters ebenfalls aktiv unterstützte, war Jelena (Elena), die Gattin von König Viktor Emanuel III. Während des Treffens von Racconigi im Jahre 1909 (siehe Hinweis zu 5. 109 in GA 173b) bat sie den russischen Zaren Nikolaus II. um Zustimmung für die Rangerhöhung Montenegros vom Fürstentum zum Königreich. In Erinnerung an die engen Bindungen zwischen seinem Vater Alexander III. und dem Fürsten Nikola J. stimmte er zu. Am 28./15. August 1910 proklamierte sich Nikola zum König von Montenegro (siehe Hinweis zu 5. 121). An dem Festakt nahm auch das italienische Königspaar teil.

Daß tatsächlich solch weitgehende Aspirationen in der montenegrinischen Herrscherdynastie bestanden, zeigt sich zum Beispiel in der Schrift «Une Confédération Orientale Comme Solution de la Question d'Orient» (Paris 1907, siehe Hinweis zu 5. 81 in GA 173c). Der anonyme Verfasser, der sich selber als «Un Latin» bezeichnete, schrieb im Hinblick auf eine künftige staatliche Gestaltung des südslawischen Raumes (Chapitre VIII, «Les Monténégrins»): «Fürst Nikita, sowohl gewandter Diplomat als auch tapferer Krieger und augenscheinlich ganz der Einführung der modernsten landwirtschaftlichen Systeme in Podgorica hingegeben, verfolgt nichtsdestotrotz tatkräftig die Linie seiner Außenpolitik. Die Idee einer innigen Verbindung mit Serbien und der Verbrüderung aller balkanischen Völker slawischer Rasse ist der Angelpunkt der politischen Tätigkeit des Fürstentums, das davon träumt,



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eines Tages innerhalb der sogenannten jugo-slawischen Nationen die Rolle eines Piemonts in Italien oder eines Preußens in den deutschen Ländern zu spielen.»'

130 Ich habe Ihnen, als ich diese Betrachtungen begonnen habe, gesagt: Rudolf Steiner begann am 4. Dezember 1916 mit seinen «Zeitgeschichtlichen Betrachtungen».

131 Man kann zum Beispiel lesen: Das Zitat findet sich im Aufsatz «Die Schuldfragen» von Ernest Bovet, der am 1. Dezember 1916 in der Halbmonatsschrift «Wissen und Leben» erschienen war (X. Jg. Heft Nr. 5). Herausgegeben wurde die Zeitschrift vom Zürcher Verlag «Art. Institut Orell Füssli». Nach seiner Promotion in Romanistik im Jahre 1895 wurde Ernest Bovet (1870-1941), der ursprünglich aus der Westschweiz stammte, 1901 als Professor für französische und italienische Literatur an die Universität Zürich berufen, wo er bis 1922 lehrte. Von 1907 bis 1923 leitete er die Herausgabe der Zeitschrift «Wissen und Leben». Die Schuld am Kriege sah er eindeutig bei den Mittelmächten; die Schaffung einer übernationalen Rechtsorganisation zur Sicherung eines künftigen Friedens war ihm ein wichtiges Anliegen. So ist es durchaus naheliegend, daß er von 1922 bis 1939 als Sekretär der Schweizerischen Liga für den Völkerbund tätig war, als Nachfolger von Samuel Zurlinden. Ursprünglich wissenschaftlich-positivistisch gesinnt, zeigte er sich - angezogen von antimaterialistisch-sozialem Gedankengut -immer mehr den vitalistischen Ideen des französischen Philosophen Henri Bergson (siehe Hinweis zu 5. 221) aufgeschlossen. So stellt er in seinem Aufsatz «Friede?», wo er zur deutschen und amerikanischen Friedensaktion Stellung nimmt, zum Schlusse fest (Wissen und Leben X. Jg. Heft Nr. 6 vom 15. Dezember 1916): «Es liegt ein Etwas, etwas Neues in der Luft, eine Seelenstimmung, die man im richtigen Augenblick zum Wiederaufbau kräftig benutzen sollte. Die Schuld soll ja nicht verwischt werden; das hieße die ganze Zukunft vergiften; aber ein ausdrückliches Bekenntnis ist auch nicht zu verlangen; wozu die Demütigung, wenn die richtige Tat an sich allein den tiefen Wandel bekundet? Mit Mut, Aufrichtigkeit und Takt ließen sich Wunder wirken. Dazu brauchen wir freilich auch neue Männer, mit reinen Händen -die Kanonen haben gesprochen und vernichtet; jetzt kommt die Stunde des Geistes. »

132 die sämtlichen Blau-, Rot- und Weissbücher wirklich studiert. Die kriegführenden Staaten veröffentlichten allesamt Zusammenstellungen von diplomatischen Dokumenten, die ihre Haltung rechtfertigen sollten. Diese Zusammenstellungen wurden nach der Farbe ihres Einbandes benannt. Als erstes Land veröffentlichte Deutschland am 4. August 1914 ein «Weißbuch». Danach folgte Großbritannien am 6. August 1914 mit seinem «Blaubuch» (ursprünglich «Weißbuch» genannt, siehe Hinweis zu 5. 40). Am 7. August 1914 brachte Rußland sein «Orangebuch» heraus. Belgien veröffentlichte im Oktober 1914 (genaues Datum unbekannt) ein «Graubuch». Am 18. November 1914 war die Reihe an Serbien; seinen Standpunkt vertrat es in einem «Blaubuch». Am 1. Dezember 1914 veröffentlichte Frankreich ein «Gelbbuch». Ihm folgte schließlich am 3. Februar 1915 Österreich-Ungarn als letzter Staat mit einem «Rotbuch».In der Bibliothek Rudolf Steiners findet sich neben dem deutschen Weißbuch, dem österreichisch-ungarischen Rotbuch und dem britischen Blaubuch das so-1



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genannte «Regenbogen-Buch» — eine Zusammenstellung der maßgebenden Dokumente aus den von den verschiedenen Regierungen herausgegebenen Aktensammlungen. Die Arbeit von Max Beer, «Die europäischen Kriegsverhandlungen. Die maßgebenden Dokumente, chronologisch und sinngemäß zusammengestellt, übersetzt und erläutert» (Bern 1915), will «einen klaren Uberblick über die diplomatischen Verhandlungen geben, die dem Ausbruch des Weltkrieges vorangingen». In seiner «Vorbemerkung» schreibt Beer: «Es vereinigt daher die maßgebenden Dokumente des deutschen Weißbuches, des österreichisch-ungarischen Rotbuches, des englischen Blaubuches, des russischen Orangebuches, des französischen Gelbbuches, des serbischen Blaubuches und des belgischen Graubuches zu einer Art <Regenbogenbuch>. Die Notwendigkeit einer Beschränkung auf die maßgebenden Dokumente, das heißt der für den Verlauf der Verhandlungen und den Standpunkt einer jeden Regierung entscheidenden Akten, ergab sich aus dem Zwecke, ein Bild der Kriegsverhandlungen zu bieten und nicht eine formlose Fülle von Telegrammen, in der das Wesentliche im Unwesentlichen verschwunden wäre. Die Sammlung von dreihundert Akten, die hier geboten wird, übergeht kein einziges wichtiges Dokument. »

Max Beer (1886-1965), aus einer deutsch-jüdischen Familie stammend, hatte 1910 an der Universität Würzburg in Geschichte promoviert. Von 1910 bis 1914 war er Pariser Korrespondent für verschiedene deutschsprachige Zeitungen, zum Beispiel auch für das «Berner Tagblatt». Von 1914 bis 1920 wirkte er von Bern aus publizistisch für die Mittelmächte. Nach dem Krieg setzte er sich von Genf aus für die Sache des Völkerbundes ein; zunächst als Korrespondent und von 1926 bis 1931 als Beamter für die Informationsabteilung des Völkerbundes. Anschließend war er wieder als Korrespondent tätig, bis er 1933 aus rassischen Gründen nicht mehr als Autor für die deutschen Zeitungen genehm war. 1939 verlegte er sein Wirkensfeld nach Paris. Nach der Invasion Frankreichs durch deutsche Truppen war er gezwungen, über Spanien und Portugal in die Vereinigten Staaten zu flüchten. Von 1950 an war er als UNO-Korrespondent für die «Neue Zürcher Zeitung» tätig.

132 Tut nichts, der Jude wird verbrannt: Der Satz stammt aus dem Drama «Nathan der Weise» von Gotthold Ephraim Lessing (1729-1781); er wird vom christlichen Patriarchen während eines Streitgesprächs mit dem Tempelherrn ausgesprochen (IV. Akt, 2. Szene, Vers 2552).

133 Broschüre «Gedanken während der Zeit des Krieges» schrieb: Im Juli1915 brachte Rudolf Steiner seine Schrift «Gedanken während der Zeit des Krieges. Für Deutsche und solche, die nicht glauben, sie hassen zu müssen» im «Philosophisch-Anthroposophischen Verlag» in Berlin heraus. Es handelte sich um eine Weiterführung der Gedanken, die er nach Ausbruch des Krieges in Vorträgen an verschiedenen Orten Deutschlands gehalten hatte. Diese Vorträge sind nur zu einem kleinen Teil herausgegeben (in GA 64).Mit der Veröffentlichung dieser Schrift hoffte Rudolf Steiner, einen Beitrag zur allgemeinen Völkerverständigung zu leisten. Durch einen vorurteilslos-sachlichen Blick auf die in Europa herrschenden Gedankenrichtungen wollte er Verständnis für die mitteleuropäische Situation und die Bedeutung des deutschen Geisteserbes erwecken. So sagte er rückblickend anläßlich des Stuttgarter Rednerkurses am 2. Januar 1921 (in GA 338): «Ich wollte im Kreise derer, die Deutsche sind, aber auch derer, die glauben, die Deutschen nicht hassen zu müssen, eine gewisse Stimmung, die durchaus in den Untergründen der Seelen vorhanden war, hervorrufen. Wäre diese Stimmung, wie sie damals gemeint war, wirklich zur Erscheinung gekommen, [...] das heißt, hätte man auswärts gesehen, daß es eine solche Stimmung gibt, dann wäre



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das zum Glück ausgeschlagen.» Aber auf seine Schrift waren im Grunde genommen nur diejenigen Leute eingegangen, «die geglaubt haben, die Deutschen hassen zu müssen». Zum Beispiel auch der mit Rudolf Steiner und seiner Frau befreundete elsässische Dichter und Schriftsteller Edouard Schuré, der sich unter dem Einfluß des französischen Geschäftsmannes Eugene Lévy, Freimaurer, Theosoph und zeitweise Anthroposoph, zum Deutschenhasser entwickelt hatte (siehe Hinweis zu 5. 51). In ihrem Brief an Otto Palmer jun. vom 25. Oktober 1948 schreibt Marie Steiner-von Sivers über die Intentionen Lévys: «Sein französischer Chauvinismus führte zu einer Freundschaft mit Monsieur Schuré, den er sehr planmäßig umwarb, um ihn als den französischen repräsentativen Okkultisten für seine Zwecke zu gewinnen. Es gelang ihm diese Bearbeitung Schurés glänzend, besonders da manches Okkulte hineinspielte, was mit seiner Zugehörigkeit zur Freimaurerei zusammenhing, während Schuré in den maurerischen Zusammenhängen wie ein Kind darinnenstand. Was Herrn Schuré damals befiel, kann man nur Besessenheit nennen. » Und: «Dem Herrn Lévy gelang es, in Schuré die groteske Idee zu entfachen, daß ich mich in die Dienste des Kaisers Wilhelm gestellt hätte, um Schuré für die Germanisationspläne zu gewinnen und daß auch Dr. Steiner diesem Einfluß unterliege. »

Gerade die Haltung der anthroposophischen Mitgliedschaft nach der Veröffentlichung betrachtete Rudolf Steiner als besonders enttäuschend. So sagte er in seinem Dornacher Mitgliedervortrag vom 17. Juni 1923 (in GA 258): «Da machte sich gerade jene innere Opposition in einer ganz merkwürdigen Weise geltend. Nicht nur, daß Leute an mich herangetreten sind, die gesagt haben. Wir haben doch geglaubt, Anthroposophie mische sich niemals in Politik -als wenn das Büchelchen sich in Politik gemischt hätte! und dergleichen mehr. Und man konnte schon an der ganzen Stellungnahme sehen. Da hat in manchem Herzen etwas abgefärbt, was nun nicht auf dem Boden der Anthroposophie wachsen darf, sondern was auf ganz anderem Boden wächst. » So ist es verständlich, wenn die geplante zweite Schrift - von Rudolf Steiner als Ergänzung zur ersten Broschüre gedacht - mit weiteren Gedanken «über die gegenwärtige Zeit und Europas Völker» nicht mehr erschien.

133 wenn die Programme solcher Leute wie Lloyd George verwirklicht werden: Der neue britische Premierminister David Lloyd George (siehe Hinweis zu 5. 258), der am 7. Dezember 1916 die Amtsgeschäfte übernommen hatte, konnte wegen Krankheit erst am 19. Dezember 1916 seine Regierungserklärung abgeben. Auch wenn dies kurz nach Rudolf Steiners Vortrag erfolgte, so stellt es doch eine Zusammenfassung der bereits vielfach geäußerten Ansichten von Lloyd George dar. An diesem Tag äußerte sich dieser unter anderem auch zu den Zielen seiner Regierung (zitiert nach: «Basler Nachrichten» vom 21. Dezember 1916, 72. Jg. Nr. 648): «Was ist die dringende Pflicht der Regierung? Sie hat die Pflicht, die Mobilisierung aller nationalen Hilfsquellen zu vervollständigen und wirksamer zu gestalten. Diese Mobilmachung soll der Nation gestatten, die notwendige Anstrengung auf sich zu nehmen, wie weit sich auch der Weg zum Siege noch dehnen mag, wie lange und erschöpfend auch dieses Unternehmen noch sein wird. Die Aufgabe ist riesenhaft. » Und im Hinblick auf die geplante nationale Mobilisierung schlug Lloyd George eine Reihe von Maßnahmen vor, die von der ganzen britischen Nation Opfer verlangen würden: «Das bedingt Opfer, aber welche Opfer? Man möge mit jenen Leuten sprechen, die von der Somme zurückkehren und die schrecklichen Leiden des Winterfeldzuges erleiden mußten. Dann wird man ein wenig begreifen, was diese Tapferen für ihr Land ertragen. Sie leiden viel und riskieren alles, während wir zu Hause behaglich davon leben. Die Nation möge ihre Behaglichkeit, ihren Luxus, ihre Eleganz auf den Opferaltar legen, wie es diese Männer getan haben. Beschließen



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133 wenn zum Beispiel ein Angehöriger der englischen Nation sich für diesen oder jenen Mann einsetzt. Vermutlich handelt es sich um den englischen Außenminister Sir Edward Grey, dessen Charakterisierung in dem von Rudolf Steiner vorgelesenen Aufsatz von einem englischen Mitglied als persönliche Beleidigung empfunden wurde.

134 auf einen Ausspruch Lord Roseberys aus dem Jahre 1893: Das Zitat' ist dem Buch von Friedrich von Bernhardi «Deutschland und der nächste Krieg» (Stuttgart! Berlin 1912) entnommen (4. Kapitel, «Deutschlands historische Mission»). Bernhardi, ein prominenter deutscher Militärschriftsteller (siehe Hinweis zu 5. 242 in GA 173b), stützt sich dabei auf eine Aussage von Gabriel Hanotaux in dessen Buch «Le partage de l'Afrique: Fachoda» (Paris 1909, 2. Kapitel, «Fachoda et la négociation africaine», Abschnitt J). Laut Hanotaux soll es sich um eine Aussage handeln, die Lord Rosebery im Jahre 1893 gemacht haben soll; er unterläßt es aber, die Umstände dieser Äußerung genauer nachzuweisen. Für Hanotaux (siehe Hinweis zu 5. 135) war Großbritannien hauptsächlich jene Macht, die der französischen Ausdehnung im Wege stand (gleicher Ort): «Als, von 1880 an, Frankreich es unternahm, durch die Umstände getrieben und vom unternehmerischen Genie eines Jules Ferry angespornt, seinen zerstückelten Kolonialbesitz wieder herzustellen, bekam es von derselben Seite dieselben Widerstände zu spüren. [Sei es] in Ägypten, in Tunesien, auf Madagaskar, in Indochina, [sei es]gar im Kongo oder in Ozeanien, immer ist es England, dem es begegnet. »2Archibald Primrose, Earl of Rosebery and Earl of Dalmeny (1847-1 929), stammte aus dem schottischen Hochadel und war seit 1878 mit Hannah de Rothschild (1851-1890) verheiratet, der Tochter des Bankiers Mayer de Rothschild und nach



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dem Tode ihres Vaters im Jahre 1874 die reichste britische Erbin der damaligen Zeit. Er war nicht nur durch seine Begeisterung für den Pferdesport bekannt, sondern er zählte auch zu den maßgeblichen Politikern der damaligen Zeit. Lord Rosebery war ein überzeugter Liberaler, gehörte aber dem rechten Parteiflügel an, der mit Entschiedenheit für eine imperialistische Politik Großbritanniens eintrat. So war er Präsident der 1902 gegründeten «Liberal League», die in diesem Sinn zu wirken versuchte, aber sich bereits 1910 wieder auflöste. Seit 1868 war er Mitglied des britischen Oberhauses -das war nur möglich, weil ihm ein englischer Hochadelstitel, Baron Rosebery, verliehen worden war. Zweimal diente Lord Rosebery in den Regierungen des liberalen Premierministers William Ewart Gladstone (siehe Hinweis zu 5. 129 in GA 173b) als Außenminister - vom Februar bis August 1886 und vom August 1892 bis März 1894. In dieser Funktion zeigte er sich eher Deutschland als Frankreich zugeneigt, mit dem Großbritannien verschiedene koloniale Interessenkonflikte hatte. Die grundsätzliche Umorientierung der britischen Außenpolitik - Zusammengehen mit Frankreich und Rußland zur Verhinderung einer deutsch dominierten Kontinentalliga (siehe Hinweis zu 5. 141) — hatte zu diesem Zeitpunkt noch nicht stattgefunden; erst unter Außenminister Grey sollte diese Kursänderung zunehmend an Bedeutung gewinnen. Nach dem Rückzug Gladstones aus der Politik wurde Lord Rosebery im März 1894 dessen Nachfolger als Premierminister; Uneinigkeit innerhalb der Liberalen Partei und die Obstruktionspolitik des Oberhauses ließen ihn aber bereits im Juni 1895 zurücktreten. 1896 trat er auch als Führer der Liberalen Partei zurück; mit seiner entschieden imperialistischen Gesinnung traf er in seiner eigenen Partei immer mehr auf Widerstand. Er zog sich aus der aktiven Politik zurück und widmete sich seinen akademischen Ämtern. So war er von 1899 bis 1902 Rektor der Universität von Glasgow und von 1902 bis 1929 Kanzler der Universität von London.

Am 16. November 1900 hielt Lord Rosebery in seiner Eigenschaft als Rektor der Universität von Glasgow eine Rede über die Einheit des Angelsachsentums - ein wichtiger Eckstein im Rahmen der Neuorientierung der britischen Außenpolitik. Ausgehend von der Idee einer Erneuerung des ersten «Britischen Reiches», dessen Kern neben dem britischen Mutterland die dreizehn amerikanischen Kolonien waren, empfahl er die Heimkehr Amerikas in einen gemeinsamen britischen Staatsverband oder vielmehr die Aufnahme Großbritanniens in das amerikanisch geprägte neue Reich der Angelsachsen. Er regte die Schaffung eines Gesamt-Parlamentes als Herzstück des neuen angelsächsischen Empires an. Rosebery war sich bewußt, daß sich mit der Zeit das Schwergewicht des neuen Empire nach Amerika verlagern würde und daß Großbritannien die Rolle eines europäischen Außenpostens zu übernehmen hätte. Er sagte, von einem fiktiven historischen Ereignis ausgehend, über eine angeblich unwahrscheinliche Zukunft spekulierend: «Und schließlich, wenn die Amerikaner die Mehrheit erlangt hätten, wäre vielleicht der Sitz des Empires feierlich über den Atlantik getragen worden und Großbritannien wäre zum historischen Heiligtum und europäischen Außenposten des Weltimperiums geworden. Es wäre dies die gewaltigste Machtübertragung gewesen, die die Menschheit je gesehen hat.»'

135 die Resonanz dessen, was in manchen okkulten Bruderschaften immer gelehrt wurde: Siehe Hinweis zu 5. 31.



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135 und nicht: Ich kämpfe für Freiheit und Recht der kleinen Völkerschaften: Der Kampf für die Freiheit der kleinen Nationen wurde von den Ententestaaten als offizielles Kriegsziel vertreten (siehe Hinweis zu S. 53). Dies lebte durchaus im allgemeinen Bewußtsein der Öffentlichkeit. So schreibt zum Beispiel der tschechische Exilpolitiker Tomas Garrigue Masaryk (siehe Hinweis zu 5. 17 in GA 173c) in seinem Memorandum vom Mai 1915 zuhanden des englischen Außenministers Grey (zitiert nach: Hochverratsprozeß, Wien 1916, Kapitel J): «Britische Staatsmänner und Politiker haben als die Idee und das Ziel dieses Krieges die Befreiung und Freiheit der kleinen Staaten und Nationen proklamiert. Dasselbe Prinzip wurde in Frankreich proklamiert. In Rußland hat der Zar und der Generalissimus öffentlich von der Befreiung ihrer slawischen Brüder gesprochen, während England und Frankreich die Integrität Belgiens speziell nachdrücklich betont haben. »

136 des französischen Außenministers Hanotaux begreifen, den er im Jahre 1909 in dem Buch über Faschoda und die Teilung Afrikas einnimmt: Auch dieses Zitat' stammt aus dem Buch von Friedrich von Bernhardi. Dieser hat es dem Vorwort («Avertissement») aus dem Buche von Gabriel Hanotaux «Le partage de l'Afrique: Fachoda» (Paris o. J. =1909) entnommen.Gabriel Hanotaux (1853 —1944), französischer Diplomat und Politiker, war in der Zeit vom Mai 1894 bis November 1895 und vom April 1896 bis Juni 1898 in zwei verschiedenen Regierungen Außenminister. 1897 —noch während seiner Tätigkeit als Außenminister - wurde er in die «Académie Française» gewählt. Bereits in dieser Zeit, besonders aber nach seinem Rückzug aus der aktiven Politik, verfaßte Hanotaux zahlreiche Werke zur französischen Geschichte. Bekannt wurde er zum Beispiel durch seine «Histoire du cardinal de Richelieu» (Paris 1893 bis 1903). In den Anfangsjahren des Völkerbundes - von 1920 bis 1923 — leitete er auch die französische Delegation an dessen Sitz in Genf.

Als Vertreter einer aktiven kolonialistischen Außenpolitik - so gehörte er der damaligen «parti colonial» im Parlament an -zählte Hanotaux zu den maßgeblichen Triebkräften, deren Ziel der Aufbau eines umfassenden französischen Kolonialreiches in Afrika war. Als Hauptrivale für die Ausdehnung Frankreichs in Afrika in der West-Ost-Richtung betrachtete er Großbritannien und dessen Konzept eines durchgehenden englischen Kolonialbesitzes vom Kap bis Kairo, das heißt von Süd nach Nord. Allerdings war er sich der großen Unterlegenheit der französischen Flotte gegenüber der englischen bewußt, was ihn zu einer nachgiebigen Haltung gegenüber Großbritannien veranlaßte. So war es am 14. Juni 1898 zum Abschluß der sogenannten Niger-Konvention gekommen, eines Kolonialabkommens zwischen Frankreich und Großbritannien, in dem Frankreich die englischen Ansprüche in Westafrika anerkannte.

Der eigentliche Scharfmacher der französischen Kolonialpolitik zu diesem Zeitpunkt war der französische Kolonialminister und spätere Geschäftsmann André Lebon (1859-1938), der - vom April 1896 bis Juni 1898 im Amt - um jeden Preis versuchte, den Oberlauf des Nils im Gebiet des Bahr al-Ghazal im heutigen Sudan in französischen Besitz zu bringen. So wurden kurz hintereinander drei französische Militärexpeditionen losgeschickt, um von verschiedenen Seiten her in dieses Gebiet vorzudringen. Die bekannteste Expedition stand unter der Leitung



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von Hauptmann Jean-Baptiste Marchand, der am 25. Juni 1896 von der Atlantikküste des ehemals französischen Kongos aufbrach, um nordostwärts entlang des Flusses Kongo in den Sudan vorzudringen. Entgegen der allgemeinen Erwartung erreichte er am 10. Juli 1898 Faschoda, das heutige Kodok, und nahm im Namen der Französischen Republik diesen Ort in Besitz. Am 25. August 1898 gelang es ihm, einen Angriff der Armee des Mahdi-Emirates, zu dem das Gebiet nominell gehörte, abzuwehren. Der Mahdi-Staat, mit Omdurman im heutigen Sudan als Zentrum, war von Mohammed Ahmed ibn Abdullah (1844 —1885) im Kampf gegen die ägyptische Herrschaft begründet worden. Er hatte sich dabei als Mahdi, als der «von Gott Rechtgeleitete», ausgegeben.

Die Situation nahm das Ausmaß einer internationalen Krise an, als die gegen das Mahdi-Emirat siegreichen englisch-ägyptischen Truppen am 18. September 1898 Faschoda erreichten und ihr Oberbefehlshaber, Generalmajor Sir Herbert Kitchener, den ägyptischen und damit den englischen Besitzanspruch auf diesen Ort geltend machte. Zum Zeitpunkt des Ausbruchs der Faschoda-Krise war Hanotaux bereits nicht mehr im Amt, und es blieb seinem Nachfolger, Théophile Delcassé (siehe Hinweis zu 5. 221), überlassen, am 6. November 1898 endgültig die bedingungslose Aufgabe von Faschoda zu beschließen. Obwohl überzeugter französischer Imperialist, blieb ihm angesichts der Entschlossenheit der englischen Regierung unter Lord Salisbury (siehe Hinweis zu 5. 238), es auf einen Krieg mit Frankreich ankommen zu lassen, nichts anderes übrig. Am 4. Dezember 1898 wurde die französische Flagge eingeholt und mit der Evakuierung der französischen Truppen begonnen. Im Sudanvertrag vom 21. März 1899 — einer Ergänzung zur Niger-Konvention von 1898 — grenzten beide Seiten ihre jeweiligen Interessensphären ab: Das Gebiet von Ouaddai wurde Frankreich zuerkannt, das Gebiet von Darfur Großbritannien; das umstrittene Gebiet von Bahr al-Gazhal wurde zur Freihandelszone erklärt.

136 Herrschaftskeime sind ausgesät in allen Teilen des Erdballs: Das französische Kolonialreich bestand -abgesehen von Algerien, das als zum französischen Mutterland zugehörig betrachtet wurde - aus den Kolonien und den Protektoraten:. Seinen Schwerpunkt hatte es um 1900 in Afrika, vor allem in Westafrika und Äquatorialafrika sowie in Madagaskar, und in Südostasien (Indochina). Außerdem verfügte Frankreich über kleinere Besitzungen in Amerika und Ozeanien.

136 Es ist oftmals gerade in Deutschland das Wort «Kolonialpolitik» gebraucht worden: Die Initiative zum Aufbau eines deutschen Kolonialreiches ging zunächst vor allem von privater Seite aus. 1882 wurde der «Deutsche Kolonialverein» gegründet, dessen Ziel es war, das Interesse der deutschen Öffentlichkeit für eine aktive deutsche Kolonialpolitik zu wecken. 1887 schloß er sich mit der 1884 gegründeten, vor allem an der praktischen Kolonisation interessierten «Gesellschaft für deutsche Kolonisation» zur «Deutschen Kolonialgesellschaft» zusammen. Ihre Haupttätigkeit bestand in der Propagierung einer expansiven Kolonialpolitik, wofür sie vom «Alldeutschen Verband» Zustimmung fand. Während des Krieges befürwortete die «Deutsche Kolonialgesellschaft» die Schaffung eines großen mittelafrikanischen Reiches vor allem auf Kosten Belgiens, Frankreichs und Großbritanniens.1884 gab der deutsche Reichskanzler Otto von Bismarck (siehe Hinweis zu 5. 221) seinen Widerstand gegen eine deutsche Kolonialpolitik endgültig auf, weil er die deutschen Wirtschaftsinteressen in Übersee zunehmend bedroht sah. Der Aufbau eines deutschen Kolonialreiches erfolgte, indem Gebiete, die von deutschen Kaufleuten erworben worden waren, unter deutschen Schutz gestellt wurden. Am 24. April 1884 wurde als erstes Schutzgebiet Deutsch-Südwestafrika gegründet,



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am 5. Juli wurde Togo-Land und am 14. Juli Kamerun unter deutsche Protektion genommen; am 27. Februar 1885 folgte Deutsch-Ostafrika sowie am 17. Mai 1885 Deutsch-Neuguinea. Damit war der Grundstein für das deutsche Kolonialreich gelegt. In den folgenden Jahren wurden auf friedlichem Wege in einer Reihe von Verträgen mit den anderen Kolonialmächten, vor allem mit Frankreich und Großbritannien, die Grenzen der neuen Kolonien abgesteckt.

136 was ja im Grunde genommen niemals in Bismarcks Absicht gelegen hat: Der deutsche Reichskanzler Otto von Bismarck betrachtete eine aktive deutsche Kolonialpolitik als nicht im Rahmen der deutschen Interessen liegend. In seinen «Lebenserinnerungen und politischen Denkwürdigkeiten» (Leipzig 1919) schrieb Hermann Freiherr von Eckhardtstein zu Bismarcks grundsätzlicher Haltung (zitiert nach: Max Klemm, Was sagt Bismarck dazu?, Band I, Berlin 1924): «Immer wieder betonte er, wenn im intimen Kreise die Rede auf Kolonialpolitik kam, seine Abneigung dafür, indem er sagte: Ich bin dagegen, aber ich lasse mich treiben. Auch eine andere Äusserung Bismarcks, welche er wiederholt in engerer Umgebung getan hat und welche lautete: Die Freundschaft Lord Salisburys [siehe Hinweis zu 5. 238] ist mir mehr wert als zwanzig Sumpfkolonien in Afrika -, kennzeichnete seine wahren Gefühle in dieser Hinsicht.» Noch 1881 erklärte Bismarck in einem Tischgespräch gegenüber Fred Graf Frankenberg (H. Ritter von Poschinger, Fürst Bismarck und die Parlamentarier, Breslau 1894, zitiert ebenfalls nach Klemm, Band I): «So lange ich Reichskanzler bin, treiben wir keine Kolonialpolitik. » Schließlich sah er sich doch veranlaßt, aus wirtschaftlichen Gründen den Schutz der deutschen Handelsstützpunkte zu übernehmen.

136 in den berühmten Reden Fichtes an die Deutsche Nation ausdrücklich lesen können: In seinen «Reden an die deutsche Nation» (Berlin 1808) bezog sich Johann Gottlieb Fichte (1762-1814) in seiner «Dreizehnten Rede» auf die fehlende maritime Orientierung der Deutschen: «Ebenso fremd ist dem Deutschen die in unsern Tagen so häufig gepredigte Freiheit der Meere -ob nun wirklich diese Freiheit oder bloß das Vermögen, daß man selbst alle anderen davon ausschließen könne, beabsichtigt werde. Jahrhunderte hindurch, während des Wetteifers aller andern Nationen, hat der Deutsche wenig Begierde gezeigt, an derselben in einem ausgedehnten Maße teilzunehmen, und er wird es nie. Auch bedarf er derselben nicht, sein reichlich ausgestattetes Land und sein Fleiß gewährt ihm alles, dessen der gebildete Mensch zum Leben bedarf; an Kunstfertigkeit, dasselbe für den Zweck zu verarbeiten, gebricht es ihm auch nicht; und um den einzigen wahrhaften Gewinn, den der Welthandel mit sich führt, die Erweiterung der wissenschaftlichen Kenntnis der Erde und ihrer Bewohner an sich zu bringen, wird es sein eigner wissenschaftlicher Geist ihm nicht an einem Tauschmittel fehlen lassen. »

137 Nun findet sich aber in dem Buch des Ministers Hanotaux das ich angeführt habe. Auch dieses Zitat' findet sich ursprünglich in der Schrift von Gabriel Hanotaux



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über die Aufteilung Afrikas (2. Kapitel «Fachoda et la négociation africaine», Abschnitt IV).

137 so leichtsinnig einen Zusammenhang zu konstruieren: Am 23. Juli 1914 überreichte die österreichisch-ungarische Regierung das Ultimatum an Serbien; am 25. Juli erfolgte die Antwort durch Serbien, in der die serbische Regierung auf die meisten österreichisch-ungarischen Forderungen einging (siehe Hinweis zu 5. 253 in GA 173b). In diesen Tagen beharrte Österreich-Ungarn auf seinem Recht, Serbien zu bestrafen, betonte gleichzeitig, daß es keinerlei territoriale Expansionsabsichten hege und keine sofortigen militärischen Aktionen gegen Serbien plane, auch wenn dieses den Forderungen Österreich-Ungarns nicht in jeder Beziehung entspreche. Es lasse sich aber nicht von Rußland von seinem Vorhaben abhalten, Serbien endgültig von seiner aggressiven Haltung gegenüber Österreich-Ungarn abzubringen. Deutschland stritt jede Beteiligung an einer Vorausplanung der österreichischungarischen Aktion ab und befürwortete eine Lokalisierung des Konfliktes. Rußland lehnte eine solche Lokalisierung ab und versprach Serbien seine Unterstützung; es klagte Österreich-Ungarn an, unter Verletzung der russischen Interessen eine vollständige territoriale Neuordnung auf dem Balkan anzustreben. Frankreich sagte Rußland seine volle Unterstützung zu und verlangte von Deutschland, es müsse Österreich-Ungarn zum Abbruch der Aktion gegen Serbien veranlassen. Großbritannien befürwortete eine Intervention zur Friedenserhaltung der vier am Konflikt nicht unmittelbar beteiligten Mächte Deutschland, Italien, Frankreich und Großbritannien, erklärte aber im Fall eines Kriegsausbruchs die Teilnahme Großbritanniens daran als zwingend. Nach dem Eintreffen der serbischen Antwortnote erklärte sich die österreichisch-ungarische Regierung als nicht befriedigt und brach die diplomatischen Beziehungen zu Serbien ab.In den Tagen vom 26. bis 28. Juli standen einerseits die Frage nach der Reaktion Rußlands zur Unterstützung Serbiens und andererseits der englische Konferenzvorschlag im Vordergrund (siehe Hinweis zu 5. 264 in GA 173b). Österreich-Ungarn sprach sich gegen eine Europäisierung des Konfliktes aus und war nicht bereit, sich einem - von vornherein nicht neutralen -europäischen Schiedsgericht zu unterwerfen. Es beharrte auf seinem Recht zur Selbstverteidigung und bestätigte nochmals seinen Verzicht auf jeden territorialen Gewinn in Serbien. Am 28. Juli 1914 erklärte es Serbien den Krieg. Vom 29. Juli an standen die russische Mobilmachung und die Auswirkungen auf die bestehenden Bündnisverpflichtungen und Mobilmachungspläne im Vordergrund. Am 30. Juli war es offensichtlich, daß die russische Mobilmachung in Gang gesetzt wurde, und die Staaten begannen, sich der Unterstützung der jeweiligen Bündnispartner zu versichern. Rußland hatte den Beistand Frankreichs zugesichert erhalten, das seinerseits auf die britische Unterstützung glaubte zählen zu können. Damit kam die Frage der Beachtung der belgischen Neutralität durch Deutschland ins Spiel. Großbritannien verlangte in jedem Fall von Deutschland die Respektierung der belgischen Neutralität, machte jedoch selber gegenüber Deutschland keine Neutralitätszusage. Deutschland stellte am 31. Juli an Rußland das Ultimatum, die Mobilmachung rückgängig zu machen. Da die russische Regierung nicht auf das Ultimatum reagierte, erklärte Deutschland am 1. August Rußland den Krieg. Damit war der Bündnisfall für die verschiedenen Staaten gegeben, und der Erste Weltkrieg nahm seinen Anfang.

Rudolf Steiner war überzeugt, daß das österreichisch-ungarische Ultimatum nicht notwendigerweise zum Ausbruch des Weltkriegs hätte führen müssen. Bis zum 25. Juli hätte der Krieg noch lokalisiert werden können, ab dem 26. Juli nahm der ganze Vorgang eine Wendung zu einem großen europäischen Konflikt, da weder



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Rußland noch Großbritannien gewillt waren, das Ganze als eine bilaterale Angelegenheit zwischen Österreich-Ungarn und Serbien zu behandeln. Aus der Sicht Rudolf Steiners ging es bis zum 25. Juli um das Recht Österreich-Ungarns auf Selbstverteidigung gegen die serbische Aggression, nach diesem Zeitpunkt um die verdeckte Durchsetzung machtpolitischer Bestrebungen der Ententemächte.

138 denn alle diese Dinge kann ich gut beweisen: Rudolf Steiner hatte sich intensiv mit den verschieden Aktensammlungen der am Kriege beteiligten Regierungen auseinandergesetzt (siehe Hinweis zu 5. 132).

138 Warum spielte denn eine Persönlichkeit wie Sazonov deutlich zwei Rollen: Nachdem der Text des österreichisch-ungarischen Ultimatums an Serbien am 24. Juli 1914 im russischen Außenministerium eingetroffen war, schien dem russischen Außenminister Sergej Dmitrievic Sazonov (siehe Hinweis zu 5. 193 in GA 173b) eine kriegerische Auseinandersetzung mit den Mittelmächten unvermeidlich. Die russische Kriegsentschlossenheit zeigte sich deutlich in den beiden Unterredungen, die Sazonov an diesem 24. Juli 1914 zunächst mit den britischen und französischen Botschaftern und anschließend mit dem österreichisch-ungarischen Botschafter führte.Zunächst bat er den britischen Botschafter Sir George Buchanan (1854-1924) zu einer gemeinsamen Unterredung mit dem französischen Botschafter in St. Petersburg, Maurice Paléologue (1859-1944). Buchanan nahm von 1910 bis 1917 die britischen Interessen in St. Petersburg wahr, Paléologue von 1914 bis 1917 die französischen. Der britische Botschafter machte dem englischen Außenminister, Sir Edward Grey, umgehend Mitteilung über den Verlauf der Unterredung (zitiert nach: Max Beer, «Das Regenbogen-Buch», Bern 1915, Kapitel «24. Juli»): «Der französische Botschafter und Herr Sazonov fuhren beide fort, in mich behufs einer Erklärung vollständiger Solidarität der Regierung Seiner Majestät mit den französischen und russischen Regierungen zu dringen, und ich sagte daher, daß ich es für möglich halte, daß sie vielleicht bereit seien, den deutschen und österreichischen Regierungen ernsthafte Vorhaltungen zu machen, indem Sie nachdrücklich betonen, daß ein Angriff Österreichs auf Serbien den gesamten europäischen Frieden gefährden würde. Vielleicht fänden Sie einen Weg, ihnen mitzuteilen, daß eine derartige Aktion Österreichs wahrscheinlich Rußlands Intervention bedeuten würde, was Frankreich und Deutschland mit hinein verwickle und daß es Großbritannien schwerfallen würde, neutral zu bleiben, wenn der Krieg allgemein würde. Herr Sazonov antwortete, wir würden früher oder später in den Krieg hineingezogen werden, wenn er ausbreche; wir würden nur den Krieg wahrscheinlicher machen, wenn wir nicht von Anfang an gemeinsame Sache mit seinem Lande und Frankreich machten; auf jeden Fall würde, so hoffe er, die Regierung Seiner Majestät ihre stärkste Mißbilligung über die von Österreich unternommene Aktion aussprechen. » Und abschließend: «Nach der Sprache des französischen Botschafters scheint es mir, daß, selbst wenn wir es ablehnen sollten, uns ihnen anzuschließen, Frankreich und Rußland entschlossen sind, eine feste Haltung einzunehmen. »

Anschließend empfing Sazonov den österreichisch-ungarischen Botschafter, Friedrich Graf von Szápáry von Szàpàr (1869-1935), von 1913 bis 1914 im Amt. Am selben Tag noch verfaßte dieser einen Bericht an den österreichisch-ungarischen Außenminister Leopold Graf von Berchtold (siehe Hinweis zu 5. 253 in GA 173b). Darin schrieb er (zitiert nach: Max Beer, «Das Regenbogen-Buch», Bern 1915, Kapitel «24. Juli»): «Der Minister des Äußeren empfing mich, indem er mir sagte, er wisse, was mich zu ihm führe, und erklärte mir gleich, daß er zu meiner Demarche keine Stellung nehmen würde. Ich begann mit der Verlesung meines Auftrages.. Der



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Minister unterbrach mich das erste Mal bei der Erwähnung der Serie von Attentaten und fragte auf meine Aufklärungen, ob denn erwiesen sei, daß diese in Belgrad ihren Ursprung hätten. Ich betonte, daß sie Ausfluss der serbischen Aufwiegelung seien. Im weiteren Verlauf der Verlesung äußerte er, er wisse, worum es sich handle: Wir wollten Serbien den Krieg machen, und dies solle der Vorwand sein. Ich replizierte, daß unsere Haltung in den letzten Jahren ein hinreichender Beweis sei, daß wir Serbien gegenüber Vorwände weder suchen noch brauchen. Die geforderten solennen Enunziationen riefen nicht den Widerspruch des Herrn Ministers hervor; er versuchte nur immer wieder zu behaupten, daß Pasic sich bereits in dem Sinne ausgesprochen habe, was ich richtigstellte. <Il dira cela 25 fois, si vous voulez> [<Er wird das 25 Mal wiederholen, wenn Sie es wünschen.>], sagte er. Ich sagte ihm, niemand wende sich bei uns gegen Serbiens Integrität oder Dynastie. Am lebhaftesten erklärte sich Herr Sazonov gegen die Auflösung der <Narodna odbrana>, die Serbien niemals vornehmen werde. » Und abschließend der Gesamteindruck Szàpàrys: «Herr Sazonov meinte, jetzt, nach dem Ultimatum, sei er eigentlich gar nicht neugierig. Er stellte die Sache so dar, als ob es uns darauf ankomme, unbedingt mit Serbien Krieg zu führen. Ich erwiderte, wir seien die friedliebendste Macht der Welt; was wir wollten, sei nur Sicherung unseres Territoriums vor fremden revolutionären Umtrieben und unserer Dynastie vor Bomben. Im Verlaufe der weiteren Erörterungen ließ Her Sazonov nochmals die Bemerkung fallen, daß wir jedenfalls eine ernste Situation geschaffen hätten. Trotz der relativen Ruhe des Herrn Ministers war seine Stellungnahme eine durchaus ablehnende und gegnerische. »

Am 29. Juli 1914 suchte Graf von Szapary den russischen Außenminister erneut auf. Noch am gleichen Tag berichtete er Graf Berchtold über den Verlauf der Audienz (zitiert nach: Max Beer, «Das Regenbogen-Buch», Bern 1915, Kapitel «29. Juli»): «Da ich vom deutschen Botschafter [Friedrich Graf von Pourtales, siehe Hinweis zu 5. 48]erfahren habe, Herr Sazonov zeige sich über Eurer Exzellenz angebliche Abgeneigtheit, Gedankenaustausch mit Rußland fortzusetzen und über vermeintlich weit über das notwendige Maß ausgedehnte und daher gegen Rußland gerichtete Mobilisierung Österreich-Ungarns sehr aufgeregt, suchte ich den Herrn Minister auf um einige mir vorhanden scheinende Unklarheiten zu beheben. Der Herr Minister begann damit zu konstatieren, daß Österreich-Ungarn kategorisch weiteren Gedankenaustausch ablehne. Ich stellte aufgrund Euer Exzellenz Telegramms vom 28. des Monats richtig, daß Euer Exzellenz es zwar abgelehnt hätten, nach allem, was vorgefallen, über die Notentexte und den österreichisch-ungarisch-serbischen Konflikt überhaupt zu diskutieren, daß ich aber feststellen müsse, in der Lage gewesen zu sein, eine viel breitere Basis des Gedankenaustausches dadurch anzuregen, daß ich erklärte, wir wünschten keine russischen Interessen zu verletzen, hätten nicht die Absicht, natürlich unter der Voraussetzung, daß der Konflikt zwischen Österreich-Ungarn und Serbien lokalisiert bleibe, serbisches Territorium an uns zu bringen und gedächten auch die Souveränität Serbiens nicht anzutasten. Ich sei überzeugt, daß Euer Exzellenz über österreichisch-ungarische und russische Interessen immer bereit sein würden, mit St. Petersburg Fühlung zu nehmen. » Darauf die Antwort von Sazonov: «Herr Sazonov meinte, in territorialer Hinsicht habe er sich überzeugen lassen, aber was die Souveränität anbelangt, müsse er den Standpunkt festhalten, die Aufzwingung unserer Bedingungen sei ein Vasallentum. Dieses aber verstoße gegen das Gleichgewicht am Balkan und letzteres sei das in Frage kommende russische Interesse. Nun kam er wieder auf die Diskussion über die Note, die Aktion Sir Edward Greys etc. [Vorschlag zur Abhaltung einer internationalen Konferenz, siehe Hinweis zu 5. 264 in GA 173b1 zurück und wollte mir neuerlich nahelegen, daß man unser legitimes Interesse zwar anerkenne und voll befriedigen wol



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le, daß dies aber in eine für Serbien annehmbare Form gekleidet werden solle. Ich meinte, dies sei kein russisches, sondern ein serbisches Interesse, worauf Herr Sazonov geltend machte, russische Interessen seien in diesem Fall eben serbische, so daß ich dem Circulus vitiosus durch Übergang auf ein anderes Thema ein Ende machte. »

139 Es wird zum Beispiel die Schuld der deutschen Regierung an dem Kriege konstruiert: Ein Vertreter dieser Richtung war zum Beispiel der englische Historiker John William Allen (1865-1945), von 1891 bis 1926 Dozent für mittelalterliche und moderne Geschichte an der Universität London; den vollen Professorenrang hatte er trotz seiner langjährigen Lehrtätigkeit nie erhalten. Er lehrte an einer besonderen Abteilung der Londoner Universität - am Bedford College, das damals nur Frauen offenstand und ihnen den Zugang zu einer akademischen Ausbildung ermöglichen sollte. In den ersten Kriegsjahren nahm er eine betont antideutsche Haltung ein; er verurteilte den in seinen Augen verabscheuungswürdigen deutschen Militarismus schärfstens. In seiner Schrift «Germany and Europe» (London 1914) zeigt er sich völlig überzeugt von der deutschen Alleinschuld am Krieg (Chapter II, «Germany»): «Der unmittelbare Grund des gegenwärtigen Krieges war das Vorgehen der deutschen kaiserlichen Regierung in gewissen klar definierten Situationen. Aber hinter dieser Aktion und hinter der Antwort der Deutschen auf den Appell ihrer Regierung steht die Geistesverfassung des deutschen Volkes. Diese Geistesverfassung scheint darin zu gipfeln, was man grob gesprochen als Wille zum Krieg beschreiben kann und was als der wahre Grund des Krieges betrachtet werden muß.»' Und weiter (Kapitel III, «The Coming of the War»): «Deutschland allein hat diesen Krieg verursacht. Deutschland selbst, so wie es konstituiert und organisiert ist, wie es regiert wird, ist der Grund des Krieges. Wenn der Krieg tatsächlich unvermeidlich war - warum war das so? Es ist Deutschland mit seinen antiquierten Ideen, seiner stupid brutalen Regierung, seiner Blindheit gegenüber dem, was heute der politische Fortschritt Europas erfordert, das Europa dazu gezwungen hat, sich zu bewaffnen und fortlaufend weiter aufzurüsten seit 1870. Der Krieg ist die logische Folge einer Situation, die Deutschland herbeigeführt hat. Ganz Europa erntet jetzt, was Deutschland gesät hat.» 2 Eine Mitverantwortung der Ententemächte am Ausbruch des Krieges schließt er völlig aus (Chapter II, «Germany»): «Es ist kaum nötig, die kürzlich aufgetauchte Theorie auch nur zu erwähnen, wonach der Krieg das Resultat einer Art Verschwörung zwischen England, Frankreich und Rußland ist. Einen eindeutigen Beweis, daß das nicht so ist, kann man darin sehen, daß alle drei relativ unvorbereitet für den Krieg waren. »3



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Diese Überzeugung von einer deutschen Alleinschuld vertraten auch die Staatsmänner der Entente. So erklärte sich zum Beispiel der russische Außenminister Sazonov (siehe Hinweis zu 5. 193 in GA 173b) in einem Gespräch, das er nach der Rede des deutschen Reichskanzlers vom 5. Juni 1916 im Reichstag (siehe Hinweis zu 5. 47) einem Journalisten gewährte, von der Alleinschuld Deutschlands am Kriegsausbruch überzeugt. Sazonov zu den Ausführungen Theobald Bethmann Hollwegs (zitiert nach: «Zur Vorgeschichte des Krieges», in: «Basler Nachrichten» vom 2. Juli 1916, 72. Jg. Nr. 332): «Unter anderem habe der Reichskanzler erklärt, England, Frankreich und Rußland seien durch ein Bündnis gegen Deutschland eng miteinander verbunden gewesen. Nun müsse der Kanzler bestimmt wissen, wie übrigens jeder einigermaßen unterrichtete Europäer, daß vor dem Kriege Rußland, Frankreich und England durch keinerlei Abmachung verbunden waren. Immerhin habe er, Sazonov, von jeher die bestimmte Überzeugung gehabt, daß, wenn Deutschland zur Sicherung seiner Vorherrschaft in Europa einen Krieg beginnen sollte, England sich unfehlbar gegen Deutschland wenden würde.» Außerdem habe der Kanzler behauptet, «Frankreich und Rußland würden nie gewagt haben, Deutschland entgegenzutreten, wenn sie nicht des Beistandes Englands sicher gewesen wären. Dennoch sei dem jedoch so gewesen, obwohl der Kanzler dies nicht haben wolle. Trotz ihrer durchaus friedlichen Gesinnung und trotz aufrichtigem Wunsche, ein Blutvergießen zu vermeiden, seien Frankreich und Rußland entschlossen gewesen, Deutschland für seine Anmaßung zu züchtigen. Die deutsche Politik habe dann zur Folge gehabt, daß die Triple-Entente, die lange Zeit ohne bestimmte materielle Form geblieben sei, zu einem machtvollen politischen Bündnisse wurde mit dem Zwecke des Schutzes von Recht und Interessen seiner Mitglieder unter Wahrung des Friedens in Europa. » Und weiter: «Immerhin wolle er, Sazonov, zugeben, daß der deutsche Kanzler den Krieg weder wünsche noch sein direkter Urheber sei; mit um so größerer Deutlichkeit stelle sich dann aber heraus, daß zahlreiche Persönlichkeiten aus der Umgebung des Kanzlers den Krieg eifrig wünschten. Sazonov hat die feste Überzeugung, daß das Ultimatum an Serbien unter dem direkten Einfluß eines hervorragenden deutschen Diplomaten [des deutschen Botschafters Heinrich von Tschirschky]zustande kam und daß es mit Zustimmung sowohl des deutschen Kaisers wie des Chefs der deutschen Politik an Serbien abging. Bethmann Hollweg (siehe Hinweis zu 5. 126 in GA 173b) sei eben in seinem eigenen Hause nicht mehr Meister gewesen. »

Heinrich von Tschirschky und Bögendorff (1858-1916) wirkte von 1907 bis 1916 als deutscher Botschafter in Wien, nachdem er für kurze Zeit, das heißt vom Januar 1906 bis Oktober 1907, als Staatssekretär des Auswärtigen Amtes für die gesamte deutsche Außenpolitik verantwortlich gewesen war. Zur Haltung von Tschirschkys bemerkt der österreichische Diplomat und zeitweilige Außenminister Ottokar Graf Czernin von und zu Chudenitz (1872-1932) in seinen Erinnerungen «Im Weltkriege» (Berlin/Wien 1919, I. Kapitel, «Einleitende Betrachtungen», Abschnitt «Die eigenen Demarchen des Herrn von Tschirschky»): «Ich unterscheide absichtlich zwischen deutscher Regierung und deutscher Botschaft, weil ich den Eindruck habe, daß Herr von Tschirschky verschiedene Demarchen unternommen hat, ohne hierfür beauftragt worden zu sein, und wenn ich früher gesagt habe, nicht alle Botschafter sprachen, wie ihre Regierungen wollten, so meinte ich damit Herrn von Tschirschky, dessen ganzem Wesen und Temperament es entsprach, mit einer gewissen Vehemenz und nicht immer in der taktvollsten Weise in unsere Angelegenheiten hineinzusprechen und die Monarchie <aus dem Schlafe zu rütteln>. Es ist gar kein Zweifel, daß die ganzen privaten Reden des Herrn von Tschirschky zu dieser Zeit auf den Tenor gestimmt waren. <Jetzt oder nie!> Und es ist sicher, daß



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der deutsche Botschafter seine Meinung dahin erklärte, <im jetzigen Augenblicke sei Deutschland bereit, unseren Standpunkt mit aller moralischen und militärischen Macht zu unterstützen - ob dies in Zukunft noch der Fall sein werde, wenn wir die serbische Ohrfeige einsteckten, schiene ihm zweifelhafte. Ich glaube, daß speziell Tschirschky von der Überzeugung durchdrungen war, daß Deutschland in der allernächsten Zeit einen Krieg gegen Frankreich und Rußland werde durchkämpfen müssen und daß er das Jahr 1914 hierfür für günstiger hielt als eine spätere Zeit, und zwar deshalb, weil er erstens weder an die Schlagfertigkeit Rußlands und Frankreichs glaubte und weil er zweitens - und dies ist ein sehr wichtiger Punkt - überzeugt war, daß er die Monarchie jetzt mit in den Krieg hineinziehen könne und werde, während es ihm zweifelhaft schien, ob der alte friedfertige Kaiser Franz Joseph bei einer anderen Gelegenheit, wo er weniger im Mittelpunkte des Angriffes stehe, für Deutschland das Schwert ziehen werde. Er wollte also den serbischen Zwischenfall benutzen, um Österreich-Ungarns in dem entscheidenden Kampfe sicher zu sein. Das war aber seine Politik und nicht die Bethmanns. » Es scheint, daß Bethmann Hollweg nur ungenügend über die Rolle eines Scharfmachers, die von Tschirschky in Wien gespielt hatte, im Bilde war.

Das gilt auch für Rudolf Steiner, der zu diesem Zeitpunkt von solchen Eigenmächtigkeiten von deutscher Seite offensichtlich nichts wußte. Er gehörte aber nicht zu den Unterzeichnern des «Aufrufes an die Kulturwelt» vom 4. Oktober 1914, der von vielen maßgebenden Vertretern des deutschen Kulturlebens veröffentlicht worden war. In diesem Aufruf heißt es (zitiert nach: Hermann Kellermann, Der Krieg der Geister. Eine Auslese deutscher und ausländischer Stimmen zum Weltkriege, Weimar o. J. [1915], 2. Kapitel, «Der Krieg der Gelehrten und der Aufruf an die Kulturwelt»): «Wir als Vertreter deutscher Wissenschaft und Kunst erheben vor der gesamten Kulturwelt Protest gegen die Lügen und Verleumdungen, mit denen unsere Feinde Deutschlands reine Sache in dem ihm aufgezwungenen schweren Daseinskampfe zu beschmutzen trachten.» Und weiter: «Gegen sie erheben wir laut unsere Stimme. Sie soll die Verkünderin der Wahrheit sein. Es ist nicht wahr, daß Deutschland diesen Krieg verschuldet hat. Weder das Volk hat ihn gewollt noch die Regierung noch der Kaiser. Von deutscher Seite ist das äußerste geschehen, ihn abzuwenden. Dafür liegen der Welt die urkundlichen Beweise vor. Oft genug hat Wilhelm II. in den 26 Jahren seiner Regierung sich als Schirmherr des Weltfriedens erwiesen; oft genug haben selbst unsere Gegner dies anerkannt. Ja, dieser nämliche Kaiser, den sie jetzt einen Attila zu nennen wagen, ist jahrzehntelang wegen seiner unerschütterlichen Friedensliebe von ihnen verspottet worden. Erst als eine schon lange an den Grenzen lauernde Übermacht von drei Seiten über unser Volk herfiel, hat es sich erhoben wie ein Mann. »

Nach dem deutschen Zusammenbruch und der Abdankung des deutschen Kaisers Wilhelm II. äußerte sich Rudolf Steiner sehr kritisch über das kaiserliche Regime in Deutschland (siehe Hinweis zu 5. 268 in GA 173b). So sagte er zum Beispiel im Dornacher Diskussionsabend vom 19. Juli 1920 (in GA 337b): «Wer hat denn da regiert? Etwa Wilhelm II.? Der hat wahrhaftig nicht regieren können, sondern es hat sich gehandelt darum, daß eine gewisse Militärkaste da war, welche die Fiktion aufrechterhalten hat, daß dieser Wilhelm II. etwas bedeute - er war ja nur ein Figurant mit Theater- und Komödienallüren, der allerlei Zeug der Welt komödienhaft vormachte. Es war eine Art Theaterspiel, aufrechterhalten durch eine Militärkaste, die nun nicht gerade aus bloßer <Nature und aus <freiwilligem Unterordnen und Vertrauen>heraus, sondern aus ganz etwas anderem heraus handelte, aus allen möglichen alten Gewohnheiten, Bequemlichkeiten, aus der Anschauung, daß es eben so sein muß eine Anschauung, die aber nicht sehr tief in der Menschenbrust wurzelte. »



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139 niemals der Gesichtspunkt der Lokalisierung: Am 23. Juli 1914 berichtete der britische Außenminister Sir Edward Grey seinem Botschafter in Wien, Sir Maurice de Bunsen (1852 —1 932), über den Inhalt einer Unterredung mit dem österreichischen Botschafter in London, Albert Graf von Mensdorff-Pouilly-Dietrichstein (1861— 1945). Auf dessen Erklärung, Österreich gedenke, an Serbien ein Ultimatum zu stellen, habe er geantwortet, man müsse alles unternehmen, um einen mäßigenden Einfluß auf Rußland auszuüben. Grey (zitiert nach: Max Beer, «Das Regenbogen-Buch», Bern 1915, Kapitel «23. Juli»): «Ich hatte geantwortet, daß das Maß des Einflusses, den man in diesem Sinne in Petersburg ausüben könnte, von der Vernunft der österreichischen Forderungen und der Kraft der Beweise, die Österreich entdeckt haben möchte, abhinge. Die möglichen Folgen der gegenwärtigen Lage wären schrecklich. Wenn etwa vier Großmächte -sagen wir Österreich, Frankreich, Rußland und Deutschland -in einen Krieg verwickelt wären, schiene mir, daß das eine große Summe Geldes erfordere und eine derartige Störung des Handels, daß ein Krieg einen vollständigen Zusammenbruch des europäischen Kredites und der europäischen Industrie mit sich bringen oder nach sich ziehen müsse. » Und: «Graf Mensdorff wandte gegen diese Darstellung der möglichen Folgen der gegenwärtigen Lage nichts ein, aber sagte, daß alles von Rußland abhinge. Ich machte die Bemerkung, daß in einer schwierigen Zeit wie dieser es ebenso wahr sei, daß zwei zum Frieden gehören wie daß zwei zum Streite gehören. Ich hoffte sehr, daß, wenn Schwierigkeiten entstünden, Österreich und Rußland in der Lage wären, in erster Instanz über die Schwierigkeiten direkt miteinander zu verhandeln. Graf Mensdorff sagte, er hoffe, daß dies möglich sein würde, aber er stand unter dem Eindrucke, daß St. Petersburg kürzlich nicht eine sehr günstige Haltung eingenommen habe. » Dazu die Randbemerkung von Max Beer: «Grey interessiert sich nicht für den österreichisch-serbischen Streitfall, sondern nur für die europäische Seite der Angelegenheit und die Wirkung in Rußland. »

140 Österreich das bindende Versprechen abgab, kein serbisches Territorium zu erobern. Am 25. Juli 1914 schickte der österreichisch-ungarische Außenminister, Leopold Graf von Berchtold, eine telegraphische Instruktion an seinen Botschafter in St. Petersburg, Friedrich Graf von Szapary von Szàpâr (zitiert nach: Max Beer, «Das Regenbogen-Buch», Bern 1915, Kapitel «25. Juli»): «In dem Augenblicke, wo wir uns zu einem ernsten Vorgehen gegen Serbien entschlossen haben, sind wir uns natürlich auch der Möglichkeit eines sich aus der serbischen Differenz entwickelnden Zusammenstosses mit Rußland bewußt gewesen. Wir konnten uns aber durch diese Eventualität nicht in unserer Stellungnahme gegenüber Serbien beirren lassen, weil grundlegende staatspolitische Konsiderationen uns vor die Notwendigkeit stellten, der Situation ein Ende zu machen, daß ein russischer Freibrief Serbien die dauernde, ungestrafte und unstrafbare Bedrohung der Monarchie ermögliche. » Und weiter. «Es gibt aber ein Moment, das seinen Eindruck auf den russischen Minister des Äußeren nicht verfehlen kann, und das ist die Betonung des Umstandes, daß die österreichisch-ungarische Monarchie, dem von ihr seit Jahrzehnten festgehaltenen Grundsatze entsprechend, auch in der gegenwärtigen Krise und bei der bewaffneten Austragung des Gegensatzes zu Serbien keinerlei eigennützige Motive verfolgt. Die Monarchie ist territorial saturiert und trägt nach serbischem Besitz kein Verlangen. Wenn der Kampf mit Serbien uns aufgezwungen wird, so wird dies für uns kein Kampf um territorialen Gewinn, sondern lediglich ein Mittel der Selbstverteidigung und Selbsterhaltung sein. »Am 26. Juli 1914 telegraphierte der deutsche Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg seinem seit 1910 in Paris amtierenden Botschafter, Wilhelm Freiherr



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von Schoen (1851-1 933)— er war vom Oktober 1907 bis Juni 1910 Staatssekretär des Auswärtigen Amtes und damit deutscher Außenminister gewesen (zitiert nach: Max Beer, «Regenbogen-Buch, Bern 1915, Kapitel «26. Juli»): «Nachdem Österreich-Ungarn Rußland offiziell erklärt hat, daß es keinen territorialen Gewinn beabsichtige, den Bestand des Königreiches nicht antasten wolle, liegt die Entscheidung, ob ein europäischer Krieg entstehen soll, nur bei Rußland, das die gesamte Verantwortung zu tragen hat. Wir Vertrauen auf Frankreich, mit dem wir uns in dem Wunsche um die Erhaltung des europäischen Friedens eins wissen, daß es in Petersburg seinen Einfluss in beruhigendem Sinne geltend gemacht wird. »

140 Warum wird es sogleich die Aufgabe derer: Am 29. Juli 1914 zum Beispiel schrieb Sir Edward Grey an den britischen Botschafter in Berlin, Sir Edward Goschen, nachdem ihm dieser von den Bemühungen berichtet hatte, die der deutsche Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg für die Erhaltung des Friedens unternommen hatte (zitiert nach: Max Beer, «Das Regenbogen-Buch», Bern 1915, «29. Juli»): «Ich schätze sehr die Ausführungen des Reichskanzlers, welche Sie mir in Ihrem heutigen Telegramm übermittelten. Seine Exzellenz kann sich darauf Verlassen, daß unser Land wie bisher fortfahren wird, jede Anstrengung zur Sicherung des Friedens zu machen und das von allen gefürchtete Unglück zu Verhindern. Wenn er Österreich-Ungarn bewegen kann, Rußland zufriedenzustellen und davon zurückzuhalten, daß es bis zu einem Zusammenstoß kommt, werden wir uns alle in tiefer Dankbarkeit gegen Seine Exzellenz für die Erhaltung des europäischen Friedens einig sein.»

140 was ich gestern charakterisiert habe als die Furcht. Im Vortrag vom 10. Dezember 1916 (in diesem Band) hatte Rudolf Steiner auf die damalige zwischen den Völkern und den Menschen herrschende Furchtaura hingewiesen.

141 eine mächtige, einflußreiche Gruppe von Menschen. Rudolf Steiner stützte sich zum Teil auf den deutschen Historiker Paul Herre, der in seiner Schrift «Weltpolitik und Weltkatastrophe» (Berlin 1916) angesichts des englisch-französischen Zusammengehens aufgrund der Vereinbarungen vom 8. April 1904 schreibt (Kapitel «Die Einkreisung Deutschlands»): «Die Reichsregierung erkannte bald, daß es sich bei diesen Bestrebungen um einen gegen das Dasein Deutschlands als Weltmacht schlechthin gerichtete Politik handelte, und suchte die englische Staatsleitung wegen ihres Zusammen gehens mit der revanchelüsternen Republik zu sondieren, um volle Klarheit zu gewinnen und vielleicht für eine Besserung der deutsch-englischen Beziehungen geeignete Grundlagen zu schaffen. Es gab schon zu denken, daß Grey [siehe Hinweis zu 5. 206]auf die klare Frage, ob er freundliche Beziehungen zu Deutschland mit der neuen Freundschaft mit Frankreich für vereinbar halte, die ausreichende Antwort gab, das hänge von der deutschen Politik ab. Einen Monat später sprach sich der König [Edward VII., siehe Hinweis zu 5. 141] selbst dann ganz offen zu einem deutschen Staatsmann aus, der die Beseitigung der etwa vorhandenen Reibungsflächen zwischen den beiden Großmächten anregte. <Es gibt keine Friktionen zwischen uns, es besteht nur Nebenbuhlerschaft.>Durch die entscheidende Persönlichkeit war damit kundgetan, daß in der englischen Regierung die Auffassung bestand, es handle sich zwischen Deutschland und England um einen Gegensatz, der in den allgemeinen Verhältnissen liege und ausgetragen sein wolle. »Hatte sich Großbritannien außenpolitisch bisher dem Grundsatz der Bündnisfreiheit, der sogenannten «splendid isolation» verschrieben, so zeichnete sich mit dem Beginn des 20. Jahrhunderts, dem Amtsantritt von Außenminister Lansdowne



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(siehe Hinweis zu S. 233) eine klare Wende ab -Großbritannien befand sich damals noch mitten im Burenkrieg (siehe Hinweis zu S. 46). Diese Wende zeigt sich deutlich am Beispiel der «National Review», die von dem englischen Publizisten Leo Maxse herausgegebenen wurde (siehe Hinweis zu S. 234). So erschien im März 1901 ein Aufsatz von Sir Rowland Blennerhassett, in dem er entschieden für eine Annäherung Großbritanniens an Rußland eintrat (siehe Hinweis zu 5. 101 in GA 173b). Ein paar Monate später, im November 1901, wurde ein weiterer Aufsatz veröffentlicht, in dem unter dem Titel «British Foreign Policy» vor der Bildung einer gegen Großbritannien gerichteten russisch-deutschen Kontinentalliga gewarnt wurde und eine Annäherung an Rußland als dringliches Ziel der britischen Außenpolitik bezeichnet wurde. So hieß es dort: «Wenn Rußland zu uns kommen will, werden wir ihm herzlich und auf mindestens halbem Wege entgegenkommen. Wenn sich jedoch Rußland oder Frankreich oder auch beide entschließen würden, sich mit Deutschland zu verbünden, um uns die Herrschaft über die Weltmeere zu entreissen und unsere Vorherrschaft durch die Deutschlands zu ersetzen, wird England sich ihnen zu widersetzen wissen. »1 Die Verfasser dieses Aufsatzes werden namentlich nicht genannt, sondern bloß mit den ersten drei Buchstaben des Alphabets bezeichnet, weshalb dieser Aufsatz als «ABC»-Memorandum in die Geschichte eingegangen ist. Heute vermutet man, daß Sir Edward Grey an der inhaltlichen Formulierung dieses Aufsatzes mitgearbeitet hat.

Am 21. Oktober 1905, kurz vor seiner Ernennung zum britischen Außenminister, hielt Grey in der Londoner City vor Anhängern der Freihandelsidee eine Rede, die sogenannte «City-Rede», in der er Stellung zu den künftigen Grundsätzen der britischen Außenpolitik bezog. Zunächst trat er für freundschaftliche Beziehungen mit den Vereinigten Staaten, Japan und Frankreich ein. Dann kam er auf Rußland zu sprechen (zitiert nach: George Macaulay Trevelyan, Sir Edward Grey. Sein Leben und sein Werk. Eine Grundlegung englischer Politik, Essen 1938, Erstes Buch, 5. Kapitel): «Wenn Rußland freundlich und rückhaltlos unsere Absicht, den friedlichen Besitz unserer bestehenden asiatischen Besitzungen zu erhalten, hinnimmt, dann bin ich ganz sicher, daß bei uns keine Regierung etwas unternehmen wird, die Politik Rußlands in Europa zu durchkreuzen oder zu hindern. Im Gegenteil, es ist dringend erwünscht, daß Rußlands Einfluß im Rat Europas wiederhergestellt werden sollte. Die Entfremdung zwischen uns und Rußland hat nach meiner Meinung ihre Wurzeln nicht in der Gegenwart, sondern einzig in der Vergangenheit. Es mag sein, es muß vielleicht so sein, daß Vertrauen zwischen zwei Ländern eine langsam wachsende Pflanze sein muß, aber die Bedingungen sollten für ihr Wachstum günstig sein, und es sollte Aufgabe beider Regierungen sein, diese Beziehungen zu pflegen. » Und in bezug auf Deutschland meinte er: «Ich bin dessen sicher, daß, wenn eine Besserung unserer Beziehungen zu Deutschland gewünscht wird -ich meine nicht in den Beziehungen der britischen und der deutschen Regierung, weil, soweit mir bekannt ist, diese völlig korrekt sind, sondern eine Besserung zwischen der Presse und der öffentlichen Meinung der beiden Länder -, wenn in Deutschland dafür ein Wunsch besteht, er in diesem Lande keinem Hindernis begegnen wird, wohlverstanden unter der Voraussetzung, daß nichts, was in unseren Beziehungen zu Deutschland geschieht, in irgendeiner Weise unsere bestehenden guten Beziehungen zu Frankreich beeinträchtigt. »



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In seiner Vorlesungsreihe «Germany and England» (London/New York 1914) äußerte sich der englische Historiker John Adam Cramb (siehe Hinweis zu S. 159 in GA 173b) auch zum Grundmotiv jeder englischen Außenpolitik (Lecture II, «Peace and War», Part II, «The Ideal Element in War and in England's War for Empire»): «Im 19. Jahrhundert gab es eine lange Reihe von Kriegen in allen Teilen der Welt -auf der Krim, in Indien und Afghanistan, in China, in Neuseeland, in Ägypten, in West- und Südafrika -, so daß man ohne Übertreibung sagen kann, daß es alle diese Jahre hindurch kaum je einen Sonnenuntergang gab, der nicht auf das Antlitz eines im Kampf getöteten Engländers schien -gestorben für England! Und wofür wurden diese Kriege geführt? Kann man irgendeine ihnen zugrundeliegende leitende Idee entdecken, die sie vom ersten bis zum letzten beherrschte? Ich sage es kurz und bündig: Es gibt eine solche Idee, und es ist die Idee des Empire. Alle Kriege, die England in den letzten fünfhundert Jahren geführt hat, dienten der Errichtung des Empire. »1

Und dieses Empire konnte nur von einer Koalition von europäischen Festlandmächten bedroht werden. Der amerikanische Geopolitiker Homer Lea (siehe Hinweis zu S. 101 in GA 173b) faßte die grundsätzliche Bedrohungssituation in seiner Schrift «Des Britischen Reiches Schicksalsstunde» (Berlin 1913) zusammen (Erstes Buch, III. Kapitel, «Die Angelsachsen und Amerika»): «Heute dagegen, wo die europäische Expansion nach der westlichen Halbkugel eine rassische Expansion ist, zeigt sich eine neue Gefahr in Gestalt der Beherrschung der beiden Amerikas durch ein europäisches Festlandvolk oder durch eine Koalition von mehreren. Das Ergebnis davon wird die Zurückdrängung der angelsächsischen Rasse bedeuten und ihre politische Ausschaltung auf der westlichen Halbkugel. Die Sicherheit des britischen

Weltreiches auf der westlichen Halbkugel hängt von der Dauer des militärischen und politischen Gleichgewichts in Europa ab. Die Sicherheit der angelsächsischen Rasse in ihrer beherrschenden Durchdringung der westlichen Halbkugel hängt, so seltsam es erscheinen mag, von denselben Faktoren ab. » Die große Gefahr sieht Lea von drei mächtigen Nationen kommen (Zweites Buch, IX. Kapitel, «Die Angelsachsen und Europa»): «Es gibt nur drei Nationen, nämlich Japan, Rußland und Deutschland, welche als Teile einer gegen das britische Weltreich gerichteten Koalition im Verhältnisse zu ihren Anstrengungen und zu ihrem Risiko einzeln und zusammen auf ihre Kosten kommen können. » Eine Koalition zwischen drei Staaten betrachtet Lea durchaus als eine realpolitische Möglichkeit, denn (gleicher Ort): «Die Politik dieser drei Nationen untereinander wird in ihren vitalen Interessen erst nach der Vernichtung des britischen Reiches in Konflikt miteinander zu kommen brauchen, da von vornherein die Radiallinien ihrer politischen und geographischen Expansion gegen die Herrschaftsgebiete der angelsächsischen Rasse gerichtet sind. » Besonders auch in der Expansion Deutschlands sieht er eine große Gefahr für die angelsächsische Weltherrschaft (Erstes Buch, X. Kapitel, «Die Angelsachsen und die Deutschen»): «Die germanische Einigung hat bis jetzt drei Sphären unberücksichtigt gelassen: Dänemark, die Niederlande und Österreich. Diese sind strategisch, politisch und wirtschaftlich für seine Große als Weltmacht von größerer Bedeutung



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als alle anderen von ihm abhängigen Staaten. Erst wenn sie sich dem deutschen Staatenbunde angeschlossen haben, wird die Welt sich gebührende Rechenschaft von der deutschen Macht geben. [...] Wenn Deutschland es fertigbringt, die rassischen Elemente zu vereinigen, welche die teutonische Macht in Europa darstellen, so wird das britische Weltreich sich völlig außerhalb der Sphäre europäischer Politik sehen und außerstande sein, eine Koalition gegen das militärische und politische Deutschland zu bilden oder bei seiner Vernichtung zu helfen. »

141 Bis 1908, vielleicht sogar bis 1909 gab es in England noch immer weite Kreise: Die britische Außenpolitik war traditionell gegen den Erwerb der von der Türkei kontrollierten Meerengen durch Rußland gerichtet. Diese Haltung führte schließlich am 28. März 1854 zur englischen Kriegserklärung an Rußland, da es seine Interessen durch das Vorrücken der russischen Truppen gegen die Meerengen gefährdet sah. Der Krim-Krieg endete mit der Niederlage Rußlands. Am 30. März 1856 wurde der Frieden von Paris geschlossen, in dem die territoriale Integrität der Türkei von den Mächten anerkannt wurde. Die umstrittenen Meerengen blieben unter der vollen türkischen Souveränität.Auch als nach der formellen Annexion Bosnien-Herzegovinas durch Österreich-Ungarn der russische Außenminister Izvolskij (siehe Hinweis zu S. 141) am 8. Oktober in London eintraf, um zumindest die Öffnung der Meerengen für Rußland zu erreichen, blieb Grey ablehnend. Sir Edward Grey umriß seine Haltung in seiner Depesche vom 12. Oktober 1908 an den britischen Botschafter in Rußland, Sir Arthur Nicolson (zitiert nach: Memoiren von Lord Edward Grey, Fünfundzwanzig Jahre Politik 1892-1916, München 1926, Band I, 11. Kapitel, «Die zweite Krise (Bosnien und die Herzegovina»): «Wenn wir einer einseitigen Regelung zustimmten, die nach dem Urteil der Leute hier eine Verstärkung unserer Seestreitkräfte im Mittelmeer nach sich ziehen müßte und einen internationalen Vertrag in einer Art abänderten, die Rußland sehr viele Vorteile, uns aber nur ersichtliche Nachteile brächte, ohne irgend etwas dafür zu verlangen, so hieße dies ein Zugeständnis machen, wie wir es hier derzeit nur mit größten Schwierigkeiten vertreten könnten. » Was die Forderung Izvolskijs beinhaltete, faßte Grey zwei Tage später in einer weiteren Depesche an Nicholson zusammen (gleicher Ort): «Sein Vorschlag an die Türkei würde dahin lauten, daß Kriegsschiffen der Ufermächte des Schwarzen Meeres das Recht zur Durchfahrt durch die Meerengen zugestanden werden möge. Es könnten Bestimmungen getroffen werden, daß nicht mehr als drei Fahrzeuge auf einmal passieren und daß vierundzwanzig Stunden lang keine weiteren Schiffe die Engen durchfahren dürften. Solche Bestimmungen hätten natürlich nur Geltung, wenn die Türkei sich im Frieden befände. In Kriegszeiten könnte die Türkei machen, was sie wolle. Mit anderen Worten. Die Sperre der Meerengen würde mit Ausnahme einer derart beschränkten Benützungsmöglichkeit für Rußland und die Uferstaaten aufrecht bleiben. »

Bei vielen Briten stieß der geplante britisch-russische Kolonialausgleich auf Unverständnis. So konnte man zum Beispiel in einem Leitartikel lesen - er war vermutlich von Alfred Orage (1873-1934) verfaßt und erschien in der angesehenen Zeitschrift «The New Age. An Independent Socialist Review of Politics, Literature and Art» vom 4. Juli 1907 (No. 669, New Series Vol. J. No. 10): «Ist es zu spät, unsere nationale Ehre vor einem ungeheuerlichen Betrug zu bewahren? Diese Frage müssen sich alle anständigen Engländer stellen, wenn sie Sir Edward Greys Bestätigung der Gerüchte über ein englisch-russisches Abkommen lesen. Es ist ein einzigartiger Fehler unserer demokratischen Institutionen, daß nicht einmal das Parlament eine Kontrolle hat über die höchst lebenswichtigen aussenpolitischen



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Entscheidungen über Allianzen und Kriege, die die Exekutive allein in eigener Verantwortung fällt.»' Und die britische Schriftstellerin und Mitbegründerin der Fabian Society, Edith Bland-Nesbit (1858 —1 924), veröffentlichte im gleichen Organ unter dem Titel «The Anglo-Russian Alliance» einen Appell an die Leserschaft mit der Aufforderung zum Protest. Sie begründete ihre Haltung mit den Worten: «Die ständigen Gerüchte über eine geplante Allianz mit der russischen Regierung verursachen Bestürzung und Besorgnis bei den anständigen Menschen jeder politischen Richtung. Eine Allianz mit der russischen Regierung bedeutet schlichtweg eine Allianz mit Machthabern, die keine Skrupel hatten, ihre Macht zu miß brauchen, um mit jeder Art von abscheulicher Grausamkeit das Volk ihres Landes zu unterdrükken. Wir Engländer haben Redefreiheit, eine freie Presse, ein freies Parlament, eine freie Justiz -persönliche und politische Freiheit. Das russische Volk hat nichts davon. Seine Anstrengungen, auf friedlichem Wege das zu erreichen, wofür unsere Vorväter gestorben sind, um es für uns zu gewinnen, wurden vereitelt durch Inhaftierung, Verbannung und Exekution - ohne Prozeß oder mit einem Prozeß, der bitterste Verhöhnung war. Müssen wir Sir Edward Grey gestatten, freundschaftliche Bande mit solch einer Regierung zu knüpfen?» 2

141 dem König Eduard VII.: Der englische König Eduard (Edward) VII. (1841-1910) war der älteste Sohn von Königin Victoria und Prinz Albert von Sachsen-Coburg-Gotha und damit Thronfolger. Er mußte aber fast 60 Jahre warten, bis er den englischen Thron besteigen konnte. Nach dem Tode seiner Mutter regierte Eduard VII. vom Januar 1901 bis Mai 1910. Bis zu seinem Herrschaftsantritt hatte er sich vor allem einen Namen durch seine weltlichen Neigungen und seine zahllosen Liebesabenteuer gemacht, was seinen königlichen Eltern große Sorge bereitete. Das war aber nur die eine Seite von Eduard VII. Auf der anderen Seite war er weltgewandt - er sprach fließend Deutsch und Französisch - und verfügte über ein gutes diplomatisches Geschick. Eduard VII. war vor allem an außenpolitischen und militärischen Fragen interessiert. 1868 war er in Stockholm durch König Karl XV. von Schweden in eine Freimaurerloge aufgenommen worden. Er wurde dann Mitglied von verschiedenen englischen Logen. Von 1874 an wirkte er als Großmeister der «United Grand Lodge of England». Er verlieh der englischen Freimaurerei einen neuen Aufschwung, und unter seiner Leitung entstanden zahlreiche neue Logen. Zum König geworden, legte er allerdings sein Amt nieder.Durch seine Mutter und seinen Vater sowie durch seine Frau, Prinzessin Alexandra von Dänemark aus dem Hause Glücksburg (1844-1925), war er mit zahlreichen Mitgliedern des europäischen Hochadels verwandt. So war er zum Beispiel der



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Onkel von Kaiser Wilhelm II. und Zar Nikolaus II.; er war der Schwiegervater von König Haakon VII. von Norwegen und der Schwager von König Georgios J. von Griechenland und König Frederik VIII. von Dänemark. Er war der Cousin von König Albert J. von Belgien, der Könige Carlos J. und Manuel II. von Portugal, von König Ferdinand J. von Bulgarien sowie von Königin Wilhelmina der Niederlande. Während er sich mit seiner Verwandtschaft im allgemeinen gut verstand, waren die Beziehungen zu Kaiser Wilhelm II. eher gespannt. In Eduards Regierungszeit fiel die Umorientierung der englischen Außenpolitik: Die Politik der «splendid isolation» wurde zunehmend aufgegeben zugunsten einer Annäherung an Frankreich und Rußland (Entente cordiale von 1904 mit Frankreich und Kolonialausgleich von 1907 mit Rußland, siehe Hinweis zu 5. 173).

Zum politischen Einfluß von König Eduard bemerkte Sir Edward Grey in seinen Erinnerungen (zitiert nach: Memoiren von Lord Edward Grey, Fünfundzwanzig Jahre Politik 1892-1916, München 1926, J. Band, 12. Kapitel, «König Eduard und die äußere Politik»): «In den Unterhaltungen zeigte er gerne, daß er über alles gut unterrichtet war und alles verfolgt hatte, doch machte er nur kurze Bemerkungen. Er liebte nicht lange Diskussionen über politische Möglichkeiten, obgleich er in jedem konkreten Fall ein gutes Urteil und klare Vernunft bewies. Es wäre ein Fehler, daraus auf Gleichgültigkeit gegenüber der Richtung unserer äusseren Politik zu schliessen. Man muß sich vor Augen halten, daß diese schon vor 1905, also ehe ich ins <Foreign Officer kam, festgelegt war. Meinem Eindruck nach hatte er an sich dasselbe erlebt, was so viele von uns durchgemacht hatten. Die Abhängigkeit von Deutschland und die wiederholten Streitigkeiten mit Frankreich und Rußland waren ihm unbehaglich geworden. Er hegte den festen Wunsch nach einer Freundschaft mit diesen beiden Ländern. Hätten seine Minister dieser Politik entgegengehandelt, so würde er ihnen, wie ich glaube, klar gemacht haben, daß ihm ihr Vorgehen nicht passe und er es für unklug halte. Da das nicht der Fall war, ließ er keinen Zweifel daran aufkommen, daß er die von uns gemachte Politik von Herzen billigte. Doch niemals machte er eine Andeutung, daß dieser Politik eine Spitze gegen Deutschland gegeben werden sollte. »

141 ein Ereignis eingetreten, welches in wenigen Monaten vieles geändert hat. Gemeint ist die Annexion Bosnien-Herzegovinas und die daraus sich ergebende Annexionskrise, die Europa an den Rand eines großen Krieges brachte. Einen Tag, nachdem sich Bulgarien zu einem vom Osmanischen Reich unabhängigen Königreich erklärt hatte, gab Kaiser Franz Joseph J. seinen am 5. Oktober 1908 getroffenen Entschluß bekannt, Bosnien-Herzegovina, das seit dem 13. Juli 1878 faktisch der österreichisch-ungarischen Verwaltung unterstand, auch formell seiner Souveränität zu unterstellen. In seinem Handschreiben an den österreichisch-ungarischen Außenminister Aloys Lexa Graf von Ährenthal schrieb er (zitiert nach: «Neue Zürcher Zeitung» vom 7. Oktober 1908, 129. Jg. Nr. 27911V): «Durchdrungen von der unerschütterlichen Überzeugung, daß die hohen kulturellen und politischen Zwecke, um deretwillen die österreichisch-ungarische Regierung die Besetzung und Verwaltung Bosniens und der Herzegovina übernommen hat, und die mit schweren Opfern erzielten Erfolge der bisherigen Verwaltung nur durch die Gewährung von ihren Bedürfnissen entsprechenden verfassungsmäßigen Einrichtungen dauernd gesichert werden können, für deren Erlassung aber die Schaffung einer klaren, unzweideutigen Rechtsstellung beider Länder eine unerläßliche Voraussetzung bildet, erstrecke ich die Rechte meiner Souveränität auf Bosnien und die Herzegovina und setze gleichzeitig die für mein Haus geltende Erbfolgeordnung auch für diese Länder in Wirksamkeit. Zur Kundgebung der friedlichen Absichten, die mich bei



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Mit der Annexion Bosnien-Herzegovinas wollte der österreichisch-ungarische Außenminister Graf Ährenthal -angesichts der Schwäche der Türkei und der zu erwartenden großen machtpolitischen Veränderungen im Balkanraum - die Vormachtstellung seines Landes in diesem Bereich endgültig sichern. Das konnte er nur, wenn Österreich-Ungarn sich die Gebiete, die es im Auftrag des türkischen Sultans seit 1878 als Mandatsmacht verwaltete (siehe Hinweis zu 5. 79), auch formell einverleibte. Die Annexion war ein klarer Verstoß gegen die Beschlüsse des Berliner Kongresses von 1878, war aber aufgrund von Gesprächen zustande gekommen, die der russische Außenminister Alexander Petrovic Izvolskij im September 1908 im mährischen Buchlau mit Ährenthal geführt hatte (siehe Hinweis zu 5. 141). Aber Izvolskij fühlte sich übervorteilt, und so stieß die Annexion auf den erbitterten Widerstand Rußlands, aber auch Serbiens. Dieses erklärte am 7. Oktober/25. September sein Nichteinverständnis mit dem österreichischen Schritt, Rußland am 1. November/20. Oktober; beide Staaten drohten mit Krieg.

Während Großbritannien, Frankreich und Rußland die Einberufung einer Konferenz der am Berliner Vertrag beteiligten Mächte befürworteten, stellte sich Deutschland, obwohl es über die geplante Annexion nicht unterrichtet worden war, hinter seinen Bündnispartner Österreich-Ungarn, das die Abhaltung einer solchen Konferenz ablehnte. Nachdem die Türkei am 26. Februar 1909 die Annexion anerkannt hatte - gegen Verzicht der österreichischen Rechte auf Makedonien -, stellte Deutschland am 21. März 1909 ein Ultimatum: Entweder ist Rußland jetzt bereit, die Einverleibung Bosniens anzuerkennen, oder Deutschland wird sich auf die Seite Österreich-Ungarns stellen, wenn es mit seiner Armee gegen Serbien vorgeht und Rußland versuchen sollte, Serbien militärisch zu unterstützen. Damit war die Gefahr eines europäischen Krieges gegeben. Da sich Rußland zu einem Krieg nicht bereit fühlte, gab der russische Zar am 23/10. März nach und zwei Tage später, das heißt am 25/12. März, anerkannte die russische Regierung die Annexion Bosnien-Herzegovinas. Nachdem auch Großbritannien am 28. März seine Zustimmung gegeben hatte, wurden die entsprechenden Bestimmungen des Berliner Vertrages am 28. März 1909 außer Kraft gesetzt. Nun sah sich auch Serbien gezwungen, im Wiener Abkommen vom 31/18. März 1909 die Annexion anzuerkennen. Damit war ein Krieg vermieden worden, und die beteiligten europäischen Mächte unterzeichneten zwischen dem 7. und 19. April 1909 eine entsprechende Abänderung des Berliner Vertrages von 1878. Am 17. Februar 1910 löste Österreich-Ungarn sein Versprechen ein, und Bosnien-Herzegovina erhielt eine eigene Verfassung, das sogenannte «Landesstatut».

Für Serbien bedeutete der Ausgang der Annexionskrise eine starke Beeinträchtigung seiner großserbischen Träume. Es erblickte nun endgültig in Österreich-Ungarn den Hauptfeind seiner staatlichen Existenz. So schrieb die irredentistische Belgrader Zeitung «Pijemont» in ihrer Ausgabe vom 8. Oktober 1913 anläßlich des Jahrestages der Annexion (zitiert nach: Carl Junker, Dokumente zur Geschichte des Europäischen Krieges 1914, Wien 1914, Kapitel «24. Juli», Beilage 1): «Heute sind es fünf Jahre, daß mittels eines kaiserlichen Dekretes die Souveränität des Habsburger Zepters über Bosnien und Herzegovina ausgebreitet wurde. Den Schmerz, der an



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diesem Tage dem serbischen Volke zugefügt wurde, wird das serbische Volk noch durch Jahrzehnte fühlen. Beschämt und vernichtet stöhnte das serbische Volk verzweifelt. Das Volk legt das Gelübde ab, Rache zu üben, um durch einen heroischen Schritt zur Freiheit zu gelangen. »

Nicht nur die Beziehungen zu Serbien wurden dauernd beschädigt, sondern auch das Verhältnis zu Rußland, wo die Stimmung aufkam, in einem gleichen Fall nie wieder nachzugeben. Der spätere russische Außenminister Sazonov (siehe Hinweis zu 5. 193 in GA 173b) schreibt Jahre später in seinen Erinnerungen «Sechs schwere Jahre» (Berlin 19272) immer noch ganz empört (Kapitel J): «Der Gaunerkniff zu dem Ährenthal seine Zuflucht nahm, um die für Österreich-Ungarn gefahrlose faktische Beherrschung Bosniens und der Herzegovina auf dem Wege eines groben Rechtsbruches, der sowohl dem ganzen serbischen Volk als auch Rußland gegenüber den Charakter einer Provokation trug, in einen juristischen Besitz zu verwandeln, erfuhr von seiten der deutschen Regierung nicht nur keine Mißbilligung, sondern diese Taktik wurde von ihr protegiert und mit dem Schild der staatlichen Macht des Deutschen Reiches gedeckt. Europa wurde vor eine vollendete Tatsache gestellt, und es blieb ihm nur übrig, entweder diese als solche anzuerkennen oder mit den vereinigten österreichisch-deutschen Streitkräften, vielleicht auch mit dem ganzen Dreibund in einen bewaffneten Kampf einzutreten. » Gleichzeitig macht er aber auch den russischen Interessensstandpunkt deutlich (gleicher Ort): «Damals offenbarte sich zum ersten Male mit unzweifelhafter Klarheit die Balkanpolitik Ahrenthals, die auf die völlige Unterwerfung Serbiens unter den Einfluß Österreichs gerichtet war, im Widerspruch zu Geist und Buchstaben der internationalen Akte und den berechtigten Interessen Rußlands auf dem Balkan. »

Die bosnische Annexionskrise bedeutete das Ende der russisch-österreichischen Verständigung in bezug auf den Balkan, die seit dem Abschluß des Abkommens von Mürzsteg (Steiermark) bestanden hatte (siehe Hinweis zu 5. 109). In dieser Übereinkunft vom 3. Oktober 1903 —sie wurde anläßlich eines Staatsbesuchs von Zar Nikolaus II. in Österreich-Ungarn unterzeichnet -wurde dem Osmanischen Reich eine Garantie für die Respektierung seiner Grenzen gegeben, aber zu Reformen in dem von ihm verwalteten Makedonien aufgerufen. Der Balkan wurde nun zum Kampfplatz der gegensätzlichen Interessen zwischen Österreich-Ungarn und Rußland. Das war um so gefährlicher, als der Einfluß der russizistischen Kreise auf die russische Außenpolitik zunahm. So meint der österreichische Journalist Alexander Redlich (siehe Hinweis zu 5. 84) in seiner Schrift «Der Gegensatz zwischen Österreich-Ungarn und Rußland» (Stuttgart/Berlin 1915): Es gab eine Zeit, «wo man in Wien bereit war, zum mindesten wichtige Teilkonzessionen zu machen und vor allem die Öffnung der Dardanellen für Kriegsschiffe zu befürworten. Aber dieses Zugeständnis, das die Gegengabe für die Erlaubnis zur Annexion von Bosnien und der Herzegovina bildete, kam zu spät. Denn inzwischen war nicht nur in Rußland die Macht der allslawischen Partei viel zu groß geworden, sondern sie hatte sich noch durch ausländische Bündnisse gestärkt, und gleichzeitig war die Saat, die sie auf dem Balkan gesät hatte, so üppig in die Halme geschossen, daß das Allslawentum in Rußland seine Zeit für gekommen hielt. Es hat deshalb in diesem Augenblick zum ersten Mal versucht, die großslawischen Ideen auf dem Balkan gegen die österreichische Machtstellung auszuspielen. Dieser Versuch ist die Annexionskrise. »

141 Damals sprachen zwei Menschen miteinander. Am 15. und 16. September 1908 trafen sich Izvolskij und Ährenthal zu Gesprächen auf der Burg Buchlau (heute Buchlov) im mährischen Buchlau (heute Buchlovice in Tschechien). Die Burg gehörte



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Der deutsche Historiker Paul Herre behauptet in seinem Buch «Weltpolitik und Weltkatastrophe» (Berlin 1916)— es befindet sich in der Bibliothek Rudolf Steiners -, daß die Initiative zur Annexion von Rußland und nicht von Ährenthal ausgegangen sei: «Denn die Annexion ging auf Anregungen zurück, die ihm der Minister des Auswärtigen, Alexander Izvolskij, gegeben hatte und die Rußland im September bei der Zusammenkunft in Buchlau die österreichische Zustimmung zur Öffnung der Dardanellen eintrugen, und mit Recht konnte Ährenthal vor der Öffentlichkeit darauf hinweisen, daß kein anderer als der Zar es Österreich-Ungarn seit 1878 mehrmals nahegelegt hatte, die Annexion zu vollziehen. »

Der damalige deutsche Reichskanzler, Bernhard Fürst von Bülow (siehe Hinweis zu 5. 221), gibt in seinen «Denkwürdigkeiten» (Berlin 1930) an (2. Band, XXII. Kapitel), sowohl von Izvolskij wie von Ährenthal einen Bericht über die Buchlauer Verhandlungen erhalten zu haben: «Mein erster Eindruck, den die Zeit und alles, was ich später hörte und sah, nur bestärkte, ist, daß das formale Recht auf der Seite von Ährenthal war, der auch schlauer operierte, daß aber sein Verhalten nicht ganz <fair> war [...]. Gewiß war es unklug und unbesonnen von Izvolskij, daß er Ährenthal, nachdem er ihm sein grundsätzliches Einverständnis mit der in Aussicht genommenen Annexion ausgesprochen hatte, nicht sofort fragte, wann der k. und k. Minister den von ihm angekündigten Schritt zu unternehmen gedenke. Er mußte auch sogleich darauf hinweisen, daß er Zeit brauche, das von den früheren russisch-österreichischen Abmachungen nichts ahnende russische Publikum und den davon auch nicht viel wissenden Zaren auf den österreichischen Schritt vorzubreiten. Aber Izvolskij hat, als Ährenthal am Abend des 16. September von Buchlau nach Wien zurückkehrte, während sein russischer Kollege erst am nächsten Morgen das mährische Schloß verließ, sicher nicht angenommen, daß der k. und k. Minister schon nach kaum drei Wochen die Welt mit der Annexion von Bosnien und der Herzegovina überraschen würde. »

Auf diesen Zusammenhang bezieht sich auch eine Bemerkung, die Jean Jaurès (siehe Hinweis zu 5. 228) am 31. Juli 1914 in der Wandelhalle der Abgeordnetenkammer gemacht haben soll. Sein Parteifreund, der litauisch-französische Sozialist und spätere Kommunist Charles Rappoport (1865-1941), berichtete ungefähr ein Jahr nach dem Mord in der «Berner Tagwacht» vom 31. Juli 1915 (XXIII. Jg. Nr. 176) unter der Überschrift «Was hätte Jaurès getan?»: «Ich habe den ganzen letzten Tag des Lebens von Jaurès mit ihm in den Parlamentsräumen zugebracht. Jaurès sprach während des ganzen Nachmittags des 31. Juli mit politischen Führern



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und Journalisten über die Krise. Ich werde nur das Wichtigste hervorheben. In einem Raum, den man als <Saal der vier Säulen>bezeichnet, sprach Jaurès vor einer großen Zahl von Journalisten folgende Worte: <Werden wir den Krieg zu führen haben, weil das Versprechen, das Ährenthal Izvolskij gab, ihm für das Arrangement Österreichs über Bosnien-Herzegovina 40 Millionen als Trinkgeld zu gewähren, nicht gehalten wurde? Sollen wir deswegen das Blut der europäischen Völker vergießen und fließen sehen ?>»

Der russische Außenminister Aleksandr Petrovic Izvolskij (Iswolski, 1856-1919) empfand die Vorgänge um die Annexion Bosnien-Herzegovinas als eine persönliche Niederlage, die er sein Leben lang nie verwand. Aus dem russischen Kleinadel stammend, trat er 1882 in den Dienst des russischen Außenministeriums, dessen Leiter damals Fürst Gorcakov (siehe Hinweis zu S. 35) war. Durch seine Heirat erlangte Izvolskij Zugang zum Beziehungsnetz des russischen Hofes, was sich auf seine Karriere als Diplomat äußerst förderlich auswirkte. Begabt und ehrgeizig, stieg er schnell die diplomatische Karriereleiter hoch: Zunächst vertrat er ab 1888 Rußlands Interessen beim Vatikan; 1894 wurde er, nach Wiederherstellung der Beziehungen zwischen Rußland und dem Papst, Ministerresident am Vatikan. Von 1897 an vertrat er sein Land nacheinander in Belgrad, München, Tokio und Kopenhagen. Im Mai 1906 wurde er schließlich von Zar Nikolaus II. zum neuen Außenminister berufen - ein Amt, das er bis November 1910 ausübte. Als Außenminister war Izvolskij maßgeblich am Zustandekommen des Kolonialausgleichs von 1907 zwischen Großbritannien und Rußland (siehe Hinweis zu 5. 173) beteiligt. Konnte er die britischrussische Annäherung noch als persönlichen Erfolg buchen, der Rußland aus seiner außenpolitischen Isolation führte, bedeutete für ihn der Ausgang der Bosnien-Krise eine persönliche Niederlage, die er nicht verwinden konnte. Das hing mit seiner Persönlichkeit zusammen, die sein Nachfolger Sazonov in seinen Memoiren «Sechs schwere Jahre» (Berlin 19272) so charakterisierte (Kapitel I): «Dieser begabte und trotz seiner äußerlichen Herzlosigkeit im Innersten gutmütige Mann besaß eine Schwäche, die ihm selbst wie seiner ganzen Umgebung das Leben außerordentlich komplizierte und verdarb. Diese Schwäche bestand darin, daß er in allem, was auf politischem Gebiet wie in privaten Beziehungen vorging und ihn auch nur ganz entfernt berührte, Zeichen einer persönlichen Ungerechtigkeit und bösen Willens ihm gegenüber erblickte. » Nervlich zermürbt, bat er den Zaren um Freistellung von seiner Funktion als Außenminister. Nach seinem Rücktritt wurde ihm 1910 das ehrenvolle Amt eines russischen Botschafters in Paris übertragen.

Dort war er bestrebt, mit allen Mitteln seine Ehre wiederherzustellen. Mit Hilfe einer groß angelegten diplomatischen Intrige versuchte er 1911, die Zustimmung der Mächte für die Öffnung der Dardanellen für russische Kriegsschiffe zu erreichen. Er hatte dies bereits zweimal - 1907 im Rahmen des britisch-russischen Kolonialausgleichs und 1908 im Zusammenhang mit der Annexion Bosniens durch Österreich-Ungarn (siehe Hinweis zu 5. 141) —erfolglos versucht, und auch das dritte Mal sollten seine Bemühungen scheitern: Als die ablehnende Haltung Großbritanniens und Frankreichs immer klarer wurde, stellte der russische Außenminister Sazonov jegliche offizielle diplomatische Verhandlungen durch Rußland in Abrede. Dem damaligen russischen Gesandten in Konstantinopel, Carykov (siehe Hinweis zu 5. 129), wurde eigenmächtiges Vorgehen vorgeworfen und damit alle Schuld in die Schuhe geschoben. Auch wenn damit die äußerliche Ehre Izvolskijs unangetastet blieb, bedeutete dieser Mißerfolg die zweite schwere Kränkung in seinem Leben. Er war nun überzeugt, daß allein ein großer europäischer Krieg gegen die Mittelmächte Rußland in den Besitz der Meerengen bringen könnte. Diesen vorzubreiten, zum Beispiel durch die Stärkung des russisch-französischen Bündnisses, widmete er nun



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all seine Kraft. Als der Krieg schließlich ausbrach, soll er gesagt haben: «Das ist mein Krieg!» Nach dem Sturz des Zaren im März/Februar 1917 zog sich Izvolskij als russischer Botschafter zurück, blieb aber im französischen Exil. Er gehörte zu den überzeugten Befürwortern einer Intervention der westlichen Großmächte in Rußland zur Niederschlagung der revolutionären Vorgänge.

Izvolskijs Gegenspieler, Freiherr (Graf) Aloys Lexa von Ährenthal (1854-1912), war der Enkel des jüdischen Getreidegroßhändlers Lexa in Prag, der aufgrund seiner bedeutenden wirtschaftlichen Stellung in den Freiherrenstand erhoben worden war. Ährenthal war nach dem Studium der Rechte 1877 in den diplomatischen Dienst Österreich-Ungarns eingetreten. Nach verschiedenen Posten in Paris, Wien und St. Petersburg wurde er 1895 zum Botschafter in Rumänien berufen. Von 1899 bis 1906 wurde er mit dem wichtigen Amt eines österreichisch-ungarischen Botschafters in St. Petersburg betraut. Im Oktober 1906 wurde er neuer österreichisch-ungarischer Außenminister. Im Gegensatz zur vorsichtigen Politik seines Vorgängers Agenor Graf Goluchowski von Gluchowo (1859-1921), der auf einen Ausgleich mit Rußland bedacht war, betrieb er auf dem Balkan eine offensive Politik, die in der Annexion Bosniens gipfelte. Es war ihm gelungen, den russischen Außenminister Izvolskij auszumanövrieren und Rußland und Serbien vor vollendete Tatsachen zu stellen. Als Folge der Bosnienkrise lehnte sich Serbien eng an Rußland an, was sich spätestens in der Julikrise nach dem Attentat von Sarajevo (siehe Hinweis zu 5. 173) als äußerst verhängnisvoll erweisen sollte. Für den Februar 1912 hatte er aus Krankheitsgründen seinen Rücktritt eingereicht und verstarb am Tag, als sein Nachfolger, Leopold Graf von Berchtold, sein Amt übernahm. Ährenthal war zweifellos ein sehr geschickter Unterhändler mit großem diplomatischem Fingerspitzengefühl, aber seine Bemühungen waren, da er stark von Gefühlseindrücken geleitet wurde, auf den kurzfristigen Erfolg angelegt.

142 Wenn man die betreffenden Bücher hat: Gemeint sind die verschiedenen Sammlungen von diplomatischen Akten, die von den einzelnen am Krieg beteiligten Regierungen herausgegeben wurden (siehe Hinweis zu 5. 132).

142 Es gab Leute, die eben darüber besorgt waren: Zum Beispiel der Militärschriftsteller und General Friedrich von Bernhardi (siehe Hinweis zu 5. 242 in GA 173b).

142 was sogar jene von der Universität Bern preisgekrönte Schrift herausgefunden hat: Rudolf Steiner meint die Schrift von Jacob Ruchti «Zur Geschichte des Kriegsausbruchs. Nach den amtlichen Akten der Königlich Großbritannischen Regierung dargestellt» (Bern 1916, siehe Hinweis zu 5. 40). Jacob Ruchti (III. Kapitel, «Der europäische Krieg»): «Am 4. August [1914], als Grey die Gewißheit hatte, daß die belgische Neutralität durch deutsche Truppen wirklich verletzt war, so daß der englische Kriegsvorwand durch gar keine deutschen Zugeständnisse mehr gefährdet werden konnte, da erging das Ultimatum Englands an das Deutsche Reich, worin die Respektierung der Neutralität Belgiens verlangt wurde -derselben Neutralität, die England durch sein eigenes Neutralitätsversprechen hätte schützen können!» Tatsächlich reagierte Großbritannien erst am 4. August wegen der Verletzung der belgischen Neutralität (zu den genauen Vorgängen an diesem 4. August siehe Hinweis zu 5. 135 in GA 173b).

143 Daher mußte zum Beispiel Sir Edward Grey so sonderbare Reden halten: Am 3. August 1914 hielt der britische Außenminister Sir Edward Grey (siehe Hinweis zu 5. 206) eine Rede im Unterhaus, in der er den Standpunkt der Regierung darlegte (siehe Hinweise zu 5. 43). Diese Rede war in sich widersprüchlich. Zunächst betonte Grey die völlige Handlungsfreiheit der englischen Regierung in der gegenwärtigen



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143 die Verletzung der belgischen Neutralität. Nachdem die deutschen Truppen bereits am 2. August 1914 mit der Besetzung Luxemburgs begonnen hatten, überschritten sie am 4. August die belgische Grenze. Die deutsche Regierung hatte am 2. August 1914 der belgischen Regierung ein Ultimatum gestellt, in dem für die deutschen Truppen ein Durchmarschrecht durch Belgien gefordert wurde. Begründet wurde diese Forderung mit dem Hinweis auf französische Truppenkonzentrationen in Richtung Belgien, zur Umgehung der deutschen Verteidigungslinien (zitiert nach: Max Beer, «Das Regenbogen-Buch», Kapitel «2. August»): «Die kaiserliche Regierung kann sich der Besorgnis nicht erwehren, daß Belgien, trotz besten Willens, nicht imstande sein wird, ohne Hilfe einen französischen Vormarsch mit so großer Aussicht auf Erfolg abzuwehren, daß darin eine ausreichende Sicherheit gegen die Bedrohung Deutschlands gefunden werden kann. Es ist ein Gebot der Selbsterhaltung für Deutschland, dem feindlichen Angriff zuvorzukommen. Mit dem größten Bedauern würde es daher die deutsche Regierung erfüllen, wenn Belgien einen Akt der Feindseligkeit gegen sich darin erblicken würde, daß die Maßnahmen seiner Gegner Deutschland zwingen, zur Gegenwehr auch seinerseits belgisches Gebiet zu betreten.» Dabei betonte die deutsche Regierung: «1. Deutschland beabsichtigt keinerlei Feindseligkeiten gegen Belgien. Ist Belgien gewillt, in dem bevorstehenden Kriege Deutschland gegenüber eine wohlwollende Neutralität einzunehmen, so verpflichtet sich die deutsche Regierung, beim Friedensschluß Besitzstand und Unabhängigkeit des Königreichs in vollem Umfange zu garantieren. » Und: «2. Deutschland verpflichtet sich unter obiger Voraussetzung, das Gebiet des Königreichs wieder zu räumen, sobald der Friede geschlossen ist. »Das auf zwölf Stunden befristete Ultimatum lehnte die belgische Regierung am 3. August ab. Sie erklärte (zitiert nach: Emil Waxweiler, Hat Belgien sein Schicksal verschuldet?, Zürich 1915, 2. Kapitel, «Sein oder Nichtsein»): «Die Absichten, welche Deutschland Frankreich zuschreibt, stehen im Gegensatz zu den formellen Erklärungen, welche uns im Namen der republikanischen Regierung am 1. August gegeben wurden. Übrigens, falls entgegen unserer Erwartungen eine Verletzung der belgischen Neutralität seitens Frankreichs stattfinden sollte, würde Belgien alle seine internationalen Pflichten erfüllen und seine Armee würde dem Eindringling den schärfsten Widerstand entgegensetzen. » Und: «Belgien war von jeher seinen



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internationalen Verpflichtungen treu. Es hat seine Aufgabe im Geiste loyaler Unparteilichkeit gelöst. Es hat keine Bemühung vernachlässigt, um seine Neutralität zu erhalten und ihr Achtung zu verschaffen. Die Beeinträchtigung seiner Unabhängigkeit, womit ihm die deutsche Regierung droht, käme einer offenbaren Verletzung des Völkerrechtes gleich. Kein strategisches Interesse rechtfertigt die Verletzung des Rechts. Falls die belgische Regierung die ihr angezeigten Vorschläge annähme, würde sie die Ehre der Nation opfern und zu gleicher Zeit ihre Pflichten gegenüber Europa verletzen. » Durch die Ablehnung des Ultimatums war für die deutsche Regierung der Anlaß für den Einmarsch in Belgien und die Umsetzung des Schlieffen-Planes (siehe Hinweis zu S. 267 in GA 173b) gegeben.

143 Hätte Sir Edward Grey nur den einen Satz gesprochen: Rudolf Steiner war überzeugt, daß im Falle einer englischen Neutralitätszusage Deutschland auf die Durchführung des Schlieffen-Planes (siehe Hinweis zu 5. 176 in GA 173b), der die Verletzung der belgischen Neutralität zwingend vorsah, verzichtet hätte. Möglicherweise stützte er sich dabei auf Aussagen Helmuth von Moltkes, den er im November 1914 in Bad Homburg aufgesucht hatte.Mit seiner Feststellung bezieht sich Rudolf Steiner auf die Unterredung zwischen dem englischen Außenminister und dem deutschen Botschafter in London, Karl Max Fürst von Lichnowsky (siehe Hinweis zu 5. 47), die am Nachmittag des 1. August 1914 stattfand. Bereits am Morgen hatte Lichnowsky in einem Telegramm an den deutschen Reichskanzler von Bethmann Hollweg noch Hoffnungen erweckt. Er meldete (zitiert nach: Max Beer, «Das Regenbogen-Buch», Bern 1915, Kapitel «1. August»): «Der Privatsekretär Sir Edward Greys war eben bei mir, um mir zu sagen, der Minister wolle mir Vorschläge für die Neutralität Englands machen, selbst für den Fall, daß wir mit Rußland wie mit Frankreich Krieg hätten. Ich sehe Sir Edward Grey heute nachmittag und werde sofort berichten. » Am Nachmittag des 1. August 1914 schickte er dann einen telegraphischen Bericht von dieser Unterredung (gleicher Ort, Kapitel «1. August»): «A uf meine Frage, ob er unter der Bedingung, daß wir die belgische Neutralität wahrten, mir eine bestimmte Erklärung über die Neutralität Großbritanniens abgeben könne, erwiderte der Minister, das sei ihm nicht möglich, doch würde diese Frage eine große Rolle bei der hiesigen öffentlichen Meinung spielen. Verletzten wir die belgische Neutralität in einem Kriege mit Frankreich, so würde sicherlich ein Umschwung in der Stimmung eintreten, die es der hiesigen Regierung erschweren würde, eine freundliche Neutralität einzunehmen. Vorläufig beständen nicht die geringsten Absichten, gegen uns feindlich vorzugehen. Man würde dies, wenn irgend möglich, zu vermeiden wünschen. Es ließe sich aber schwerlich eine Linie ziehen, bis wohin wir gehen dürften, ohne daß man diesseits einschreite. Er kam immer wieder auf die belgische Neutralität zurück und meinte, diese Frage würde jedenfalls eine große Rolle spielen. Er habe sich auch schon gedacht, ob es denn nicht möglich wäre, daß wir und Frankreich uns im Falle eines russischen Krieges bewaffnet gegenüberstehen blieben, ohne uns anzugreifen. Ich frug ihn, ob er in der Lage wäre, mir zu erklären, daß Frankreich auf einen derartigen Pakt eingehen würde. Da wir weder Frankreich zerstören noch Gebietsteile erobern wollten, könne ich mir denken, daß wir uns auf ein derartiges Abkommen einlassen würden, das uns die Neutralität Großbritanniens sichere. »

Auf diese Nachricht hin sandte der deutsche Kaiser Wilhelm II. an den englischen König Georg V. (siehe Hinweis zu 5. 206) noch am gleichen Tag ein Telegramm (gleicher Ort, Kapitel «1. August»): «Ich habe soeben die Mitteilung Deiner Regierung erhalten, durch die sie die französische Neutralität unter der Garantie Großbritanniens anbietet. Diesem Anerbieten war die Frage angeschlossen, ob unter



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diesen Bedingungen Deutschland darauf verzichten würde, Frankreich anzugreifen. Aus technischen Gründen muß Meine schon heute nachmittag nach zwei Fronten, nach Osten und Westen, angeordnete Mobilmachung vorbereitungsgemäß vor sich gehen. [...]Aber wenn Mir Frankreich seine Neutralität anbietet, die durch die englische Armee und Flotte garantiert werden muß, werde ich natürlich von einem Angriff auf Frankreich absehen und Meine Truppen anderweitig verwenden. » Und der deutsche Reichskanzler bestätigte gleichentags in einem Telegramm an den Fürsten Lichnowsky die deutsche Bereitschaft, mit der Eröffnung der Kriegshandlungen im Westen zuzuwarten (gleicher Ort, Kapitel «1. August»): «Deutschland ist bereit, auf den englischen Vorschlag einzugehen, falls sich England mit seiner Streitmacht für die unbedingte Neutralität Frankreichs im deutsch-russischen Konflikt verbürgt. Die deutsche Mobilmachung ist heute aufgrund der russischen Herausforderung erfolgt, bevor die englischen Vorschläge hier eintrafen. Infolgedessen ist auch unser Aufmarsch an der französischen Grenze nicht mehr zu ändern. Wir verbürgen uns aber dafür, daß die französische Grenze bis Montag, den 3. August, abends 7 Uhr, durch unsere Truppen nicht überschritten wird, falls bis dahin die Zusage Englands erfolgt ist. » Darauf die telegraphische Antwort von König Georg V. (gleicher Ort, Kapitel «1. August»): «In Beantwortung Deines Telegramms, das soeben eingegangen ist, glaube Ich, daß ein Mißverständnis bezüglich einer Anregung vorliegen muß, die in einer freundschaftlichen Unterhaltung zwischen dem Fürsten Lichnowsky und Sir Edward Grey erfolgt ist, als sie erörterten, wie ein wirklicher Kampf zwischen der deutschen und der französischen Armee vermieden werden könne, solange noch die Möglichkeit besteht, daß ein Einverständnis zwischen Österreich und Rußland erzielt wird. » Aber noch am selben Abend stellte Fürst Lichnowsky in einem Telegramm an Reichskanzler Bethmann Hollweg resigniert fest (gleicher Ort, Kapitel «1. August»): «Meine Meldung von heute früh ist durch meine Meldung von heute abend aufgehoben. Da positiver englischer Vorschlag überhaupt nicht vorliegt, erübrigen sich weitere Schritte im Sinne der mir erteilten Weisungen. »

Es stellt sich allerdings die Frage, ob wirklich von deutscher Seite alles unternommen wurde, um den Krieg abzuwenden. Tatsache ist nämlich, daß am 27. Juli 1914 Botschafter Lichnowsky das deutsche Auswärtige Amt vorgängig zweimal deutlich gewarnt hatte. So hatte er in einem Telegramm vom Mittag geschrieben (zitiert nach: Graf Max Montgelas/Walter Stücking, Die deutschen Dokumente zum Kriegsausbruch 1914, Band J, «Vom Attentat in Sarajevo bis zum Eintreffen der serbischen Antwortnote in Berlin», Berlin 1919): «A uf jeden Fall bin ich der Überzeugung, daß, falls es jetzt doch noch zum Kriege käme, wir mit den englischen Sympathien und der britischen Unterstützung nicht mehr zu rechnen hätten, da man in dem Vorgehen Österreichs alle Zeichen üblen Willens erblicken würde. Auch ist hier alle Welt davon überzeugt, und ich höre es auch aus dem Munde meiner Kollegen, daß der Schlüssel der Lage in Berlin liegt und, falls man dort den Frieden ernstlich will, Österreich davon abzuhalten sein wird, eine, wie Sir E. Grey sich ausdrückt, tollkühne Politik zu treiben. » Und im Telegramm vom späten Nachmittag warnte er noch einmal (gleicher Ort): «Der Eindruck greift hier immer mehr Platz, und das habe ich aus meiner Unterredung mit Sir Edward Grey deutlich entnommen, daß die ganze serbische Frage sich auf eine Kraftprobe zwischen Dreibund und Dreiverband zuspitzt. Sollte daher die Absicht Österreichs, den gegenwärtigen Anlaß zu benutzen, um Serbien niederzuwerfen (<to crush Serviat, wie Sir E. Grey sich ausdrückte), immer offenkundiger in Erscheinung treten, so wird England, dessen bin ich gewiß, sich unbedingt auf die Seite Frankreichs und Rußlands stellen, um zu zeigen, daß es nicht gewillt ist, eine moralische oder gar militärische Niederlage seiner Gruppe zu dulden. Kommt es unter diesen Umständen zum Krieg, so werden wir England



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gegen uns haben, denn die Empfindung, daß der Krieg angesichts des weitgehenden Entgegenkommens der serbischen Regierung sich hätte vermeiden lassen, wird für die Haltung der britischen Regierung von ausschlaggebender Bedeutung sein. » Diese Warnung wurde vom deutschen Außenminister Jagow mißachtet.

Ein anderer Vorfall, von dem Rudolf Steiner vermutlich nichts wußte und der die Haltung deutscher und österreichischer Regierungsstellen in einem unverantwortlichen Lichte erscheinen läßt: In Österreich gab es einen Kreis um den österreichisch-ungarischen Außenminister, Leopold Graf von Berchtold (siehe Hinweis zu 5. 166 in GA 173b), der in einem kriegerischen Vorgehen gegen Serbien den einzigen Ausweg zur Sicherung des Fortbestandes der Doppelmonarchie sah, ungeachtet der möglichen Auswirkungen eines solchen Vorgehens. In seiner Haltung entscheidend beeinflußt wurde Berchtold von seinem Kabinettschef, Alexander Graf von Hoyos (1876 —1 937), und dieser hatte wiederum gute Verbindungen zum deutschen Botschafter in Wien, Heinrich von Tschirschky (siehe Hinweis zu 5. 139), der mehr die österreichischen als die deutschen Interessen vertrat und ebenfalls zu den Scharfmachern gehörte. Der ungarische Ministerpräsiden Istvan (Stefan) Graf von Tisza (1861-1918), der vom Juni 1913 bis Juni1917 an der Spitze der Regierung stand, lehnte dagegen den Krieg gegen Serbien ab und gab diplomatischen Verhandlungen den Vorzug. Um ihn umzustimmen, versuchte man einen diplomatischen Trick: am 5. Juli 1914 führten der österreichische Botschafter in Berlin, Ladislaus Graf von Szögyény-Marich (siehe Hinweis zu 5. 122 in GA 173b), in Begleitung des von Wien angereisten Grafen Hoyos, ein Gespräch mit Kaiser Wilhelm II. in Potsdam. Obwohl Arthur Zimmermann (1864-1940), der Unterstaatssekretär des Auswärtigen Amtes - er vertrat den deutschen Außenminister Jagow, der in den Flitterwochen war - über die Absicht dieses Besuchs beim Kaiser im Bilde war, unterließ er es, den Kaiser vorzuwarnen. Dieser war gänzlich unvorbereitet, als ihm ein persönlicher Brief von Kaiser Franz Joseph I. vorgelegt wurde. Durch einen Appell an die kaiserliche Solidarität konnten die österreichischen Gesandten von Kaiser Wilhelm II. das kaiserliche Ehrenwort für eine bedingungslose Unterstützung für die Sache der Habsburgermonarchie erwirken. Man ließ ihn mit Absicht im unklaren über die ablehnende Haltung des ungarischen Ministerpräsidenten. Die kaiserliche Zusage fand noch am Abend, befürwortet durch Zimmermann, die Billigung des deutschen Reichskanzlers Theobald von Bethmann Hollweg. Mit dieser Zusage in der Tasche, die als deutscher «Blankoscheck» in die Geschichte eingegangen ist, gelang es schließlich am 14. Juli 1914 nach zähem Ringen, den ungarischen Ministerpräsidenten doch noch auf einen Konfrontationskurs zu bringen.

144 jener Deutsche, der im April1914 ein Gespräch hatte in England: Näheres ist nicht bekannt.

144 So führe ich Ihnen eine Stelle an aus einem berühmt gewordenen Buche, das im Jahre 1911 geschrieben worden ist: Das Zitat stammt aus dem Buch «Deutschland und der nächste Krieg» von Friedrich von Bernhardi (siehe Hinweis zu 5. 242 in GA 173b). Das Buch erschien zwar 1912 in Stuttgart/Berlin, aber Bernhardi hatte sein Manuskript bereits im Jahre 1911 abgeschlossen. So ist das Vorwort mit «Oktober 1911» datiert. Die von Rudolf Steiner zitierten Sätze stammen aus dem 5. Kapitel, wo sich Bernhardi zum Thema «Weltmacht oder Niedergang» äußert und vor allem auf die machtpolitischen Überlegungen Englands eingeht (Abschnitte «Die Politik Großbritanniens» und «Die Ziele unserer Machtpolitik»).Bemerkenswert sind auch die Sätze, die sich an die letzen von Rudolf Steiner zitierten Worte anschließen (Abschnitt «Die Politik Großbritanniens»): «Auch an einen Dreibund Deutschland, England und Amerika ist schon gedacht worden. Wenn



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aber eine solche Einigung mit Deutschland möglich werden soll, müßte England sich entschließen, der Entwicklung des Deutschtums freie Bahn neben sich zuzugestehen, den Ausbau unserer kolonialen Macht zuzulassen und unseren Wettbewerb in Handel und Industrie nicht politisch zu bekämpfen; es müßte also auf seine ganze hergebrachte Machtpolitik verzichten und eine völlig veränderte Gruppierung der Weltstaaten ins Auge fassen. » Und die Schlußfolgerung: «Es ist gewiß nicht anzunehmen, daß englischer Stolz und Eigennutz sich dazu verstehen werden. Die nun schon seit Jahren unter stillschweigender Billigung der Regierung fortgesetzte Hetze gegen Deutschland, die nicht nur von dem größten Teil der Presse, sondern auch von einer starken Partei im Lande betrieben wird, die jüngsten Kundgebungen englischer Staatsmänner, die militärischen Vorbereitungen in der Nordsee und die fieberhafte Beschleunigung des Flottenbaus lassen vielmehr deutlich erkennen, daß England seine deutschfeindliche Politik festzuhalten denkt, wie das auch gar nicht anders zu erwarten ist. »

144 daß man ihn neben Treitschke im Auslande zu einer gewissen Berühmtheit hat kommen lassen: Tatsächlich galten Bernhardi und Treitschke (siehe Hinweis zu 5. 242 in GA 173b) in den Ententestaaten als Inbegriff für die Verwerflichkeit des Deutschtums. So werden sie zum Beispiel in der Schrift des englischen Historikers John William Allen «Germany and Europe» (siehe Hinweis zu 5. 139) als jene typischen deutschen Vertreter bezeichnet, die an die Notwendigkeit von Kriegen glauben (Kapitel J, «The Theory of International Militarism»): «Frieden ist eine künstlich gemilderte Form des ewigen Krieges, der das Leben ist. Die modernen deutschen Propheten dieser Schule - von Treitschke, der zwischen 1860 und 1896 wirkte, bis zu General Bernhardi, der das 1912 schrieb -kommen bereitwillig genug zu diesem Schluß. Krieg ist das universelle Gesetz der Natur. Der endlose Kampf um Macht zwischen den Staaten muß immer wieder zu ungehemmtem Krieg führen. »1Und am 14. Oktober 1914 schrieb Sir Edward Grey an Sir Francis Blake, Baronet of Tillmouth Park (1856-1940, zitiert nach: George Trevelyan, Sir Edward Grey. Sein Leben und Werk, Essen 1938, Zweites Buch, 8. Kapitel): «Haben Sie Bernhardis und Treitschkes Bücher gelesen? Ich wußte von ihnen vor dem Kriege tatsächlich nichts, aber sie enthüllen einen vorsätzlichen Zweck und eine feindselige Gesinnung, die mich entsetzen. Jedes Ideal, außer dem der Gewalt, wird verworfen. und Wahrheit, Ehre, Wohlwollen und Aufrichtigkeit werden im Interesse Deutschlands und der Macht über Bord geworfen. Der Krieg soll absichtlich schrecklich und furchtbar geführt werden, um die Völker vor einem Widerstand gegen die deutsche Herrschaft mit Furcht zu erfüllen. Das ist die Art von Charakter, die der preußische Militarismus in seinen Offizieren entwickelt hat. Denn ich glaube, daß es allein die preußischen Junker sind, die das geschaffen haben, und der Rest der Deutschen sind Menschen, die uns ähnlicher sind als jeder anderen Rasse. Es wäre besser, wenn wir alle untergingen, als daß wir unter die Herrschaft des junkerischen Geistes und seiner Vertreter gerieten. »

Auch die Mitglieder der «Theosophical Society» sahen in diesen Personen die Inkarnation des Bösen. So schreibt zum Beispiel Alfred Percy Sinnett in seiner Schrift «The Spiritual Powers and the War» (London 1915), ausgehend von den Kräften des Bösen, die sich in der atlantischen Zeit entwickelt hätten und sich nun in der



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nachatlantischen Zeit durch bestimmte Personen im Physischen voll manifestieren würden (Kapitel «Germany and the Dark Powers»): «Es ist richtig: Bei uns schreibt es die öffentliche Meinung Autoren wie Clausewitz, Treitschke und Bernhardi zu, daß das deutsche Volle allmählich zu der Geisteshaltung erzogen wurde, die sich in der schamlosen Brutalität gewisser allgemeiner Befehle zeigt, die an die deutschen Truppen ausgegeben wurden. Aber vom okkulten Standpunkt aus waren die genannten Autoren nur frühe Opfer jener finsteren Inspiration, die das deutsche Volk zu Agenten ihres furchtbaren Willens erwählt hatte. Sicher, es muß im deutschen Charakter Veranlagungen dazu gegeben haben, die es den üblen Einflüssen möglich machten, jene vollständige Kontrolle zu erlangen, die sie schließlich erreichten. Wir brauchen uns nicht einmal vorzustellen, daß in dem ursprünglichen Selbst, das in dem deutschen Kaiser [Wilhelm II.]verkörpert war, die diabolischen Eigenschaften lagen, die sein Benehmen und seine Äußerungen schließlich zeigten. Aber es muß in seiner Natur Züge gegeben haben, die ihn zugänglich machten für jene Einflüsse, die dann vollständig von ihm Besitz ergriffen und ihn schon einige Zeit vor dem Ausbruch des gegenwärtigen Krieges zu einem bloßen Werkzeug machten, sozusagen zu einem bloßen Telefon, das nur dem Willen und den Gedanken der inspirierenden Macht Ausdruck verlieh. Und dasselbe gilt, selbstverständlich mit Modifikationen, für eine große Anzahl deutscher Führer in verschiedenen Graden von Intensität. »1

144 Ich will Ihnen noch eine Stelle vorlesen: Zitat aus dem 5. Kapitel von Bernhardis Buch.

145 Wir werden am nächsten Mittwoch um 7 Uhr wieder eine Lichtbilderveranstaltung machen: Es handelt sich um den Vortrag vom 13. Dezember 1916 über «Das auftretende Wirken der Bewußtseinsseele in der Kunst des fünften nachatlantischen Zeitraums» und damit verbunden die Entwicklung der niederländischen Malerei im 15. und 16. Jahrhundert (in GA 292).



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173a-481 Hinweise zum Vortrag vom 16. Dezember 1916 Flip  arpa

Zum Vortrag vom 16. Dezember 1916:

147 daß ich gerade mit den von vielen Seiten gewünschten Betrachtungen: Mit seinen Vorträgen zu den zeitgeschichtlichen Ereignissen entsprach Rudolf Steiner dem Wunsch der am Bau des ersten Goetheanums beteiligten Anthroposophen (siehe die «Einführung» in diesem Band).

147 der wichtigen Vorgänge unserer Tage: Am 12. Dezember 1916 hatte der deutsche Reichskanzler, Theobald von Bethmann Hollweg (siehe Hinweis zu 5. 126 in GA 173b), vor dem Reichstag die Ententestaaten aufgerufen, in Friedensverhandlungen einzutreten. Der Aufruf wurde in Form einer gemeinsamen Note der vier Mittelmächte (siehe Anhang II, «Historische Dokumente», in GA 173c) mit Datum vom 12. Dezember 1916 den diplomatischen Vertretungen der drei neutralen Länder Vereinigte Staaten, Schweiz und Spanien überreicht mit der Bitte, den Inhalt den Ententemächten zur Kenntnis zu geben. Ebenso wurde eine gesonderte Note an den Papst gerichtet, wo auf das Friedensangebot der Mittelmächte hingewiesen wurde.Dieses Friedensangebot war das Ergebnis einer längeren diplomatischen Vorgeschichte. Dazu heißt es in der von Rudolf Steiner gelesenen schweizerischen «National-Zeitung» vom 14. Dezember 1916 (75. Jg. Nr. 877): «Wie wir von unabhängiger diplomatischer Seite vernehmen, hat Deutschland schon vor einiger Zeit einige neutrale Regierungen wissen lassen, daß es geneigt wäre, auf Pourparlers über Friedensverhandlungen einzutreten, und es hat sie um die Vermittlung dieser Ansicht an die Entente-Regierungen gebeten. Die ehemalige russische Regierung soll sich unter der Bedingung, daß eine Verständigung mit den übrigen Entente-Regierungen möglich sei, bereit erklärt haben, sich auf einen Meinungsaustausch über eine Verhandlungsbasis einzulassen. Die weiteren Besprechungen zwischen den Regierungen der Ententestaaten führten zu Meinungsdifferenzen, welche unmittelbar den Sturz Stürmers zur Folge hatten und schließlich auch zu einer Reorganisation des englischen und französischen Kabinetts führten. Nachdem die Entente-Regierungen alle Friedensverhandlungen aufgrund der gegenwärtigen Kriegskarte abgelehnt hatten, beschloß die deutsche Regierung, ihr Friedensangebot offiziell bekannt zu machen.»

Tatsächlich waren in den Wochen vorher verschiedene Kabinettsumbildungen in den Ententestaaten vorgenommen worden. Am 23./10. November 1916 war der russische Ministerpräsident Boris Vladimirovic Stjurmer (Stürmer, 1848-1917) — er war ein Sympathisant Rasputins und für Friedensgespräche mit Deutschland offen - durch Aleksandr Fedorovic Trepov ersetzt worden. Dieser sorgte in den folgenden Wochen für die endgültige Ausschaltung Rasputins (siehe Hinweis zu 5. 52 in GA 173c). Am 7. Dezember 1916 wurde Herbert Henry Asquith als britischer Premierminister durch David Lloyd George (siehe Hinweis zu 5. 258) ersetzt, der für eine Fortführung des Krieges bis zum endgültigen Sieg eintrat. Schließlich erfolgte am 12. Dezember 1916 in Frankreich eine Regierungsumbildung; Aristide Briand (siehe Hinweis zu 5. 258) blieb zwar Ministerpräsident; die Fortführung des Krieges bis zum endgültigen Sieg wurde jedoch zum ausdrücklichen Regierungs ziel. So zeigten sich alle neuen Regierungen in den drei wichtigsten Ententestaaten entschlossen, den Krieg bis zur Niederlage der Mittelmächte fortzuführen. Insofern waren sie in keiner Weise für eine Friedenslösung offen. So sagte zum Beispiel der russische Ministerpräsident Trepov am 2. Dezember 1916 in der russischen Duma (zitiert nach: «Neue Zürcher Zeitung» vom 4. Dezember 1916, 137. Jg. Nr. 1956): «Meine Herren! Mehr denn einmal wurde im Namen der Regierung der Tribüne



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erklärt, daß der Krieg bis zum Ende geführt werde, bis zum vollen Siege, mehr als einmal wurde erklärt, daß man nicht an einen verfrühten Frieden denken, daß auch die stärksten Gründe uns nicht zu einem Frieden, gesondert von den Alliierten, bringen dürfen. Nichts kann die Entschließung dieses gemeinsamen Willens unseres erhabenen Herrschers ändern. Rußland, unterstützt durch sein ganzes treues Volk, wird die Waffen nicht niederlegen, bis der volle Sieg errungen ist. Die Nachwelt möge es noch einmal hören! Welches auch die Schwierigkeiten seien, was auch die vorübergehenden Niederlagen sein mögen, das große Rußland und seine Verbündeten werden den letzten Mann mobilisieren und alles Gut des Staates opfern. Aber der Krieg wird fortgesetzt bis zum bestimmten Ende, bis das deutsche Joch und die deutsche Gewalttätigkeit gebrochen sind für immer. »

In den Vereinigten Staaten war zwar der amerikanische Präsident Thomas Woodrow Wilson am 7. November 1916 für eine zweite Amtszeit wiedergewählt worden - er war für die strikte Aufrechterhaltung der amerikanischen Neutralität eingetreten. Trotzdem konnte in den nächsten Monaten mit der aktiven militärischen Unterstützung der Entente durch die Vereinigten Staaten gerechnet werden, hieß es doch in dem Artikel der «National-Zeitung» vom 14. Dezember 1916 (gleiche Quelle): «Deutschland soll übrigens erklärt haben, daß es im Falle einer Ablehnung seines Angebotes sofort zur verschärften Führung des Unterseeboot-Krieges gegenüber England schreiten werde. » Von einer solchen Verschärfung des U-Boot-Krieges konnten natürlich auch die amerikanischen Schiffe nicht ausgenommen werden, was Präsident Wilson früher oder später zu militärischen Maßnahmen gegen die Mittelmächte zwingen mußte.

Angesichts dieser Ausgangslage ist es nicht weiter überraschend, wenn das Friedensangebot der Mittelmächte auf eine kühle Aufnahme stieß. Diese wurden auf seiten der Ententestaaten verdächtigt, aus einem Moment der Stärke sich eine möglichst gute Ausgangslage für einen vorteilhaften Friedensschluß verschaffen zu wollen. Tatsächlich hatten die deutschen Truppen große Teile Rumäniens, eine wichtige außenpolitische Bastion Rußlands, erobert (siehe Hinweis zu 5. 23). Auf der anderen Seite aber bewies die Rückeroberung des deutschen Geländegewinns bei Verdun durch die französischen Truppen, daß der Sieg im Westen für die deutsche Seite in weite Ferne gerückt war und sie nur daran interessiert sein konnte, den Krieg nun möglichst rasch zu möglichst vorteilhaften Bedingungen zu beenden oder -im Falle einer Ablehnung -den Kriegswillen der eigenen Bevölkerung möglichst zu stärken. Genährt wurden solche Befürchtungen durch den Tagesbefehl des deutschen Kaisers vom 12. Dezember 1916 «An das deutsche Heer»:

Soldaten!

In dem Gefühl des Sieges, den Ihr durch Euere Tapferkeit errungen habt, haben Ich und die Herrscher der treu verbündeten Staaten dem Feinde ein Friedensangebot gemacht.

Ob das damit verbundene Ziel erreicht wird, bleibt dahingestellt.

Ihr habt weiterhin mit Gottes Hilfe dem Feinde standzuhalten und ihn zu schlagen.

Großes Hauptquartier, 12. Dezember 1916 Wilhelm II. R.

Eine Woche später, am 18. Dezember 1916, forderte der amerikanische Präsident Wilson, seinerseits in einer Note alle kriegführenden Mächte auf, ihre Friedensbedingungen und damit ihre Kriegsziele offen zu erörtern (siehe Anhang II, «Historische Dokumente», in GA 173c). Am 26. Dezember erklärte das Deutsche



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Reich sich zu einer Teilnahme an einer allgemeinen Friedenskonferenz bereit, lehnte jedoch eine amerikanische Vermittlung ab. Am 30. Dezember 1916 wiesen die Ententemächte die deutsche Friedensinitiative zurück (siehe Hinweis zu S. 89 in GA 173b).

147 all jenen Deklamationen zu glauben, die vom Frieden oder gar vom Recht der Völker sich hören lassen: Siehe Hinweis zu 5. 53.

148 Ich habe Ihnen schon vor einiger Zeit davon gesprochen: Zum Beispiel in den Berliner Mitgliedervorträgen vom 25. Januar bis 8. Februar 1916 über «Notwendigkeit und Freiheit im Weltengeschehen und im menschlichen Handeln» (in GA 166). Rudolf Steiner im Vortrag vom 8. Februar 1916: «Freiheit und Notwendigkeit gehören zu den wesentlichsten menschlichen Begriffen, und man muß immer wieder klar sein, daß man vieles zusammentragen muß, um zu einem einigermaßen rechten Verständnis der Begriffe Freiheit und Notwendigkeit zu kommen. »

150 dazu gebracht wurden, sich ihrer Freiheit völlig bewußt zu werden: Rudolf Steiner macht eine Anspielung auf das sogenannte «soziologische Grundgesetz», das er bereits 1898 —im Zusammenhang mit einer Besprechung eines Buches des Soziologen Ludwig Stein (1859-1930) —in seinem Aufsatz «Freiheit und Gesellschaft» formuliert hatte (in GA 31): «Die Menschheit strebt im Anfange der Kulturzustände nach Entstehung sozialer Verbände; dem Interesse dieser Verbände wird zunächst das Interesse des Individuums geopfert; die weitere Entwicklung führt zur Befreiung des Individuums von dem Interesse der Verbände und zur freien Entfaltung der Bedürfnisse und Kräfte des Einzelnen. »

150 sie uns vielleicht morgen oder übermorgen vorlegen: Rudolf Steiner ging in der Folge seiner «Zeitgeschichtlichen Betrachtungen» nicht weiter auf die schwindende Bedeutung des Idealismus und auf das zunehmende Gewicht materialistischer Weltanschauungen im Laufe des 19. Jahrhunderts ein. Im Vortrag vom 8. Januar 1917 (in GA 173b) hob er allerdings die Bedeutung des deutschen Idealismus für die Grundlegung einer spirituellen Weltsicht hervor.

150 aus dem Zurückweisen des Zusammenhanges mit der spirituellen Welt entstanden sind: Diesen Zusammenhang führte Rudolf Steiner zum Beispiel im Dornacher Mitgliedervortrag vom 29. September 1917 (in GA 177) näher aus. Er sagte dort: «Entweder der Geist wird begriffen oder das Chaos bleibt. »

151 So ist vor Jahren eine Schrift erschienen: Es handelt sich um das Buch «Das Gesetz der Zivilisation und des Verfalles» (Wien/Leipzig 1907) — eine «vollständige und autorisierte Übersetzung nach der englischen und französischen Ausgabe mit einem Essay von Theodore Roosevelt». Verfasser dieses Buches war der amerikanische Historiker Brooks Adams. Es war erstmals 1895 in London unter dem Titel «The Law of Civilization and Decay» erschienen; 1896 folgte in New York die amerikanische Ausgabe.Brooks Adams (1848-1927) war ein Sproß der gesellschaftlich einflußreichen Adams-Familie aus dem Staate Massachusetts. Sein Urgroßvater, John Adams, war von 1797 bis 1801, sein Großvater, John Quincy Adams, von 1825 bis 1829 Präsident der Vereinigten Staaten. Sein Vater, Charles Francis Adams (1807-1886), war ein erfolgreicher Diplomat, dem es während des Sezessionskrieges gelang, eine Parteinahme Großbritanniens auf der Seite der Konföderierten Staaten zu verhindern. Von seinen vier Söhnen wurden zwei als Historiker bekannt: Henry Adams (1838-1918) und sein jüngerer Bruder Brooks Adams; im Gegensatz zu seinen Vorfahren bekleidete dieser nie ein öffentliches Amt.



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Nach dem Abschluß seines Rechtsstudiums in Harvard im Jahre 1870 eröffnete Brooks Adams 1873 ein Anwaltsbüro in Boston -eine Tätigkeit, die er 1882 aufgab. Eine größere Erbschaft nach dem Tode seines Vaters erlaubte es ihm, sich ganz seinen historischen Neigungen zu widmen und ausgedehnte Reisen zu unternehmen. Sein erstes Werk, «The Emancipation of Massachusetts. The Dream and the Reality» (Boston 1887), erregte aufgrund seines kritischen Ansatzes großes Aufsehen. In den nun folgenden Schriften versuchte Brooks Adams die das soziale Leben bestimmenden Gesetzmäßigkeiten herauszuarbeiten. Zu diesen Werken zählten -neben dem von Rudolf Steiner erwähnten Buch -auch die Schriften «America's Economic Supremacy» (New York 1900) und «The New Empire» (New York 1902), in denen er den Aufstieg der Vereinigten Staaten zu einer Weltmacht innerhalb von 50 Jahren voraussagte. Beide Bücher wurden auch ins Deutsche übersetzt: «Amerikas ökonomische Vormacht» (Wien/Leipzig 1908) und «Das Herz der Welt» (Wien/Leipzig 1908). Nach dem Tode seines Bruders veröffentlichte Brooks Adams unter dem Titel «Introduction to Henry Adams: The Degradation of the Democratic Dogma» (New York 1919) dessen pessimistisches Urteil über die Zukunft der Demokratie in den Vereinigten Staaten.

Adams war eine komplexe Persönlichkeit mit zum Teil widersprüchlichen Anschauungen. Er war von der Sorge um den drohenden Niedergang der westlichen Zivilisation erfüllt. Überzeugt vom Wirken von Gesetzen in der Geschichte und der Möglichkeit, sie wissenschaftlich zu erfassen, glaubte er an die Richtigkeit der Formel «progress =poverty /civilization =decay». Obwohl ursprünglich wertekonservativ eingestellt -Bekenntnis zum Privatkapitalismus und zum Privateigentum unter Ablehnung einer monopolistischen Wirtschaftsstruktur -, sah er in der amerikanischen Weltmachtstellung eine wichtige Voraussetzung für die Sicherung dieser Werte. Insofern war er durchaus imperialistisch gesinnt. In der Wahl der Mittel zum Erhalt der Machtstellung des «New Empire» konnte er aber einen durchaus radikalprogressiven Standpunkt vertreten. So empfahl er nicht nur die Zentralisierung der staatlichen und wirtschaftlichen Macht durch die Stärkung der Zentralbehörden oder durch die Bildung von Trusts, sondern auch eine aktive staatliche Sozialpolitik, die durchaus auch Verstaatlichungen, zum Beispiel im Eisenbahnbereich, nicht ausschloß. Vordringlich war für ihn auch die gezielte Stärkung der militärischen Macht. Die Förderung des technischen Fortschritts auf der Grundlage einer Verwissenschaftlichung und Intellektualisierung der Erziehung und des Arbeitslebens war ihm ebenfalls ein wichtiges Anliegen. Dieses Bekenntnis zu einer Politik des «new deal of men» im Rahmen von kollektiven Erfordernissen brachte ihm verschiedentlich den Vorwurf des Sozialismus ein. Seine Haltung gegenüber den sich abzeichnenden modernen gesellschaftlichen Entwicklungen bezeichnete Adams selber als intelligente Fortschrittlichkeit («intelligent progressiveness»). Politisch gehörte Adams zunächst der Demokratischen Partei an und wechselte dann zu den Republikanern. Auf geldpolitischem Gebiet war er ein entschiedener Verfechter der Silberwährung und ein absoluter Gegner der Einführung des Goldstandards. Adams war Zeit seines Lebens ein Skeptiker und Agnostiker. Entsprechend der Familientradition war er gegenüber der Freimaurerei eher kritisch eingestellt. Möglicherweise war das mit ein Grund, warum er seine Bücher in völkischen, eher antifreimaurerisch orientierten Verlagen in Deutschland erscheinen ließ, ohne vermutlich die genaueren Hintergründe zu kennen.

151 daß einer der allergrößten Phraseure der Gegenwart, nämlich Expräsident Roosevelt: Zu der Zeit, als Brooks Adams sein Buch über das Gesetz der Zivilisation veröffentlichte, war er mit Theodore Roosevelt gut befreundet und unterstützte dessen politische



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Theodore Roosevelt (1858 —1919), wurde-in seiner Eigenschaft als Vizepräsident nach dem Ausscheiden des amtierenden Präsidenten William McKinley, der an den Folgen eines Attentats im September 1901 starb, als Präsident der Vereinigten Staaten vereidigt. 1904 erreichte er als Kandidat der Republikanischen Partei die Bestätigung durch das Volk für die nächste ordentliche Amtszeit. Im März 1909 trat er sein Amt an seinen republikanischen Nachfolger William Howard Taft ab. Nachdem die Republikaner Taft und nicht ihn als Kandidaten für die nächste Präsidentenwahl aufgestellt hatten, kandidierte er in den Wahlen von 1912 als Vertreter der Progressiven Bewegung, einer Abspaltung der liberalen Republikaner. Er konnte sich zwar gegen Taft durchsetzen, nicht aber gegen Woodrow Wilson (siehe Hinweis zu 5. 245 in GA 173c), den dritten Kandidaten, der zum neuen Präsidenten gewählt wurde. Roosevelts Weltbild war stark von der Idee eines Kampfes ums Dasein geprägt, aber er befürworte trotzdem die Durchführung sozialpolitischer Reformen und die Eindämmung kapitalistischer Mißbräuche. Außerdem besaß er ein starkes Interesse für den Naturschutz. Außenpolitisch bestätigte er die seit McKinley begonnene Abkehr der Vereinigten Staaten vom Isolationismus und beteiligte sich aktiv am Ausbau ihrer Großmachtstellung. Der Bau des Panamakanals geht auf seine Initiative zurück. Roosevelts politischer Stil zeichnete sich durch einen ausgeprägten Hang zum populistischen Aktionismus aus. Roosevelt war Freimaurer; 1901, kurz nach seiner Wahl zum Vizepräsidenten, wurde er in die New Yorker «Matinecock Lodge» aufgenommen. Roosevelt war ein überzeugtes und sehr aktives Mitglied der Freimaurer-Bewegung.

151 die deutsche Übersetzung dieses Buches von Brooks Adams in einem Verlage erschienen ist: Herausgebracht wurde das Buch von Brooks Adams vom «Akademischen Verlag» in Wien und Leipzig, der seine Blütezeit zwischen 1904 und 1910 hatte. Der Inhaber des «Akademischen Verlags» mit Sitz in Wien -Leipzig scheint keine besondere Rolle gespielt zu haben, könnte aber auf eine Verbindung zum «Theosophischen Verlagshaus» von Hugo Vollrath (siehe Hinweis zu 5. 163 in GA 173b) hinweisen - war ein gewisser Wolfgang Schultz (1881-1936), promovierter Philosoph, Privatgelehrter und Schriftsteller. Schultz, der sich intensiv mit alten Kulturen und ihren Mythen auseinandersetzte, brachte einen Teil seiner Werke im «Akademischen Verlag» heraus, zum Beispiel «Das Farbempfindungssystem der Hellenen» (Leipzig 1904) — mit diesem Werk hatte sich Rudolf Steiner auseinandergesetzt -, «Pythagoras und Heraklit» (Leipzig 1905) oder «Altjonische Mystik» (Leipzig 1907). Im Verlag von Diederichs erschienen seine mit einer umfassenden Einleitung versehenen «Dokumente der Gnosis» (Jena 1910).Zum Zeitpunkt, als er das Werk von Brooks Adams herausbrachte, stand Schultz vermutlich der «Guido von List-Gesellschaft» nahe (siehe Hinweis zu 5. 151). In die Richtung einer solchen Beziehung deutet jedenfalls die Tatsache, daß die erste Nummer der «Ostara»-Hefte, eines im Jahre 1905 gegründeten Monatsmagazins, im «Akademischen Verlag» erschien. Aber wie lange diese Beziehung bestand, ist unklar, denn die weiteren Nummern der «Ostara»-Hefte erschienen dann im «Ostara Verlag» und ab 1907 im «Verlag <Lumen>», der vom Ariosophen Jörg Lanz von



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Liebenfels (eigentlich Joseph Lanz, 1874-1954) dominiert wurde. Bemerkenswert ist auch, daß die deutschen Übersetzungen von zwei weiteren wichtigen Werken von Brooks Adams, «Amerikas ökonomische Vormacht» und «Das Herz der Welt» (siehe Hinweis zu 5. 55 in GA 173b), nun nicht mehr im «Akademischen Verlag», sondern im «Verlag <Lumen>» erschienen.

Schultz wandte sich später dem Nationalsozialismus zu. Er beschäftigte sich nun auch mit der germanischen Kultur und veröffentlichte seine «Altgermanische Kultur in Wort und Bild. Drei Jahrtausende germanischen Kulturgestaltens: Gesamtschau - Die Gipfel-Ausblicke» (München 1934). Schultz war auch der Herausgeber der Zeitschrift «Mitra -Monatsschrift für vergleichende Mythenforschung», die zwischen 1914 und 1920 erschien. 1919 gründete er das «Forschungsinstitut für Osten und Orient». 1934 wurde Schultz Honorarprofessor in München und 1935 zugleich Leiter der Hauptstelle für arische Weltanschauung und Volkskunde im «Amt Rosenberg». 1938 wurde ein Weg in Wien nach ihm als dem «Erforscher des arisch-germanischen Volkstums» benannt. 1947 erhielt dieser Weg wieder seinen ursprünglichen Namen.

151 im Dienste ganz bestimmter geistiger Richtungen steht: Erstaunlich ist, daß die deutschen Übersetzungen der Werke von Brooks Adams in Verlagshäusern erschienen (siehe Hinweis zu 5. 151), die in mehr oder weniger enger Verbindung zur völkisch orientierten «Guido-von-List-Gesellschaft» standen. Diese Gesellschaft wurde in Wien in der zweiten Hälfte des ersten Jahrzehnts gegründet -als Gründungsdaten werden zunächst die Jahre 1905 oder 1907 genannt, wobei das Jahr 1908 als endgültiges Gründungsdatum erscheint. Die Gesellschaft sollte der Verbreitung des Gedankengutes von Guido von List (1848-1919) dienen, der sich als Entdecker uralter arisch-germanischer Weisheit, des «Armanengeistes der Ario-Germanen», betrachtete. Diese Gesellschaft spielte vor allem in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg eine wichtige Rolle; sie wurde dann 1937 beziehungsweise 1938 von den nationalsozialistischen Herrschern verboten - zuerst in Deutschland, dann in Österreich. Zu den Stiftern der Gesellschaft gehörte neben Guido von List und seiner zweiten Frau, Anna von List-Wittek, auch der deutsche Schriftsteller Philipp Stauff (1876-1923), der zum Präsidenten der Gesellschaft bestimmt wurde. Stauff war antisemitisch eingestellt und hatte den «Semi-Kürschner» (Berlin 1913) verfaßt, in dem auch Rudolf Steiner verzeichnet war. Zu den Mitgliedern gehörten solch prominente Persönlichkeiten wie zum Beispiel der österreichische Politiker Karl Lueger (1844-1910), Inspirator der antisemitisch ausgerichteten christlichsozialen Bewegung und von 1897 bis 1910 Bürgermeister der Stadt Wien. Aber auch Leute wie der deutsche Schriftsteller Max Seiling (1852-1928) — seit seinem Austritt aus der Anthroposophischen Gesellschaft im Jahre 1916 ein gehässiger Feind Rudolf Steiners -gehörten zum Kreis der Gesellschaft. Eine besondere Stellung als Ehrenmitglieder der Gesellschaft genossen der Ariosoph Jörg Lanz von Liebenfels (siehe Hinweis zu S.151), Begründer des ONT («Ordo Novi Templi»), sowie der deutsche Theosoph Franz Hartmann (1838-1912), bekanntlich ein entschiedener Gegner der Anthroposophie (siehe Hinweis zu 5. 163 in GA 173b). Vermutlich dachte Rudolf Steiner an dieses geistige Umfeld, wenn er davon sprach, daß es sich um geistige Richtungen handle, «die der unsrigen, der anthroposophischen, ganz entschieden feindlich und abträglich sind».

151 im Cotta'schen Verlage: Der Cotta'sche Verlag heißt eigentlich «J. G. Cotta'sche Buchhandlung» und wurde 1659 durch Johann Georg Cotta in Tübingen gegründet. Die durch ihn und seine Nachfolger betriebene gediegene Geschäftspolitik machte den Verlag allgemein bekannt. Es war Johann Friedrich Freiherr Cotta von Cottendorf (1764-1832), der dann den Verlag - zum Beispiel durch die Her-



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Rudolf Steiner hatte für den Cotta'schen Verlag durch Vermittlung von Ludwig Laistner (1845-1896) «eine vollständige Schopenhauer-Ausgabe und eine Ausgabe von ausgewählten Werken Jean Pauls» (GA 28, XV. Kapitel, «Begegnungen mit Haeckel, Treitschke und Laistner») zu betreuen. Die von ihm verfaßten Bände erschienen im Rahmen der «Cotta'schen Bibliothek der Weltliteratur», die Laistner als literarischer Beirat für den Verlag betreute.

152 daß man von einer Stelle aus gewissermaßen versuchsweise solch einen «Vogel auffliegen» läßt. Brooks Adams hatte zunächst Mühe, einen Verleger für sein Werk zu finden. Der Verlag «Houghton, Mifflin & Co.» in Boston lehnte die Publikation ab; erst mit dem Londoner Verlag «Swan Sonnenschein & Co.» hatte er Erfolg. Dieser erklärte sich bereit, gegen eine Kostenbeteiligung das Buch zu drucken. Weiter stimmte der renommierte Verlag «Macmillan's» in New York zu, einen Teil der Auflage fest zu übernehmen. Das Buch verkaufte sich über Erwarten gut, und bald wurde eine zweite, überarbeitete Auflage ins Auge gefaßt, die nun in den Vereinigten Staaten erschien (siehe Hinweis zu 5. 151).Brooks Adams war ein wacher Zeitgenosse, der mit großem Interesse die verschiedenen modernen Denkströmungen verfolgte. So war er zum Beispiel mit dem Werk der damaligen maßgebenden Denker wie zum Beispiel Herbert Spencer (siehe Hinweis zu 5. 53 in GA 173c) oder Karl Marx gut vertraut. Uber das Zustandekommen seines Buches schrieb Brooks Adams am 25. Februar 1896 in einem Brief an Theodore Roosevelt (zitiert nach: Arthur Beringause, Brooks Adams. A Biography, New York 1955): «Ich hatte keine Vorstellung, daß es sein würde, wie es ist. Mit anderen Worten, es geschah automatisch und war sozusagen das Werk eines zweiten Ichs -eines Ichs, daß sehr aktiv sein muß, das aber nicht an die Oberfläche kommt. »1

Uber die Bedeutung von Brooks Adams schreibt sein Biograph Arthur Beringause («Prologue»): «Brooks Adams verdient Aufmerksamkeit. Es lohnt sich, sein Werk zu analysieren. Denn es war wahrscheinlich der erste umfassende Versuch eines Amerikaners, eine wissenschaftliche Formel zu entwickeln, die historische Abläufe erklärbar macht. Schon vor Charles A[ustin] Beard [amerikanischer Historiker, 1874-1948] hatte Adams das Klassenvorurteil in unserer Konstitution beschrieben. Er nahm sowohl Spenglers Theorie vom Untergang des Abendlandes voraus als auch sein Konzept von der Entwicklung der Machtverhältnisse. Adams war einer der ersten, die den Einfluß der Geographie auf die Politik erkannten. Und während Adams in vielen Dingen mit Karl Marx übereinstimmt, bietet er dennoch Korrektive in bezug auf die Philosophie des Deutschen, besonders auf dem Felde der Finanzen und der Ökonomie. »2



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152 die Ideen, die in diesem Buch entwickelt werden: Die Grundideen, die Adams anhand zahlreicher historischer Beispiele im Gang durch fast 2500 Jahre Weltgeschichte darlegt, sind in der «Vorrede» zu seinem Buch zusammengefaßt. Adams geht davon aus, daß es alte und junge Völker von unterschiedlicher Zivilisationsart gibt und daß sich diese in einem Kampf ums Dasein befinden: «Das Weltall kennt keinen stationären Zustand. Nicht mehr vorwärtsschreiten heißt zurückschreiten, und wenn eine intensiv zentralisierte Gesellschaft unter dem Drucke der ökonomischen Konkurrenz auseinanderzugehen, sich zu zersetzen beginnt, so ist eben die Energie der Rasse erschöpft. Wir werden so anscheinend zum Schlusse geführt, daß den Überlebenden einer solchen Zivilisation die zu einer neuerlichen, vorgeschritteneren Zentralisation erforderliche Lebenskraft mangelt, und die Regionen, die sie bewohnen, müssen wahrscheinlich brachliegen, bis ihrer Rasse mit fremdem, barbarischem Blute neue Jugendkraft und neues Leben zuströmt. » In seinem späteren Werk «Das Herz der Welt» (siehe Hinweis zu S. 151) verwendet Brooks Adams das Bild des Zyklons, um den Aufstieg und Verfall einer Zivilisation zu erklären (VI. Kapitel): «Die Eigenart dieser pendelnden Bewegung des Sitzes der Energie mag einem Zyklon verglichen werden, wo die höchste Schnelligkeit im zentralen Wirbel erreicht wird und wo die Tendenz zur Ruhe der Distanz vom Wirbelpunkt proportional ist. Wenn nun dieser Wirbel vorrückt, tritt in den in seinem Wege liegenden Staaten eine starke Belebung ein, während in seiner Spur die Müdigkeit eintritt, die in Erstarrung übergeht, und die Erstarrung endet nicht selten mit dem Tode. »Diese Idee vom zivilisatorischen Auf- und Abstieg von großen Volkszusammenhängen wird auch beim englischen Okkultisten Charles George Harrison (siehe Hinweis zu 5. 31) erwähnt. Auch er findet (Zweiter Vortrag, zitiert nach der deutschen Übersetzung von 1897)«dieselben Erscheinungen von Geburt, Wachstum und Tod in grösserem Maßstabe wiederholt im nationalen Leben», allerdings «ebenso verschieden von jenen der Individuen, aus welchen die Nation zusammengesetzt ist».' Überhaupt war diese Auffassung unter den Theosophen weit verbreitet. So erwähnt zum Beispiel Alfred Percy Sinnett (siehe Hinweis zu 5. 222 in GA 173c) in seinem Buch «Esoteric Buddhism» einen Mahatma, der ihn auf das Werden und Vergehen von bisher unbekannten großen Zivilisationen aufmerksam gemacht habe (zitiert nach: Ausgabe London 18988, Chapter IV, «The World Periods»): «Wir behaupten, daß weit höhere Kulturen als die unsere entstanden und wieder zerfallen sind. Es reicht nicht zu sagen, wie es manche eurer modernen Autoren tun, daß eine erloschene Kultur existierte, bevor Rom und Athen gegründet wurden. Wir versichern, daß es sowohl vor als auch nach der Eiszeit eine ganze Reihe von Kulturen gab, die an den verschiedensten Stellen des Globus existierten, ihre Blütezeit erreichten und dann starben. »2 Und in bezug auf unsere heutige Zeit habe dieser



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Mahatma darauf hingewiesen, «daß die spirituell am höchsten entwickelten Völker, die derzeit auf Erden leben, zur ersten Unterrasse der fünften Wurzelrasse gehören, und das sind die arischen Asiaten; die höchste Rasse ist die letzte Unterrasse der fünften -ihr, die weißen Eroberer. Der größte Teil der Menschheit gehört zur siebenten Unterrasse der vierten Wurzelrasse - die [...] Chinesen und ihre Nachkömmlinge und Verzweigungen (Malaien, Mongolen, Tibeter, Javaner und so weiter) mit Überresten von anderen Unterrassen der vierten und von der siebenten Unterrasse der dritten Wurzelrasse. Alle diese gefallenen, erniedrigten menschenartigen Wesen sind direkte Abkömmlinge von hochzivilisierten Völkern, von denen weder Namen noch Erinnerungen überlebt haben außer in solchen Büchern wie dem <Populvuh>, dem heiligen Buch der Guatemalteken und einiger anderer Völker, die der Wissenschaft unbekannt sind. »1 Diese Anschauung bildet sozusagen die Vorstufe für die Lehre, die der angelsächsischen Zivilisation eine Vorreiterrolle für die heutige fünfte nachatlantische Zeitepoche zuspricht (siehe Hinweis zu 5. 101 in GA 173b).

Solche Vorstellungen vertrat zum Beispiel auch der britische Premierminister Robert Cascoyne-Cecil, Marquess of Salisbury (siehe Hinweis zu 5. 238). In einer Rede vor der «Primrose League», die er am 4. Mai 1898 hielt und die dem Thema «Living and Dying Nations» gewidmet war, sagte er (zitiert nach: «The New York Times» Vol. XLVII, 18. Mai 1898): «Man kann die Nationen dieser Welt grob unterteilen in solche, die leben, und solche, die sterben. Auf der einen Seite gibt es große Länder mit enormer Macht, die mit jedem Jahr noch zunimmt -Länder mit wachsendem Reichtum, ausgedehnteren Besitzungen und grösserer Perfektion der Organisation. »2 Und auf der anderen Seite: «Neben diesen großartigen Gebilden, deren Kräfte anscheinend durch nichts zu mindern sind und deren rivalisierende Ansprüche in der Zukunft vermutlich nur durch eine blutige Entscheidung ausgetragen werden können, gibt es eine Reihe von Gemeinschaften, die ich nur als sterbend beschreiben kann, obschon dieser Ausdruck natürlich in sehr unterschiedlicher Weise auf sie anwendbar ist und mit einem sehr unterschiedlichen Grad von Sicherheit. Es sind hauptsächlich nichtchristliche Gemeinschaften, aber ich bedaure sagen zu müssen, daß das nicht ausschließlich der Fall ist; und in diesen Staaten nehmen Desorganisation und Verfall fast ebenso schnell zu wie Konzentration und Macht in den lebendigen Staaten neben ihnen.» 3 Die Folge dieser Entwicklung: «Aus welchem



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Grund auch immer, sei es aus politischen Notwendigkeiten oder unter Vorspiegelung von Philanthropie -die lebendigen Nationen werden allmählich die Territorien der sterbenden usurpieren und die Keime und Ursachen von Konflikten zwischen den zivilisierten Nationen werden rasch zutage treten. Natürlich kann nicht vorausgesetzt werden, daß irgendeine von den lebendigen Nationen das profitable Monopol zugestanden wird, diese unglücklichen Patienten zu heilen oder zu zerschneiden. Und in den Auseinandersetzungen wird es darum gehen, wer dieses Privileg haben soll und bis zu welchem Grade er es nutzen darf Diese Dinge können Gründe für fatale Differenzen zwischen den großen Nationen abgeben, deren mächtige Armeen drohend einander gegenüberstehen. Das sind die Gefahren, die uns, wie ich glaube, in der nächsten Zeit bedrohen.»' Und was das für die Richtung der englischen Politik heißt: «Wir werden gewiß nicht zulassen, daß England benachteiligt wird bei einer Neugestaltung, die in Zukunft Platz greifen mag. Auf der anderen Seite werden wir nicht neidisch sein, wenn Verwüstung und Unfruchtbarkeit durch die territoriale Vergrößerung eines Rivalen beendet werden in Regionen, wo unsere Armeen nicht hingelangen können.» 2 Die «Primrose League» war eine politische Vereinigung, die im Jahre 1883 in London zur Verbreitung konservativen Gedankengutes gegründet worden war -die Primel soll die Lieblingsblume des konservativen Politikers Benjamin Disraeli (siehe Hinweis zu S. 23) gewesen sein. Einer der wichtigen Initianten der Gründung war der Vater von Winston Churchill, der konservative Politiker Randolph Henry Spencer Churchill (1849-1895). In ihrer Organisation war die «Primrose League» dem «Orange Order» (siehe Hinweis zu 5. 60 in GA 173b) nachempfunden; allerdings waren auch Frauen zugelassen, und die einzelnen Sektionen wurden nicht «lodges», sondern «habitations» genannt. Die «Primrose League» war besonders in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg eine äußerst einflußreiche Organisation; ihre Mitgliederzahl übertraf jene der britischen Gewerkschaftsbewegung. Nach dem Zweiten Weltkrieg verlor sie an Bedeutung und wurde 2004 aufgelöst.

152 Gewisse Eigenschaften schreibt Brooks Adams also einer ganz bestimmten Entwicklungsperiode der Völker zu. Brooks Adams äußert in seiner «Vorrede» die Überzeugung, «daß das Gesetz von der Erhaltung der Energie auf das Gesamtgebiet der Natur Anwendung findet». Deshalb: «Die erste Schlußfolgerung aus diesem Fundamentalgesetz ist, daß jede menschliche Gesellschaft als eine Form des animalen Lebens aufzufassen ist, daß diese Gemeinwesen, je nachdem die Natur sie begabt hat, eine verschieden große Energie aufweisen müssen. Eine der wichtigsten Äusserungen der menschlichen Energie ist der Instinkt, und unter den primitiven, unter den einfachsten Instinkten sind es vor allem zwei, die eine hervorragende Rolle spielen, die Angst und die Habgier. Die Angst ist es, die auf die Einbildungskraft



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wirkt, die den Glauben an eine unsichtbare Welt schafft und in letzter Entwicklung den Priester hervorbringt, und die Habgier ist es, die der Energie durch die Kanäle des Krieges und des Handels einen Ausweg bahnt.»Deshalb ist -nach Adams -zwischen zwei gegensätzlichen Gesellschaftstypen zu unterscheiden (ebenfalls zitiert aus der «Vorrede»): «In den primitiven Perioden der Konzentration scheint es vor allem die Angst zu sein, in der die Energie sich einen Ausweg bahnt; dementsprechend ist in den primitiven, im zerstreuten Zustande lebenden Gemeinwesen die Einbildungskraft sehr groß und lebendig, und die Charaktertypen, die eine solche Epoche hervorbringt, sind der religiöse Mensch, der Soldat und der Künstler. Mit der fortschreitenden Konsolidation [Verdichtung] aber tritt an die Stelle der Angst die Habgier; der ökonomische Organismus arbeitet sich empor und sucht den emotiven und kriegerischen Typus zu verdrängen. » Denn: «Wie reich auch der durch Eroberung aufgesammelte Energievorrat einer Rasse sein mag, ist sie einmal in die Phase der ökonomischen Konkurrenz eingetreten, so muß sie früher oder später die Grenze ihrer kriegerischen Energie erreichen. » Und die Folge: «In dieser letzten Phase der Konsolidation tritt der ökonomische und vielleicht auch der wissenschaftliche Intellekt hervor, während die Einbildungskraft verweht und der emotive, der kriegerische und der künstlerische Typus aus der Menschheit schwinden. »

153 Wer das Buch von Brooks Adams aufmerksam liest: Adams schreibt am Schlusse seines Buches (XIV. Kapitel, «Die Dekadenz»): «Im Laufe der Jahrhunderte nahm die zentralisierte Gesellschaft immer mehr von dem jungen Barbarenblute, das ihr aus den Gebieten jenseits der Donau und des Rheines zuströmte, in sich auf, doch dieses Blut war im Überfluß vorhanden. Und als die westlichen Provinzen zerfielen, breitete sich eine neue imaginative Rasse über Italien und über Frankreich aus; sie schuf eine neue Religion, eine neue Kunst, eine neue Literatur und neue Sitten. Unter den modernen Nationen ist nur den Russen diese Fähigkeit zu eigen, die unterworfenen Völker zu absorbieren [...].»

154 daß der Goethe'sche Satz eine tiefe Wahrheit hat. In dem um 1780 entstandenen Hymnus über «Die Natur» schreibt Goethe (in GA lb): «Ihr Schauspiel ist immer neu, weil sie immer neue Zuschauer schafft. Leben ist ihre schönste Erfindung, und der Tod ist ihr Kunstgriff viel Leben zu haben. » Dieser Hymnus ist im 2. Band der von Rudolf Steiner im Rahmen von «Kürschners Deutsche National-Litteratur» herausgegebenen Reihe «Goethes Naturwissenschaftliche Schriften» (115. Band: Goethes Werke XXXIV) enthalten; er findet sich dort im Ersten Buch mit dem Titel «Zur Naturwissenschaft im Allgemeinen».

156 auf einen König von England, der für England in bezug auf die religiöse Entwicklung. König Heinrich (Henry) VIII. aus dem Herrscherhaus der Tudor regierte vom Mai/April 1509 bis Februar/Januar 1547. Politisch am folgenreichsten waren die von ihm betriebene Herauslösung der anglikanischen Kirche aus der päpstlichen Kirchenorganisation und ihre Unterstellung unter die königliche Autorität (siehe Hinweis zu 5. 158). Heinrich VIII. ist vor allem dadurch bekannt, daß er insgesamt sechsmal verheiratet war: mit Catherine of Aragon (Catalina de Aragon y Castilla, 1509 bis 1533), Anne Boleyn (1533 bis 1536),Jane Seymour (1536 bis 1537), Anne of Cleves (Anna von Jülich-Cleve-Berg, 1540), Catherine Howard (1540 bis 1542) und Catherine Parr (1543 bis 1547). Von seiner ersten, seiner zweiten und seiner vierten Frau ließ er sich scheiden; seine zweite und seine fünfte Frau ließ er wegen angeblicher ehelicher Untreue hinrichten, und seine dritte Frau starb wenige Tage nach der Geburt des von ihm so sehr ersehnten Thronfolgers. Das Thronfolgeproblem



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156 der große, bedeutende Thomas Morus: Thomas More (oder latinisiert Morus, 1478 —1 535) entstammte einer bürgerlichen Familie; sein Vater wirkte zunächst als Anwalt, später als Richter. Schon früh zeigte sich bei Thomas More eine vielfältige Begabung, verbunden mit einer starken Persönlichkeit und einer intensiven inneren Religiosität. 1492 begab er sich nach Oxford, wo er die «artes liberales», die «Sieben freien Künste», studierte. Die sieben Künste umfaßten zunächst das «Trivium» Grammatik, Rhetorik und Logik, dem sich das «Quadrivium» Arithmetik, Geometrie, Musik und Astronomie anschloß. Die Beschäftigung mit den freien Künsten bildete im Mittelalter die Grundlage für die eigentlichen wissenschaftlichen Studienfächer Theologie, Jurisprudenz und Medizin. 1494 kehrte More nach London zurück, wo er sich zum Juristen ausbildete und schließlich dieselbe Laufbahn wie sein Vater einschlug. Sehr schnell wurde er auch mit Verwaltungsaufgaben betraut. So übte er von 1510 bis 1518 auch das Amt eines «Under-Sheriff» der Stadt London aus. 1504 wurde er erstmals ins Unterhaus («House of Commons») gewählt, wo er gegen die übermäßige Besteuerung durch König Heinrich VII. kämpfte, was ihm die königliche Mißbilligung eintrug. Hingegen gewann er bald die Gunst des neuen Königs Heinrichs VIII., der 1509 die Nachfolge seines Vaters angetreten hatte. Von 1516 an war er an verschiedenen diplomatischen Missionen im Ausland beteiligt, zum Beispiel in Flandern und in Calais. 1517 wurde er Mitglied des königlichen «Privy Council». 1521 wurde er zum stellvertretenden Schatzkanzler («Under-Treasurer») ernannt und in den Ritterstand erhoben. 1523 wirkte er vorübergehend als «Speaker» des Unterhauses. 1525 erhielt er das Amt eines Kanzlers des Herzogtums Lancaster. Im November/Oktober 1529 wurde er Staatskanzler («Lord Chancellor») —der erste Laie in diesem Amt. In seinen Aufgabenbereich gehörte auch die Verfolgung der Ketzer. More befürwortete die Einheit der Kirche und betrachtete Häresie als Laster. So war er nicht grundsätzlich gegen die Hinrichtung von Ketzern eingestellt, aber während seiner Amtszeit wurden nur vier Todesurteile vollstreckt. More setzte sich auch mit den Bestrebungen von Luther auseinander, lehnte sie aber als überzeugter Katholik ab. Dieses Festhalten an der katholischen Tradition und am Papsttum brachte ihn zunehmend in Gegensatz zu König Heinrich VIII. (siehe Hinweis zu 5. 156), der die päpstliche Autorität wegen seines Scheidungswunsches in Frage zu stellen begann. Schließlich entschied er sich im Mai 1532 zum Rücktritt als Staatskanzler. Sein weiterer Widerstand führte schließlich zu seiner Verhaftung und Hinrichtung (siehe Hinweis zu 5. 157).More war zweimal verheiratet und führte ein sehr harmonisches Familienleben. Er war mit vielen bedeutenden Geistern seiner Zeit befreundet, zum Beispiel seit 1497 mit dem Humanisten Erasmus von Rotterdam (Desiderius Erasmus Roterodamus, um 1469 —1536), mit dem ihn eine lebenslange Freundschaft verband. More wurde 1886 selig- und 1935 heiliggesprochen. Im Laufe seines Lebens verfaßte er zahlreiche Werke. Eine große Beachtung fand er vor allem durch seine Schrift «Utopia» (siehe Hinweis zu 5. 158). Vom Mai bis Oktober 1515 hielt er sich als Mitglied einer englischen Gesandtschaft in Flandern auf, wo er mit Erasmus von Rotterdam zusammentraf und weitere Humanisten kennenlernte, zum Beispiel Hieronymus Buslidius (Busleiden, um 1470-1517) oder Petrus Aegidius (Peter Gilles, 1486-1533). In dieser Zeit schrieb er den Schlußteil seiner Schrift. Den Anfangsteil verfaßte er im folgenden Jahr, nach seiner Rückkehr nach London und noch vor Beginn seiner politischen Laufbahn.



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156 den wunderbaren Pico della Mirandola: Giovanni Pico della Mirandola (1463 —1494) war der jüngste Sohn des mittelitalienischen Grafen von Mirandola und Concordia. Aufgrund des Reichtums seiner Familie mußte er sein Leben lang nie materielle Not leiden. Ursprünglich von seiner Mutter für die priesterliche Laufbahn bestimmt, studierte er seit 1477 in Bologna kanonisches Recht. Die Aussicht auf das Leben innerhalb der Kirche befriedigte ihn nicht; sein Interesse galt vielmehr der Philosophie. Von 1479 bis 1480 setzte er seine Studien in Ferrara und von 1480 bis 1482 in Padua fort. Er erwarb sich umfassende Kenntnis in verschiedenen alten Sprachen und setzte sich mit den unterschiedlichen philosophischen Systemen auseinander. Pico schwebte eine Harmonisierung der verschiedenen philosophischen Ansätze, aber auch der verschiedenen religiösen Traditionen vor. Ein Brückenschlag zwischen der christlichen Weltauffassung und den altorientalisch, jüdisch oder islamisch geprägten Weltsichten schien ihm durchaus möglich. Er war überzeugt, daß zum Beispiel die esoterische Lehre der Kabbala nicht im Widerspruch zum Christentum steht, sondern geradezu auf das Christentum hinweist, allerdings auf ein erweitertes und vertieftes Christentum.Seit 1484 lebte Pico in Florenz, wo er sich nicht nur mit dem italienischen Dichter Angelo Poliziano (eigentlich Ambrogini, 1454 —1494) oder dem Leiter der erneuerten «Platonischen Akademie», Marsilio Ficino (1433 —1499) befreundete, sondern auch mit Lorenzo de' Medici (1449 —1492), dem Stadtherrn von Florenz. 1486 begab er sich nach Rom, wo er an der Stätte der Christenheit seine Ansichten, die er in 900 Thesen («conclusiones») zusammengefaßt hatte, in der Öffentlichkeit diskutieren lassen wollte. Der Papst, damals Innozenz VIII., verhinderte eine solche öffentliche Auseinandersetzung und erklärte nicht nur einige der Thesen als häretisch, sondern verdammte schließlich alle Thesen. Picos Traum einer Zusammenführung aller Denkrichtungen zur Vertiefung und Erneuerung des Christentums hatte sich als unerfüllbar erwiesen. Schließlich flüchtete Pico 1487 aus Rom in der Hoffnung, an der Pariser Universität auf mehr Verständnis zu stoßen -bereits 1485 hatte er sich vorübergehend in Paris aufgehalten. Aber bevor er dort ankam, wurde er 1488 vom französischen König Karl VIII. in Schutzhaft genommen. Durch die Fürsprache Lorenzos konnte er aber im selben Jahr nach Florenz zurückkehren, wo ihm sein Beschützer Lorenzo de' Medici eine Villa in Fiesole zur Verfügung stellte. Dort lebte er zurückgezogen (siehe Hinweis zu 5. 113) bis zu seinem vorzeitigen Tode; vermutlich wurde er von seinem Sekretär, Cristoforo da Casalmaggiore, vergiftet. 1493 erlebte Pico die Genugtuung, daß der neue Papst Alexander VI. die Verfügungen seines Vorgängers annullierte und ihm die Absolution erteilte.

157 das Aufsteigen durch die Grade mit gewissen Formeln verbunden ist: In seinem Buch «Geschichte freimaurerischer Systeme in England, Frankreich und Deutschland» (Berlin 1879) gibt Christian Karl Friedrich Wilhelm Freiherr von Nettelbladt (1779 —1 843) im Zusammenhang mit der englischen Freimaurerei (Beilage III, «Art und Weise einen Freimaurer zu machen - Altes Ritual») auch die verschiedenen Schwurformeln wieder, die der Lehrling, der Geselle und der Meister bei der Aufnahme in den jeweiligen Grad zu sprechen hatten. So mußte der künftige Meister schwören, nachdem er gelobt hat, die Geheimnisse der Freimaurer zu bewahren: «Alles dies schwöre ich mit dem festen, unerschütterlichen Vorsatz, es zu halten, ohne Unschlüssigkeit, geheimen Vorbehalt und innere Ausflucht, unter keiner geringeren Strafe, als daß mein Körper in zwei Teile geteilt, der eine nach Süden, der andere nach Norden gebracht werde, meine Knochen verbrannt, die Asche durch alle vier Winde zerstreut und mein ganzes Dasein aus aller Menschen Gedächtnis getilgt werde. So helfe mir Gott und erhalte mich standhaft in dieser meiner freiwillig



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157 Das über Thomas Morus gefällte Urteil stimmt nun durchaus mit einer bestimmten Gradformel überein: Am 11./1. Juli 1535 wurde Thomas More von der Richterkommission der Zwanzig wegen Hochverrats zum Tode verurteilt. Die über Morus verhängte Todesart hat eine große Ähnlichkeit mit der angedrohten Todesart eines Meisters bei Geheimnisverrat. Das Urteil lautete: «Daß er zurück gebracht und von dort in einem Schaukäfig durch die City von London nach Tyburn gezogen werde, um dort gehen/et zu werden, bis er halbtot sei. Daß er - noch lebendig - heruntergeholt werde, daß seine Geschlechtsteile abgeschnitten, sein Bauch aufgeschlitzt und die Eingeweide verbrannt werden. Daß [er gevierteilt werde] und daß die vier Teile über vier Toren der Stadt sowie sein Kopf auf der London Bridge zur Schau gestellt werden. »1Am 16/6. Juli 1535 wurde More hingerichtet, nachdem König Heinrich VIII. als Todesart die Gnade der einfachen Enthauptung im Tower gewährt hatte. Die vom Gericht verkündete Strafe war allerdings die damals für Hochverrat übliche Strafe. So wurden drei Tage vor Thomas Mores Hinrichtung drei Karthäusermönche aus London, die sich ebenfalls geweigert hatten, den Suprematseid zu leisten, auf diese grausame Weise zu Tode gebracht.

158 den Suprematseid: Am 21.111. November 1534 verabschiedete das englische Parlament den «Act of Supremacy», wodurch der König -damals Heinrich VIII. (siehe Hinweis zu 5. 156) — zum «Protector and only Supreme Head of the Church and Clergy of England» erklärt wurde und alle bisherigen Befugnisse der römischen Kirche auf ihn und seine Nachfolger übertragen wurden. Jeder Geistliche, Parlamentarier oder Verwaltungsbeamte war aufgefordert, den Suprematseid zu leisten und damit den König als Oberhaupt der Kirche in England anzuerkennen. Diese Pflicht zur Leistung des Suprematseides wurde erst am 13. April 1829 aufgehoben.Durch die Schaffung einer vom Papste unabhängigen anglikanischen Staatskirche («Ecclesia Anglicana» oder «Church of England») mit dem König als ihrem Oberhaupt hatte die englische Reformation ihren ersten -vorläufigen -Höhepunkt erreicht, ohne allerdings den grundsätzlich katholischen Charakter des Dogmas und der Liturgie in Frage zu stellen. Die antiklerikale Gesetzgebung des englischen Parlamentes hatte mit dem Zusammentritt des sogenannten Reformations-Parlamentes am 13./3. November 1529 begonnen, wobei der Wunsch Heinrichs VIII., die Ehe mit Katharina (Catherine) von Aragon annullieren zu lassen, nur einer der Gründe für diese Entwicklung war.

Thomas More lehnte diese gegen die Kirche gerichtete Entwicklung ab; bereits am 26./16. Mai 1532 war er aus Protest von seinem Amt als Staatskanzler zurückgetreten und hatte sich ins Privatleben zurückgezogen. Er hatte auch nicht an den Krönungsfeierlichkeiten für Anna Boleyn, die neue Königin - sie fanden am 10. Juni/31. Mai 1533 statt -teilgenommen. Damit rief er den Zorn des Königs hervor. Als er zur Eidesleistung auf den «Act of Succession» vom 9. April/30. März 1534 aufgefordert wurde -die Anerkennung der Annullierung der ersten Ehe und



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die Neuregelung der Thronfolge durch alleinige Zulassung der Nachkommen aus der zweiten Ehe -, verweigerte er aus religiösen Gründen die Eidesleistung, obwohl er gegen die neue Nachfolgeregelung grundsätzlich keine Einwände hatte. Er wurde deswegen am 27/17. April 1535 in den Tower -das englische Staatsgefängnis bei London - überführt. Er befand sich bereits im Gefängnis, als die Suprematsakte vom Parlament verabschiedet wurden. Aufgefordert, den Suprematseid zu leisten, verweigerte er auch diesen. Damit war sein Schicksal besiegelt.

In den Monaten Mai bis Juni wurde More viermal verhört; am 8. Juli/28. Juni wurde schließlich der Prozeß gegen More eröffnet. Die Anklage lautete: «Ihnen wird der Versuch zur Last gelegt, dem König seines rechtmäßigen Titels als Oberhaupt der Kirche von England zu berauben, was Verrat ist. Sie haben sich geweigert, am 7. Mai [27. April 1535] im Angesicht der Beauftragten Seiner Gnaden das königliche Supremat anzuerkennen. »1 Und schließlich: «Sie hielten ihr Schweigen in der Frage des Supremats aufrecht, als Sie am 3. Juni im Tower of London formell verhört wurden. In einer Unterredung mit dem Kronanwalt Sir Richard Rich verneinten sie, daß das Parlament die Befugnis habe, Seine Gnaden zum Oberhaupt der Kirche von England zu erklären. »2

158 Thomas Morus hat das Buch «Utopia» geschrieben: «Utopia», die in Lateinisch verfaßte Schrift von Thomas Morus, erschien erstmals 1516 in Löwen. Ihr voller Titel lautete: «De optimo rei publicae statu deque nova insula Utopia, libellus vere aureus» («Ein wahrhaft kostbares und ebenso bekömmliches wie kurzweiliges Buch über die beste Staatsverfassung und die neue Insel Utopia»). 1517 wurde dieses Buch auch in Paris in französischer Sprache und 1518 in Basel in deutscher Sprache veröffentlicht. Die erste englische Übersetzung erschien erst 1551, sechzehn Jahre nach dem gewaltsamen Tode seines Verfassers, in London. Für die Schilderung der Zustände in Utopia stützte sich Rudolf Steiner auf die Übersetzung von Hermann Kothe, die als Bändchen in Reclam's Universal-Bibliothek, unter dem Titel «Utopia» (Leipzig o. J.)[1890] erschienen war.

158 also über das Land «an keinem Ort», man könnte sagen über das «Nirgend-Land»: Thomas Morus ist der Erfinder des Wortes «Utopie». Hinter dem Namen «Utopia» verbirgt sich ein Wortspiel: Utopia kann nicht nur als ein «ou-topos», ein Nicht-Land, sondern auch als ein «eu-topos», ein Schön-Land, gedeutet werden. Morus war ein großer Liebhaber von Wortspielen. So nannte er sein Land auch «Nusquama» («Nirgend»-Land) —abgeleitet vom lateinischen Wort «nusquam» («nirgends») —oder «Udepotia» («Niemals»-Land) —vom Griechischen «oudepote» («niemals»).

158 Der Hauptteil des Buches handelt von «Utopia», aber das Buch hat eine Einleitung: Die Schrift von Thomas Morus besteht aus zwei Teilen, einer Art «Einleitung» («Erstes Buch») und der eigentlichen Beschreibung der Zustände in «Utopia» («Zweites Buch»). Die Einleitung verfaßte Morus erst nach Beschreibung der Verhältnisse in Utopia. Die von Rudolf Steiner in der Folge vorgelesenen Zitate sind alle der Einleitung entnommen.



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159 Karl Prinzen von Kastilien: Karl Prinz von Kastilien (Carlos Principe de Castilia, 1500 —1558) aus dem Hause Habsburg war der Sohn von Königin Johanna (Juana) I. der Wahnsinnigen («la Loca»). Seine Mutter war zwar seit Dezember/November 1504 formell Königin von Kastilien («Castilia y Leon»), aber die Herrschaft übte sie -wegen angeblicher Geisteskrankheit -nie wirklich aus, sondern an ihrer Stelle regierte ihr Vater. Nach dessen Tod - ihr Vater war als Ferdinand (Fernando) V. König von Aragonien («Aragon») —wurde sie im Februar/Januar 1516 auch Königin dieses Landes. Damit waren die beiden spanischen Königreiche erneut durch Personalunion verbunden (siehe Hinweis zu 5. 91 in GA 173c). Die eigentliche Herrschaft übte aber ihr Sohn Karl aus, der im März 1516 ebenfalls zum König von Aragonien, im April 1516 von Kastilien proklamiert wurde. Bereits im Dezember 1506 hatte er bereits nach dem Tode seines Vaters Philipp (Felipe) I. des Schönen («el Hermoso») aus dem Hause Habsburg als Herzog von Burgund und Graf von Flandern die Herrschaftsrechte in den niederländischen Gebieten geerbt. Im Juli/ Juni 1519 wurde er als Karl V. zum deutschen Kaiser gewählt. Seit August 1521 stand Karl in Verhandlungen mit König Heinrich VIII. von England, die am 26/16. Juni 1522 mit dem Abschluß des Vertrages von Windsor endeten. Die Verlobung Karls mit der Tochter Heinrichs VIII., der kleinen Maria und späteren englischen Königin, wurde bestätigt, ebenfalls das Offensivbündnis gegen Frankreich. Die Vereinbarungen zwischen den beiden Herrschern zerschlugen sich jedoch drei Jahre später. Karl regierte die beiden Königreiche gemeinsam mit seiner Mutter bis zu deren Tode im April 1555. Er dankte im Januar 1556 zugunsten seines Sohnes Philipp (Felipe) II. (1527-1598) ab.

159 lernt er einen Mann kennen: Es handelt sich um den weitgereisten Portugiesen Raphael Hythlodée (Hythlodeus) (siehe Hinweis zu 5. 161). Thomas Morus im ersten Buch: «Raphael Hythlodée - der erste dieser Namen ist derjenige seiner Familie -versteht sehr gut das Lateinische und hat das Griechische ganz in seiner Gewalt. Das Studium der Philosophie, der er sich ausschließlich gewidmet hat, hat ihn veranlaßt, sich die Sprache von Athen vorzugsweise vor derjenigen Roms zu eigen zu machen. Daher wird er Ihnen über die geringsten Gegenstände nur Stellen aus dem Cicero oder Seneca zitieren. Sein Vaterland ist Portugal. Noch sehr jung trat er sein elterliches Erbteil seinen Brüdern ab, und da er der Lust, die Welt zu durchmessen, nicht widerstehen konnte, schloß er sich der Person und dem Glücksstern des Amerigo Vespucci [italienischer Seefahrer und Entdecker, 1451/4-1512] an. Während der drei letzten von den vier Reisen, deren Beschreibung man heutigen Tages überall liest, hat er diesen großen Seefahrer keinen Augenblick verlassen. Aber er kehrte nicht mit diesem nach Europa zurück. Seinen dringenden Bitten nachgebend, erlaubte Amerigo ihm, einer von jenen <Vierundzwanzig> zu sein, die im Innern Neukastiliens zurückblieben. Seinem Wunsche gemäß wurde er also an diesem Gestade gelassen, denn den Tod in fremdem Lande fürchtet unser Held nicht; er macht sich wenig aus der Ehre, in einem gehörigen Sarge zu verwesen, und oft genug hört man von ihm den Sinnspruch: <Dem Leichnam ohne Begräbnis dient der Himmel statt des Leichentuchs; den Weg zu Gott findet man überall.>Dieser abenteuerliche Charakter wäre ihm vielleicht verderblich geworden, hätte die Vorsehung ihn nicht beschützt. Wie dem auch sei, nach Abfahrt des Vespucci durchwanderte er mit fünf Kastilianern eine Menge Länder, gelangte, wie durch ein Wunder, zu Schiffe nach Tapobana und von dort nach Kalkutta, wo er portugiesische Schiffe fand, deren eines ihn gegen alles Erwarten in sein Vaterland zurückbrachte. »

159 daß er, [das heißt eigentlich sein Freund], den Mann fragt. Thomas Morus hatte anläßlich seines Aufenthaltes in den Spanischen Niederlanden die Bekanntschaft



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Nun schaltet sich Thomas Morus in das Gespräch ein: «Ich nahm jetzt das Wort: <Augenscheinlich, Raphael, jagen Sie weder dem Glücke noch großem Einfluß nach, und was mich betrifft, so hege ich deshalb nicht weniger Bewunderung und Achtung für Sie, als wenn Sie an der Spitze eines Reiches ständen. Dennoch scheint es mir eines so edlen und denkenden Geistes wie des Ihrigen vollkommen würdig, all seine Talente der Leitung öffentlicher Angelegenheiten zuzuwenden, und sollten Sie deshalb Ihr persönliches Wohlbefinden außer Augen setzen müssen. Das beste Mittel dazu aber ist unstreitig, in den Rat irgendeines Fürsten zu treten, denn ich bin überzeugt, daß Sie den Mund nie öffnen werden, außer der Ehre und Wahrheit zum Frommen. Sie wissen es, der Fürst ist die Quelle, aus welcher das Gute und das Böse sich wie ein Strom unter das Volk ergießt; und Sie besitzen so viele Kenntnisse und Talente, daß Sie, wenn Ihnen die Geschäftsroutine abgehen sollte, selbst dann noch einen vortrefflichen Minister unter dem unwissendsten König abgeben würden.> <Sie verfallen in einen zweifachen Irrtum, mein teurer Morus!>, erwiderte Raphael. <Sie täuschen sich sowohl in Beziehung auf den Sachbestand als auf die Person. Ich besitze bei weitem nicht die Fähigkeit, die Sie mir zuschreiben; doch gesetzt auch, ich besäße sie in hundertfachem Maße, so würde dennoch die Aufopferung meiner Ruhe der Öffentlichkeit von keinem Nutzen sein. Den Fürsten liegt zuvörderst nur der Krieg am Herzen - und gerade die Taktik ist eine Wissenschaft, die ich nicht kenne und auch niemals kennenlernen mag. Die segensreichen Künste des Friedens vernachlässigen sie. Handelt es sich um die Erweiterung ihrer Grenzen, so ist ihnen jedes Mittel recht; weder Geweihtes noch Weltliches, weder Verbrechen noch Blut macht ihre Entschlüsse wankend. Viel weniger machen sie sich daraus, die ihrer Herrschaft unterworfenen Staaten auch wohl zu regieren.>»

159 wie er einmal in einer andern Gesellschaft versucht habe. Der portugiesische Weltreisende hatte sich auch einige Monate in England aufgehalten und dabei die Bekanntschaft mit dem Erzbischof von Canterbury, John (Jean) Morton, gemacht. Er wurde von diesem hochgestellten Geistlichen auch zu Tisch eingeladen, wo er auf den berühmten Juristen traf, dessen Ansichten über das englische Justizsystem von Rudolf Steiner zitiert werden. Im Falle von Morton (um 1420-1 500) handelt es sich um eine wirkliche, historische Persönlichkeit; er wirkte von 1486 bis 1500 als Kardinalerzbischof von Canterbury und von 1487 bis 1500 als Staatskanzler («Lord Chancellor») von England. Damit gehörte er zu den Vorgängern von Thomas More in diesem Amt. Morton fühlte sich einerseits der Bewegung des Humanismus zugehörig, andererseits war er im Volk wegen seiner rigorosen Steuererhebungspolitik sehr verhaßt.

161 Aber nun wollen wir uns wirklich mit den Auseinandersetzungen dieses gescheiten Menschen. Gemeint ist der portugiesische Weltreisende Raphael Hythlodée, in



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162 in der Schlacht von Cornwallis oder in dem Feldzuge gegen Frankreich: 1497 erhoben sich die keltischen Einwohner von Cornwall aufgrund der zunehmenden Steuerbelastung durch die englische Krone gegen den englischen König Heinrich (Henry) VII. (1457-1509) aus dem Hause Tudor. In der Schlacht bei Blackheath (oder Deptford Bridge) in der Nähe von London wurde die Armee der Aufständischen am 26/17. Juni 1497 vernichtend geschlagen. Die Führer der Aufständischen, der Schmied Michael Joseph (An Gof) und der Anwalt Thomas Flamank, wurden hingerichtet und Cornwall einer starken wirtschaftlichen Repression unterzogen, die das Land weiter verarmen ließ.1491 hatte der französische König Karl (Charles) VIII. (1470-1498) aus dem Hause Valois sich durch die Heirat am 15.16. Dezember 1491 mit der Herzogin Anna (Anne, 1477-1514) die Herrschaft über das Herzogtum Bretagne gesichert, was den englischen König Heinrich VII. zu einem Feldzug gegen den französischen König veranlasste. Beendet wurde der englisch-französische Krieg am 18.19. November 1492 durch den Frieden von Etaples, durch den der englische König den Übergang der Bretagne an die französische Krone anerkannte. Durch den vorzeitigen Unfalltod Karls III. im Jahre 1498 fiel die Herrschaft über das Herzogtum Bretagne allerdings wieder an Herzogin Anna zurück, wodurch das Land vorübergehend seine Unabhängigkeit zurückgewann. 1532 wurde schließlich der endgültige Anschluß des Herzogtums an Frankreich verkündet.

165 Also auch einer, der sich an der Unterhaltung beteiligt: Es handelt sich um den Gastgeber der Tischgesellschaft, den Erzbischof von Canterbury (siehe Hinweis zu 5. 159).

167 den Gesinnungsgenossen des Pico della Mirandola: Siehe Hinweis zu 5. 156.

167 über weite Gebiete hin die Leute von ihren Ländereien vertrieben worden sind: Gegen Ende des 15. Jahrhunderts setzte die erste große Einhegungsbewegung ein; durch die sogenannten «enclosures» wurde Land, an dem alle Bewohner einer Grundherrschaft bestimmte gemeinsame Rechte hatten, durch die englischen Grundherren eingezäunt und in Privateigentum umgewandelt. Von diesen Einhegungen betroffen wurde entweder Allmendland, das als «common property» von allen Dorfbewohnern benutzt werden konnte, oder Land, auf dem bestimmte «common rights» lasteten und daher für bestimmte Nutzungsformen offenstanden, zum Beispiel für das System der gemeinsamen Bewirtschaftung («open-field farming»). Grund für die Neigung zur Privatisierung des englischen Bauernlandes war ein wirtschaftlicher: Die Schafzucht erwies sich als wesentlich profitabler als der Ackerbau, weshalb die Grundherren danach trachteten, möglichst viel Land für die Schafzucht zu verwenden. Auf diese Weise wurde Ackerland und kollektiv genutztes Weideland in individuell genutztes Weideland umgewandelt. Die Entwicklung verlief regional in unterschiedlicher Intensität, führte aber allgemein zur Entwurzelung der ärmeren Bevölkerungsschichten und brachte viel Not über diese Menschen, die als dörfliches Lumpenproletariat gezwungen waren, in die Städte abzuwandern. Im 18. und 19. Jahrhundert fanden die Einhegungen einen zweiten Höhepunkt; dieses Mal ging die Initiative vom englischen Parlament aus, das aber weitgehend von den englischen Grundbesitzern aufgrund des sehr restriktiven Wahlrechts beherrscht war. Die Macht des englischen Monarchen war zwar als Folge der revolutionären Ereignisse im 17. Jahrhundert eingeschränkt - insofern



173a-499 Hinweise zum Vortrag vom 16. Dezember 1916 Flip  arpa

167 in solchen Reden wie derjenigen von Lord Rosebery, die ich Ihnen neulich angeführt habe: Siehe Hinweis zu 5. 134.

168 was man für das 8. und 9. Jahrhundert das Reich Karls des Großen nennt: Im September 768 trat der Karolinger Karl (742-814) zusammen mit seinem Bruder Karlmann die Nachfolge seines Vaters, des fränkischen Königs Pippin, an, der das fränkische Reich unter seine beiden Söhne aufgeteilt hatte. Nach dem Tode seines Bruders im Dezember 771 übernahm er staatsstreichartig auch dessen Reichsteil, womit die Einheit des Karolingerreiches wiederhergestellt war. In der Folge dehnte er die fränkische Herrschaft nach Süden -Eroberung des Langobardenreichs - und nach Osten -Niederwerfung der Sachsen und der Bayern -weiter aus. Als König der Franken und der Langobarden wurde Karl von Papst Leo III. (unbekannt -816) am 25. Dezember 800 zum christlich-römischen Kaiser gekrönt, was eine Wiederanknüpfung an die weströmische Kaisertradition bedeutete. Karls des Großen Titel lautete: «Karl, durchlauchter Augustus, von Gott gekrönter, grosser friedensstiftender Kaiser, das römische Reich regierend» («Karolus serenissimus Augustus, a Deo coronatus magnus pacificus imperator Romanum gubernans imperium»). 812 wurde eine Einigung mit Byzanz als dem Repräsentanten der oströmischen Kaisertradition erreicht: Die Kaiserwürde Karls wurde vom byzantinischen Kaiser Michael J. (unbekannt-845) — er war vom Oktober 811 bis Juli 813 im Amt - anerkannt. Er betrachtete Karl nicht als gleichrangig, sondern in seinem Kaisertitel sah er bloß eine Rangerhöhung für einen König, der über viele Völker herrschte. Um sein Primat zu unterstreichen, legte er sich den Titel «Kaiser der Römer» («Basileus tön Rhömaiön») zu. Hatte Rom und mit ihm das Herrschaftsgebiet des Papstes bislang der byzantinischen Oberhoheit unterstanden, so beanspruchte nun Karl endgültig die weltliche Schutzherrschaft über Rom; er betrachtete sich als der Schutzherr («patronus et advocatus») der christlichen Kirche des Westens.

169 Aus dem Reiche Karls des Großen sind im wesentlichen drei Teilgebiete hervorgegangen: Nach dem Tode Karls des Großen im Januar 814 übernahm sein Sohn Ludwig I. (778 —840) die Kaiserwürde. Die Einheit des Reiches blieb damit vorerst gewahrt. Aber bereits in seiner Regierungszeit zeigten sich deutlich Tendenzen zu seiner Aufspaltung, stritten doch die Söhne Ludwigs bereits zu dessen Lebzeiten um die ihnen zukommenden Anteile. Nach seinem Tode im Juni 840 kam es zum Krieg unter den Brüdern, der mit dem Teilungsvertrag von Verdun vom August 843 — das genaue Datum der Abmachung ist nicht bekannt -endete: Ludwig erhielt den Westen (Westfränkisches Reich) und Karl den Osten (Ostfränkisches Reich), womit der Grundstein für die künftige selbständige Staatlichkeit Deutschlands und Frankreichs gelegt wurde. Lothar erhielt neben der Kaiserwürde den Mittelteil mit Italien, der sich aber als eigenes Reich auf die Dauer nicht halten konnte und zwischen dem West- und Östreich geteilt wurde, womit die Grundlage für die Entstehung des Heiligen Römischen Reichs deutscher Nation im 10. Jahrhundert gelegt wurde.

169 wie viele Sachsen Karl der Große hat abschlachten lassen: Der Krieg zwischen Franken und Sachsen dauerte -mit Unterbrechungen - von 772 bis 804 und endete mit der völligen Unterwerfung der Sachsen. Die Sachsen besaßen kein einheitliches Königtum, sondern ihre Staatlichkeit beruhte auf einer Föderation von verschiedenen



173a-500 Hinweise zum Vortrag vom 16. Dezember 1916 Flip  arpa

169 was schließlich dem Heiligen Römischen Reich zugrunde lag: Ursprünglich war das Heilige Römische Reich als eine über den einzelnen Staaten stehende Rechtsordnung gedacht, die das ganze christliche Abendland umfassen sollte und an deren Spitze der römische Kaiser stand. Praktisch handelte es sich um einen an den mittelalterlichen Reichsgrenzen orientierten, auf den Kaiserhof ausgerichteten Reichslehensverband, der die drei Königreiche, «regna», Deutschland, Burgund und Italien umfasste. Im Laufe des Mittelalters beschränkte sich das politische System immer mehr nur auf die deutschen Stände und Lande. So setzte sich gegen Ende des 15.Jahrhunderts als offiziöser Reichstitel die Bezeichnung «Heiliges Römisches Reich deutscher Nation» durch.

169 die Schrift über die Monarchie von Dante: Der mittelalterliche italienische Dichter Dante Alighieri (siehe Hinweis zu 5. 192) verfaßte gegen sein Lebensende, das heißt nach 1316, die lateinische Schrift «De monarchia libri tres» («Drei Bücher über die Monarchie»); einer breiteren Öffentlichkeit wurde sie erst bekannt, als sie in Lateinisch und in Deutsch 1559 in Basel erschien.Als höchstes, von Gott gesetztes Ziel des Menschengeschlechts bezeichnete Dante die vollkommene Verwirklichung der menschlichen Erkenntnisfähigkeit, denn nur dadurch waren Frieden, Gerechtigkeit und Freiheit für alle Menschen garantiert. Dante (J. Buch, 3. Kapitel, 8. Abschnitt): «Und weil diese Fähigkeit durch einen [einzelnen] Menschen oder eine Teilgemeinschaft nicht gänzlich in die Wirklichkeit umgesetzt werden kann, muß es die Gesamtheit der Menschen sein, durch welche diese gesamte Fähigkeit verwirklicht wird. » Dieses Ziel lasse sich aber nur im Rahmen einer gemeinsamen politischen Ordnung für das Menschengeschlecht erreichen, eines weltumfassenden «Imperium Romanum» mit einem Universalmonarchen an der Spitze. Allein in einem solchen Weltkaiser, der keine Konkurrenten mehr neben sich zu fürchten habe, sah er den Willen und das Vermögen vereinigt, die universale Eintracht unter den Menschen herzustellen, das heißt jedem Menschen das zu geben, was ihm zusteht.

169 daß Dante es war, der zum Beispiel dem Rudolf von Habsburg vorwarf: Rudolf von Habsburg (1218-1291) wurde im Oktober 1273 zum deutschen König gewählt, womit das seit 1254 dauernde Interregnum ein Ende fand. Die Kurfürsten hatten mit Absicht einen schwachen König gewählt - zu diesem Zeitpunkt verfügten die Habsburger nur über eine geringe Hausmacht im schwäbischen und eidgenössischen Raum. Durch gezielte Vergrößerung seines eigenen Territorialbesitzes, insbesondere durch den kriegerischen Erwerb der Herzogtümer Österreich, Steiermark, Kärnten, Kram im Jahre 1273 gelang es Rudolf von Habsburg, seine Stellung im Reich zu stärken. Die Wahl seines Sohnes Albrecht zum römischen König und



173a-501 Hinweise zum Vortrag vom 16. Dezember 1916 Flip  arpa

In seiner «Göttlichen Komödie» gibt es zwei Stellen, wo Dante König Rudolf und seinem Sohn Albrecht vorwirft, er hätte mehr zum Heil Italiens tun können - Dante gehörte aufgrund seiner familiären Herkunft zu der gemäßigten Fraktion der Guelfen, den Papstanhängern. Aber Dante war ein erbitterter Gegner des damaligen Papstes Bonifatius VIII. (siehe Hinweis zu 5. 197) und erhoffte sich von einem Eingreifen des deutschen Kaisers in die italienischen Verhältnisse eine politische Stabilisierung der Verhältnisse in Italien. Damit hatte Dante eigentlich auf die Seite der Ghibellinen, der Kaiseranhänger, gewechselt. Vom Verhalten des Königs Rudolf von Habsburg war er aber enttäuscht. So heißt es im 6. Gesang des «Fegefeuers» (zitiert nach: Philaletes, König Johann von Sachsen, Dante Alighieri's Göttliche Komödie, Leipzig 19045, Verse 97 bis 103):

O deutscher Albert [Albrecht], der das wildgewordne Unbänd'ge du sich selber überlässest, Und sollt'st doch seines Sattels Bug umspannen! Ein recht Gericht fall' aus den Sternen nieder Auf dein Geschlecht, und unerhört und klar sei's, Daß dein Nachfolger Furcht darob empfinde; Denn du nebst dem Erzeuger hast geduldet, Von Habbegierde jenseits festgehalten, Daß wüst gelegt des Reiches Garten wurde -Und im 7. Gesang (Verse 91-96) warf er Kaiser Rudolf vor:

Der dort am höchsten sitzt, dem man es ansieht, Daß er versäumt, was er vollbringen sollte, Und der den Mund nicht rührt zum Sang der andern, Rudolf der Kaiser, war er, der die Wunden, Die Welschland Tod gebracht, wohl heilen konnte, So daß es spät erst neu belebt ein andrer [König Heinrich VII. y. Luxemburg].

169 die Republik Venedig: Die im 5. Jahrhundert gegründete italienische Hafenstadt Venezia entwickelte sich im Laufe der Jahrhunderte zu einer mächtigen, aristokratisch regierten Stadtrepublik, an deren Spitze der Doge stand. Ursprünglich zum Herrschaftsbereich des Byzantinischen Kaiserreichs, dem Exarchat Ravenna, gehörig, erlangte Venedig im Jahre 1000 seine Unabhängigkeit von Byzanz. Seinen wirtschaftlichen Aufstieg verdankte es den zahlreichen Handelsprivilegien, die es sich - auch im Zusammenhang mit den Kreuzzügen - sichern konnte. Venedig entwickelte sich zur zentralen Durchgangsstation für den Handel zwischen dem Byzantinischen Reich und Heiligen Römischen Reich. Es stand dabei in ständiger Auseinandersetzung mit seinem Rivalen Genua. Nach der Eroberung Konstantinopels durch die Türken im Jahre 1453 wurde es zur führenden christlichen Macht im östlichen Mittelmeer. Zum venezianischen Herrschaftsbereich gehörten nicht nur die dalmatinischen Küstengebiete, sondern auch zahlreiche weitere Stützpunkte im Gebiet der Adria und der Agäis. Auch auf dem italienischen Festland hatte sich Venedig inzwischen ein Herrschaftsgebiet gesichert, die sogenannte «Terra ferma». Mit der Verlagerung der Handelsströme durch die Entdeckung des Seeweges



173a-502 Hinweise zum Vortrag vom 16. Dezember 1916 Flip  arpa

170 Zwar verschlang Venedig das Patriarchat Aquileia: Der Patriarch von Aquileia verfügte nicht nur über geistliche Metropolitangewalt, sondern herrschte seit 1077 auch als deutscher Reichsfürst über das Herzogtum Friaul sowie die Markgrafschaften Istrien und Kram. In der Stauferzeit war das Patriarchat Aquileia ein wichtiger Stützpunkt für die deutsche Herrschaft. Der Patriarch von Aquileia geriet immer mehr in politischen Gegensatz zur Republik Venedig, die zum byzantinischen Herrschaftsbereich gehört hatte und sich somit seit jeher außerhalb der Grenzen des Deutschen Reiches befand. Infolge der politischen Umorientierung, die auf den Erwerb eines zusammenhängenden Landgebietes in Oberitalien zum Schutz der Lagunenstadt hinzielte, geriet auch das benachbarte Patriarchat in den Expansionsbereich Venedigs. In der Zeit zwischen 1419 und 1420 eroberten venezianische Söldnertruppen, nachdem sie noch 1411 von kaiserlichen Truppen zurückgedrängt worden waren, das Herrschaftsgebiet des Patriarchen. Erst 1445 anerkannte dieser den Status quo und trat seine weltlichen Herrschaftsrechte endgültig an Venedig ab. In der Mitte des 15. Jahrhunderts erreichte Venedig den Höhepunkt seiner Machtausdehnung. Unter dem Druck der türkischen Expansion geriet Venedig in die Defensive. So mußte es zugunsten des Osmanischen Reiches 1571 auf Zypern und 1669 auf Kreta verzichten.

170 festen Fuß an der Adria, in den Küstengegenden der Adria zu fassen: Bereits um das Jahr 1000 hatten die Venezianer zahlreiche Städte und Landstriche im istrischen und dalmatinischen Küstenbereich ihrer Herrschaft unterworfen. Damit gesellte sich zum eigentlichen «Duca di Venezia» das «Duca d' Istria e Dalmazia». In den folgenden Jahrzehnten und Jahrhunderten erweiterte sich der venezianische Machtbereich weit ins östliche Mittelmeer hinein. Diese Besitzungen an den Küsten des Mittelmeeres nannten die Venezianer den «Stato da Mar» — im Gegensatz zum italienischen Festlandbesitz, der «Terra ferma».

170 in dem Italien unter dem Beifall der ganzen Welt seine Einigkeit fand: Siehe Hinweis zu 5. 171.

170 daß nirgends mehr als in deutschen Gebieten: So stieß die vor allem von Rußland, aber auch von Frankreich vertretene Idee einer neutralen italienischen Konföderation - sie wurde selbst nach der Gründung des italienischen Einheitsstaates unter der Führung des Hauses Savoyen von Außenminister Gorcakov noch vertreten - in Preußen auf Ablehnung. So schrieb der damalige preußische Gesandte in St. Petersburg und spätere preußische Ministerpräsident Otto von Bismarck in einem Geheimbericht vom 2. Januar 1862 an den preußischen Außenminister Albrecht Graf von Bernstorff (1809-1874, zitiert nach: Gian Enrico Rusconi, Deutschland - Italien. Italien -Deutschland, Paderborn 2006, 1. Kapitel, 2. Abschnitt): «Vom Standpunkt der politischen Zweckmäßigkeit aber kann ich mich der Überzeugung nicht verschließen, daß die Schöpfung eines lebensfähigen italienischen Reiches ein für Preußen günstiges Ergebnis wäre und daß wir unsre eignen Interessen fördern, wenn wir die Selbständigkeit Italiens durch unsere Anerkennung befestigen helfen und uns freundschaftliche Beziehungen mit dem neuen Reiche sichern. » Und im Brief vom 15./16. Januar 1862 an seinen Außenminister schrieb er sogar (zitiert



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170 was ich Ihnen vor acht Tagen oder letzten Sonntag über die Vorgänge in Serbien erzählt habe: Im Mitgliedervortrag vom 10. Dezember 1916 (in diesem Band).

170 wo der erste Schritt gemacht wurde zu der späteren Gestaltung des modernen italienischen Staates: Im Geheimvertrag von Plombières vom 20. Juli 1858 — er war anläßlich einer Unterredung von Kaiser Napoleon III. (siehe Hinweis zu 5. 218) mit dem piemontesischen Ministerpräsidenten Camillo Graf von Cavour (siehe Hinweis zu 5. 171) abgeschlossen worden -hatte Frankreich dem Königreich Sardinien-Piemont im Kriegsfall die militärische Unterstützung gegen Österreich zugesagt. Der Sardische Krieg (oder der Zweite italienische Befreiungskrieg) brach am 29. April 1859 mit dem Einmarsch österreichischer Truppen in das sardisch-piemontesische Oberitalien aus. In drei großen Schlachten, der Schlacht bei Magenta am 4. Juni 1859 und den beiden Schlachten bei Solferino und San Martino am 24. Juni 1859, wurden die österreichischen Truppen besiegt. Aufgrund des Waffenstillstandes von Villafranca vom 11. Juli 1859, der einseitig auf Betreiben Frankreichs zustande gekommen war, und endgültig im Rahmen des Friedens von Zürich vom 10. November 1859 trat Österreich die Lombardei an Frankreich ab, das seinerseits dieses Territorium an das Königreich Sardinien-Piemont weitergab. Faktisch hatte dieses aber die Lombardei bereits am 8. Juni 1859 in sein Staatsgebiet integriert. Obwohl Venetien österreichisch blieb und Frankreich nur einen Teil der Abmachungen von Plombieres erfüllte hatte, mußte Sardinien-Piemont in die versprochene Abtretung der Grafschaft Nizza und des Herzogtums Savoyen an Frankreich einwilligen. Der Vertrag von Turin vom 24. März 1860 regelte die Übergabe dieser Gebiete an Frankreich. Trotz dieses Gebietesverlustes war mit der Annexion der Lombardei der erste Schritt auf dem Weg zur dauerhaften italienischen Einigung vollzogen.

171 daß sich dazumal Preußen und Österreich nicht vereinigen konnten: Auch die verschiedenen deutschen Staaten wurden im Jahre 1848 von der damals europaweiten revolutionären Bewegung erfaßt. Sehr schnell tauchte die Idee einer Umwandlung des bestehenden lockeren Staatenbundes, des von Österreich dominierten Deutschen Bundes, in einen föderativen deutschen Gesamtstaat auf. Zu diesem Zweck wurde am 18. Mai 1848 in Frankfurt in der Paulskirche eine deutsche Nationalversammlung eröffnet, und am 12. Juli übertrug der bisherige, unter österreichischer Führung stehende Deutsche Bund seine Befugnisse auf die neue zentrale Reichs-



173a-504 Hinweise zum Vortrag vom 16. Dezember 1916 Flip  arpa

Damit war der Konflikt zwischen Großdeutschen und Kleindeutschen innerhalb der Nationalversammlung ausgebrochen: Die Kleindeutschen erstrebten einen Bundesstaat ohne Österreich und mit dem preußischen König als Kaiser, die Großdeutschen wollten Österreich an der Spitze Deutschlands erhalten. Österreich selber verfolgte eine Politik, die auf die Wiederherstellung des Deutschen Bundes hinauslief, wo es eine dominierende Stellung einnahm. Der preußische König, Friedrich Wilhelm IV., lehnte seinerseits die ihm von der Nationalversammlung angetragene Kaiserkrone am 28. April 1849 ab. Fortan betrieb Preußen eine eigene, auf dynastischen Vereinbarungen beruhende Unionspolitik; als Ziel schwebte der preußischen Regierung ein preußisch geführter, kleindeutscher Bundesstaat vor. Die Folge war das Auseinanderfallen der deutschen Nationalversammlung, die zwar am 28. März 1849 eine Reichsverfassung verabschiedet hatte, diese aber nicht durchsetzen konnte.

Preußen verfolgte in Zusammenarbeit mit dem Königreichen Sachsen und Hannover sowie weiteren deutschen Staaten seine eigene Unionspolitik und ließ die Erfurter Reichsverfassung vom 26. Mai 1849 verabschieden, was auf entschiedenen Widerstand Österreichs stieß, das auf die Unterstützung Bayerns und Württembergs zählen konnte. Im Jahre 1850 war Deutschland gespalten: Auf der einen Seite standen die von Preußen angeführten Unions-Staaten und auf der anderen Seite die von Österreich dominierten Anhänger des alten Bundes. Am 20. März 1850 wurde das Erfurter Unions-Parlament zur Beratung der Unionsverfassung eröffnet, wobei sich Sachsen und Hannover bereits wieder aus dem Unionsprojekt zurückgezogen hatten, und auf den 10. Mai 1850 wurde von Österreich seinerseits eine außerordentliche Plenarversammlung nach Frankfurt einberufen. Österreich ließ nicht locker, und schließlich traten am 1. September 1850 die Gesandten des alten Deutschen Bundes in Frankfurt offiziell wieder zusammen -ohne die Vertreter der übriggebliebenen Unionsstaaten. Die im Oktober sich abzeichnende unmittelbare Kriegsgefahr zwischen Preußen und Österreich konnte durch den Vertrag von Olmütz (Olmützer Punktuation) vom 29. November 1850 abgewendet werden. In diesem Vertrag erklärte sich Preußen bereit, seine Unionspolitik aufzugeben. In der Zeit zwischen 2. Mai bis 13. Juni 1851 traten die übriggebliebenen Unionsstaaten wieder dem Deutschen Bund bei, womit die Krise zwar vorläufig beigelegt war, aber die Frage einer künftigen Einigung Deutschlands ungelöst blieb.

171 daß Italien in Camillo Cavour einen wirklich großen Staatsmann hatte: Die politische Einigung Italiens - in der Mitte des 19. Jahrhunderts noch in zahlreiche Einzelstaaten aufgespalten - war zur Hauptsache das Werk von Camillo Benso Conte di Cavour (1810-1861). Cavour, aus einer angesehenen Familie aus dem Königreich Sardinien-Piemont stammend, strebte zunächst eine Karriere in der sardischen Armee an. Da er sich aber für die politischen und wirtschaftlichen Ideen des Liberalismus begeisterte, sah er für sich keine Zukunft als Berufsoffizier und verließ 1831 die Armee. Auf einer ausgedehnten Reise durch Europa studierte er die durchgreifenden ökonomischen und gesellschaftlichen Veränderungen in den



173a-505 Hinweise zum Vortrag vom 16. Dezember 1916 Flip  arpa

171 bei dem Übergange des edlen Serbenfürsten Michael Obrenovic: Siehe Hinweis zu 5. 119.

171 Italien ging von Etappe zu Etappe: Die italienische Einigung ging vom Königreich Sardinien-Piemont aus und erfolgte in drei Etappen: 1859 bis 1860 schlossen sich nach verschiedenen Feldzügen im Rahmen des Zweiten Befreiungskrieges und damit verbundenen revolutionären Erhebungen eine Reihe von österreichischen und päpstlichen Herrschaftsgebieten wie die Lombardei und die Emilia Romagna sowie die Staaten Toskana, Modena, Parma und Neapel-Sizilien dem Königreich Sardinien-Piemont an. Am 17. März 1861 nahm König Viktor Emanuel (Vittorio Emanuele) II. (1820-1878) aus dem Hause Savoyen den Titel eines Königs von Italien an. Er regierte bis Januar 1878 als König von Italien, nachdem er im März 1849 die Herrschaft über das Königreich Sardinien-Piemont von seinem Vater Carlo Alberto übernommen hatte. 1866 erfolgte der Anschluß des bisher österreichischen Venetiens und schließlich 1870 des Restherrschaftsgebietes des Papstes.



173a-506 Hinweise zum Vortrag vom 16. Dezember 1916 Flip  arpa

171 Bereits im Sommer 1871 konnte Viktor Emanuel in Rom einziehen: Auf den 30. Juni 1871 wurde die Hauptstadt Italiens von Florenz, seit 1865 nach Turin provisorischer Sitz der italienischen Regierung, nach Rom verlegt, nachdem bereits am 27. März 1861 Rom zur künftigen Hauptstadt Italiens erklärt worden war. Am 1. Juli 1871 fand der feierliche Einzug des italienischen Königs Viktor Emanuel II. in Rom statt. Dieser hatte bereits am 31. Dezember 1870 Rom einen Blitzbesuch abgestattet, die Stadt dann aber sofort wieder verlassen. Der Einzug des italienischen Königs wurde mit einer Militärparade auf der Piazza del Popolo und Umzügen durch die geschmückten Straßen gefeiert.

171 Die deutschen Siege über Frankreich: Am 19. Juli 1870 hatte Frankreich Preußen und damit dem Norddeutschen Bund den Krieg erklärt und am 19. August 1870 verließen die letzten französischen Truppen das päpstliche Herrschaftsterritorium («Patrimonium Petri»), dessen Unabhängigkeit sie mit ihrer Präsenz garantiert hatten. Nach der vernichtenden Niederlage der französischen Armee am 2. September 1870 bei Sedan, der Gefangennahme des französischen Kaisers Napoleon III. sowie der Ausrufung der Französischen Republik am 4. September 1870 kündigte der italienische Außenminister Emilio Visconti-Venosta (siehe Hinweis zu 5. 171) am 7. September die Okkupation des Kirchenstaats an. Am 12. September marschierten die italienischen Truppen in den Kirchenstaat ein und am 20. September fiel Rom. Die Kapitulation der päpstlichen Truppen - noch am gleichen Tag verkündet - bedeutete das vorläufige Ende der weltlichen Herrschaft des Papstes.

171 Francesco Crispi, ein italienischer Staatsmann der späteren Zeit: Francesco Crispi (1819-1901), ursprünglich sizilianischer Advokat, gehörte zu den Anhängern Giuseppe Mazzinis (siehe Hinweis zu 5. 110 in GA 173b). Nach dem Fehlschlag der Revolution in Sizilien 1849, an der er an politisch maßgebender Stelle teilgenommen hatte, ging er nach Piemont ins Exil, wo er sich als Journalist über Wasser hielt. Verwickelt in einen Aufstandsversuch in Mailand gegen die österreichische Herrschaft im Jahre 1853 mußte er erneut flüchten; er begab sich zunächst ins Exil nach Malta, anschließend nach Paris, wo er ausgewiesen wurde, und schließlich zu Giuseppe Mazzini (siehe Hinweis zu S. 110 in GA 173b) nach London. 1859 kehrte er nach Italien zurück, wo er in einem öffentlichen Brief gegen die Vorreiterrolle des Königreichs Piemont in der italienischen Einigung Stellung nahm und für die Errichtung einer Republik Italien eintrat. Er begab sich im geheimen nach Sizilien, wo er den Aufstand gegen die bourbonische Herrschaft vorbereitete. Neben Giuseppe Garibaldi, dem militärischen Führer (siehe Hinweis zu 5. 19 in GA 173b), war Crispi der politische Kopf, der entscheidend an der Befreiung des Königreichs beider Sizilien mitwirkte. Er beteiligte sich am Marsch der Tausend gegen die bourbonischen Truppen (siehe Hinweis zu 5. 19 in GA 173b) und übernahm später wichtige Ministerfunktionen in der provisorischen Revolutionsregierung Siziliens und später Neapel-Siziliens.Nach der Annexion des Königreichs beider Sizilien und der Proklamation des Königreichs Italien wurde Crispi 1861 als Abgeordneter der linken Radikalen ins erste gesamtitalienische Parlament gewählt. Crispi wandelte sich 1864 vom überzeugten Republikaner zum gemäßigten Monarchisten, da er die Monarchie als Garant der italienischen Einheit ansah. 1865 vollzog er den Bruch mit Mazzini. 1876 bis 1877 war er Präsident der Deputiertenkammer. Bereits von 1877 bis 1878 und 1887 für kurze Zeit Innenminister, übernahm er zweimal die Ministerpräsidentschaft: Vom Juli 1887 bis Februar 1891 und Dezember 1893 bis März 1896 wirkte er als Vorsitzender einer gemäßigt linken, laizistisch-antiklerikalen Regierung. Neben dem Amt des Ministerpräsidenten übernahm er gleichzeitig auch die



173a-507 Hinweise zum Vortrag vom 16. Dezember 1916 Flip  arpa

Aufgabe des Innenministers. Und während seines ersten Regierungsvorsitzes war er sogar noch Außenminister. Er war der Verfechter einer «starken» Politik nach innen wie nach außen. Er nahm nicht nur eine repressive Haltung gegenüber der zunehmenden sozialen Unrast im Innern ein, sondern vertrat auch eine betont imperialistische Außenpolitik, besonders in Afrika. Während die Beziehungen zu Frankreich auf politischem und wirtschaftlichem Gebiet gespannt waren und Crispi eine harte Haltung einnahm - so brach er die langwierigen Verhandlungen für den Abschluß eines Handelsvertrages ab -, zählte er zu den überzeugten Befürwortern des Dreibundes mit Deutschland und Österreich (siehe Hinweis zu 5. 173). Die Niederlage der italienischen Armee gegen Äthiopien in der Nähe von Adua am 1. März 1896 und damit eine schwere Beeinträchtigung des Ansehens Italiens als Großmacht führte schließlich zu seinem Sturz. In der Folge zog er sich ganz aus dem politischen Leben zurück.

Die von Rudolf Steiner erwähnte Aussage Crispis findet in den von T[ommaso] Palamenghi-Crispi herausgegebenen Buch «Die Memoiren Francesco Crispi's. Erinnerungen und Dokumente» (Berlin 1912). So meinte er im Zusammenhang mit der Frage, ob das französische Kaiserreich und die Französische Republik nach dem Sturz des Kaisertums gegenüber Italien und seinem Wunsch nach Einverleibung des übriggebliebenen päpstlichen Herrschaftsgebietes verschiedene Haltungen eingenommen hätten (sechstes Kapitel «Die Reise nach Friedrichsruh», Abschnitt «Vom Kaiserreich zur Republik»): «Selbst Österreich spornte Napoleon an, Rom Italien zu überlassen, um sich die Möglichkeit eines Bündnisses mit Italien zu sichern; Napoleon aber wollte nichts davon wissen. Auf diese Weise verliefen alle Verhandlungen erfolglos, und Frankreich blieb durch seine eigene Schuld in Europa isoliert. [...] Napoleon stürzte und zog Frankreich mit sich in den Abgrund, aber Frankreich verzichtete darum nicht auf Rom. Italien ging nach Rom, aber [Adolphe] Thiers' [vom Februar 1871 bis März 1873 Präsident Frankreichs] Gedanken waren von denen Napoleons III. nicht verschieden; Italien ging nach Rom dank der deutschen Siege, die man Italien zugemutet hatte zu verhindern; das ohnmächtige Frankreich duldete es, aber fand sich nicht damit ab, und ein französisches Schiff blieb in Civitavecchia [Hafen in der Nähe Roms] stationiert als ein fortdauernder Protest und als Zeichen des Protektorats, das Frankreich über den Heiligen Stuhl ausübte. Jahre waren nötig, bis das Schiff endlich abfuhr. Nur die Lächerlichkeit, die einzige Waffe, die moralisch in Frankreich tötet, und von der es durch diese Tatsache bedroht wurde, vermochte, daß dieses Schiff zurückgezogen wurde. »

171 Und nun entwickelt sich ein merkwürdiges Verhältnis zwischen Italien und Frankreich. Die italienische Einigung war zunächst eigentlich dank der Unterstützung Frankreichs zustande gekommen. Insofern galt Frankreich als der natürliche Verbündete Italiens. 1870 hatte sich Italien aber aus der französischen Bevormundung durch Kaiser Napoleon III. (siehe Hinweis zu 5. 218) gelöst und hatte gegen dessen erklärten Willen -allerdings nach seinem Sturz -den Kirchenstaat besetzt (siehe Hinweis zu 5. 171) und damit seine Einheit vorerst vervollständigt. Die Folge war eine tiefgehende italienisch-französische Verstimmung. Frankreich fürchtete ein Zusammengehen Italiens mit dem 1871 gegründeten Deutschen Reich. Außerdem empfanden die französischen Diplomaten die Haltung Italiens als undankbar; die Vertreter Italiens klagten über die französische Überheblichkeit. In den Jahren zwischen 1870 und 1876, wo die Konservativen, die «destra», an der Macht war, verfolgte Italien im allgemeinen eine Politik der Neutralität und war bestrebt, besonders auch mit Österreich-Ungarn einen Ausgleich zu finden. 1875 hielt König Viktor Emanuel II. eine Rede, in der er die Absicht betonte, den Gegensatz zu



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172 Aber dieser einen Strömung widersprach eine andere: Die Wahl en vom 5. und 12. November 1876 brachten einen Machtwechsel in Italien: Waren die Geschicke des vereinigten Italien bisher von den Konservativen bestimmt worden, so übernahmen nun die Liberalen -die sogenannte «sinistra» —die Macht. Damit begann in Italien das Zeitalter des Liberalismus, das bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges dauerte. Das politische Geschick Italiens wurde in dieser Zeit von vier großen Persönlichkeiten des Liberalismus dominiert: von 1876 bis 1887 durch Agostino Depretis (1813-1887) und Benedetto Cairòli (1882 —1889), von 1887 bis 1901 durch Francesco Crispi (siehe Hinweis zu 5. 171) und von 1901 bis 1914 durch Giovanni Giolitti (siehe Hinweis zu 5. 49 in GA 173b). In dieser Zeitspanne war Depretis insgesamt neunmal Ministerpräsident, Cairoli dreimal, Crispi ebenfalls dreimal und Giolitti viermal.Die Liberalen waren gefühlsmäßig stark nach Frankreich orientiert, hatte doch Frankreich die nationale Einigung Italiens entscheidend befördert. Aber Italien wurde trotz seiner engen Anlehnung an Frankreich nicht als gleichwertiger Partner behandelt. Im Grunde war Italien außenpolitisch weitgehend isoliert. Das zeigte sich zum Beispiel während des Berliner Kongresses von 1878. Der Versuch Italiens, das Trentino als Kompensation für die Okkupation Bosnien-Herzegovinas durch Österreich-Ungarn (siehe Hinweis zu 5. 254 in GA 173b) zu erhalten, schlug fehl; der damalige italienische Außenminister Luigi Corti (1823-1888) — er war vom März bis Oktober 1878 im Amt - kehrte mit leeren Händen aus Berlin zurück. Ein weiterer Schlag für Italien war die Errichtung des französischen Protektorats über Tunesien im Jahre 1881. Diese Erfolglosigkeit veranlaßte Depretis 1882 zu einer radikalen Neuorientierung der italienischen Außenpolitik, indem Italien dem deutsch-österreichischen Zweibund beitrat (siehe Hinweis zu 5. 173). Crispi, ein Bewunderer Bismarcks, wurde zu einem entschiedenen Verfechter der Allianz mit Deutschland. Diese war um so wichtiger, als 1888 ein Handelskrieg mit Frankreich ausbrach (siehe Hinweis zu 5. 175). Der Dreibund wurde trotz periodischer Spannungen mit Österreich-Ungarn immer wieder erneuert. Allerdings gab es Versuche Italiens, sich mit den Entente-Staaten zu verständigen. Dazu gehören zum Beispiel das geheime Kolonialabkommen mit Frankreich im Jahre 1902 (siehe Hinweis zu 5. 262 in GA 173b) oder das Abkommen von Racconigi mit Rußland im Jahre 1909 (siehe Hinweis zu 5. 109 in GA 173b), aber Giolitti bestand aus realpolitischen Überlegungen auf der Aufrechterhaltung des Dreibundes.

172 als Frankreich sich nach Tunis hinüber ausbreitete: Schon vor 1866 hatte es in Italien Pläne gegeben, das zwar nominell noch zum Osmanische Reich gehörende, aber weitgehend unabhängige Tunesien, das unter der Herrschaft des Bey aus der Dynastie der Hussainiden (Banu al-Husain) stand, zur italienischen Kolonie zu erklären. Dies glaubte man insofern gerechtfertigt, als es in Tunis eine starke italienische Kolonistenbevölkerung gab. Bereits am 8. September 1868 wurden die italienischen Staatsangehörigen in Tunesien aufgrund des Vertrages von La Goletta (La Goulette in Tunesien) der italienischen Gerichtsbarkeit unterstellt. Ausserdem wurde ihnen die gleichen wirtschaftlichen Rechte wie den Einheimischen zuerkannt. Infolge



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172 daß bei dem Berliner Kongreß der italienische Unterhändler fragte: Siehe Hinweis zu 5. 172.

172 wie Bismarck das berühmte Wort gesprochen hat: Im Zusammenhang mit den diplomatischen Verhandlungen über den geplanten Abschluß einer Defensivallianz zwischen Italien und den beiden Mittelmächten kam es am 31. Januar 1882 zu einer Unterredung zwischen dem deutschen Reichskanzler Otto von Bismarck (siehe Hinweis zu 5. 221) und Edoardo de Launay (1820-1892), der von 1875 bis 1892 der Botschafter Italiens in Berlin war. Als de Launay den festen Wunsch Italiens vorgebracht hatte, sich der Allianz der Mittelmächte anzuschließen, unterstrich Bismarck den Vorrang des Bündnisses zwischen Deutschland und Österreich-Ungarn und verwies Italien damit auf die Notwendigkeit einer vorgängigen Einigung mit Österreich-Ungarn. Die Unterredung beendete er mit dem Satz: «Der Schlüssel zur Lösung der Frage liegt in Wien. »1 Diese Haltung mußte de Launay insofern befremden, als der österreichisch-ungarische Außenminister Guzstàv Kalnoky Graf von Köröspatak (siehe Hinweis zu 5. 125) dem italienischen Botschafter in Wien, Carlo Conte di Robilant (siehe Hinweis zu 5. 174), am 18. Januar 1882 erklärt hatte, er solle sich zuerst an den deutschen Reichskanzler wenden. Trotz dieser diplomatischen Irritationen gelang der Abschluß eines Bündnisses zwischen den drei Staaten, woran Kalnoky einen wichtigen Anteil hatte, indem er schließlich bereit war, Italien ein Mitspracherecht auf dem Balkan einzuräumen (siehe Hinweis zu 5. 174).

173 1882 kam der sogenannte Dreibund zustande: Der erste Dreibundvertrag wurde am 20. Mai 1882 in Wien unterzeichnet. Es handelte sich um eine Erweiterung des am 7. Oktober 1879 in der österreichischen Hauptstadt abgeschlossenen deutschösterreichischen Zweibundes; durch die Einbeziehung Italiens entstand nun der Dreibund. Der Dreibund wurde insgesamt viermal erneuert: in Berlin am 20. Februar 1887, ergänzt je durch einen Zusatzvertrag zwischen Italien und Deutschland sowie Italien und Österreich, am 6. Mai 1891 und am 28. Juni 1902 sowie in Wien am 5. Dezember 1912. Der vierte und der fünfte Dreibundvertrag bedeutete eine



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weitgehend unveränderte Verlängerung des dritten Vertrages; zwischen den Wortlauten der ersten drei Vertragsabschlüsse gab es allerdings erhebliche inhaltliche Abweichungen (siehe Hinweis zu S. 174). Die drei ersten Artikel, die den Hauptzweck des Bündnisvertrages -die Bildung einer Defensivallianz -beschreiben, lauten in allen fünf Fassungen des Dreibundvertrages gleich (siehe Anhang II, «Historische Dokumente», in GA 173c). Allerdings war es Italien, das durch diese Verträge neben Österreich-Ungarn und Rußland als dritte Balkanmacht anerkannt wurde, bei jeder Erneuerung des Bündnisvertrages gelungen, von Deutschland und Österreich-Ungarn immer größere Zugeständnisse zu erreichen und so die italienischen Expansionspläne im Mittelmeerraum und auf dem Balkan zu stützen.Von Otto von Bismarck, dem deutschen Reichskanzler, als ein Instrument zur Friedenssicherung gedacht, sah er im Dreibund ein Mittel, um den Gegensatz zwischen Italien und Österreich als künftigen europäischen Konfliktherd weitgehend auszuschalten. Außerdem erhoffte sich Deutschland im Kriegsfall mit Frankreich mindestens eine gewisse Unterstützung durch Italien. Für Österreich-Ungarn bedeutete dieses Bündnis eine Absicherung im Konfliktfall mit Rußland. Italiens Entscheid, sich dem Zweibund anzuschließen, war ebenfalls machtpolitisch begründet. Wenn es an seinem Wunsch nach territorialer Ausweitung festhalten wollte, konnte es keine Neutralitätspolitik betreiben, sondern war auf die Unterstützung durch irgendeine Großmacht angewiesen. Auch konnte es sich nicht gleichzeitig mit Frankreich und mit Österreich-Ungarn wegen der strittigen Fragen -territoriale Expansion im Mittelmeerraum und Anschluß weiterer italienischsprachiger Gebiete -gleichzeitig anlegen. Außerdem war die Römische Frage, der fehlende Verzicht des Papstes auf seine weltlichen Herrschaftsrechte über den Kirchenstaat, nach wie vor ungelöst. Angesichts der zunehmenden Spannungen mit Frankreich in der Tunesienfrage (siehe Hinweis zu 5. 172) und der möglichen Intervention der Großmächte zugunsten des Papstes, entschied sich Italien für ein Bündnis mit den beiden mitteleuropäischen Mächten, womit es seine außenpolitische Isolation beendete. Italiens Ruf als verläßlicher Bündnispartner litt allerdings unter der zweideutigen italienischen Außenpolitik, denn Italien lavierte zwischen den beiden europäischen Bündnislagern. Ein Beispiel für diese zweideutige Politik war das italienisch-französische Geheimabkommen von 1902 (siehe Hinweis zu 5. 262 in GA 173b) oder das italienisch-russische Abkommen von Racconigi aus dem Jahre 1909 (siehe Hinweis zu 5. 109 in GA 173b).

173 Es gibt ja wirklich Leute, die zum Beispiel die heutigen schmerzlichen Kriegsereignisse dem Dreibund zuschreiben: Rudolf Steiner betrachtete die drei Entente-Großmächte Frankreich, Rußland und Großbritannien als die Hauptverantwortlichen für den Ausbruch des Ersten Weltkriegs; ihre langfristig angelegte Politik war in seinen Augen auf die Einkreisung Deutschlands und Österreich-Ungarns und gegen deren territoriale Integrität gerichtet. So sah er zum Beispiel im englischen Außenminister Sir Edward Grey -obwohl er nach außen für den Frieden und den Schutz der belgischen Neutralität eintrat - einen wichtigen Befürworter für einen Krieg gegen die Mittelmächte (siehe Hinweis zu 5. 143).Rudolf Steiner stand damit im -scheinbaren -Einklang mit der offiziellen Haltung der Mittelmächte, die sich als Opfer der Entente-Politik betrachteten und ihre Kriegsanstrengungen als Maßnahmen zur Selbstverteidigung ansahen. So hieß es zum Beispiel in der Einleitung zur Volksausgabe des österreichisch-ungarischen Rotbuches (zitiert nach: Max Beer, «Das Regenbogen-Buch», Bern 1915, «Einführung»): «Im Bunde mit der Selbstsucht Großbritanniens und der Revanche begierde der Französischen Republik hat die Petersburger Regierung kein Mittel verschmäht,



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um der Triple-Entente die Vorherrschaft in Europa zu sichern und sich selbst freie Bahn für ihre kühnsten Pläne zu schaffen. In ihren Lebensinteressen auf das schwerste gefährdet, sahen sich Österreich-Ungarn und Deutschland vor die Wahl gestellt, ihre Rechte und ihre Sicherheit zu verteidigen oder vor den Drohungen Rußlands zurückzuweichen. Sie sind den Weg gegangen, den ihnen Ehre und Pflicht wiesen. »

Rudolf Steiner setzte sich mit seiner Deutung der Vorgänge in Gegensatz zur offiziellen von den Ententestaaten vertretenen Haltung. So sagte zum Beispiel der französische Präsident Raymond Poincaré (siehe Hinweis zu 5. 54) in seiner Botschaft an das französische Volk vom 4. August 1914 (zitiert nach: Max Beer, «Das Regenbogen-Buch», Bern 1915, Einführung): «Seitdem das Ultimatum Österreichs eine bedrohliche Krisis über ganz Europa eröffnet hatte, widmete sich Frankreich ganz der Aufgabe, eine Politik der Vorsicht, der Weisheit und der Mäßigung zu verfolgen und überall anzuempfehlen. Man kann Frankreich keine Handlung, keine Gebärde, kein Wort zuschreiben, das nicht friedlich und versöhnlich gewesen wäre. » Und der damalige russische Außenminister Sergej Dmitrievic Sazonov (siehe Hinweis zu 5. 193 in GA 173b) schreibt rückblickend in seinen Memoiren «Sechs schwere Jahre» (Berlin 19272, Kapitel IX): «Dergestalt war in Wien alles entschieden und zum Angriff auf Serbien vorbereitet. Österreich-Ungarn wartete mit Ungeduld auf den Augenblick, wo es unter dem Schutz des deutschen Schildes über den kleinen Nachbar herfallen konnte, dessen Schwäche es bei aller seiner Hitzigkeit überschätzte. Um das übrige, wie zum Beispiel um den unvermeidlichen Zusammenstoß mit Rußland und die weiteren ihm bevorstehenden internationalen Verwicklungen kümmerte sich Österreich-Ungarn wenig. Hierfür besaß es in Deutschland einen unbesiegbaren Bundesgenossen, der ihm seine Hilfe versprochen hatte und es drängte, mit seinem Angriff zu beginnen.»

173 dem sogenannten Dreiverband, der Entente cordiale. Der Dreiverband oder Tripel-Entente -das Bündnissystem zwischen Rußland, Frankreich, Großbritannien -beruhte auf verschiedenen Abkommen:— der Militärkonvention vom 4. Januar 1894/23. Dezember 1893 zwischen Frankreich und Rußland; sie war das Ergebnis des geheimen französisch-russischen Militärabkommens von St. Petersburg, das am 17/5. August 1892 abgeschlossen worden war und nun bestätigt wurde

— dem Kolonialausgleich, der «Entente cordiale», vom 8. April 1904 zwischen Frankreich und Großbritannien (bestehend aus drei verschiedenen Abkommen: 1. betreffend Ägypten und Marokko, 2. betreffend West- und Zentralafrika und 3. betreffend Madagaskar, Siam und die Neuen Hebriden), unterzeichnet in London; ihm ging das Kolonialabkommen vom 14. Juni 1898 zwischen Frankreich und Großbritannien voraus (siehe Hinweis zu 5. 136)

— dem Kolonialausgleich zwischen Großbritannien und Rußland vom 31./8 August 1907 betreffend Tibet, Afghanistan, Persien und Mittleren Osten (siehe Hinweis zu 5. 168 in GA 173b), abgeschlossen in St. Petersburg

— dem geheimen militärischen Beistandsversprechen vom 22. November 1912 durch den englischen Außenminister gegenüber dem französischen Botschafter in London (siehe Hinweis zu 5. 258).

Zum Bündnissystem der Tripel-Entente gehörte auch Japan aufgrund:

— des Abkommens zwischen Großbritannien und Japan vom 30. Januar 1902 über die Abgrenzung der Interessenssphären in China und Korea und das gegenseitige Versprechen der Neutralität, unterzeichnet in London

— des Abkommens zwischen Rußland und Japan vom 30. Juni 1907 betreffend China und die Mandschurei, unterschrieben in St. Petersburg.



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Durch die Ereignisse der folgenden Jahre festigte sich das Bündnissystem des Dreiverbands. Entscheidend war dabei das endgültige Scheitern der britisch-deutschen Bündnisverhandlungen am 29. März 1912.

Wichtige Architekten des Bündnissystems waren zum Beispiel Eduard VII. (siehe Hinweis zu 5. 141), Sir Edward Grey (siehe Hinweis zu 5. 206), Théophile Delcassé (siehe Hinweis zu 5. 221) sowie Aleksandr Petrovic Izvolskij (siehe Hinweis zu 5. 141). Der spätere russische Außenminister Sazonov (siehe Hinweis zu 5. 193 in GA 173b) über die Beweggründe, die zum Abschluß des Bündnissystems der Entente geführt hatten (zitiert nach: S. D. Sasonoff, Sechs schwere Jahre, Berlin 19272, Kapitel IX): «Es besteht kein Zweifel daran, daß man in Deutschland über die von der Entente drohende Gefahr der Einkreisung seit dem Tage zu reden nicht aufhörte, wo König Eduard VII. und Delcassé, die Gründer des Dreiverbands, sich der Notwendigkeit bewußt wurden, im Interesse des europäischen Friedens ein Gegengewicht gegen das von Bismarck fünfundzwanzig Jahre vorher begründete österreichisch-deutsche Bündnis zu schaffen, das danach im Jahre 1882 durch den Anschluß Italiens ergänzt worden war. In Berlin wollte man nicht zugeben, daß dank dem Bestehen des Dreibundes das politische Gleichgewicht in Europa zugunsten der Zentralmächte gestört war, und man sah nicht voraus, daß früher oder später, aber unvermeidlich, die übrigen Großmächte, die durch das Bestehen des Dreibunds in eine ungünstige oder sogar gefährliche Lage geraten waren, an die Gründung einer politischen Gruppierung denken würden, die das gestörte euro-päische Gleichgewicht wiederherstellen würden. » Und Sazonov betonte: «Der Dreiverband verfolgte keine aggressiven Ziele und strebte nur danach, die Errichtung einer deutschen Hegemonie in Europa zu verhindern, worin es eine Gefahr für seine Lebensinteressen erblickte. Die Gerechtigkeit dieses Gesichtspunktes kann kaum bestritten werden, und die Rechtmäßigkeit des Zieles, das der Dreiverband sich gesteckt hatte, unterliegt, glaube ich, ebenfalls keinem Zweifel. Für die Erreichung des gekennzeichneten Zieles war keine <Einkreisung Deutschlands~>erforderlich, die, wie der strategische Ursprung dieser Worte zeigt, in sich den Begriff des Angriffs trägt, der den Bestrebungen aller Mitglieder der Entente in gleicher Weise fernlag. »

Der deutsche Historiker Theodor Schiemann (siehe Hinweis zu 5. 121 in GA 173b) dagegen vertrat in seiner gegen den deutschen Pazifisten Richard Grelling (siehe Hinweis zu 5. 121 in GA 173b) gerichteten Schrift «Ein Verleumder. Glossen zur Vorgeschichte des Weltkrieges» (Berlin 1915) die Meinung, daß der Dreiverband schon über längere Zeit konkret einen Krieg gegen Deutschland ins Auge gefaßt habe. So meint er, ausgehend von der Zusammenkunft von König Eduard VII. mit Zar Nikolaus II. auf der Reede von Reval (heute Tallinn, in Estland,) am 9. Juni! 27. Mai 1908: «Was Zar und König verhandelt haben, ist nicht bekannt geworden, auch wahrscheinlich nicht von großer Tragweite gewesen, wohl aber haben Hardinge [siehe Hinweis zu 5. 234] und Izvolskij sich über ihre Zukunftspläne verständigt, der von Grey konsequent eingehaltenen Direktive folgend, mündlich; aber das Ergebnis der Verhandlungen wurde den auswärtigen Vertretern Englands und Rußlands mitgeteilt und kam später auf Umwegen auch zu unserer Kenntnis. Izvolskij erklärte sich bereit, mit England gegen Deutschland vorzugehen, wenn Rußland sich so weit militärisch gekräftigt haben werde. Es wurden dafür als spätester Termin sechs bis acht Jahre ins Auge gefaßt, also die Jahre 1914 bis 1916. Solange Clemenceau im Amt blieb, ließ sich darauf rechnen, daß Frankreich unter allen Umständen mitmachen werde. Eine längere Periode militärischer Vorbereitung wurde selbstverständlich für die drei Mächte in Aussicht genommen. »



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173 er sei zur Erhaltung des Friedens gemacht: Siehe Hinweis zu 5. 173.

173 von dem man auch sagte «zur Erhaltung des Friedens»: So heißt es zum Beispiel in der Einleitung der französisch-russischen Militärkonvention vom 4. Januar 1894: «Frankreich und Rußland, von dem gleichen Wunsche beseelt, den Frieden zu erhalten und kein anderes Ziel verfolgend, als Maßnahmen zu einem Verteidigungskrieg vorzubereiten, der durch einen Angriff der Streitkräfte des Dreibundes hervorgerufen werden könnte, haben folgendes vereinbart: [.1. »

173 Schon nach fünf Jahren wurde jene geheime Sache eingefädelt: Der englisch-russische Kolonialausgleich von 1907 bedeutete die Vollendung des Dreiverbandes (siehe Hinweis zu S. 173). Nach Rudolf Steiners Auffassung waren also bereits im Jahre 1912 die Weichen für die Ermordung des österreichisch-ungarischen Thronfolgers Franz Ferdinand gestellt worden. Vermutlich dachte Rudolf Steiner an die Verbindung der serbischen Terrororganisationen mit bestimmten politisierten Kreisen innerhalb der Freimaurerlogen in Rom und Paris, aber auch in London, die offensichtlich ein Interesse an der Ermordung des österreichischungarischen Thronfolgers bekundeten (siehe Hinweis zu 5. 237). Rudolf Steiner meint also nicht die Freimaurerei schlechthin, sondern bestimmte politische Interessegruppierungen, die sich der Logenorganisation bedienten, um ihre Ziele zu erreichen.Er unterschied sich damit deutlich von solchen Auffassungen, wie sie zum Beispiel der österreichische Jesuit Hermann Gruber (1851-1930) vertrat, der unter dem Titel «Der freimaurerische Untergrund des Weltkrieges» einen viel umstrittenen Aufsatz in der Monatsschrift «Theologie und Glaube» vom September/Oktober 1915 (7. Jg. Nr. 9/10) veröffentlichte. In diesem Aufsatz schreibt er: «Vielfach wurden [...]freimaurerische Machenschaften und Umtriebe, welche hinter den Kulissen zuungunsten der Zentralmächte sich abspielten, nicht oder doch nur ungenügend beachtet. » Und so die Schlußfolgerung: «Deshalb glaubten wir zur Kennzeichnung des gegenwärtigen Weltkrieges auch die weniger beachteten oder ganz übersehenen freimaurerischen Einflüsse und Einwirkungen übersichtlich darlegen zu sollen, welche bei demselben eine bedeutsamere Rolle spielten. In gewissem Sinn hat [...] die Freimaurerei, gerade durch diese weniger beachteten Einwirkungen, dem gegenwärtigen Weltkrieg als <Kultur>-Krieg sein eigentümliches Gepräge aufgedrückt. » Als Ergebnis seiner Untersuchungen stellt Gruber fest: «In England und Frankreich wurde die Kriegsstimmung, soweit sie in diesen Ländern vorhanden ist, nur durch die bewußt unwahre Vorspiegelung erreicht, daß Deutschland der angreifende Teil sei und daß der Krieg seitens Englands und Frankreichs aus idealen Beweggründen für die Freiheit der kleinen Völker (Belgien) und für die Sache der Zivilisation geführt werde. In Wirklichkeit hatten englische und französische Intriganten, unter denen die Br.. König Eduard VII. und Delcassé und Poincaré in erster Linie zu nennen sind, aus Eifersucht auf Deutschlands wirtschaftliche und politische Machtstellung und aus chauvinistischen Gründen den Weltkrieg seit 1905 eingefädelt und, im Bunde mit Rußland, den Zentralmächten aufgezwungen. Rußland wurde in den Krieg hineingetrieben durch die wesentlich demokratischrevolutionäre, panslawistische Agitation, welche wieder in vielfacher Hinsicht einen groben Völkerbetrug darstellt, und Italien durch die direkte vom Großorient von Italien geleitete freimaurerisch-demokratische Agitation, bei welcher der anständigere und besonnenere Teil der Bevölkerung durch Pöbelexzesse und Straßenterrorismus von der Richtigkeit des freimaurerischen Standpunktes <überzeugte und zu patriotisch-national-humanitärer <Begeisterungen im Sinne desselben <entflammte wurde.» Wenn auch Rudolf Steiner den grundsätzlichen Ansatz Grubers und des-



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sen politisch-polemische Stossrichtung nicht teilte, so stimmte er doch mit einigen seiner Forschungsergebnisse überein.

173 jenes Attentat vom Juni 1914, das hat ja [fast]nicht mißglücken können: Wie der Ablauf des Attentatsgeschehens in Sarajevo zeigte, hing der Erfolg der Mordverschwörung an einem Faden: Von den sechs Verschwörern hatten nur zwei wirklich versucht, den Thronfolger umzubringen, wobei sich erst der zweite Attentatsversuch als erfolgreich erwies (siehe Hinweis zu 5. 173). Wenn Rudolf Steiner meint, das Attentat habe ja nicht mißglücken können, so will er damit nicht ausdrücken, daß der Erfolg der Verschwörung mit hundertprozentiger Sicherheit festgestanden habe, sondern daß das Attentat von Sarajevo von langer Hand und gründlich vorbereitet worden sei und deshalb kaum habe fehlschlagen können. Tatsächlich arbeiteten mehrere Gruppierungen von unterschiedlich tiefem Wirkenshintergrund an den Attentatsplänen mit.Einen wichtigen Nährboden für die verschiedenen Verschwörerkreise stellte die gesteigerte nationalistische Stimmung in den südslawischen Gebieten in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg (siehe Hinweis zu 5. 111) dar. Die große Bedeutung dieses Ereignisses für die Anheizung der serbisch-nationalistischen Stimmung unterstrich Milos Bogicevic (Boghitschewitsch, 1876-1937) in seinem Aufsatz in den «Süddeutschen Monatsheften» vom Februar 1929 (26. Jg. Nr. 5), der unter dem Titel «Mord und Justizmord. Aus der Vorgeschichte des Mordes von Sarajewo und des Königreichs Jugoslawien» veröffentlicht wurde. Bogicevic war eine schillernde Persönlichkeit. Ursprünglich Dozent für internationales Recht an der Belgrader Universität, war er 1904 in den diplomatischen Dienst Serbiens eingetreten. Von 1907 bis 1914 vertrat er die serbischen Interessen in Berlin. 1915 gab er seine Stellung auf und verblieb im deutschen Exil. Von dort aus versuchte er, prominente Persönlichkeiten wie zum Beispiel Jules Cambon, den ehemaligen Botschafter Frankreichs in London (siehe Hinweis zu 5. 45), für einen Friedensplan zwischen Frankreich und Deutschland zu gewinnen, jedoch erfolglos. Für die Entente, insbesondere für Serbien und Pasic (siehe Hinweis zu 5. 33), galt Bogicevic als Verräter. Als ihm schließlich die Rückkehr aus dem Exil immer noch verweigert wurde, verübte er unter ungeklärten Umständen Selbstmord. Bogicevic in seinem Aufsatz: «Der Umsturz von 1903 führte im politischen Leben Serbiens zu einer neuen Entwicklung. Aus langem Schlafe erwacht, begann sich das nationale Bewußtsein wieder zu regen. Namentlich die jungen Kräfte des Landes richteten ihre Blicke wieder [auf die Gebiete]jenseits von Vranja (türkische Grenze) und jenseits der Drina (Bosnien). Eine rege nationale propagandistische und terroristische Tätigkeit setzte wieder ein. Viele Offiziere traten an die Spitze von Komitadzi-Banden. Diese Banden setzten sich aus Studenten und anderen Intellektuellen und vielen Freiwilligen aus den nicht zum Königreiche Serbien gehörenden Gebieten zusammen. Es handelte sich um eine vollkommen neue Einstellung, um eine Renaissance der nationalistischen Bewegung. »

Von dieser Begeisterung für das Südslawentum, allerdings nicht in einem engen serbisch-nationalen Sinn, fühlten sich auch die jugendlichen Attentäter ergriffen; sie fühlten sich der nationalistisch-anarchistischen Bewegung «Mladá Bosna» («Junges Bosnien») zugehörig, die vor allem von Gymnasiasten und Studenten getragen wurde und die organisatorisch in eine Vielzahl von revolutionären Geheimbünden aufgesplittert war. Einer dieser Geheimbünde war die 1911 gegründete «Serbisch-Kroatische Fortschrittliche Organisation» («Srpsko-hvratsku napredna organizaciju»), der auch Gavrilo Princip (siehe Hinweis zu 5. 100) angehörte. Ihre Zielsetzung war die Befreiung Bosnien-Herzegovinas und der übrigen südslawischen



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Gebiete von der österreichisch-ungarischen Herrschaft und ihr Zusammenschluß mit Serbien und Montenegro zu einem vereinigten Südslawien. Außerdem lehnten sie die bestehenden politischen und gesellschaftlichen autoritären Machtstrukturen ab. Diese Forderungen wurden in ein Programm eingekleidet, das am 8. August 1912 in der Belgrader Zeitung «Pijemont» abgedruckt wurde (zitiert nach: Vladimir Dedijer, Die Zeitbombe von Sarajewo, Wien 1967, Kapitel «Die einfachen Rebellen aus Bosnien»):

Allem Nationalen und Antinationalen im materiellen und geistigen Leben unseres Volkes entgegenwirken durch:

radikalen Antiklerikalismus

radikale Ausmerzung des destruktiven fremden Einflusses und Förderung der Slawisierung unserer Kultur gegen die Germanisierung, die Magyarisierung und die Italienisierung

den Kampf gegen den Servilismus, kriecherische Haltung und Gemeinheit und durch die Hebung der nationalen Ehre und des Stolzes

die Enteignung der Großgrundbesitze[r], Aufhebung aller Vorrechte der Aristokratie und aller gesellschaftlichen Privilegien, die Demokratisierung des politischen Bewußtseins und dadurch, daß das Volk politisch geweckt wird.

Nationale Verteidigung gegen fremde geistige und materielle Kräfte; eine nationale Offensive, um den unterdrückten und fast schon verlorenen Teil unseres Volkes mit geistigen und materiellen Mitteln zu wecken.

Individuellen Terrorismus als Mittel zur Verteidigung der südslawischen Völker im Kampf gegen die österreichisch-ungarische Repression betrachteten die Anhänger des «Jungen Bosnien» als durchaus legitime Aktion. Sie verbanden damit die Bereitschaft, ihr junges Leben im Dienste einer höheren Sache zu opfern und auch vor sogenannten «Tyrannenmorden» nicht zurückzuschrecken.

Diese Bereitschaft konnten sich die Vertreter der großserbischen Geheimorganisationen zunutze machen. Die Meinung der österreichisch-ungarischen Behörden, daß der «Narodna odbrana» die Verantwortung für das Attentat zuzuschieben sei (siehe Hinweis zu 5. 111), war nicht richtig. Wohl hatte diese Organisation über die serbischen Landesgrenzen hinaus viel zur Aufstachelung der nationalistischen Stimmung beigetragen und war auch am Aufbau eines serbischen Spionagenetzes in Bosnien beteiligt, aber die eigentlichen Drahtzieher waren in den Reihen der Terrororganisation «Ujedinjenje III smrt» (siehe Hinweis zu 5. 111) zu suchen. Verschiedene ihrer Mitglieder spielten eine wichtige Rolle. In Sarajevo war es zum Beispiel der junge Lehrer und Journalist Danilo Ilic (1891-1915), der die unmittelbare Ausführung des Attentats organisierte. Nach dem Attentat wurde er verhaftet und als Anführer der Attentäter hingerichtet. Der Plan zur Ermordung Franz Ferdinands stammte von dem Bosnier Vladimir Gacinovic (1890-1917), ideeller Führer der Bewegung «Mladá Bosna» und zugleich Mitglied der «Schwarzen Hand». Er war als serbischer Agent für den Aufbau einer Partisanenorganisation in Bosnien-Herzegovina tätig, seit 1913 lebte er in Frankreich und in der Schweiz. Auf seine Initiative fanden im Ausland verschiedene Besprechungen im Hinblick auf die Ausführung von terroristischen Aktionen gegen den österreichisch-ungarischen Staat statt, zum Beispiel 1913 in Lausanne unter der Teilnahme von Ilic und 1914 in Paris und Toulouse unter Teilnahme von Mehmedbasic. Es ist denkbar, daß im Rahmen dieser Zusammenkünfte auch Vertreter von politisierten westlichen Freimaurergruppen ihre Vorstellungen über eine künftige Gestaltung der Balkanverhältnisse und die nötigen Schritte für ihre Umsetzung darlegten (siehe Hinweis zu 5. 147). Gacinovic ermunterte die Verschwörer von Sarajevo, den Anschlag auf



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Franz Ferdinand durchzuführen. 1917 starb er unter mysteriösen Umständen in einem Spital in Neuchatel. In Belgrad wirkte Milan Ciganovic als Kontaktmann zur Spitze der Schwarzen Hand (siehe Hinweis zu S.237). Voja Tankosic (siehe Hinweis zu 5. 129) hatte das Anliegen der jungen Bosnier, ein Attentat auf Franz Ferdinand auszuführen, Dragutin Dimitrijevic-Apis (siehe Hinweis zu 5. 111) vorgetragen. Dieser hatte dem Plan zugestimmt, war er doch überzeugt, daß Franz Ferdinand einen Krieg gegen Serbien plante, um die Gründung eines großserbischen Staates für immer zu unterbinden. So entschied er sich zunächst für eine logistische Unterstützung der Verschwörer. Später, nach ihrer Rückkehr nach Bosnien, kamen ihm jedoch Bedenken, ob die jungen Männer der Aufgabe gewachsen seien, und er wollte diese Aufgabe den Komitadzi-Guerilleros von Tankosic anvertrauen. Aber die jungen Verschwörer mit Princip an der Spitze beharrten auf der Ausführung ihres Planes.

174 Es ist ein gewisser Zusammenhang geschaffen worden zwischen jedem Ereignis: Der zweite Dreibundvertrag von 1887 besaß einen ganz anderen Stellenwert für Italien als der erste. War das Schwergewicht im ersten Vertrag vor allem auf der Entschärfung des italienischen Irredentismus (siehe Hinweis zu 5. 174) gegenüber Österreich gelegen, erklärte sich Österreich nun bereit, Italien ein Mitspracherecht in allen Balkan-Angelegenheiten einzuräumen. Das bedeutete, daß jede territoriale Veränderung auf dem Balkan zugunsten Österreich-Ungarns entsprechende territoriale Kompensationen für Italien zur Folge haben mußte. Dadurch entstand die von Rudolf Steiner erwähnte starke Verknüpfung der italienischen Politik mit den Balkanereignissen. Die sogenannte Balkanklausel findet sich im Zusatzvertrag vom 20. Februar 1887 zwischen Österreich-Ungarn und Italien, der gleichzeitig mit der Erneuerung des Dreibundes abgeschlossen wurde (siehe Anhang II, «Historische Dokumente», in GA 173c). Österreich-Ungarn räumte Italien dieses Mitspracherecht auf dem Balkan in einem Moment der Schwäche ein, als es in scharfem Konflikt mit Rußland um die gegenseitige Abgrenzung der Einflußsphären auf dem Balkan stand und Deutschland es ablehnte, seinen Bundesgenossen in einem möglichen Krieg gegen Rußland zu unterstützen (siehe Hinweis zu 5. 175). Hinter dem Erfolg für Italien stand der italienische Außenminister Carlo Nicolis Conte di Robilant (1826-1888), der sich mit seinen weitgehenden Forderungen gegenüber dem österreichisch-ungarischen Außenminister, Gusztav Kalnoky Graf von Köröspataki (siehe Hinweis zu 5. 125), durchsetzen konnte und dabei auf die Unterstützung des deutschen Reichskanzlers, Otto Fürst von Bismarck, zählen konnte. Bismarck war an der Einbindung Italiens in sein Bündnissystem gelegen, da Frankreich sich zunehmend von seiner Politik eines Ausgleichs mit Deutschland abwandte.Am 12. Februar 1887, kurz vor der Erneuerung des Dreibundes, kam es durch Notenaustausch zwischen Italien und Großbritannien zum Abschluß des sogenannten Mittelmeerabkommens, dem 24. März Österreich-Ungarn und am 4. Mai Spanien beitraten. Die beteiligten Staaten anerkannten den Status quo im Mittelmeer, was in der Praxis gegen eine Expansion Rußlands in Richtung Mittelmeer gerichtet war. Die Mittelmeer-Entente war durch die Vermittlung Bismarcks zustande gekommen, der auf diese Weise versuchte, Großbritannien an den Dreibund anzubinden und Frankreich weiter zu isolieren. Am 16. Dezember 1887 wurde im Rahmen eines weiteren Notenaustausches die Zusammenarbeit zwischen Großbritannien, Österreich-Ungarn und Italien durch die Gründung des Orientbundes verfestigt. Ziel war ebenfalls der Erhalt der türkischen Unabhängigkeit und damit die Abwehr der russischen Expansionsbestrebungen. Sowohl das Mittelmeerabkommen



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wie der Orientbund standen im Gegensatz zu den Bestimmungen des sogenannten Rückversicherungsvertrages. In diesem Geheimabkommen, das Deutschland am 18./6. Juni 1887 mit Rußland abgeschlossen hatte (siehe Hinweis zu 5. 175), versprachen sich beide Staaten die gegenseitige wohlwollende Neutralität für den Fall eines französischen beziehungsweise österreichisch-ungarischen Angriffskrieges. Faktisch bedeutete dieser Vertrag eine Unterstützung Deutschlands für die territorialen Ausdehnungspläne Rußlands. Das war das Bestreben Bismarcks: durch den Abschluß von verschiedenen -gegenläufigen -Bündnissen den Ausbruch eines Krieges von allem Anfang an zu verunmöglichen. Der Rückversicherungsvertrag trat bereits 1890 außer Kraft, der Orientbund wurde 1892 nicht mehr erneuert.

174 Wir waren einmal in Italien und besuchten in Rom einen Mann: Laut Marie Steiner handelte es sich bei der Persönlichkeit, die Rudolf Steiner besuchte, um Professor Angelo Conte de Gubernatis (1840-1913). Zwischen dem 24. März und dem 4. April 1909 hielt sich Rudolf Steiner in Rom auf. Er hielt dort an sieben Tagen - vom 25. bis 31. März 1909 —eine Einführung in die Theosophie (Vorträge teilweise in GA 109 abgedruckt). Der Besuch bei de Gubernatis fand am 29. März 1909, am Morgen zwischen 9 und 12 Uhr, statt. Rudolf Steiner wohnte damals mit Marie von Sivers im Palazzo Quattro Fontane der Fürstin («Principessa») Elika d'Antuni del Drago, die nicht nur Theosophin war, sondern sich sehr für die Vertiefung des Christentums interessierte. Der Besuch bei de Gubernatis kam auf Vermittlung von Edouard Schuré (siehe Hinweis zu 5. 51) zustande. Schuré war mit de Gubernatis befreundet und hatte ihn 1871 während seines Italienaufenthaltes - er lebte von 1871 bis 1873 in diesem Land -kennengelernt. In einem Brief vom 17. März 1909 machte er de Gubernatis auf die bevorstehende Vortragsreihe von Rudolf Steiner aufmerksam. Bereits am 15. März 1909 hatte er Marie Steiner brieflich gebeten, man möchte doch de Gubernatis zu dem Zyklus einladen.De Gubernatis war ein angesehener italienischer Indologe, Publizist und Dichter. Sehr vielseitig begabt, hatte er bereits als Jugendlicher Dramen geschrieben. Ursprünglich hatte er in Turin Philologie studiert und ging schließlich 1862 mit einem Staatsstipendium an die Universität Berlin, wo er sich mit Sanskrit und Vergleichender Sprachwissenschaft auseinandersetzte. 1865 wurde er zum Professor für Orientalistik an der Universität Florenz ernannt, verzichtete jedoch nach kurzer Zeit auf dieses Amt aufgrund seiner Sympathien für den Anarchisten Michail Aleksandrovic Bakunin. Nachdem er die Beziehung zu ihm abgebrochen hatte, übernahm er 1867 erneut den Lehrstuhl in Florenz. 1891 wechselte er an die Universität Rom, wo er bis 1908 Sanskrit und Italienische Literatur lehrte. De Gubernatis verfügte über eine gewaltige Schaffenskraft. Er begründete oder redigierte eine Reihe von wissenschaftlichen Zeitschriften aus den Bereichen Literatur und Orientalistik. Ebenso war er der Herausgeber von verschiedenen Enzyklopädien, zum Beispiel der «Storia universale della letteratura» (Milano 1883-1885).

De Gubernatis war weltanschaulich stark vom wissenschaftlichen Positivismus geprägt und konnte der esoterischen, von der Anthroposophie beeinflußten Weltsicht seines Freundes Schuré nicht wirklich folgen. So schrieb er in einer Rezension von Schurés Buch «L'évolution divine. Du Sphinx au Christ» (Paris 1912) in der Zeitung «Il Popolo Romano» vom 17. Juni 1912 (zitiert nach: Gabriele Burrini, Un sodalizio di poeti: I rapporti tra Edouard Schuré e Angelo de Gubernatis, in: Maurizio Taddei (Herausgeber), Angelo de Gubernatis. Europa e Oriente nell'Italia umbertina, Napoli 1995): «Die Zweifel, die derselbe Schuré über die Festigkeit einiger theosophischer Lehren erhebt, in denen vermutlich in gleicher Weise sowohl der Buddhismus wie auch das Christentum verfälscht sind, müssen uns hüten, eine



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neue Steiner'sche Dogmatik anzunehmen, in welcher der Positivismus immerhin mit viel Unbefangenheit behandelt wird. »1 Und: «Edouard Schuré, eine keltische Seele, lebt in einer Traumwelt und er wurde vom keltischen Mysterium des Heiligen Grals angezogen, welches ihm von Doktor Steiner tiefer offenbart wurde. »2 Und Edouard Schuré antwortete ihm in einem Brief vom 8. Juli 1912 (gleiche Quelle): «Ich kenne Ihre Prinzipien und die wissenschaftliche Schule, der Sie angehören, und ich wusste zum voraus, daß Sie die Grundideen in meinem neuen Buch nicht werden schätzen können. [...] Obwohl Sie eigentlich ein religiöser Geist und eine Dichterseele sind, gehören Sie nichtsdestoweniger der Schule des Positivismus an wie alle Wissenschafter und fast alle zeitgenössischen Philosophen, und dieser Gesichtspunkt bestimmt die Mentalität, die gebieterisch unsere intellektuelle Welt beherrscht. » 3

174 wir fanden bei diesem Herrn im Salon an ganz hervorragender Stelle die beiden Bilder: De Gubernatis Interesse galt auch den slawischen und anderen osteuropäischen Völkern, so zum Beispiel den Serben. Davon zeugt sein Buch «La Serbie et les serbes», das im Jahre 1897 in Florenz erschien. Im gleichen Jahr hatte er Serbien besucht, dort Vorträge gehalten und persönliche Beziehungen zum Königshof geknüpft, insbesondere zu Königinmutter Natalija und vor allem zu ihrer Hofdame Draga Masin, der Geliebten von König Alexander J. (siehe Hinweis zu 5. 126). 1900 benützte er sein freundschaftliches Verhältnis zum serbischen Hof und schrieb Draga Masin, der neuen Königin, einen Brief, in dem er um die Begnadigung seines Freundes, des vorübergehend inhaftierten Strafrechtsprofessors Milenko Vesnic, bat. Dieser Brief hatte Erfolg, denn Vesnic schrieb ihm am 4. November 1900 (zitiert nach: Stefano Aloe, Angelo de Gubernatis e il mondo slavo, Pisa 2000, Capitolo V,1 «Serbia»): «Die Königin [Draga] sagte mir dann, sie hätte von Ihnen einen reizenden Brief erhalten und hätte Ihnen wohl schon geantwortet, wenn sie Ihre Adresse gehabt hätte. Gleich als der königliche Hof nach Belgrad zurückgekehrt war, habe ich mich eilends bemüht, der Hofdame der Königin Ihre amtliche Adresse zu schicken [...]»4 Es ist anzunehmen, daß die Königin in ihrer Antwort de Gubernatis die beiden signierten Porträtaufnahmen zugeschickt hat. Als Rudolf Steiner im Jahre 1909 de Gubernatis besuchte, war das serbische Königspaar bereits seit sechs Jahren tot (siehe Hinweis zu 5. 129), aber der italienische Professor hielt die Erinnerung an sie nach wie vor hoch.

174 von Draga Masin und Alexander Obrenovic: Siehe Hinweis zu 5. 126.

174 der sogenannten lateinischen Liga, [der «Lega Nazionale»]: Die «Lega Nazionale»



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war ein Instrument des italienischen Irredentismus, der die Vereinigung aller italienischsprechenden, aber noch unter fremder Herrschaft stehenden Bevölkerungsteile mit Italien anstrebte. Nach der Eingliederung von Venetien im Jahre 1866 und des Kirchenstaates im Jahre 1870 wurde vor allem das Trentino, das sogenannte Welschtirol, sowie Friaul und Triest zum «Irredenta Italia» («irredento»: «unter fremder Herrschaft stehend», «unfrei», «unerlöst») gezählt. Diese Gebiete gehörten zu den beiden österreichischen Kronländern Tirol und Küstenland, wo deutsche, italienische und slowenische Bevölkerungsteile zusammenlebten.Einen zentralen Platz in der Agitation nahmen die Schulen ein. Durch die Gründung von rein italienischen Schulen, wo weder Deutsch noch Slowenisch unterrichtet wurde, sollte der Anteil der italienischsprachigen Bevölkerung in diesen Gebieten erhöht werden. Die Schulen waren sozusagen als «ethnische Eroberungszentren» (zitiert nach: Claus Gatterer, Erbfeindschaft Italien -Österreich, Wien 1972, Kapitel «Schulen als nationale Schützengräben») gedacht. 1885 wurde der Schulverein «Pro Patria» gegründet. Wegen seiner politischen Tendenzen wurde er 1890 von den österreichischen Behörden verboten. An seiner Stelle wurde 1891 die «Lega Nazionale» gegründet, die die Statuten, die Organisationsform und die Tätigkeit des aufgelösten Vereins übernahm. Um den unterschiedlichen Mentalitäten und Interessen der italienischen Bevölkerung in den beiden Kronländern besser entgegenzukommen, verfügte die Lega über eine trientinische und eine adriatiasche Sektion. Ihre Tätigkeit erstreckte sich über das rein Schulische in alle möglichen kulturellen und folkloristischen Bereiche hinein. Ziel war ganz allgemein die Förderung der italienischen Kultur in den -wie man sagte - «von Österreich besetzten» Gebieten. 1914 wurde die Lega Nazionale durch die österreichischen Behörden aufgelöst.

In ihrer Tätigkeit konnte die Lega Nazionale auf propagandistische und finanzielle Schützenhilfe von geistesverwandten Gruppierungen aus Italien zählen, zum Beispiel auf die 1888 begründete «Società Dante Alighieri», die von 1889 an eine praktische Wirksamkeit entfaltete. Diese Gesellschaft hatte sich die Verbreitung der italienischen Sprache zum Ziele gesetzt. Die Gründer, zu denen neben dem federführenden Giosue Carducci (siehe Hinweis zu 5. 192) auch Angelo de Gubernatis (siehe Hinweis zu 5. 174) gehörte, benannten die Società nach Dante Alighieri (siehe Hinweis zu 5. 192) — in Erinnerung daran, daß durch sein Werk die sprachliche Einigung Italiens sechshundert Jahre vor der politischen Einigung vollzogen worden war. Scheinbar eine völlig unpolitische Institution, war sie doch von großem politischem Einfluß. So heißt es zum Beispiel im Zusammenhang mit einer Rede, die der italienische Ministerpräsident Paolo Boselli (1 838-1 932)— er war vom Juni 1916 bis Oktober 1917 im Amt - am 6. Dezember 1916 in der Abgeordnetenkammer gehalten hatte (zitiert nach: «Neue Zürcher Zeitung» vom 7. Dezember 1916, 137. Jg. Nr. 1973): «Die Rede Bosellis bewies durch ihre selbst für italienische Verhältnisse ungewöhnliche Länge und Breite sowie ihren gewollt klassifizierenden Ton, daß der italienische Premierminister nicht seinen politischen Fähigkeiten, sondern seinen Verdiensten als Vorsitzender des großen Sprachvereins <Dante Alighieris sein Amt verdankt. » Tatsächlich war Paolo Boselli von 1907 bis 1932 Präsident der Dante-Gesellschaft.

Grundsätzlich der politischen Rechte nahestehend, wirkte die Gesellschaft entschieden in einem irredentistischen Sinne: Innerhalb der «Dante Alighieri» gab es zum Beispiel ein «Comitato trentino», das für die Aktivitäten im Trentino zuständig war. Der trientinische Politiker Antonio Tambosi (1853-1921) zum Beispiel war nicht nur 1906 und von 1910 bis 1914 Präsident der Lega Nazionale, sondern auch Mitglied des Trientinischen Komitees. Guglielmo Ranzi, der für das Trentino zuständige Vertrauensmann der Dante-Gesellschaft, wies in seinem Brief vom



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9. Februar 1903 an Pasquale Villari (1826-1917) auf diese Verbindung hin (zitiert nach: Renato Monteleone, La società «Dante Alighieri» e l'attivita nazionale nel Trentino. 1896-1916, Trient 1963): «Und ich bestätige, daß die <Lega nazionale< und die <Società degli Alpinisti tridentini>, um nicht von anderen Vereinigungen zu sprechen, auf die materielle und moralische Hilfe der Dante-Alighieri-Gesellschaft nicht verzichten können. Sie haben sogar nötig, dass diese Hilfe zunimmt, weil sie im Vertrauen darauf schon Verpflichtungen übernommen haben, die ihre Mittel übersteigen.»' Und er empfahl Villari - dieser war von 1896 bis 1903 Präsident der Dante-Gesellschaft - «bei der Dante-Alighieri-Gesellschaft allen Anschein einer politischen Partei zu beseitigen» 2 ebenso «das Bild einer von der Freimaurerei dominierten Gesellschaft» 3 . Tatsächlich scheinen enge Beziehungen zwischen der Dante-Gesellschaft und der italienischen Freimaurerei bestanden zu haben, war doch Ernesto Nathan, einer der damaligen führenden Freimaurer (siehe Hinweis zu 5. 61 in GA 173b) auch Mitglied des Zentralrates der Dante-Gesellschaft.

Von der irredentistischen Agitation blieb auch die italienischsprachige Studentenschaft nicht unberührt, die an der Universität Innsbruck -der einzigen ihnen zur Verfügung stehenden Universität in Österreich-Ungarn -studierte und gegen die Vormachtstellung der Deutschtiroler protestierte. Die österreichische Regierung verordnete am 27. September 1904 die Errichtung einer selbständigen rechts- und staatswissenschaftlichen Fakultät mit italienischer Vortragssprache an der Universität Innsbruck -als Zeichen für den übernationalen Charakter des habsburgischen Vielvölkerstaates und als vorläufige Lösung bis zur Gründung einer italienischen Universität. Von den radikalen Richtungen beider Seiten wurde dieser Kompromiß jedoch abgelehnt. Am 3. November 1904 wurde die Italienische Fakultät in einem Gebäude in Innsbruck-Wilten offiziell eröffnet. Am Abend des Eröffnungstages versammelten sich die italienischen Studenten mit ihren Professoren zu einer Feier, wobei es zu handgreiflichen Auseinandersetzungen mit deutschnational gesinnten Studenten kam. Es gab zahlreiche Verletzte und ein Todesopfer. Die Polizei stellte sich auf die Seite der deutschen Demonstranten und verhaftete zahlreiche italienische Studenten. In den Tagen danach wurden die italienischen Studenten verfolgt und - wenn möglich -verprügelt. Der Universitätsbetrieb an der Italienischen Fakultät konnte nicht mehr aufgenommen werden. Am 17. November 1904 erklärte die österreichische Regierung, die Italienische Fakultät habe von selbst zu bestehen aufgehört. Diese Auseinandersetzungen zwischen deutschen und italienischen Studenten, an der sich auch die deutsche Bevölkerung von Innsbruck beteiligte, gingen als die sogenannten «fatti di Innsbruck» in die Geschichte ein.

175 es war eines der Jahre, die ebensogut wie das Jahr 1914 zum Weltkrieg hätte führen können: In den Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg stand der Ausbruch eines großen europäischen Kriegs mehrfach vor der Türe: 1913 nach dem österreichischen Ultimatum an Serbien, sich aus den von ihm besetzten albanischen Gebieten zurückzuziehen (siehe Hinweis zu 5. 175 in GA 173b), 1908 nach der Annexion Bosniens und der Herzegovina durch Österreich-Ungarn (siehe Hinweis zu 5. 141) und 1886 nach der Intervention Rußlands in Bulgarien (siehe Hinweis zu 5. 32). Die dadurch entstandene «Bulgarienkrise» weitete sich zu einer großen



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«Balkankrise» aus; im Jahre 1887 zeichnete sich die Gefahr eines Krieges zwischen Deutschland/Österreich-Ungarn auf der einen Seite und Frankreich/Rußland auf der anderen Seite ab. Eine der wichtigen Ursachen für die Bedrohung des Friedens war das Ringen zwischen Rußland und Österreich-Ungarn um die Vormacht auf dem Balkan. Serbien gehörte damals zur österreichischen Einflußsphäre, Bulgarien zur russischen. Rußland warf Österreich-Ungarn vor, die Herauslösung Bulgariens aus der russischen Einflußsphäre zu betreiben. Rußland hielt deshalb eine Erneuerung des Dreikaiserabkommens (siehe Hinweis zu 5. 79) wegen der österreichischen Haltung in der bulgarischen Frage für wenig wünschenswert. Als Ersatz für den Wegfall dieses Bündnisses und um Rußland nicht in die Isolation zu treiben, schloß der deutsche Reichskanzler Otto von Bismarck am 18/6. Juni 1887 einen -geheimgehaltenen -Rückversicherungsvertrag mit Rußland (siehe Anhang II, «Historische Dokumente», in GA 173c), der im Falle eines Krieges mit Frankreich die russische Neutralität zusicherte - und umgekehrt die deutsche Neutralität im Falle eines Krieges Rußlands mit Österreich. Das Verhältnis zwischen Deutschland und Rußland blieb trotz dieses Geheimvertrages gespannt. Nachdem sich die Situation vorübergehend wieder etwas beruhigt hatte, verschärfte sie sich zu Beginn des Jahres 1888 erneut, bis sich Deutschland entschieden auf die Seite Österreich-Ungarns stellte und Rußland vor der Entfesselung eines Krieges zurückschreckte.

Diese diplomatische Niederlage Rußlands ermöglichte den deutschfeindlichen, russizistischen Kräften, zunehmend Einfluß auf die russische Politik zu gewinnen. Ein wichtiger Exponent der deutschfeindlichen Fraktion war -bis zu seinem Tode kurz nach Abschluß des Rückversicherungsvertrages -der russische Zeitungsmann Michail Nikiforovic Katkov (siehe Hinweis zu 5. 63), der mit Hilfe einer Intrige, in die die französische Feministin und Schriftstellerin Juliette Adam (1836-1936) verwickelt war, Bismarcks Außenpolitik als ein gegen Rußland gerichtetes Doppelspiel zu diskreditieren versuchte. Katkov wollte auf diesem Weg den russischen Zaren Alexander III. (siehe Hinweis zu 5. 63) für ein Bündnis mit Frankreich gewinnen. Auch wenn Alexander III. nach dem Tode Katkovs im November 1887 nach Berlin reiste und zur Kenntnis nehmen mußte, daß die ihm vorgelegten Beweisstücke gefälscht waren, war er -gerade auch unter dem Druck der öffentlichen Meinung in Rußland -nicht mehr bereit, das Dreikaiserabkommen zu erneuern.

Aber nicht nur in Rußland, sondern auch in Frankreich lebte eine starke deutschfeindliche Stimmung. Damals übte der französische Verteidigungsminister und spätere populistische Führer General Georges Boulanger (siehe Hinweis zu S. 105) einen wichtigen Einfluß auf die Öffentlichkeit aus. Er strebte die militärische Revanche gegenüber Deutschland an und agitierte für die Rückgewinnung von Elsaß-Lothringen. Ein militärischer Angriff Frankreichs auf Deutschland konnte deshalb nicht ausgeschlossen werden.

Diese große politische Doppelkrise in Europa führte zu verstärkten militärischen Rüstungen. Bismarck war aber bestrebt, den Frieden in Europa zu erhalten; Überlegungen der deutschen Militärs, die einen Präventivkrieg als günstig erachteten, trat er entschieden entgegen. Auch weigerte er sich, ein aggressives Vorgehen Österreichs gegen Rußland auf dem Balkan zu unterstützen. Am 3. Februar 1888 ließ er den Text des Zweibundvertrages zwischen Deutschland und Österreich-Ungarn veröffentlichen, um den defensiven Charakter dieses Bündnisses zu unterstreichen. Am 6. Februar 1888 hielt er im Reichstag eine Rede, in der er einerseits die deutsche Friedensbereitschaft betonte, andererseits aber auch die deutsche Verteidigungsbereitschaft unterstrich. Er schloß mit den Worten (zitiert nach: Georg Webers Weltgeschichte in zwei Bänden, neu bearbeitet von Ludwig Rieß, Zweiter Band, Leipzig 1918. II. Teil, §87): «Wir Deutschen fürchten Gott, aber sonst nichts in der



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Welt; und die Gottesfurcht ist es schon, die uns den Frieden lieben und pflegen läßt. Wer ihn aber trotzdem bricht, der wird sich überzeugen, daß die Kampfesfreude und Vaterlandsliebe, welche 1813 die gesamte Bevölkerung des damals schwachen, kleinen und ausgesogenen Preußen unter die Fahnen rief, heutzutage ein Gemeingut der ganzen deutschen Nation ist und daß derjenige, der die deutsche Nation irgendwie angreift, sie einheitlich bewaffnet finden wird und jeden Wehrmann mit dem festen Glauben im Herzen: Gott wird mit uns sein. » Weil sich Österreich-Ungarn zurückhielt und Italien sich unter Ministerpräsident Crispi (siehe Hinweis zu 5. 171) eindeutig auf die Seite des Zweibundes stellte, verloren die kriegstreiberischen Kräfte an Boden, und der Friede in Europa konnte erhalten werden.

175 den berühmten Handelskrieg: Nach der Einigung Italiens blieb Italien außenpolitisch isoliert. Daß es 1878 auf dem Berliner Kongreß (siehe Hinweis zu 5. 79) keine territorialen Zugeständnisse erreichen konnte und Frankreich ihm 1881 bei der Besetzung von Tunesien (siehe Hinweis zu 5. 172) zuvorkam, war ein Ausdruck der außenpolitischen Schwäche Italiens und bewogen dessen Regierung im Jahre 1882 zum Abschluß eines Bündnisses mit Deutschland und mit Österreich-Ungarn, dem sogenannten Dreibund (siehe Hinweis zu 5. 173). Bis zu diesem Zeitpunkt war Italien dem Einflußbereich Frankreichs zuzurechnen, hatte dieses doch eine wichtige Rolle bei der italienischen Einigung gespielt und dominierte das Land auch wirtschaftlich. Den Abschluß des Dreibundes empfand man in Frankreich als eine Herausforderung. Man versuchte, durch wirtschaftliche Maßnahmen dieses Land wieder in seine Einflußsphäre zu bringen. So war Frankreich nicht bereit, den Handelsvertrag, der am 1. Mai 1888 auslief, wieder zu erneuern. Zwischen den beiden Ländern entspann sich ein heftiger Zollkrieg. Der Abschluß von Handelsverträgen mit Deutschland, Österreich-Ungarn und der Schweiz im Jahre 1892 bedeutete einen ersten Ausweg aus der handelspolitischen Isolierung Italiens. Erst 1898 fand der Handelskrieg mit Frankreich ein Ende: Am 21. November wurde ein neues Handelsabkommen mit Frankreich auf der Basis der Meistbegünstigung geschlossen. Der Vertrag trat am 12. Februar 1899 in Kraft, wodurch sich das Verhältnis zwischen den beiden Ländern wieder normalisierte. Gekrönt wurde die Aussöhnung zwischen Frankreich und Italien durch das geheime Kolonialabkommen von 1902, wo eine Abgrenzung der Interessenssphären im Mittelmeerraum zwischen den beiden Staaten festgelegt wurde (siehe Hinweis zu 5. 262 in GA 173b).

176 So wie 1914 die große Pressehetze losgegangen ist, die von Petersburg inspiriert war: Bedingt durch das allgemein gespannte Verhältnis zwischen Rußland und Deutschland, das sich zu einem großen Wettrüsten zwischen den beiden Staaten auszuwachsen drohte, genügte oft nur ein geringfügiger Anlaß, damit es zum offenen Ausbruch der Spannungen kam. Ein Beispiel war die sogenannte Liman-von-Sanders-Affäre vom Dezember 1913 (siehe Hinweis zu S. 82), ein anderes die heftige Pressefehde zwischen russischen und deutschen Blättern, die vor der gegenseitigen militärischen Bedrohung warnten. Im Februar 1914 hatte der als gemäßigt geltende Ministerpräsident Vladimir Nikolaevic Kokovcov zurücktreten müssen (siehe Hinweis zu S. 53 in GA 173c) und war durch den altgedienten Politiker Ivan Logginovic Goremykin (1839-1917) ersetzt worden. Dieser war bereits von November 1905 bis Mai 1906 Ministerpräsident gewesen und war bekannt für seine konservativnationale Ausrichtung. Seine Ernennung führte zu einer gewissen Alarmstimmung in Deutschland, da der Ausbruch eines Krieges mit Rußland in greifbare Nähe gerückt schien. Innenpolitisch stieß Goremykin wegen seiner konservativen Haltung auf großen Widerstand. Schließlich bat er im Februar 1916 um Entbindung von seinem Amt. Nach der bolschewistischen Machtübernahme wurde er als Vertreter



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Einen ersten Höhepunkt erreichte die Pressefehde am 2. März 1914, als die «Kölnische Zeitung» in einem Leitartikel unter dem Titel «Rußland und Deutschland» vor der kommenden russischen Gefahr für Deutschland warnte. Der Artikel war vom Rußlandkorrespondenten dieses Blattes, Richard Ullrich, verfaßt worden. Er schrieb (zitiert nach: «Kölnische Zeitung» vom 2. März 1914, 117. Jg. Nr. 238): «Eine unmittelbare Kriegsgefahr droht also von Rußland nicht, so sehr von französischer Seite mit dem russischen Säbel gerasselt wird. Ganz anders wird jedoch die politische Wertung der russischen Heeresmacht in drei bis vier Jahren ausfallen. Die Gesundung der Finanzwirtschaft und Hebung des Kredits, den übrigens Frankreich gegen deutschfeindliche militärische Versprechungen immer gern gewährt, haben Rußland in einen vorwärtsstrebenden Kurs gebracht, dessen Ziel, wenn es ruhig weitersteuern kann, im Herbst 1917 erreicht sein wird. » Und Ullrich fragte: «Gegen wen wird die russische Politik die Waffe, über die sie in wenigen Jahren verfügt, am ehesten zu kehren geneigt sein? Ohne zunächst in politische Erörterungen näher einzugehen, weist der geographische Aufmarsch dieser Rüstungen nach der Westgrenze, also nach Deutschland. Vor zwei Jahren scheute man sich noch, jetzt spricht man es offen aus, sogar in amtlichen militärischen Zeitschriften, daß Rußland zum Kriege gegen Deutschland rüste. » Einen lebendigen Ausdruck über die damals in Deutschland herrschende Stimmung gibt eine Karikatur, die am 15. März 1914 in der Berliner satirischen Wochenschrift «Kladderadatsch» erschienen war (LXVII. Jg. Nr. 11) und in der die französische Marianne den vor dem Spiegel stehenden und seine Rüstung anlegenden russischen Bären fragte (zitiert nach: Klaus Wernecke, Der Wille zur Weltgeltung, Düsseldorf 1970, Kapitel «Die deutsch-russische Pressefehde im Frühjahr 1914»): «Na Dicker, kommst Du nicht bald zum Tanze mit Michel?» Und die Antwort von ihm: «Ich bin mit meiner Toilette noch nicht ganz fertig. »

In den «Basler Nachrichten» vom 6. März 1914 (70. Jg. Nr. 107) heißt es dazu in einer Meldung aus Paris vom 6. März: «Der gegen Rußland so ausfällige Artikel der <Kölnischen Zeitungs hat auch hier das grösste Aufsehen erregt. Der Petersburger Berichterstatter des rehinländischen Blattes hat seinen Landsleuten vorausgesagt, daß die russischen Rüstungen im Jahre 1917 zu Ende gekommen sein werden und daß Deutschland dann in großer Gefahr sei. Man konnte aus den Ausführungen ohne besondere Mühe den Schluß ziehen, der Berichterstatter lade Deutschland ein, Rußland den Krieg zu erklären, bevor es seine Rüstungen vollendet hat. Man hat hier zunächst darüber hin- und hergeraten, ob der Artikel des offiziösen deutschen Blattes etwa vom Auswärtigen Amt herrühre oder ob er bloß dazu dienen sollte, neuen Rüstungen in Deutschland den Weg zu ebnen und auf die Initiative von Waffenfabrikanten zurückzuführen sei. Schließlich hat man sich überzeugt, daß die amtlichen Stellen in Berlin nichts mit dem Artikel zu tun haben wollen, und man schreibt ihn jetzt allgemein auf das Konto des Petersburger Berichterstatters der <Kölnischen Zeitungs, der, wie der <Temps> zu melden weiß, ein ehemaliger Offizier ist. Immerhin glaubt man hier die Gewohnheiten der <Kölnischen Zeitungs so gut zu kennen, daß man sagt, der Artikel sei im Einverständnis mit der deutschen Botschaft in Petersburg geschrieben worden. » Allerdings waren die deutschen Besorgnisse nicht unbegründet, berichteten doch die «Basler Nachrichten» in ihrer Ausgabe vom 13. März 1914 (70. Jg. Nr. 120) von einer Stellungnahme aus dem russischen Kriegsministerium: «Rußland verfolgt seit fünf Jahren seine militärische Reorganisation. Bis heute hatte unser eventueller Kriegsplan nur defensiven Charakter und gründete sich auf die Festungen an der Westgrenze. Nun haben wir auf diese Taktik verzichtet, um die Offensive zu übernehmen. »



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Im Verlaufe dieser Pressefehde wurde von russischer Seite offensichtlich versucht, einen Keil in das Bündnis zwischen Deutschland und Österreich-Ungarn zu treiben. Jedenfalls verbreitete die russische Presse im Zusammenhang mit dem Besuch des russischen Kriegsministers Vladimir Aleksandrovic Suchomlinov (1848-1926) in Berlin die Meldung, der deutsche Kaiser Wilhelm II. habe sich ihm gegenüber negativ über seinen engen Bündnispartner Österreich-Ungarn geäußert (zitiert nach: Anton Jux, Der Kriegsschrecken des Frühjahrs 1914 in der europäischen Presse, Neuburg a. d. D. 1929, Sechster Abschnitt, «Schlichtungsverhandlungen zwischen den Auswärtigen Ämtern»): «Ungefähr gleichzeitig machte die <Novoje Vremja> Andeutungen über die Möglichkeit einer völligen Umgruppierung der Mächte. Das <Russkoje Slovo>meldete, daß der Kaiser sie im Gespräch mit einem russischen Würdenträger erörtert habe. Als dieser Würdenträger war der Kriegsminister Suchomlinov [vom März 1909 bis Juni1915 im Amt] hinreichend deutlich gekennzeichnet, der einige Tage vorher durch Berlin gereist war und sich beim Kaiser gemeldet hatte. Der Kaiser habe sich in dem Gespräch abfällig über Österreich-Ungarn geäußert und seine Aufteilung als Grundlage für die Aufrichtung eines deutschrussisch-französischen Bündnisses bezeichnet. Ergänzend wurde später noch mitgeteilt, daß Deutschland, damit Frankreich mitmache, ihm Elsaß-Lothringen zurückgeben werde. Galizien war den Russen zugedacht. An den übrigen Gebieten Österreichs konnte sich vorweg das Reich schadlos halten. Die <Novoje Vremja> gab dem Plan noch eine Spitze gegen die Vereinigten Staaten, als sinne der Kaiser darauf, Europa gegen Amerika zu einigen. »

So brachten die «Basler Nachrichten» am 19. März 1914 (70. Jg. Nr. 130) unter dem Titel «Eine Quadrupel-Allianz?» eine Meldung aus Paris vom 18. März, die lautete: «Die <Novoje Vremja>veröffentlicht Erklärungen einer russischen Persönlichkeit, wonach anläßlich der Leipziger Jahrhundertfeier [hundertjähriges Jubiläum der Völkerschlacht von Leipzig im Oktober 1913]ein hochstehender Staatsmann in Berlin erklärt haben soll, ein Bündnis zwischen Rußland, Frankreich, Deutschland und England wäre die beste Gewähr des europäischen Friedens. Die elsaß-lothringische Frage, das grosse Hemmnis für die Verwirklichung dieser Politik, könnte auf eine beide Parteien befriedigende Weise geregelt werden. Da nach dem Tode des Kaisers Franz Joseph von Österreich eine Aufteilung der österreichisch-ungarischen Provinzen zu erwarten sei, könnte Deutschland sich alsdann die deutschen Provinzen der Monarchie aneignen und auf Elsass-Lothringen zugunsten Frankreichs verzichten. Russland würde Galizien erhalten. Ungarn sowie Böhmen würden zu unabhängigen Staatswesen. Italien könnte seinerseits aus gewissen neuen Konzessionen Vorteile ziehen. Die neue Politik Rumäniens beweise, daß die dortigen Staatsmänner mit dem baldigen Zerfall der habsburgischen Monarchie rechnen. Dieses neue Programm würde den Rüstungen ein Ziel setzen. »

In ihrer Ausgabe vom 20. März 1914 nahm die «Frankfurter Zeitung» (58. Jg. Nr. 79) zu diesem angeblichen Vorschlag unter dem Titel «Russische Phantasien» Stellung, indem sie mit Datum vom 19. März folgende Meldung brachte: «Eine Auslassung der <Novoje Vremja>wird augenscheinlich im Auslande überschätzt. Das Blatt phantasierte gestern von einer bevorstehenden Neugruppierung der Mächte und erzählt heute von angeblichen Versuchen Kaiser Wilhelms, Europa gegen Amerika zu einigen. Die Auslassungen haben keinen amtlichen oder auf ernste Informationen zurückgehenden Charakter; sie entsprechen nur dem Bedürfnis, das hiesige Publikum mit Sensationen zu versorgen. Bezeichnend dafür ist der Vorschlag, Deutschland möge Elsaß-Lothringen Frankreich zurückgeben und solle dafür bei der Aufteilung des österreichisch-ungarischen Reiches entschädigt werden. » In seinen Erinnerungen «Betrachtungen zum Kriege. Erster Teil: Vor dem Kriege» (Berlin



173a-525 Hinweise zum Vortrag vom 16. Dezember 1916 Flip  arpa

1919) bestätigt Bethmann Hollweg, daß innerhalb der russischen Regierung offensichtlich solche Gedankenspekulationen gemacht wurden (4. Kapitel, «Tripolis - Balkankriege - Rußland», Abschnitt «Unser Verhältnis zu Österreich»): «Herr Sazonov [russischer Außenminister] hat einem deutschen Finanzmann, dessen Verbindung zu dem russischen Staat er zu pflegen wünschte, im Frühjahr 1914 die Bemerkung hingeworfen, wir sollten doch Österreich fahren lassen, dann würde er seinerseits hinterher auch Frankreich fahren lassen. »

Gut eine Woche, nachdem die «Frankfurter Zeitung» von den russischen Meldungen über den angeblichen Wunsch Deutschlands, das Bündnis mit Österreich aufzukündigen, berichtet hatte, gab sie am 30. März 1914 (58. Jg. Nr. 89) das russische Dementi vom 29. März bekannt. All diese Behauptungen wurden von offizieller russischer Seite zurückgenommen: «Das offizielle Informationsbüro ist angesichts der falschen Blättermeldungen zu der Erklärung ermächtig, daß in der Audienz, die der deutsche Kaiser dem russischen Kriegsminister Suchomlinov gewährt hat, ausschließlich speziell militärische Fragen den Gegenstand der Unterhaltung bildeten und Fragen politischen Charakters dabei völlig unberührt blieben. » Am 14. Mai 1914 hielt der deutsche Außenminister, Gottlieb von Jagow, eine Rede im Reichstag, in der er eine Mahnung an die Adresse Rußlands richtete. Er warb um Verständnis für die Reaktion der deutschen Presse (zitiert nach: «Kölnische Zeitung» vom 14. Mai 1914, 117. Jg. Nr. 560): «Zweifellos hat sich die schon seit langem in einem Teil der russischen Presse herrschende deutschfeindliche Bewegung in letzter Zeit immer mehr verschärft und auf den verschiedensten Gebieten zu einer fast systematischen Kampagne gegen uns geführt. Diejenigen, die diese Kampagne geführt haben, können sich nicht wundern, daß es schließlich aus dem Walde herausschallt, wie hineingerufen wird. Wie ich es schon in der Kommission getan habe, möchte ich mich aber nochmals gegen die Versuche verwahren, die kaiserliche Regierung für einzelne dieser Kundgebungen in der deutschen Presse verantwortlich zu machen. Die Reaktion in Deutschland war eben eine Folge der Aktion, die ein Teil der russischen Presse begonnen hatte. » Zugleich setzte er sich für die Abkühlung der nationalen Leidenschaften ein: «Wir kennen keine realen Gegensätze, die einem friedlichen Nebeneinanderleben der beiden Nachbarreiche Rußland und Deutschland hinderlich wären. Auch handelspolitische Schwierigkeiten, die demnächst entstehen mögen, werden bei gutem gegenseitigen Willen sich schlichten lassen. Um so verwerflicher erscheint es, eine künstliche Antagonie durch die Erregung von Volksleidenschaften hervorzurufen. In unserer übernervösen Zeit mit den Einwirkungen der Presse auf die Psyche des Volkes ist das ein Spielen mit dem Feuer. Der Fortbestand einer derartigen gegenseitigen Gereiztheit ist nicht geeignet, eine erfreuliche Führung der laufenden Geschäfte zu fördern. Ich hoffe aber, daß es den Bemühungen der beteiligten Regierungen gelingen wird, diesen gefährlichen Strömungen einen Damm entgegenzusetzen. »

176 eine Rede vorlesen konnte, die dazumal im Jahre 1888 gehalten worden ist. Es handelt sich um eine Rede des deutschen Reichskanzlers Otto von Bismarck (siehe Hinweis zu 5. 221), die er am 6. Februar 1888 im Reichstag gehalten hatte zur Unterstützung von zwei Heeresvorlagen, betreffend die Änderung der Wehrpflicht (vom 9. Dezember 1887) und die Aufnahme einer Anleihe (vom 31. Januar 1888). Die Stärkung des Reichsheeres sollte nach Bismarcks Ansicht nicht einem Angriffskrieg, sondern der Friedenssicherung dienen. In dem öffentlichen Vortrag vom 5. November 1914 (in GA 64) las Rudolf Steiner seinen Berliner Zuhörern einen Auszug aus der Rede Bismarcks vor, ohne zunächst kenntlich zu machen, daß sie sich auf außenpolitische Entwicklungen aus der Zeit zwischen 1878 bis 1888 bezog.



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In dieser Rede sagt Bismarck, unter Hinweis auf seine Unterstützung des russischen Standpunktes während des Berliner Kongresses (zitiert nach: Otto von Bismarck, Vier Reden zur äußeren Politik, Leipzig o. J., «6. Februar 1888»): «Welches mußte also meine Überraschung und meine Enttäuschung sein, wie allmählich eine Art von Pressekampagne in Petersburg anfing, durch welche die deutsche Politik angegriffen, ich persönlich in meinen Absichten verdächtigt wurde. Diese Angriffe steigerten sich während des darauffolgenden Jahres bis 1879 zu starken Forderungen eines Druckes, den wir auf Österreich üben sollten in Sachen, wo wir das österreichische Recht nicht ohne weiteres angreifen konnten. Ich konnte dazu meine Hand nicht bieten, denn wenn wir uns Österreich entfremdeten, so gerieten wir, wenn wir nicht ganz isoliert sein wollten in Europa, notwendig in Abhängigkeit von Rußland.» Und weiter: «Der Vorgang betreffs des Kongresses enttäuschte mich, der sagte mir, daß selbst ein vollständiges Indienststellen unserer Politik (für gewisse Zeit) in die russische uns nicht davor schützte, gegen unseren Willen und gegen unser Bestreben mit Rußland in Streit zu geraten. Dieser Streit über Instruktionen, die wir an unsere Bevollmächtigten in den Verhandlungen im Süden gegeben oder nicht gegeben hatten, steigerte sich bis zu Drohungen, bis zu vollständigen Kriegsdrohungen von der kompetentesten Seite. »

Die folgenden Sätze wurden von Rudolf Steiner nicht mehr weiter vorgelesen, aber er hat sie in seinem Exemplar angestrichen: «Denken Sie sich Österreich von der Bildfläche Europas weg, so sind wir zwischen Rußland und Frankreich auf dem Kontinent mit Italien isoliert, zwischen den beiden stärksten Militärmächten neben Deutschland, wir ununterbrochen zu jeder Zeit einer gegen zwei, mit großer Wahrscheinlichkeit, oder abhängig abwechselnd vom einen oder vom anderen. So kommt es aber nicht. » Weiter: «Kurz, wenn wir die Isolierung, die gerade in unserer angreifbaren Lage für Deutschland besonders gefährlich ist, verhüten wollen, so müssen wir einen sicheren Freund haben. Wir haben vermöge der Gleichheit der Interessen, vermöge dieses Vertrages, der Ihnen vorgelegt ist, zwei zuverlässige Freunde -zuverlässig nicht aus Liebe zueinander, denn Völker führen wohl aus Haß gegeneinander Krieg, aber aus Liebe, das ist noch gar nicht dagewesen, daß sich das eine für das andere opfert. » Und schließlich: «Aber ich hoffe, es wird unsere Mitbürger beruhigen, wenn sie sich nun wirklich den Fall denken, an den ich nicht glaube, daß wir von zwei Seiten gleichzeitig überfallen würden -die Möglichkeit ist ja [...]für alle möglichen Koalitionen doch immer vorhanden -, wenn das eintritt, so können wir an jeder unserer Grenzen eine Million guter Soldaten in Defensive haben. » Bemerkenswert an den ganzen Ausführungen Bismarcks ist, daß er Großbritannien kaum in seine Überlegungen einbezog.

177 immer mehr und mehr in Europa das Urteil aufkam: In den westlichen und den östlichen Ententeländern gab es zahlreiche politische Bestrebungen, die auf eine Auflösung der Habsburger Monarchie hinarbeiteten (siehe Hinweise zu 5. 116). So sagte der ungarische Ministerpräsident Graf von Tisza (siehe Hinweis zu 5. 143) in seiner Rede vom 16. Juni 1916 im ungarischen Abgeordnetenhaus (zitiert nach: «Basler Nachrichten» vom 17. Juni 1916, 72. Jg. Nr. 303): «Die aggressive Denkungsweise unserer Gegner und die Bedrohung unserer Existenz, die die Ursache des Krieges war, geht auch hervor aus den bis in die letzte Zeit erklungenen Äusserungen unserer Gegner. Gegenüber unserer Monarchie stellen sie sich auf den zynischen Standpunkt. die Monarchie aufteilen und vernichten zu wollen. »

177 wenn Sie Publikationen lesen wie jene von Loiseau, Chéradame. André Chéradame (1870-1948), französischer Journalist und Professor für Politologie, widmete sein Leben weitgehend dem Kampf gegen den von ihm so genannten «Pangermanismus».



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Neben Chéradame hatte sich auch Charles Loiseau (1861-1946), französischer Schriftsteller und Diplomat, intensiv mit der geopolitischen Lage Österreich-Ungarns und mit der damit verbundenen Slawenfrage auseinandergesetzt; er galt als ausgesprochener Experte. Er hatte in die Adelsfamilie der Vojinovic aus Dubrovnik eingeheiratet und kannte die südslawischen Verhältnisse aus eigener Anschauung. Wegen seiner Sympathie für die südslawischen Selbständigkeitsbestrebungen wurde ihm 1898 der Aufenthalt auf dem österreichisch-ungarischen Staatsterritorium verboten. Während des Ersten Weltkriegs war Loiseau Berater von Camille Barrère (1851-1 940), dem französischen Botschafter in Italien von 1897 bis 1924. Loiseau, dem überzeugten Katholiken, war die Pflege der informellen Kontakte mit dem Heiligen Stuhl übertragen, mit dem Frankreich damals keine diplomatischen Beziehungen unterhielt. Loiseaus Memoranden an das französische Außenministerium über die Lage in Südslawien mag im Jahre 1918 zum Entscheid der französischen Regierung, die Gründung eines einheitlichen südslawischen Staates zu unterstützen, beigetragen haben. Loiseau wurde vor allem durch seine beiden Bücher «Le Balcan slave et la crise autrichienne» (Paris 1898) und «L'équilibre adriatique» (Paris 1901) bekannt. Im Gegensatz zu Chéradame sah Loiseau in Österreich den verlängerten Arm des deutschen Imperialismus auf dem Balkan. Er empfahl deshalb die Bildung einer umfassenden Allianz zwischen Frankreich, Italien und einem noch zu gründenden südslawischen -jugoslawischen - Staat, um den Einfluß Österreichs zurückzudrängen. Er richtete sein Hauptaugenmerk auf die südslawischen und nicht -wie Chéradame - auf die nordslawischen Völker. Die Rolle Ungarns in dieser Mächtekonstellation beurteilte er unterschiedlich; zeitweise erhoffte er sich von diesem Land eine Unterstützung der von ihm empfohlenen Allianz gegen Deutschland. Nicht zu verwechseln ist Charles Loiseau mit seinem Namensvetter Hippolyte Loiseau (1868-1942), der die Ideen der Alldeutschen in seiner nach dem Krieg erschienenen Schrift «Le Pangermanisme, ce qu'il fut - ce qu'il est» (Paris 1921) einer kritischen Betrachtung unterzog. Hippolyte Loiseau war zunächst von 1894 an als Deutschlehrer am Gymnasium von Toulouse tätig, bis er 1894 als Lehrbeauftragter an die Universität von Toulouse berufen wurde. 1919 wurde er zum ordentlichen Professor für deutsche Sprache und Literatur ernannt. 1938 zog er sich von seiner Lehrtätigkeit zurück. Während des Ersten Weltkriegs wirkte er als



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Übersetzer in der französischen Armee. Loiseau gehörte zu den herausragenden Goethe-Kennern in Frankreich. Er übersetzte nicht nur die Werke von Goethe, sondern auch jene von Schiller und Grillparzer ins Französische.

Die Befürchtungen Loiseaus und Chéradames waren nicht völlig aus der Luft gegriffen, konnten sie sich doch auf ein entsprechendes deutsches Schrifttum berufen. Viele der von ihnen genannten deutschen Autoren standen in Verbindung mit dem 1891 gegründeten radikal-nationalistischen «Allgemeinen Deutschen Verband». Dieser Verband - 1894 in «Alldeutscher Verband» umbenannt -ging von einer Einkreisung Deutschlands durch Frankreich, England und Rußland als Tatsache aus und sah in einer umfassenden Stärkung der deutschen Machstellung die einzige Möglichkeit für ein Überleben dieses Landes. So veröffentlichte zum Beispiel Professor Ernst Hasse (1846-1908) — er war Professor für Statistik in Leipzig und von 1893 bis 1908 Vorsitzender des «Alldeutschen Verbandes» —die Schrift «Großdeutschland um das Jahr 1950» (Berlin 1895). Er glaubte an die Notwendigkeit eines mitteleuropäischen Zollvereins. Bis zum Jahre 1950 sollten sich seine Grenzen von der Nord- und Ostsee bis zur Adria und zum Schwarzen Meer erstrecken. In die ähnliche Richtung, nur territorial noch weiter reichend -der mitteleuropäisch Einfluß sollte bis zum Euphrat gehen -, zielte die Schrift des deutschen Okonomen und Geopolitikers Arthur Dix (1875 —1935) «Deutscher Imperialismus» (Leipzig 1912). Durch die Schaffung eines großen mitteleuropäischen Zollvereins wollte er ein wirtschaftliches Gegengewicht zu den Weltmächten, insbesondere den Vereinigten Staaten, schaffen. Der Geschäftsführer des Alldeutschen Verbandes, der Österreicher Albert Ritter (1872-1931), der den Verband von 1912 bis 1914 leitete, veröffentlichte unter dem Pseudonym Karl von Winterstetten die Schrift «Berlin - Bagdad. Neue Ziele mitteleuropäischer Politik» (München 1913). In dieser Schrift forderte er die Bildung eines Staatenbundes unter deutscher Führung, der - quer durch Südosteuropa - von Berlin bis nach Bagdad reichen sollte. Nach Kriegsausbruch legte er unter dem Titel «Nordkap -Bagdad. Das politische Programm des Krieges» (Frankfurt 1914) eine erweiterte Fassung dieser Schrift vor. Es liegen keine Hinweise vor, daß Rudolf Steiner diese Schriften gekannt hätte.

Alldeutsche wie zum Beispiel Albert Ritter erwiesen sich als überzeugte Gegner von Rudolf Steiners Weltanschauung. So schrieb Ritter in seiner 1922 in Berlin erschienen Schrift «Der Tod des Materialismus und der Theosophie. Die Religion der Tatsachen» (Kapitel VI, «Okkultismus und Theosophie»): «Die Anthroposophie widerspricht daher grundsätzlich jeder Ethik. Sie stellt das Handeln unter den Gesichtspunkt von äußerer Belohnung oder Bestrafung, sie läßt den Menschen als Individuum durch mehrere Existenzen hindurchwandern, weiß also nicht, daß er gar kein geistiges Individuum ist. Jede Lehre, die der Kirche sowohl als die Steiners, die den Bestand einer bewußten menschlichen Individualität, eines wirklichen Ich behauptet, macht Religion und Ethik unmöglich und muß zu einer kulturellen Katastrophe führen. » Und: «Die Anthroposophie tut sich viel zugute auf ihre moralische Wirkung, auf ihren ethischen Geist - das ist alles falscher Zauber; in Wirklichkeit ist ihre Ethik eine Lehre, wie der Mensch sein individuelles Wohl zu besorgen habe, also eine Botschaft des Egoismus. »

177 wurde sogar der Oberdank gefeiert, der das Attentat auf den Kaiser Franz Josef ausgeführt hatte: Wilhelm Oberdank (Guglielmo Oberdan, 1858-1882) war der uneheliche Sohn eines slowenischen Hausmädchens aus Triest. Er war damit mit einem doppelten Makel behaftet: dem einer unehelichen Geburt und dem einer als minderwertig geltenden nationalen Herkunft. Da er ein begabter Schüler war, stand ihm jedoch der Weg in die Realschule offen, was ihm später ein naturwissenschaftliches



173a-529 Hinweise zum Vortrag vom 16. Dezember 1916 Flip  arpa

177 ein Bild nicht die «Seeschlacht bei Lissa» heißen: Es handelt sich um das Gemälde von Frederik Sorenson, Die Schlacht von Lissa, das im Heeresgeschichtlichen Museum in Wien ausgestellt ist. Es zeigt den Untergang der italienischen «Re d'Italia», die von dem österreichischen Flaggschiff «Ferdinand Max» gerammt worden war. Die Seeschlacht von Lissa fand statt am 20. Juli 1866 zwischen der österreichischen Flotte unter Admiral Wilhelm Freiherr von Tegetthoff und den italienischen Seestreitkräften unter Admiral Carlo Persano. Das mit Preußen verbündete Italien hatte 1866 Österreich den Krieg erklärt und versuchte, durch einen Handstreich auf die zu Dalmatien gehörende Insel Lissa (kroatisch Vis) sich in den Besitz der gleichnamigen Hafenstadt und der dazu gehörenden militärischen Festungswerke zu setzen. Als am 20. Juli die italienischen Streitkräfte zu einem dritten Angriff ansetzten, erschien die österreichische Flotte, von Nebel verdeckt, in nächster Nähe und griff den in der Ausrüstung überlegenen italienischen Flottenverband an. Die sich entwickelnde Seeschlacht endete mit der Niederlage der italienischen Flotte, die sich nach größeren Verlusten in den Hafen von Ancona zurückzog. Admiral Persano wurde der Prozeß gemacht und schließlich vom italienischen Senat am 15. April 1867 seines Amtes enthoben.

177 der Herzog der Abruzzen: Prinz Luigi Amadeo di Savoia-Carignano Duca d'Abruzzi (Ludwig Amadeus von Savoyen Herzog der Abruzzen, 1873-1933) war der Sohn von König Amadeus (Amadeo) I. von Spanien (1870 bis 1873) und der Enkel von König Viktor Emanuel II. von Italien (siehe Hinweis zu 5. 171). Er hatte als Leutnant Dienst in der italienischen Marine geleistet, war ein Sportsmann und wurde vor allem durch seine zahlreichen Expeditionen bekannt, zum Beispiel durch seine Erforschung des Ruwenzori-Massivs in Afrika.

177 wenn nun solch eine Strömung einzugreifen hat, wie diejenige, die vom «Grand Orient de France» kam: Der «Grand Orient de France» war die wichtigste Zentralorganisation der französischen Freimaurerlogen. Sie war maßgeblich an der Gestaltung



173a-530 Hinweise zum Vortrag vom 16. Dezember 1916 Flip  arpa

Wie sehr der «Grand Orient de France» —spätestens seit Kriegsausbruch -eine national-chauvinistische Politik betrieb, zeigt die Kundgebung des Rates dieser Freimaurer-Organisation vom 13. Dezember 1914. In dieser Kundgebung wurde erklärt (zitiert nach: Ludwig Müffelmann, Die italienische Freimaurerei und ihr Wirken für die Teilnahme Italiens am Kriege, Berlin 1915): «In Erwägung dessen, daß es von den deutschen Freimaurern ungeheuer ist, den Vandalismus, die Grausamkeiten und die in Belgien verübten, [...] in Frankreich wiederholten Ausschreitungen dem tapferen belgischen Volke zuzuschreiben, in Erwägung dessen, daß die Freimaurer von einer derartigen Denkweise unsere schöne Einrichtung entehren, deren Mitglieder von den reinsten Gefühlen der Menschlichkeit und des Rechtes durchdrungen sein müssen, in Erwägung, daß ihre besondere, von dem preußischen Militarismus, welcher um jeden Preis vernichtet werden muß, geformte Kultur sie in die Lage versetzt, als Meineidige der heiligen Prinzipien der allgemeinen Freimaurerei bekannt zu werden, sendet [der «Grand Orient de France»]den Ausdruck seiner lebhaften und aufrichtigen Bewunderung den tapferen Vaterlandsverteidigern, welche zu gleicher Zeit für Recht, Gerechtigkeit und Zivilisation kämpfen. Es lebe Frankreich, es leben die Verbündeten!»

Der Einfluß des Großorients erstreckte sich über eine Reihe von Auslandslogen über das unmittelbar französische Staatsgebiet hinaus. So hatten sich zum Beispiel in Großbritannien zwei Logen der Jurisdiktion des «Grand Orient de France» unterstellt. Dazu kamen die Schwesterlogen in Belgien, Luxemburg, Italien und Spanien. Der katholisch gesinnte Karl Hoeber stellt in seiner Schrift «Die Dreipunkt-Brüder im Weltkrieg» (Köln 1917) fest (Kapitel I, «Die romanische Freimaurerei»): «Die ganze romanische Welt sieht in Frankreich das maßgebende Kulturzentrum und bezieht von Paris seine politischen und sozialen Anschauungen. Frankreich ist das gelobte Land der Demokratie, das ist Republik, und der <Gewissensfreiheit>, das ist Antiklerikalismus. Die romanische Freimaurerei steht deshalb nicht nur in engster Verbindung mit der französischen Freimaurerei, sondern sie sieht in ihr auch den geborenen Führer. Es handelt sich



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hier um den geistigen Einfluß der französischen Kultur, und daraus ist die entsprechende Stellung der französischen Freimaurerei in den Logenorganisationen aller romanischen Länder zu erklären. » Und weiter: «Zur Klientel des französischen Großorients gehörte auch [...] die ungarisch-österreichische Freimaurerei. Während in Österreich die Freimaurerei gesetzlich verboten ist, tatsächlich aber unter dem Namen <unpolitischer Vereinet, die zugleich auf ungarischem Gebiet formgerechte Logen sind, eine nicht geringere Bedeutung hatte, entfaltete die ungarische Großloge eine sehr rege und einflußreiche politische Tätigkeit, in der ein nach französischem Muster gebildetes kirchen- und schulpolitisches Programm eine große Rolle spielte.»

Diese Politisierung des «Grand Orient de France» wurde für die Außenwelt ungefähr ab dem letzten Viertel des 19. Jahrhunderts mit der Ausrufung der Dritten Republik deutlich bemerkbar; in Belgien hatte die gleiche Entwicklung bereits ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eingesetzt (siehe Hinweis zu S. 270 in GA 173b).

177 die «massoni» sind nicht so, daß sie nicht sehen, was da ist: Im Zusammenhang mit dieser Andeutung Rudolf Steiners mag der Aufsatz von M[alwine] Rennert (siehe Hinweis zu 5. 74) über «Die Freimaurer in Italien» stehen, der in den «Süddeutschen Monatsheften» vom Juni 1915 (12. Jg. Nr. 6) erschienen ist und sich in der Bibliothek Rudolf Steiners findet. In diesem Aufsatz hinterfragte die Autorin die Rolle der italienischen Freimaurer in Hinblick auf den Kriegseintritt Italiens auf der Seite der Entente. Rennert über das hintergründige Wirken der Freimaurer: «In den letzen Jahren vor dem Kriege und während des Krieges sah man im Auslande, die jetzt neutralen Länder eingeschlossen, urplötzlich an vielen Stellen, auch da, wo man es am wenigsten erwartete, Flammen des Hasses gegen Deutschland auflodern; in der Tagespresse, in der Literatur, in Versammlungen, Vereinen, an den Universitäten, in den Familien schlich etwas Deutschfeindliches heran, etwas kaum Bestimmbares, das sich überall festsetzte, festsog, seine Beute hielt. Die ganze Atmosphäre war vergiftet davon. Wer aufmerksam beobachtete, merkte bald, daß dieses Etwas sich auf freimaurerischem Gebiet fortbewegte und seine Weisungen aus England und Frankreich erhielt. Die Logen waren die Fangarme Englands und Frankreichs. So war es in Italien, so wird es in andern, neutralen Ländern gewesen sein. Gewiß, auch in nicht-freimaurerischen Kreisen wurden gehässige Stimmen laut, aber die Kerntruppen bildeten die Freimaurer. »Und über die besondere Situation in Italien: «Nominell war in Italien Herr Ferran Großmeister der Logen, in Wirklichkeit Nathan, ein in England geborener und erzogener Freimaurer, der bis kurz vor seiner Erwählung zum Bürgermeister von Rom -einige sagen bis zu dieser Zeit -englischer Staatsbürger gewesen war [siehe Hinweis zu 5. 110 in GA 137b]. Seitdem er in Rom die Herrschaft führte, wurde das Tempo der Deutschenhetze schneller. Die Flammen zuckten in ganz Italien auf und die Fangarme mehrten sich. Alles Deutsche wurde verächtlich beiseite geschoben. Zeitungsschreiber und akademische Lehrer gaben sich große Mühe, um der Menge einzureden, daß die deutsche Nation auf allen Gebieten, dem wissenschaftlichen, künstlerischen, moralischen, wirtschaftlichen, sogar dem militärischen, minderwertig sei. Zerrbilder von Deutschland zu liefern, schien die einzige Aufgabe zu sein, die den schreibenden und redenden Freimaurern noch oblag. »

In einem Rundschreiben vom 6. September 1914 erklärte der Bildhauer und Politiker Ettore Ferrari (1845-1929), der zu den führender Freimaurern Italiens gehörte, seinen Mitbrüdern unter Hinweis auf die bisherige Bündnistreue Italiens gegenüber dem Dreibund (zitiert nach: Ludwig Müffelmann, Die Italienische Frei-



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maurerei und ihr Wirken für die Teilnahme Italiens am Kriege, Berlin 1915): «Aber die verbündeten Kaiserreiche, die nur ihre eigenen Endziele, die Befriedigung ihrer eigenen Interessen, ihrer Habgier erstreben, vergaßen dabei jede andere Überlegung, jede andere Verpflichtung und nahmen die fürchterliche Verantwortlichkeit auf sich, Europa in den entsetzlichsten Kampf zu stürzen, den je die Jahrhunderte sahen. Wir aber verzichten in dieser Schicksalsstunde nicht auf die Ideale, die die Grundsätze Ihrer Institution bilden, und wollen uns unversehrt unseren Glauben an die Zukunft der Menschheit und daran bewahren, daß der grausame Haß und der zügellose Ehrgeiz sich dereinst zu einer Harmonie wandeln wird, in der freie und befreite Nationen friedsam und brüderlich nebeneinander leben. Und sobald nur die brudermörderischen Waffen ruhen, werden wir, die ausdauernden und rastlosen Werkleute, darangehen, das mühevolle Gewebe wieder herzustellen und wieder zu verknüpfen, das menschliche Schlechtigkeit und Blindheit jetzt so jammervoll in Stücke reißt.»

Und nun die nationalistische Einschränkung: «Aber in dieser Stunde fühlen wir uns vor allem als Italiener; als solche sind wir eingedenk der von den Vätern ererbten Überzeugung, daß wir zunächst voll glühender Liebe an unserer Heimaterde hängen müssen, wenn wir gute Weltbürger sein wollen, und darum beherrschen uns zuoberst der Gedanke und die Hingebung an das Vaterland. Und weil gewisse Stunden in der Geschichte sich nicht wiederholen und weil es Wahnsinn und Verbrechen ist, sie verrinnen zu lassen, ohne die Vorteile zu begreifen und erfassen, die sie bieten, vermeinen wir, daß Italien schlecht für sich selbst sorgen würde, wenn es den verhängnisvollen Begebnissen fern bleiben wollte, die für so viele Generationen über die Schicksale Europas entscheiden.» Ferrari war ein überzeugter Interventionist trotz seiner ursprünglich demokratisch-republikanischen Gesinnung. Die Teilnahme am Weltkrieg -sozusagen als vierter Unabhängigkeitskrieg - schien ihm der notwendige Schritt zur Vollendung der Einheit Italiens zu sein.

In diesem Zusammenhang sind auch die Beschlüsse zu verstehen, die am 23. September 1914 in Mailand auf einer gemeinsamen Sitzung verschiedener italienischer Logen gefaßt wurden. Nach Rennert lautete der damals beschlossene Grundsatz: «intensive Arbeit eines jeden Freimaurers, um eine öffentliche Stimmung zugunsten der Tripel-Entente zu schaffen gegen die Neutralität Italiens [und]für den Krieg; Zeitungen, Brüder, Anhänger, Freunde, alle sollten für dieses Ziel arbeiten. » Allerdings hätten sich - so Rennert - nur die Mitglieder des «Grande Oriente d'Italia», die Anhänger des englischen Ritus, nicht aber die Mitglieder des «Supremo Consiglio d' Italia», die Anhänger des schottischen Ritus, diesen deutschfeindlichen politischen Zielsetzungen verschrieben.

Tatsächlich war die italienische Freimaurerei seit 1908 in diese zwei Richtungen aufgespaltet. Ferrari, von 1904 bis 1917 Großmeister des «Grande Oriente d'Italia», war eine politisch ziemlich einflußreiche Persönlichkeit; von 1882 bis 1894 war er Mitglied des Abgeordnetenhauses. Außerdem wirkte er über lange Jahre - von 1877 bis 1907, von Unterbrechungen abgesehen -als Mitglied im «Consiglio comunale» in Rom. 1924 faßte er die höheren politischen Ziele der italienischen Freimaurerei mit den Worten zusammen (zitiert nach: Dizionario Biografico degli Italiani, Volume 46, Roma 1996): «Die Freimaurerei ist nicht eine Partei oder eine politische Bewegung in der Bedeutung, die man allgemein diesem Wort gibt. Sie ist eher eine Schule, und, wir möchten fast sagen, eine große weltliche Kirche, die Menschen verschiedenen politischen Glaubens zu einer höheren Ordnung von ewigen menschlichen Prinzipien vereint und sie darauf einstimmt. Wenn wir sagen, daß sie apolitisch ist, so ist es nicht, weil sie außerhalb des nationalen Lebens steht, sondern weil sie außerhalb der engen



173a-533 Hinweise zum Vortrag vom 16. Dezember 1916 Flip  arpa

Gittertore der Parteien steht, sozusagen über den kleinen und großen Parteikämpfen. »1

178 eine Vorbereitung für die alchimistische Betrachtung, von der ich Ihnen gesprochen habe: Im Zusammenhang mit dem Attentat von Sarajevo auf Kronprinz Franz Ferdinand (siehe Hinweise zu S. 100 und 173) hatte Rudolf Steiner davon gesprochen (in diesem Vortrag), daß es nötig sei, «die Alchemie jener Kugeln und Bomben genauer zu studieren, die in Sarajevo gebraucht worden sind, um jenes Attentat zustande zu bringen». Er meinte damit die geheimen Fäden, die aus dem Hintergrund gezogen worden sind, um diesem Attentat auf jeden Fall zum Erfolg zu verhelfen.



173a-534 vacat Flip  arpa



173a-535 Hinweise zum Vortrag vom 17. Dezember 1916 Flip  arpa

Zum Vortrag vom 17. Dezember 1916:

179 die Schrift von Brooks Adams: Siehe Hinweis zu 5. 151.

180 daß dies eine einseitige Anschauung ist: Am Tage vorher, im Vortrag vom 16. Dezember 1916 (in diesem Band), sagte Rudolf Steiner: «Wenn man nun überhaupt eingehen will auf solche Ideen wie diese von Brooks Adams, so muß man natürlich Völker als solche von den einzelnen menschlichen Individuen, die zu den Völkern gehören, streng trennen und darf auch den Staatsbegriff nicht mit dem Volksbegriff verwechseln. »

181 die merkwürdige Abhandlung des edlen Thomas Morus: Siehe Hinweis zu 5. 101.

181 einem ihm Fremden in den Mund legt: Siehe Hinweis zu 5. 161.

181 den Inhalt dieses Werkes von Thomas Morus: Die Schilderung der Zustände und Verhältnisse in Utopia stellt Thomas Morus im «Zweiten Buch» seiner Schrift dar, indem er den Weltreisenden Raphael Hythlodée von seinen Erlebnissen in Utopia berichten läßt. Dieser zweite Teil ist in verschiedene Unterkapitel unterteilt.

182 nicht von Anfang an in Utopia vorhanden war, sondern 1760 Jahre gebraucht hat. Im Unterkapitel «Von den Städten Utopiens und insbesondere von der Stadt Amaurote» schreibt Thomas Morus: «Die Utopier schreiben dem Utopus den allgemeinen Plan ihrer Städte zu. Diesem großen Gesetzgeber fehlte es an Zeit, die von ihm projektierten Bauten und Verschönerungen auszuführen; dazu bedurfte es mehrerer Generationen. Und so überließ er der Nachwelt die Sorge, sein Werk fortzusetzen und zu vervollkommnen. » Und weiter im Kapitel «Von den Reisen der Utopier»: «Die utopischen Annalen, die seit der Eroberung der Insel gewissenhaft geführt wurden, umfassen eine Geschichte von siebenzehnhundert und sechzig Jahren. » Und über den Ursprung der Utopier: «Meiner Meinung beweist die große Leichtigkeit, mit welcher sie das Griechische erlernten, daß diese Sprache ihnen nicht durchaus fremd war. Ich halte sie der Herkunft nach für Griechen, und obgleich ihr Idiom sich sehr dem Persischen nähert, findet man in den Namen der Städte und ihrer Obrigkeiten einige Spuren der griechischen Sprache. »

182 Das erste, was besonders hervorgehoben wird. Im Kapitel über die Städte Utopiens beschreibt Morus die Verhältnisse in Amaurote («Amaurotum», eigentlich «Nebelstadt»), der Hauptstadt dieses Landes. Es gebe dort wie auch im Rest des Landes kein Privateigentum an Grund und Boden: «Die Utopier gehen hierin von dem Grundsatze des gemeinschaftlichen Besitzes aus. Um sogar jedem Gedanken an einen persönlichen und unumschränkten Besitz vorzubeugen, wechseln sie alle zehn Jahre ihre Häuser und losen um dasjenige, welches ihnen zuteil werden soll. »

182 daß der ganze Staat in gewisse Familien eingeteilt ist. Im Staate Utopia gibt es drei Verwaltungsebenen. Auf der untersten Ebene wählen 30 Familien jährlich einen Magistraten, den «Philarchen» oder «Syphogranten». Auf der zweiten Ebene sind jeweils 300 Familien und mit ihnen die 10 Philarchen einem «Protophilarchen» oder «Traniboren» unterstellt. Die oberste Ebene wird durch den Fürsten repräsentiert. Dieser höchste Beamte des Landes wird von den 1200 Philarchen als den Vertretern der 36000 Familien des Landes aus einem Vierervorschlag, der von den Bürgern zusammengestellt worden ist, in geheimer Abstimmung ausgewählt. Zusammen mit den 120 Protophilarchen besorgt der Fürst die oberste Verwaltung des Landes. Außerdem gibt es einen Senat, der sich aus je 3 Abgeordneten aus den 54 Städten



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182 Dabei finden wir gleich eine höchst merkwürdige Einrichtung in Utopien: Im Abschnitt, der «Von den Magistraten» handelt, heißt es: «Sich außer dem Senate und den Volksversammlungen zur Beratung über öffentliche Angelegenheiten vereinigen, ist ein Verbrechen, auf welchem der Tod steht. »

182 Ferner finden wir eine höchst vernünftige Einrichtung: Und im gleichen Kapitel: «Das Gesetz will, daß Fragen von allgemeinem Interesse im Senate drei Tage zuvor abgehandelt werden, ehe zur Abstimmung geschritten und der Vorschlag in ein Dekret verwandelt wird. » Und: «Unter den Regeln für den Senat verdient die folgende erwähnt zu werden: Wenn ein Vorschlag gemacht ist, darf man ihn nicht an demselben Tage untersuchen; die Beratung wird bis zur nächsten Sitzung aufgeschoben. Auf diese Weise läuft niemand Gefahr, unbedachtsam die ersten besten Ansichten auszusprechen und später eher die Verteidigung der letzteren als das allgemeine Beste im Auge zu haben. Denn ereignet es sich nicht häufig, daß man vor der Scham des Widerrufs und dem Geständnisse eines unüberlegten Irrtums zurückweicht?»

182 Die Arbeit ist streng geregelt. Die Regelung des beruflichen Lebens wird im Abschnitt «Von den Künsten und Handwerken» geschildert. Als Sinn all dieser Maßnahmen gilt: «Der Zweck der sozialen Einrichtungen in Utopien geht dahin, zuerst dem öffentlichen und individuellen Verbrauche seine Bedürfnisse zu sichern, dann aber jedem so viel wie möglich Zeit zu lassen, um sich der Knechtschaft des Leibes zu entledigen, seinen Geist frei auszubilden und seine intellektuellen Anlagen durch das Studium der Künste und Wissenschaften zu entwickeln. Nur in dieser vollständigen Entwicklung finden sie das wahre Glück. »

183 Dann findet sich eine Einrichtung in Utopia, die wir andern Nicht-Utopier jetzt erst genießen. Durch den Ersten Weltkrieg wurde die Reisefreizügigkeit stark eingeschränkt. Selbstverständlich waren auch Rudolf Steiner als Österreicher und mit ihm auch Marie Steiner von diesen Einschränkungen stark betroffen. Für ihre Ausreise aus der Schweiz war jeweils ein erheblicher bürokratischer Aufwand erforderlich. So benötigten sie zum Beispiel einen Grenzpassierschein. In dem von der Gemeindeverwaltung Dornach ausgestellten Passierschein vom 18. Januar 1918 heißt es: «Die unterzeichnete Amtsstelle bescheinigt hiemit, daß Herr Dr. Rudolf Steiner und dessen Ehefrau Marie Steiner, geb. von Sivers, in hiesiger Gemeinde niedergelassen sind und daselbst leben. Die genannten Ehegatten Steiner beabsichtigen in beruflicher Angelegenheit nach Deutschland und wieder zurück nach Dornach (Schweiz) zu reisen. Wir empfehlen den verehrten Militär- und Zivilbehörden, Herr und Frau Dr. Steiner ungehindert die Grenze passieren zu lassen. Zugleich beurkunden wir, daß die Genannten einen in jeder Hinsicht guten Leumund genießen, der in keiner Weise zu bemängeln ist. » Außerdem mußten auch eine von den zivilen und militärischen Behörden genehmigte Einreiseerlaubnis für Deutschland sowie die nötigen Paßdokumente vorliegen.

183 Geld gibt es nicht. Der Gewährsmann von Thomas Morus im Kapitel «Vom wechselseitigen Verkehre zwischen den Bürgern»: «Jeder Familienvater sucht auf dem



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184 Dann ist in Utopien die Eigentümlichkeit vorhanden. Im Abschnitt, der «Von den Reisen der Utopier» handelt, schreibt Morus über das Menschenbild der Utopier: «Es ist ihr Grundsatz, sich niemals auf Untersuchungen über <gut> und <böse> einzulassen, ohne von Axiomen der Religion und Philosophie auszugehen; sie würden sonst ihre Raisonnements für unvollständig halten und auf falsche Theorien zu bauen glauben. Folgendes ist ihr religiöser Katechismus. Die Seele ist unsterblich. Gott, welcher gut ist, hat sie geschaffen, um glücklich zu sein. Der Tugend warten nach dem Tode Belohnungen; Strafen foltern das Verbrechen. » Und: «Aber strenge und schwere Tugenden zu üben, auf die Annehmlichkeiten des Lebens zu verzichten, sich freiwillig dem Schmerz zu unterziehen und nach dem Tode nicht die geringste Belohnung für die irdischen Leiden zu hoffen -das ist in den Augen der Insulaner der Gipfel aller Torheit. Das Glück, sagen sie, ist nicht in jeder Art von Vergnügen enthalten; nur die guten und wohlanständigen gewähren dasselbe. Und diese Vergnügen sind es, zu welchen alles, selbst die Tugend, unsere Natur unwiderstehlich hinzieht; sie sind es, welche das wahre Glück begründen. »

185 aus Gründen, die Sie ersehen werden, wenn Sie das Buch lesen. Das Verfahren für die Wahl des richtigen Ehepartners schildert Morus in jenem Kapitel, wo er «Von den Sklaven» berichtet: «Übrigens verheiraten die Utopier sich nicht blindlings; um besser zu wählen, befolgen sie einen Gebrauch, der uns anfänglich offenbar lächerlich und abgeschmackt schien, den sie aber mit kaltem Blute und wahrhaft bemerkenswerter Ernsthaftigkeit vollziehen. Eine ehrbare und gesetzte Dame zeigt dem Bräutigam seine Verlobte, Jungfrau oder Witwe, im Zustande völliger Nacktheit; und umgekehrt stellt ein Mann von erprobter Rechtschaffenheit dem jungen Frauenzimmer ihren Verlobten nackt vor. »

185 Advokaten gibt es nicht in Utopien. Im Kapitel «Von den Sklaven» schreibt Morus: «Die Zahl der Gesetze ist nur sehr gering und dennoch für die Einrichtungen genügend. Was die Utopier bei anderen Völkern vorzüglich mißbilligen, ist die unendliche Menge von Gesetzesbüchern, Dekreten und Kommentaren, die gleichwohl für die öffentliche Ordnung noch nicht hinreichen. Sie betrachten es als die größte Unaufrichtigkeit, die Menschen durch Gesetze einzuschmieden, die allzu zahlreich sind, als daß jene die Zeit hätten, sie zu lesen, oder allzu dunkel, als daß sie dieselben verstehen könnten. Demzufolge gibt es in Utopien keine Advokaten, man findet dort keinen jener Sprecher von Profession, die sich befleißigen, das Gesetz zu verdrehen und mit der größten Gewandtheit eine Sache durchzuführen. Die Utopier halten es für besser, daß jeder seine Sache selber verteidige und dasjenige, was er einem Advokaten zu sagen hätte, geradewegs dem Richter anvertraue. » Und: «Die Gesetze, sagen die Utopier, sind zu dem einzigen Zwecke aufgestellt, daß jeder von seinen Rechten und Pflichten Kenntnis erhalte. »



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185 Sie sagen: Wenn man im Kriege Blut vergießt: Ein ausführliches Kapitel widmet Morus dem Thema «Vom Kriege». Dort schreibt er zum Beispiel: «Der Krieg ist den Utopiern ein Greuel. Er scheint ihnen eine tierische Roheit, die der Mensch gleichwohl häufiger begehe, als irgendeine Gattung wilder Tiere. Den Sitten fast aller Nationen zuwider gilt in Utopien nichts für so schändlich, als dem Ruhme auf dem Schlachtfeld nachzustreben. Man darf jedoch nicht glauben, daß sie sich deshalb nicht sehr eifrig in der militärischen Disziplin übten; sogar die Frauen sind dazu ebenso wohl wie die Männer gehalten; es sind für die Übungen gewisse Tage festgesetzt, damit niemand im entscheidenden Augenblicke zum Kampfe ungeschickt sei. » Trotzdem: «Niemals aber unternehmen die Utopier einen Krieg ohne gewichtige Beweggründe. Zu diesen zählen sie die Notwendigkeit, ihre Grenzen zu verteidigen oder einen feindlichen Einfall in das Gebiet ihrer Verbündeten zurückzuschlagen oder auch ein durch den Despotismus unterdrücktes Volk von der Knechtschaft und dem Joche eines Tyrannen zu befreien. Hierin befragen sie nicht ihre eigenen Interessen, sie haben nur das Wohl der Menschheit im Auge. » Und über ihre Art ihres Vorgehens im Kriege: «Die Utopier trauern über nichts so sehr als über die Lorbeeren eines blutigen Krieges; sie schämen sich sogar derselben, da sie es für absurd halten, selbst die glänzendsten Vorteile für menschliches Blut zu erkaufen. Für sie besteht der schönste Ruhm darin, den Feind nur durch Gewandtheit und List besiegt zu haben. Dann sieht man sie öffentliche Triumphe feiern und wie nach einer Heldentat Trophäen errichten; sie rühmen sich, als Menschen und Helden gehandelt zu haben, so oft sie ausschließlich durch die Macht der Vernunft gesiegt, was von allen lebenden Wesen keines als der Mensch vermag. »

185 Weiter wird erzählt, daß ein Grundzug der Utopier ist. In einem weiteren ausführlichen Kapitel behandelt Morus die religiöse Einstellung der Utopier. So schreibt er unter dem Titel «Von den Religionen Utopiens»: «Übrigens kommen, trotz der Verschiedenheit der Glaubensansichten, alle Utopier darin überein, daß <zugleich als Schöpfer und Vorsehung ein höchstes Wesen existieret. Dieses Wesen wird in der Landessprache mit dem gemeinschaftlichen Namen <Mythras bezeichnet. Die Spaltungen haben ihren Grund darin, daß Mythra für alle nicht dasselbe ist. Welches aber auch die Form sei, in welcher jeder seinen Gott anbetet, jeder verehrt unter dieser Form die Majestät und mächtige Natur, welcher nach der allgemeinen Übereinstimmung der Völker die unumschränkte Herrschaft über alle Dinge zuzuschreiben ist. » Deshalb auch die religiöse Toleranz der Utopier: «Zu der Zahl ihrer ältesten Einrichtungen zählen die Utopier das Verbot, niemanden seiner Religion halber zu beleidigen. Utopus hatte zur Zeit der Gründung des Reichs erfahren, daß die Eingebornen vor seiner Ankunft unaufhörlich in einem Religionskriege begriffen gewesen. [...]Sobald er Sieger und Herr war, beeilte er sich, völlige Religionsfreiheit auszuschreiben. » Aber: «Nichtsdestoweniger strafte er im Namen der Moral ernstlich den Menschen, welcher die Würde seiner Natur bis zu der Annahme erniedrigt, daß die Seele zugleich mit dem Körper sterbe oder daß die Welt dem Zufalle unterworfen sei und daß es keine Vorsehung gebe. Die Utopier glauben daher an ein zukünftiges Leben, wo das Verbrechen bestraft und die Tugend belohnt werde. Demjenigen geben sie nicht den Namen des Menschen, welcher jene Wahrheiten leugnet und das erhabene Wesen seiner Seele dem niedrigen Zustande eines tierischen Körpers gleichstellt; mit dem größten Rechte versagen sie ihm die Ehre des Bürgertitels, überzeugt, daß er, ließe er sich nicht durch Furcht bestimmen, die Sitten und gesellschaftlichen Einrichtungen wie Schneeflocken mit Füßen treten würde. »

186 wie Pico della Mirandola: Siehe Hinweis zu 5. 156.



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187 bei Pico della Mirandola studieren und an seinem Verhältnis zu Savonarola: Der Predigermönch Girolamo (Hieronymus) Savonarola (1452 —1498) — er war 1476 in den Dominikanerorden eingetreten -wurde aufgrund der Empfehlung von Giovanni Pico della Mirandola (siehe Hinweis zu 5. 156) vom Stadtherrn Lorenzo de' Medici nach Florenz geholt und 1491 zum Prior des Klosters San Marco berufen. Es war seine umfassende Bildung, seine Spiritualität -seit 1484 wurden ihm geistige Offenbarungen zuteil - und die strenge, konsequente Lebenshaltung, die Pico della Mirandola beeindruckt hatten. Auch Savonarola fühlte sich zu Pico hingezogen, erkannte er in ihm doch einen Wesensverwandten. Die apokalyptische Heftigkeit, mit der Savonarola gegen die Sittenlosigkeit der Fürsten und des Klerus wetterte, widersprach jedoch Picos innerer Wesensart. So gehörte er nicht zu den politischen Anhängern Savonarolas, den sogenannten «frateschi» («Mönchischen») oder «piagnoni» («Winsler»), wie sie von ihren Gegnern genannt wurden. Ihn muß besonders befremdet haben, daß sich Savonarola auch gegen die Medici wandte, war doch Lorenzo de' Medici Picos großer Schützer und Förderer. Aber trotzdem bestand eine enge Freundschaft zwischen den beiden Persönlichkeiten. In den Jahren vor Picos Tod war Savonarola fast täglich bei ihm. Er versuchte, Pico zum Eintritt in den Dominikanerorden zu bewegen, aber dieser konnte sich nicht zu diesem Schritt entschließen, war ihm doch alles Kirchliche fremd.Wenige Tage vor Picos Tod, im November 1494, floh Piero de' Medici, der nach dem Tode seines Vaters im April 1492 dessen politische Machtstellung geerbt hatte, aus Florenz. Mit dem Sturz der Medici entstand ein politisches Machtvakuum, das nun Savonarola in den Monaten von November 1494 bis Mai 1498 zu seinen Gunsten auszunützen versuchte. Er bemühte sich, die Elemente eines Gottesstaates in Florenz aufzurichten; mit seinen prophetischen Predigten übte er zunächst eine große Anziehungskraft aus. Er geriet aber ins Spannungsfeld der großen Politik, der Auseinandersetzung zwischen dem französischen König Karl VIII. und dem Papst Alexander VI. Dieser hatte Savonarola zunächst unterstützt, da er ein Feind der Medici war, aber schließlich sah er die eigene Autorität durch den Eiferer in Gefahr. Mehrfach mit einem Predigtverbot belegt, an das sich Savonarola jedoch nicht hielt, wurde er schließlich 1497 vom Papst exkommuniziert. Aber auch in Florenz stieß Savonarola zunehmend auf Ablehnung, zumal er durch seine kulturrevolutionären «Verbrennungen der Eitelkeiten» im Kampf gegen die Sittenlosigkeit der Menschen ein Klima der Angst verbreitete. Schließlich wurde er verhaftet und von der republikanischen Obrigkeit, im Einverständnis mit den kirchlichen Behörden, zum Tode verurteilt und hingerichtet.

188 der unter König Heinrich VIII. in England lebt: Siehe Hinweis zu 5. 156.

189 die konkrete Realität dessen, was Volksseele ist: Zum Beispiel in den Vorträgen, die Rudolf Steiner in der Zeit zwischen 7. und 17. Juni 1910 in Kristiania (Oslo) hielt (in GA 121), versuchte er konkrete Anhaltspunkte über «Die Mission einzelner Volksseelen im Zusammenhang mit der germanisch-nordischen Mythologie» zu vermitteln (siehe Hinweis zu 5. 96 in GA 173b).

190 Ich habe in der letzten Zeit an verschiedenen Orten gesprochen: So zum Beispiel am 16. Februar 1916 vor den Hamburger Mitgliedern über «Das Leben zwischen Tod und neuer Geburt» (in GA 168). Vom Oktober bis Dezember 1916 hielt er auch in der Schweiz Vorträge zu diesem Thema (siehe GA 168).

192 bei einer solchen Persönlichkeit wie Dante: Für Rudolf Steiner gehörte Dante zu den großen Persönlichkeiten der europäischen Geistesgeschichte. So spracher zum Beispiel im Vortrag vom 18. Oktober 1904 in Berlin (in GA 51)von Dante als «der gewaltigen



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Uber Dantes Leben ist vieles im dunkeln. Dante Alighieri (1265 —1 321) entsprang einem seit langem in Florenz ansässigen Geschlecht, dessen Wurzeln möglicherweise bis in die römische Zeit zurückreichen und das zeitweise auch Adelsrang beanspruchen konnte (siehe Hinweis zu S. 193). Dante wurde ursprünglich auf den Namen Durante getauft, was zu Dante verkürzt wurde. Dantes Eltern scheinen früh verstorben zu sein. Dante war sehr bildungsbeflissen und hat sich bis in die Mitte der neunziger Jahre ein umfassendes Wissen auf den verschiedensten Gebieten, vor allem aber in der Philosophie und Theologie, angeeignet. Abgesehen vom Privatunterricht in Florenz, zum Beispiel bei dem spirituell bedeutsamen Gelehrten Brunetto Latini (um 1220 —1294 oder 1295), mag Dante zeitweise auch an den Universitäten von Bologna und Paris studiert haben. Mit Beginn der neunziger Jahre setzte sein dichterisches Schaffen ein. 1295 wurde Dante Mitglied der Zunft der Arzte und Apotheker und schuf damit die Voraussetzung für die Teilnahme am politischen Leben in Florenz. Dante stand auf der Seite der «Weißen Guelfen», die zwar grundsätzlich päpstlich gesinnt waren, doch eine selbständige Politik gegenüber dem Papst verfolgten. Den Höhepunkt seiner politischen Karriere erreichte er im Jahre 1300, als er für ein Vierteljahr zu einem der sechs Mitglieder des Priorats, der kollektiven Exekutivbehörde von Florenz, gewählt wurde. In den folgenden politischen Wirren wurde Dantes politische Partei von der Macht verdrängt, und er mußte Florenz verlassen. 1302 erging gegen ihn und seine Mitstreiter das Todesurteil, das 1315 erneuert wurde, da Dante sich weigerte, öffentlich Buße zu leisten. Damit war eine Rückkehr Dantes nach Florenz für immer ausgeschlossen. Den Rest seines Lebens verbrachte Dante im Exil in verschiedenen oberitalienischen Städten, unter anderem in Lucca, Verona und Ravenna. Unterstützt von adeligen Gönnern entfaltete er eine reiche Gelehrtentätigkeit. Er hielt Vorträge und verfaßte zahlreiche Schriften und Dichtungen. Als sein Hauptwerk gilt die «Commedia» (heute bekannt unter dem Beinamen «Divina Commedia»), eine visionäre Schilderung einer Reise durch die jenseitige Welt.

192 Deshalb habe ich bei Carducci nachgeforscht: Der italienische Dichter Giosue Carducci (1835-1 907) galt zur Zeit Rudolf Steiners als einer der herausragenden Kenner Dantes. Carducci war nicht nur ein großer Dichter, sondern auch ein überzeugter italienischer Patriot. Nach seiner Promotion als Philologe an der Universität in Pisa im Jahre 1855 erlangte er ein Jahr später das Diplom als Gymnasiallehrer. 1858 wurde ihm wegen seiner national-republikanischen Ideen die Lehrberechtigung vorübergehend entzogen. 1860 wurde er zum Professor für italienische Literatur an der Universität Bologna berufen, wo er bis zu seiner Emeritierung im Jahre 1904 wirkte. In diesen Jahren entstand sein großes dichterisches Werk, wofür er 1906 den Nobelpreis für Literatur erhielt. Carducci, ein herausragender Redner, wurde 1890 wegen seiner großen Verdienste zum Mitglied des italienischen Senats ernannt. Gegen die Bevormundung durch die katholische Kirche eingestellt, war Carducci ein überzeugter Freimaurer; 1862 hatte ihn die Loge «Galvani», zum «Grande Oriente d'Italia» gehörig, in Bologna als Mitglied aufgenommen; 1866 beteiligte er sich im gleichen Ort an der Neugründung der Loge «Felsinea». Später nahm er auch an der Arbeit der Römer Loge «Propaganda Massonica» teil.

193 Nun sagt Carducci, in Dante würden drei Elemente zusammenwirken: Diesen Hinweis auf Carducci verdankt Rudolf Steiner vermutlich der Schrift des deutschen



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In seiner Broschüre über Dante und die Schweiz weist er auf Giosue Carducci und dessen Aussagen über die physisch-spirituelle Ahnenschaft von Dante hin: «Nach Erwähnung der Tatsache, daß auch deutsches Blut in den Adern Dante Alighieris floß, gelangt erin interessanter und geistvoller Weise dazu, drei Strömungen im Geiste des Dichters zu unterscheiden: die etrurische, die es ihm nahegelegt habe, sich in die geheimnisvolle Welt jenseits des Grabes zu versenken, die römische, die ihm sowohl das frisch pulsierende Leben des Tages gegenwärtig gehalten, als, dem Charakter seines Volkes entsprechend, das Ausgehen vom Rechtsbegriff und das stete Festhalten an diesem so leicht gemacht habe, und die germanische, die ihm die Kühnheit und Frische der Anschauung, den Freimut und auch die Kampfeslust zugeführt habe. »

Tatsächlich stellte Carducci in seiner Rede über Dante, die er am 8. Januar 1888 an der Universität Rom hielt, in bezug auf dessen Aussehen fest (Prose di Giosue Carducci 1859-1903, Bologna 1963, L'opera di Dante, V. Abschnitt): «Bei der Intuition, bei der Wahrnehmung, bei der fantastischen Darstellung der vielfältigen christlichen Welt geht Dante von jener Gewißheit der Zügelung des Blutes und der Rassen aus, auf der die neue Vornehmheit des italienischen Volkes beruht. Seine Gesichtszüge bezeugen einen etruskischen Typus, welcher sich in der ganzen Toskana hartnäckig hält, sich mit dem römischen vermischt und diesen überwältigt. Er rühmt sich seines römischen Blutes; und er bezeichnet seine Familie als aus einem alten Florentiner Geschlecht stammend, zwar ohne herrschaftlichen Adelstitel und ohne einen Namen, aber das sich bis jene Zeiten zurückverfolgen läßt, wo noch eine andere Sprache gesprochen wurde. Er macht uns glaubhaft, aus einer Linie von Kolonen abzustammen, welche sich in Städten und Regionen von geringerem germanischen Einfluß gehalten haben. Zufällig floß aber auch germanisches Blut in seinen Adern durch jenes Mädchen, welche Cacciaguidas Frau wurde. Sie kam aus Ferrara, einer Stadt in der Po-Ebene, welche durch die Langobarden-Stämme aufblühte, und stammte von der altadeligen Familie der Aldighiera ab. Sie gab ihren Enkeln diesen Zunamen mit germanischen Wurzeln. Und so hätte sich in Alighieris künstlerischem Entwurf einer christlicher Vision einerseits das Jenseits-Geheimnis einer priesterlichen Rasse ausgedrückt, welche für die Gräber und in ihnen lebte - das Etruskische -, andererseits aber auch die Rechtschaffenheit und Zähigkeit einer großbürgerlichen Rasse, für die das Recht eine Dichtkunst war -das Römische - und die kühne Frische und Freiheit einer Rasse neuer Krieger -das Germanische. »1



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Uber Dantes Vorfahren sind allerdings nur wenige gesicherte Fakten bekannt. Dante selber erwähnt in der «Divina Commedia» seinen italienischen Ururgroßvater Cacciaguida. Etwa 1106 geboren (oder bereits 1091) —die Angaben gehen weit auseinander -, nahm dieser am zweiten Kreuzzug (1147-1149) teil, wurde dort zum Ritter geschlagen und erlitt den Märtyrertod. Cacciaguida war mit einer Frau aus der Po-Ebene verheiratet, die der Familie der Alighieri (Aldighieri oder Aldiger) aus Ferrara oder Parma entstammte und der Carducci eine langobardische Herkunft zuschrieb. Zur adeligen Herkunft von Dantes Familie väterlicherseits schreibt Giovanni Andrea Scartazzini (1837-1901), reformierter Pfarrer und Schweizer Dante-Forscher, in seinem «Dante-Handbuch. Einführung in das Studium des Lebens und der Schriften Dante Alighieris» (Leipzig 1892, 2. Kapitel, «Herkunft»): «War nun Dante adeliger Herkunft, so konnte sein Adel nur darin bestehen, daß einer seiner Vorfahren mehr als ein Jahrhundert zuvor die Ritterwürde erlangt hatte. Das hat er geglaubt, und seine Angabe darf wohl auf den Wert einer Urkunde Anspruch machen. Für den, der zu lesen versteht, liegt aber in den gleich darauf folgenden Versen das Geständnis oder sagen wir das Bedauern ausgesprochen, daß dieser einst erworbene Adel seiner Familie wieder erloschen war. Daß er offiziell nicht für adelig galt, geht mit absoluter Gewißheit aus seiner amtlichen Beteiligung an den öffentlichen Angelegenheiten hervor. » Uber Dantes Mutter Bella und ihre Familie, vermutlich der ersten Frau von Dantes Vater Alighieri, ist nahezu nichts bekannt. Scartazzini nimmt in seinem Kapitel über das «Elternhaus» (4. Kapitel) an, «daß Dante die Mutter schon als Kind verloren hatte, was vielleicht sein absolutes Stillschweigen über sie erklären würde».

194 daß ein gut Teil von Dantes Vorfahrenschaft zum Beispiel in Graubünden zu finden sei: In seiner Broschüre über «Dante und die Schweiz» schreibt Paul Pochhammer: «Dante ist souverän. Er ist einzig in seiner Art. Jede Nation und jede Richtung hat die Freiheit, sich ihm zu nähern. Es wird keiner gelingen, ihn für sich in Beschlag zu nehmen. Warum soll ich ihn nicht im Bündnerlande besonders suchen dürfen?» Warum gerade Graubünden? Pochhammer: «Für mich ist Graubünden das Dante heilige Land, und als Staat käme nur dieser und kein anderer -auch das Deutsche Reich nicht -in Betracht, wenn es sich darum handelte, für Dante sozusagen eine Heimat außerhalb Italiens zu suchen. » Denn für ihn ist eindeutig, daß Graubünden die «germanische Eigenart unter fremder Sprachdecke nur um einiges treuer bewahrt als noch zur Dante-Zeit die Städte Italiens». Pochhammer schwärmt von Graubünden: «Es gleicht noch heute von allen Ländern der Welt dem doppelt besamten Garten am meisten, dessen herrlichste Blüte ich in der Poesie Dante Alighieris vor mir zu haben glaube, während südlich wie nördlich jetzt nur noch Pflanzen einer sogenannt reineren Abstammung blühen und Früchte tragen. » Für Pochhammer handelt es sich mehr um eine sinnbildlich-geistige Ahnenschaft denn um eine wirklich belegte Abstammung: «Es gibt Dinge, die objektiv unfaßbar, für die subjektive Betrachtung doch einen großen Reiz besitzen, und ich gestehe, daß diese Frage nach dem Germanentum in Dante, die völlig kindisch wäre, wenn man sie mit nationaler Eitelkeit behandeln wollte, mir doch schon viele stille Freuden bereitet



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hat, vielleicht gerade weil sie allgemein gültig unlösbar, mir aber eine ernste ist. »

196 die Welt für die englischsprechenden Völker zu erobern: Siehe Hinweis zu 5. 101 in GA 173b.

196 Nun müsse man verstehen, wie die vierte Unterrasse auf die fünfte gewirkt hat: Siehe Hinweis zu 5. 77.

197 dem Elemente des individuellen Menschen: Rudolf Steiner selber gliedert die Jugendzeit des Menschen in drei Entwicklungsabschnitte: Der erste reicht ungefähr bis zum W, der zweite bis zum 14. und der dritte bis zum 21. Lebensjahr (siehe zum Beispiel den Aufsatz «Die Erziehung des Kindes vom Gesichtspunkt der Geisteswissenschaft» in GA 34 oder das Autoreferat «Das menschliche Leben vom Gesichtspunkte der Geisteswissenschaft (Anthroposophie)» in GA 35).

197 in der das Papsttum in Rom gegründet wurde: Die Institution des Papsttums als einer Statthalterschaft Christi auf Erden wird auf die Worte von Jesus Christus (Matth. 16, 18-19) zurückgeführt (zitiert nach: Luther-Bibel von 1912): «Du bist Petrus, und auf diesen Felsen will ich meine Gemeinde bauen, und die Pforten der Hölle werden sie nicht überwältigen. Und ich werde dir die Schlüssel des Himmelreichs geben: Alles, was du auf Erden binden wirst, wird auch im Himmel gebunden sein, und alles, was du auf Erden lösen wirst, wird auch im Himmel gelöst sein. » Obwohl Jesus Christus diese Worte später (Matth.18, 18) auf alle Jünger ausdehnte, beansprucht die katholische Kirche ausschließlich für ihr Kirchenoberhaupt eine übergeordnete Stellung. Der Papst ist nicht nur Bischof von Rom und Patriarch der lateinischen Kirche des Westens, sondern auch Inhaber des Petrus-Amtes. Beginnt die Reihe der Päpste mit Petrus, dem ersten römischen Bischof und Wortführer der Jünger, so kann von einer wirklichen Papstwürde erst ab den dreißiger Jahren des 4. Jahrhunderts gesprochen werden. Unterstützt wurde diese Entwicklung durch Verlegung des Reichsmittelpunktes nach Konstantinopel und die zunehmende Schwäche des weströmischen Kaisertums.

197 als das Papsttum anfängt, sich zu verändern: Die kirchenpolitische Reformbewegung unter Papst Gregor VII. (Hildebrand von Sovana), von April 1073 bis Mai 1085 im Amt, führte zunächst zu einer Stärkung des Papsttums, indem der Papst die Investitur der Bischöfe durch die Kirche und nicht mehr wie bisher durch den Kaiser durchsetzte. Gleichzeitig beanspruchte der Papst die Suprematie über die kaiserliche Gewalt und damit auch die weltliche Oberherrschaft. Der Höhepunkt des päpstlichen Strebens nach einer geistlichen und weltlichen Universalherrschaft wurde in der Regierungszeit von Papst Innozenz III. (Lotario di Conti, Conte di Segni, 1161-1216) erreicht - dieser stand der katholischen Kirche von Januar 1198 bis Juli 1216 vor. Von verschiedenen Fürsten und Königen, wie zum Beispiel dem König von England, wurde der Papst als Oberlehensherr anerkannt. Auf dem 4. Laterankonzil - es fand vom 18. November bis 7. Dezember/11. bis 30. November 1215 statt -wurde nicht nur ein für die gesamte katholische Kirche verbindliches Glaubensbekenntnis verabschiedet, sondern auch das Primat des römischen Papstes über alle anderen Patriarchen wie zum Beispiel den Patriarchen von Konstantinopel bestätigt.Nach dem Tode von Innozenz III. brach der Machtkampf mit dem deutschen Kaisertum voll aus, der 1268 nicht nur mit dem Untergang des staufischen Kaisergeschlechts endete, sondern auch dem Papsttum den Verlust seiner universalen Weltstellung brachte. Der Versuch von Papst Bonifatius VIII. (Benedetto Caetani, um 1235-1303) — er wirkte von Dezember 1294 bis Oktober 1303 als Oberhaupt



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der katholischen Kirche -das Rad der Entwicklung zurückzudrehen, schlug fehl; seine Festsetzung in den Tagen zwischen dem 15/7. und 17/9. September 1303 in seinem Schloß in Anagni durch eine Handvoll Soldaten und der schließlich vereitelte Versuch zu seiner Deportation zeigten seine ganze Machtlosigkeit. Anstelle der päpstlichen Universalherrschaft traten fortan die aufstrebenden Nationalstaaten.

198 und dann als sogenannte Hochgradmaurerei und dergleichen in westlichen Gegenden wirkte: Siehe Hinweis zu 5. 182 in GA 173b.

199 als im Jahre 1848 in Prag die Slawenstämme sich versammelten: Am 2. Juni 1848 wurde in Prag der erste panslawistische Kongreß eröffnet; er war von dem tschechischen Nationalisten Frantisek Palacki (1798 —1876) unter Mithilfe des Slowaken Pavel Jozef Safai~ik (1795 —1861) einberufen worden. Die weitaus meisten der 341 Teilnehmer waren österreichische Slawen; nur ein ganz geringer Teil stammte aus Preußen oder Rußland. Von daher ist es verständlich, daß das Deutsche als Verhandlungssprache gewählt wurde. Der Slowake Jan Kollár (1793-1852) träumte zwar von einer gemeinsamen slawischen Sprache, die es aber nicht gab. Es wurde betont, daß die Slawen, neben den Romanen und Germanen der dritte Zweig der europäischen Menschheit, nun auch politisch zusammenstehen müßten, um die nationale Freiheit zu erkämpfen. Die große Mehrheit der Delegierten waren loyale Monarchisten und stellten die Zugehörigkeit zu Österreich-Ungarn nicht in Frage, sondern suchten nach einer Lösung innerhalb des Gesamtstaates. Die Frage war: Zusammenschluß der verschiedenen slawischen Völker im Rahmen der bestehenden historischen Grenzen oder ganz neu aufgrund der ethnischen Verteilung der Bevölkerung. Der Kongreß wurde am 12. Juni -angesichts des Pfingstaufstandes der Prager Studenten und Arbeiter -vertagt, ohne daß er je eine Fortsetzung erfahren hätte. So wurden die drei Resolutionen, eine Petition an den österreichischen Kaiser, das Manifest an die slawische Welt sowie der Appell an die slawischen Völker nie offiziell angenommen. Der nächste panslawistische Kongreß fand 1866/1867 in St. Petersburg und Moskau statt (siehe Hinweis zu 5. 69).

199 von den Bruderschaften als in nächster Zukunft bevorstehend hin gestellt: Siehe Hinweis zu 5. 31.

200 eine gewisse Form des ökonomischen Zusammenlebens in einer möglichst sozialen Weise einzurichten: Die Vorstellung einer besonderen Veranlagung der slawischen Völker für die Durchführung von sozialistischen Experimenten kann ebenfalls bei Charles Harrison in seiner Schrift «Das Transcendentale Weltenall» (siehe Hinweis zu 5. 31) nachgewiesen werden.So sagt er im Hinblick auf die weitere Zukunft der slawischen Völker (Zweiter Vortrag, zitiert nach der deutschen Ausgabe von 1897): «Ihre Bestimmung ist, in Zukunft aus sich selbst eine höhere Zivilisation zu entwickeln. Das russische Reich muß sterben, damit das russische Volk leben kann, und die Verwirklichung der Träume der Panslawisten wird anzeigen, daß die sechste arische Unterrasse begonnen hat, ihr eigenes intellektuelles Leben zu leben und nicht länger mehr in ihrer Säuglingsperiode steht. Wir brauchen den Gegenstand nicht weiter zu verfolgen, als daß wir es aussprechen, der Nationalcharakter werde sie befähigen, sozialistische Experimente politischer und ökonomischer Art durchzuführen, welche im westlichen Europa unzählige Schwierigkeiten bereiten würden. »1



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Solche den Gedankengängen Harrisons ähnliche Ideen scheinen in der damaligen Zeit durchaus geläufig gewesen zu sein. So schreibt zum Beispiel Brooks Adams (siehe Hinweis zu 5. 151) in seiner Schrift «Amerikas ökonomische Vormacht» (Leipzig/Wien 1908), im Kapitel «Der neue Kampf ums Dasein unter den Nationen»: «Seit ihrer Kindheit ist die Zivilisation durch zwei Prozesse vorgeschritten, durch den individuellen und durch den kollektiven Prozeß. Ganz allgemein kann man sagen, daß sich die östlichen Rassen mehr dem kollektiven Systeme zugeneigt haben, die westlichen mehr dem individuellen Systeme. » Und zum Ergebnis des Wettkampfes zwischen diesen beiden Systemen (gleiches Kapitel): «In einem solchen [ökonomischen]Wettkampfe kann der Sieg nur errungen werden, wenn man den Feind in seinen eigenen Methoden übertrifft, durch jene Konzentration, durch die alle Verschwendung auf ein Minimum reduziert wird. Eine solche Konzentration könnte nun durch das Wachstum der großen Trusts und ihre Amalgamierung zustande kommen, bis sie [entweder] die Regierung selbst absorbierten oder durch die zentrale Korporation, die wir Regierung nennen und die die Trusts absorbieren würde, [aufgelöst würden]. In beiden Fällen wäre das Resultat annähernd das gleiche. Der östliche und der westliche Kontinent würden um das vollkommenste System des Staatssozialismus konkurrieren. »

201 Diese Dinge stecken in den Lehren der westlichen Freimaurerei ganz tief drinnen. Rudolf Steiner meint die machtpolitischen Bestrebungen der politisierten Freimaurer-Bewegung in Westeuropa, das heißt vor allem in Frankreich, Italien, Belgien und Großbritannien (siehe Hinweise zu 5. 177).

201 Und da habe ich Sie schon einmal aufmerksam gemacht auf ein sprachliches Gesetz. Zum Beispiel im öffentlichen Vortrag vom 13. April 1916 in Berlin (in GA 65) —Rudolf Steiner sprach über «Die deutsche Seele in ihrer Entwicklung». Auch später kam Rudolf Steiner vereinzelt auf dieses Gesetz zu sprechen. So empfahl er zum Beispiel in der Konferenz vom 22. September 1920 den Lehrern der Waldorfschule (in GA 300a), das Gesetz der Lautverschiebung im Sprachunterricht mit den Schülern zu besprechen.

203 daß das Englische auf der gotischen Stufe stehengeblieben ist. Das Englische entwickelte sich aus dem Nordseegermanischen (Ingväonischen), das wie das Gotische die zweite Lautverschiebung nicht mitmachte, während das Deutsche, das entscheidend an der zweiten Lautverschiebung beteiligt war, auf dem Elbgermanischen (Herminonischen) fußt (siehe Hinweis zu 5. 125).

204 ist ein gut bekanntes Sprachgesetz, das sogenannte Gesetz der Lautverschiebung. Das Gesetz der Lautverschiebung wurde erstmals 1822 von Jacob Grimm (1785— 1863) vollständig beschrieben -deshalb wird es auch Grimm'sches Gesetz genannt. Entdeckt wurde es aber eigentlich 1818 vom dänischen Sprachforscher Rasmus Christian Rask (1787-1 832), nachdem bereits Friedrich Schlegel 1806 auf diese Gesetzmäßigkeit aufmerksam geworden war. Im Grunde handelt es um zwei -zeitlich unterschiedliche -Vorgänge:— die Abgrenzung der germanischen Sprachen von den übrigen indogermanischen Sprachen, zum Beispiel dem Griechischen oder Lateinischen -diese erste Lautverschiebung erreichte ihren Abschluß ungefähr zwischen 500 und 100 y. Chr.



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— die Herausbildung des (Alt-)Hochdeutschen aus den übrigen germanischen Sprachen, zum Beispiel dem Gotischen -diese zweite Lautverschiebung vollzog sich ungefähr zwischen 500 und 800 n. Chr.

204 für die «mediae», «tenues» und «aspiratae»: Als «mediae» werden die stimmhaften, weichen Verschlußlaute (zum Beispiel d, b, g) bezeichnet, als «tenues» die stimmlosen, harten Verschlußlaute (zum Beispiel t, p, k) und als «aspiratae» die behauchten Verschlußlaute (zum Beispiel th, ch, f).

205 eine gewisse Verwirrung in den Freimaurerorden eingetreten ist: In seiner Schrift «Der französische Geist und die Freimauererei» (Leipzig 1916) schreibt Wilhelm Ohr (siehe Hinweis zu 5. 205) über die Folgen des Kriegsausbruches für das Verhältnis der nationalen Großlogen zueinander («Einleitung»): «Die Freimaurer der verschiedenen Länder traten ohne Besinnen auf die Seite ihrer Regierungen sowie auch die katholische und jüdische Welt nach den Parteiungen des beginnenden Riesenkampfes [sich]zerriß. Eine besondere Rolle aber ergriff die romanische Maurerei. Der Großorient von Frankreich erging sich in schweren Beschimpfungen der deutschen Großlogen und ihrer Führer und benutzte seine nahen Beziehungen zum Großorient Italiens, um durch die italienische Logenwelt den Bruch des Dreibundes und den Anschluß des Königreichs zu betreiben.» Und: «Die Rückwirkung auf Deutschland und die deutsche Maurerei war stark, und in begreiflicher Erregung wandten sich die Führer der deutschen Freimaurer in der Öffentlichkeit und in der maurerischen Presse gegen die <völlig politisierten> romanischen Großlogen, denen sie Verrat an der gemeinsamen Sache und Preisgabe der besten Überlieferungen des Bundes vorwarfen. »

205 So gibt es zum Beispiel eine interessante Abhandlung: Es handelt sich um die Schrift von Wilhelm Ohr (siehe Hinweis zu 5. 205). Der ursprünglich aus Österreich stammende Wilhelm Ohr (1877-1916) hatte 1902 an der Universität Leipzig in Geschichte promoviert. 1904 habilitierte er sich in Tübingen und wirkte anschließend an der dortigen Universität als Privatdozent für mittlere und neuere Geschichte. Von 1907 bis 1913 wirkte er als Generalsekretär und Direktor des «Nationalvereins für das liberale Deutschland» —eine Tätigkeit, die bezeichnend für seine politische Gesinnung war. 1913 wurde er als Geschichtsprofessor an die Universität in Frankfurt am Main berufen. Ohr war ein großer Verehrer des deutschen Idealismus, den er als eine Weiterführung der französischen Aufklärung betrachtete. So schreibt er in seiner Schrift (5. Kapitel, «Der Großorient Frankreichs und der Weltkrieg»): «Goethe ist mehr als Voltaire, Kant mehr als Rousseau, Fichte mehr als Diderot. Wir neueren Deutschen wurzeln mit unseren besten Kräften in der Kultur des deutschen Idealismus. Aber der Franzose ahnt nicht, daß damals schon der deutsche Geist den französischen überholte und daß in den inneren Schätzen der deutschen Kultur auch sein Stolz, der Gedankenkreis von 1789 wohl aufgehoben ist, dem Wesen nach, gereinigt und vertieft.» Als der Krieg ausbrach, rückte er ein und bekleidete als Oberleutnant zuletzt die Stellung eines Kompanieführers in einem Infanterie-Regiment. Am 23. Juli 1916 verlor er in der Schlacht an der Somme sein Leben. Ohr war ein überzeugter Freimaurer; er gehörte der Münchner Loge «Zum aufgehenden Licht an der Isar» an. Er selber bezeichnete sich («Vorwort») als eine «mit dem Wesen und der Geschichte des Freimauerbundes wohlvertraute Persönlichkeit».In einem von Max Krämer für die Zeitschrift «Die Tat» vom September 1916 (8. Jg. Nr. 6) verfaßten Nachruf heißt es: «Ein eigentümlicher Zauber ging von Wilhelm Ohr aus, ein Zauber innerer Kraft, reinster Menschlichkeit, restloser Hin-



173a-547 Hinweise zum Vortrag vom 17. Dezember 1916 Flip  arpa

gabe an Ideale. Er war ein Muster des demokratischen Lehrers und Erziehers, der den Menschen hebt und sein Bestes weckt, indem er ihn veranlaßt, sein Letztes aus sich hervorzuholen, um das in ihn gesetzte Vertrauen zu rechtfertigen. » Und: «Weltanschauung, das war es, was er in die atomisierte Welt hineinbringen wollte, was ihn zu den kulturell-freiheitlichen Gruppen führte, soweit sie religiös-ethische Vertiefung und Fortentwicklung bei Wahrung voller Gewissensfreiheit erstreben. Überall gab er fruchtbringende Anregungen, vielfach auch praktisch-organisatorischer Art, wofür er Begabung in besonders hohem Grade besaß, wenn es sich nicht um Augenblicksziele handelte, sondern um Menschheits- und Ewigkeitsfragen. Überall wirkte er einend, zusammenführend, befeuernd. Er war ein Muster und Führer für alle diejenigen, die in Traditionen, die ihnen erstarrt erschienen, ihr lebendiges Fortentwickeln nicht befriedigen konnten. Sie konnte er davor bewahren, in Nüchternheit und Zweifelsucht steckenzubleiben. Ohr war gläubig und frei, wissend und liebevoll. Frei von jeglichem Vorurteil, frei von dogmatischer Bindung, war er zugleich tief religiös, voll Güte und Ehrfurcht und getragen vom Glauben an die Würde des Menschen und an den sittlichen Beruf des deutschen Volkes. »

Als eines der wichtigen Ergebnisse stellt Ohr in seiner Untersuchung fest (5. Kapitel, «Der Großorient Frankreichs und der Weltkrieg»), «daß der Großorient im engeren und engsten Sinne Politik betreibt». Und als Beispiel für die grundsätzlich politische Orientierung des «Grand Orient» führt er den Rechenschaftsbericht der Großloge vom letzten Quartal des Jahres 1913 («Compte rendu aux Ateliers de la Fédération des travaux du Grand Orient du 1er octobre au 31 décembre 1913») an, in dem von den politischen Aktivitäten der Großloge berichtet wird (gleiche Quelle): «Um die nach demokratischer Überzeugung unzulängliche französische Staatsverfassung von 1875 zu ersetzen, wird das ganze Verfassungsproblem in Frageform den Logen vorgeführt, die nun in ihren Erörterungen den rechten Weg für gesunde Weiterentwicklung des französischen Volkstums suchen sollen. Mehr noch! Der Großorient hält die Logen für berufen, die Frage der Sittlichkeit nach gleichem Rezept zu lösen. Ein umfangreiches Arbeitsgebiet von Fragen und Tatsachenfeststellungen über die Familienethik, über Geschlechtsmoral, Ehe und Liebe, wird den Logen vorgelegt. Und ein weiteres gewaltiges Gebiet der Volkskultur, die Frage nach Kunsterziehung und Kunstpolitik, wird nach eben der gleichen Arbeitsweise zur Begutachtung den Logen unterbreitet. » Obgleich grundsätzlich dazu veranlagt, der Idee des Friedens zu dienen und den Chauvinismus zu bekämpfen, sei der Großorient seiner ursprünglichen Aufgabe nicht nachgekommen. Ohr (gleiche Quelle): «Das ganze französische Volk ist schuld an der Katastrophe Europas, weil es das deutsche Volk nicht kennen lernen wollte, weil es in höchst gefährlichen Vorurteilen befangen mit der elsässischen Frage gespielt hat wie ein Kind mit dem Feuerzeug und sich über Sinn und Geist des deutschen Wesens verhängnisvollen Täuschungen hingab. Die Freimaurerei als eine der großen leitenden Mächte trägt diese Schuld in erster Linie, denn von ihr hätten wahrlich die nötigen Korrekturen der schiefen Volksauffassungen ausgehen können. Sie war nach Geschichte und Wesen des Freimaurerbundes dazu berufen, ihr Volk von Vorurteilen zu lösen und zu einer schlicht sittlichen Auffassung der Völkerschicksale anzuleiten. » Deshalb «ist der Großorient von einer Mitschuld am Kriege nicht freizusprechen». Weiter: «Die höchste Aufgabe ließ er liegen, um sich in den trüben Gewässern der inneren Parteipolitik herumzutummeln. »

206 So gibt es einen gewissen Menschen, der ein ehrlicher Mensch ist. Sir Edward Grey, Viscount Grey of Fallodon (1862 —1 933), einer alten anglo-normannischen Adelsfamilie entstammend, besuchte von 1876 an das renommierte College von Winchester.



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Bereits im Alter von zwanzig Jahren erbte er von seinem Großvater den Titel eines Baronets. 1885 wurde Grey als Mitglied der Liberalen Partei ins Unterhaus gewählt. Von August 1892 bis Juni 1895 diente er dem damaligen englischen Außenminister Archibald Primrose, Earl of Rosebery (siehe Hinweis zu 5. 134) als sein Stellvertreter. Inder Zeit von 1885 bis 1905 äußerte er sich als Sprecher der liberalen Opposition kritisch zu außenpolitischen Fragen. Zusammen mit Lord Rosebery und Asquith gehörte er dabei zum imperialistischen Flügel der Liberalen Partei, der ein gewaltsames Vorgehen gegen die Buren befürwortete. Wie sie gehörte er auch der «Liberal League» (siehe Hinweis zu 5. 134) an. Nach dem durchgreifenden Sieg der Liberalen in den Wahlen von 1905 übernahm Grey im Dezember des gleichen Jahres im Kabinett von Sir Henry Campbell-Bannerman das Amt des Außenministers -ein Amt, das er auch in den beiden Regierungen von Herbert Henry Asquith (siehe Hinweis zu 5. 206) behielt. Erst im Dezember 1916 schied er aufgrund eines Augenleidens und aus Solidarität mit Asquith, der von David Lloyd George (siehe Hinweis zu 5. 258) gestürzt worden war, aus seinem Amt. Er wurde als Viscount Grey of Fallodon zum Peer erhoben und wechselte vom Unterhaus ins Oberhaus, wo er zwischen 1923 und 1924 als Führer der Liberalen wirkte. Von 1919 bis 1920 war er für kurze Zeit Botschafter Großbritanniens in den Vereinigten Staaten, wo er für den Eintritt der Vereinigten Staaten in den Völkerbund wirken wollte.

Sein Amt als Außenminister hatte Grey in weitgehender Unabhängigkeit geführt - unter fast völliger Ausschaltung des Einflusses des Premierministers wie auch des Parlaments, aber in enger Zusammenarbeit mit den führenden Beamten seines Ministeriums (siehe Hinweis zu 5. 234). Grey hatte, wie er selber sagte, nur widerstrebend dem Ruf nach einer Übernahme des Außenministeriums Folge geleistet. Er verfügte über keine besonderen Fremdsprachenkenntnisse und hatte zunächst eher eine Abscheu vor der Diplomatie. Er liebte das Leben in der Natur über alles - so zog er sich jeweils an den Wochenenden aufs Land zurück - und war ein großer Vogelkenner. Diesem Eindruck einer relativen Harmlosigkeit widerspricht auf der anderen Seite die Tatsache, daß er zum Kreis der entschiedenen Befürworter einer Annäherung Großbritanniens an Rußland - zur Vermeidung einer deutsch-russischen Kontinentalliga -gehörte. So soll er einer der Verfasser des «ABC»-Memorandums (siehe Hinweis zu 5. 141) gewesen sein. In seiner Zeit als Außenminister kam es zu einer Verfestigung der bestehenden Bündnisverflechtungen mit Frankreich und Rußland, auch wenn er formell eine Politik der Bündnisfreiheit betrieb. Die Einhaltung der eingegangenen Bündnisverpflichtungen hatte für ihn größeres Gewicht als die Erhaltung des Friedens in Europa (siehe Hinweise zu 5. 45).

206 Balliol College in Oxford: Das «Balliol College» ist eines der zahlreichen, aus dem Mittelalter stammenden säkularen «collegia» —Einrichtungen, die den Studenten aus dem Laienstand oder dem Weltklerus nicht nur ein entsprechendes Lehrangebot vermittelten, sondern auch Unterkunft und Verpflegung anboten. Eine Universität bestand aus mehreren «collegia», wodurch sich oft ein komplexes Neben- und Ineinander der Gesamtkorporation und der Teilkorporationen ergab. Das gilt auch



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206 den «Marylebone»-Cricket-Preis: Der 1787 in London gegründete «Marylebone Cricket Club» veranstaltete jeweils die Kricket-Meisterschaften in Großbritannien und in der übrigen Welt. In seiner Jugend betrieb Grey verschiedene Sportarten, zum Beispiel Cricket und Tennis. In seinen Memoiren schreibt er zu dieser Periode seines Lebens (zitiert nach: Memoiren von Lord Edward Grey, Fünfundzwanzig Jahre Politik 1892-1916, München 1926, I. Band, «Einführung»: «Im Jahre 1884, nach langem Müßiggange, während dessen ich jedoch eifrig dem Vergnügen huldigte, das heißt allerlei Sport betrieb, erwachte in mir plötzlich das Interesse für ernste Dinge. »

206 als er zum ersten Mal seinen Fuß [auf europäischen Boden]außerhalb Englands setzte: Eine erste größere Reise ins Ausland hatte Grey 1897 unternommen, als er im Auftrag der britischen Regierung die unter britischer Herrschaft stehenden westindischen Inseln, zum Beispiel Barbados, besuchte, um die Ursachen für die wirtschaftlichen Schwierigkeiten dieser Gebiete abzuklären. Kontinentaleuropäischen Boden betrat Grey zum ersten Mal, als er das britische Königspaar -König Georg V. und seine Gattin, Mary Princess of Teck -auf seinem Staatsbesuch in Frankreich begleitete. König Georg (George) V. (1865-1936) hatte nach dem Tode Eduards VII. im Mai 1910 die Nachfolge seines Vaters angetreten. Er war es, der am 17. Juli 1917 durch königliche Proklamation den Namen des britischen Herrscherhauses, «Sachsen-Coburg-Gotha», in «Windsor» umwandelte. König Georg V. starb im Januar 1936. Auch wenn der Staatsbesuch, der vom 21. bis 23. April 1914 stattfand, nach außen als eine bloße Förmlichkeit unter befreundeten Staaten erschien, wurde er von der deutschen Regierung als weiterer Schritt zur Einkreisung Deutschlands empfunden. Dies war insofern gerechtfertigt, als die französischen Gastgeber Grey mitteilten, die russische Regierung strebe den Abschluß einer Marinekonvention mit Großbritannien an. Da Grey sich nicht grundsätzlich ablehnend zeigte, wurden entsprechende Gespräche in die Wege geleitet, von denen die deutsche Regierung durch den Geheimnisverrat von Benno von Siebert Kenntnis hatte (siehe Hinweis zu 5. 220).

206 Er hat auch ein Büchlein geschrieben über das Fischen: 1899 erschien in London unter dem Titel «Fly Fishing» ein von Sir Edward Grey geschriebenes Büchlein über das Fischen mit der Fliege, das viele Auflagen erlebte.

206 ist der zehn Jahre ältere Asquith: Herbert Henry Asquith (1852-1928), aus einer mittelständischen Familie stammend, war ein vorzüglicher Schüler, weshalb er 1870 ein Stipendium für das Studium am Balliol College in Oxford gewann. 1874 wechselte er nach London, um seine Ausbildung als Anwalt fortzusetzen. 1876 erlangte er die Berechtigung, als Anwalt vor Gericht aufzutreten. Aufgrund seiner umfassenden Kenntnisse und seines rednerischen Talents konnte er bald auf eine erfolgreiche Tätigkeit als Rechtsanwalt blicken. 1886 gelang ihm als Vertreter der Liberalen Partei die Wahl ins Unterhaus, dem er -abgesehen von einer kurzen Unterbrechung zwischen 1918 und 1920 — bis zu seinem Tode angehörte. Seine Befähigung zu hohen Staatsämtern wurde bald anerkannt: Vom August 1892 bis J uni 1895 war er als Innenminister («Home Secretary») und vom Dezember 1905



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Zum Vortrag vom 18. Dezember 1916:

207 die Tage, die wir jetzt durchleben: Siehe Hinweis zu 5. 147.

208 wo eine Gesellschaft als Instrument [für geisteswissenschaftliche Bestrebungen]vorliegt: Gemeint ist die Anthroposophische Gesellschaft, die am 28. Dezember 1912 in Köln gegründet wurde und am 3. Februar 1913 ihre konstituierende Generalversammlung in Berlin abhielt. Rudolf Steiner war selber nicht mehr leitend in dieser Gesellschaft tätig, sondern beschränkte sich auf den rein formellen Ehrenvorsitz. Seine eigentliche Aufgabe sah er als Lehrer dieser Gesellschaft. Das war insofern eine Abweichung von der bisherigen Praxis, als er in der Deutschen Sektion das Amt eines Generalsekretärs der Theosophischen Gesellschaft bekleidet hatte.

209 wie da landläufig geurteilt wird, und zwar auch von Menschen: Gemeint ist besonders auch der elsässische Dichter Edouard Schuré, mit dem Rudolf Steiner befreundet war und der mit ihm aus nationalistischen Gründen gebrochen hatte (siehe Hinweis zu 5. 51).

209 nach dem alten Rezepte: Tut nichts, der Jude wird verbrannt: Siehe Hinweis zu 5. 132.

210 aber wirklich «sine ira»: Das Zitat stammt aus den «Annales» (Buch J, Abschnitt 1) des römischen Historikers Publius Cornelius Tacitus (siehe Hinweis zu 5. 30 in GA 173b), wo dieser sich gleich zu Beginn seiner Ausführungen vornimmt, «sine ira et studio, quorum causas procul habeo» «ohne Erbitterung und Parteilichkeit, deren Gründe mir fern sind» — zu berichten.

211 gerade die westlichen Völker außerordentlich hängen an dem, was man Reichsgedanken: Siehe Hinweis zu 5. 216.

211 mit Bakunin zu diskutieren, ob ein Deutsches Reich in Mitteleuropa etwas Heilsames ist: Michael Aleksandrovic Bakunin (18 14-1876) war ein berühmt-berüchtigter russischer Revolutionär, der sich zur Idee eines kollektiven Anarchismus bekannte und seit 1861 endgültig in Westeuropa im Exil lebte. In seinem großen, zweibändigen Werk «Zur Russischen Geschichts- und Religionsphilosophie. Soziologische Skizzen» (Jena 1913) schreibt Thomas (Tomas) Garrigue Masaryk (siehe Hinweis zu 5. 17 in GA 173c) über Bakunins Haltung gegenüber dem geeinigten Deutschland (zitiert nach Band II, XIV. Kapitel, «M. A. Bakunin I Der revolutionäre Anarchismus», 94. Abschnitt): «Bismarck haßt er über alle Maßen, Bismarckismus ist ihm nur <Militarismus, die Polizeiwirtschaft und die Finanzmonopole, vereinigt in ein Systems. Mit Bismarck verurteilt er auch die Deutschen als Staatsrasse und erwartet von den Slawen und Romanen, daß sie gegen den Pangermanismus nicht einen großen (slawischen) Staat, sondern durch die soziale Revolution die <neue gesetzlose und darum freie Welt>begründen werden. Bakunin anerkennt keine Reformen, er will den <Umsturz von Grund aus>; er erstrebt die totale Desorganisation, die Entorganisation, den politischen Amorphismus, das Chaos in der Hoffnung, die Zukunftsgesellschaft werde sich spontan von unten herauf selbst bilden. »

212 Nach Italien sind im ganzen Verlauf des Mittelalters fortwährend alle möglichen germanischen Elemente eingewandert: Zum Beispiel im 6. Jahrhundert die Langobarden im Norden Italiens -568 Besetzung von Venetien - oder im 11. Jahrhundert die Normannen im Süden Italiens - 1054 Eroberung Siziliens.



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212 von Mitteleuropa aus als dem Völkerreservoir die verschiedenen Volksstämme nach der Peripherie hingezogen sind: Siehe Hinweis zu 5. 185 in GA 173c.

213 wie ich sie Ihnen gestern im Zusammenhang mit Dante vorgeführt habe: Im Vortrag vom 17. Dezember 1916 (in diesem Band).

213 Franken, also ursprünglich germanische Stämme, haben sich über diesen Boden ausgedehnt: Das keltische Gallien wurde nach langen Kämpfen im Jahre 51 y. Chr. endgültig von Rom unterworfen. Obwohl in den folgenden Jahrhunderten Gallien stark romanisiert und dem Verwaltungssystem des Römischen Reiches unterstellt wurde, blieb die keltische Kultur als Unterströmung vorhanden. Im 5. Jahrhundert, durch die Gründung des Fränkischen Reiches der Merowinger auf dem Boden Galliens im Jahre 486, schob sich die Herrschaft der germanischen Franken über diesen keltisch-römischen Mischboden, wobei im Norden des Frankenreichs der germanische Einfluß sich stärker bemerkbar machte als im stark romanisierten Süden. Dieser Unterschied wirkt bis heute nach -im Gegensatz zwischen dem südlichen «Pays d'Oc» («Occitanie») und dem nördlichen «Pays d'Oil» («France»). Diese Benennungen ergeben sich aus den unterschiedlichen Worten für die Bejahung: «oil», später «oui» (aus dem lateinischen «hoc ille») und «oc» (aus dem lateinischen «hoc»).

213 Britannien wurde ursprünglich bewohnt von Elementen: Die auf der britischen Insel in einer Vielzahl von Clans und Stämmen lebende Bevölkerung der Hallstatt-Zeit - der Bronzezeit - waren ursprünglich keine Kelten. Im 6. Jahrhundert vor Christus jedoch, mit dem Beginn der Eisenzeit und damit verbunden mit der Verbreitung der La-Tene-Kultur, setzte der keltische Einfluß ein. Er strahlte vom Osten, wo er am stärksten war, nach Westen. Besonders enge Beziehungen bestanden zu den gallischen Belgae, der keltischen Bevölkerung jenseits des Kanals. Das Britentum erhielt dadurch einen starken keltischen Einschlag. Gewöhnlich spricht man von diesem Zeitpunkt an von den «Britons» («Briten»). Mit der Zeit entwickelten sich im Osten durch den Zusammenschluß der Clans und Stämme verschiedene Königreiche. Mit der Besiedlung der Inseln durch germanische Stämme (siehe Hinweis zu 5. 213) wurden die keltisch beeinflußten Briten in den Westen abgedrängt.

213 Kaledonien: Als «Caledonia» wurden zur Zeit des Römischen Reichs die nördlichen Gebiete der britischen Insel, das heißt die Gebiete jenseits der von den Römern im Norden errichteten Wälle, des Hadrians- und später des Antoninus-Walles, bezeichnet. Der Name stammt von einem Stamm der Pikten, den «Caledonii», die in Schottland lebten. Heute gilt «Caledonia» als poetischer oder romantischer Namen für Schottland.

213 um die Jüten, Angeln und Sachsen auf die Insel einzuladen: Die Besiedlung Britanniens durch germanische Stämme begann im 5. nachchristlichen Jahrhundert. Gemeinhin werden sie unter der Kollektivbezeichnung «Angelsachsen» zusammengefaßt, wobei meist noch zwischen den drei großen Volksgruppen Angeln, Sachsen und Jüten unterschieden wird. Im Grunde handelte es sich aber um etwa 30 verschiedene Stämme. Die Angeln siedelten seit dem frühen 5. Jahrhundert in Britannien, seit der Mitte des 5. Jahrhunderts folgten die Sachsen und Jüten. Gegen Ende des 5. Jahrhunderts wanderten auch Franken und Skandinavier nach Britannien ein. Die Germanen hatten zunächst den Status von Verbündeten («foederati»); sie kamen auf Einladung der britisch-römischen Lokalbehörden als Söldner zum Schutze der britischen Häfen, Städte und Ackerbaugebiete vor den Einfällen der räuberischen Pikten und Skoten aus dem Norden der Insel. Mit der Zeit zogen



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Die Geschichte der angelsächsischen Landnahme wurde von dem britischen Mönch Beda Venerabilis (um 673 —735) in seinem 731 fertiggestellten Werk «Historia ecclesiastica gentis Anglorum» dargestellt, wobei sie vermutlich wesentlich weniger blutig verlief, als seine Schilderung es vermuten liesse.

214 was ich gestern als das Gesetz der Lautverschiebungsgesetz angeführt habe: Im Vortrag vom 17. Dezember 1916 (in diesem Band).

214 bildeten die zuerst besiegten Germanen: Die besiegten Germanenstämme wie zum Beispiel die Markomannen, die Wandalen oder die Westgoten wurden seit dem 2. Jahrhundert als sogenannte «foederati» («Verbündete») in den römischen Staatsverband aufgenommen, indem ihnen bestimmte Siedlungsräume an der Grenze zugewiesen wurden, wofür sie Grenzschutztruppen stellen mußten. Die Angehörigen der verbündeten Stämme wurden als «Gäste» («hospites») aufgenommen, und die bisherigen Grundherren («possessores») mußten bis zu zwei Drittel des Bodens abgeben; die «tertia Romana» verblieb aber in den Händen der alten Grundherren. Die abgetretenen Teile wurden als «sortes barbaricae» unter den neuen Verbündeten, insbesondere ihren Adeligen, verteilt. Auf diese Weise erhofften sich die römischen Behörden, die Integration der fremden Eindringlinge zu erreichen. Schließlich ließen sich die germanischen Staatsgründungen auf dem Boden des Weströmischen Reiches nicht mehr verhindern, war doch durch das «foederati»-System der Boden dafür weitgehend vorbereitet worden.

214 Sie kennen ja die Stelle in Goethes «Faust»: Im «Faust. Erster Teil», in der Szene «Auerbachs Keller in Leipzig» sind die Zechgesellen versammelt (Verse 2089 bis 2096): «Frosch: Die Kehlen sind gestimmt. /[Singt.]Das liebe heilge Römsche Reich, / Wie hält's nur noch zusammen? / Brander: Ein garstig Lied! Pfui! Ein politisch Lied, / Ein leidig Lied! Dankt Gott mit jedem Morgen, /Daß ihr nicht braucht fürs Römsche Reich zu sorgen! /Ich halt es wenigstens für reichlichen Gewinn, / Daß ich nicht Kaiser oder Kanzler bin. »

215 als der Kriegsschauplatz für die sich fortwährend streitenden Völkerschaften ausersehen war: Dies gilt für die meisten der großen europäischen Kriege im 17. und 18. Jahrhundert, zum Beispiel den Dreißigjährigen Krieg (1618 bis 1648), den Pfälzischen Krieg (1688 bis 1697), den Spanischen Erbfolgekrieg (1701 bis 1714), den Polnischen Erbfolgekrieg (1733 bis 1735), den Österreichischen Erbfolgekrieg (1740 bis 1748) und den Siebenjährigen Krieg (1756 bis 1763). Auch in der Zeit der Revolutionskriege wurde Deutschland zum Kriegsschauplatz: im Ersten Koalitionskrieg (1792 bis 1797), im Dritten Koalitionskrieg (1805), im Vierten Koalitionskrieg (1806 bis 1807) und im Fünften Koalitionskrieg (1809) und schließlich in den Befreiungskriegen (1813 bis 1815). In allen diesen Kriegen stand Frankreich, zum Teil verbündet mit einzelnen deutschen Staaten, auf der Seite der Gegner des Deutschen Reiches beziehungsweise Preußens und führte den Krieg zu einem Großteil



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215 im Dreißigjährigen Krieg: Siehe Hinweis zu 5. 103 in GA 173b.

215 ob man von Republik oder Königreich spricht: Frankreich wechselte seit 1815 verschiedentlich die Staatsform: Von 1815 bis 1848 war es Königreich, von 1848 bis 1852 Republik und von 1852 bis 1870 Kaiserreich. 1870 wurde wieder die Republik ausgerufen: die sogenannte Dritte Republik. Mit den Verfassungsgesetzen von 1875 wurde Frankreich endgültig zur Republik. Der französische Staatspräsident wurde auf sieben Jahre gewählt und besaß eine verhältnismäßig starke Stellung im Vergleich zum häufig wechselnden Ministerpräsidenten, der vom Vertrauen des Parlamentes abhängig war.

215 In Mitteleuropa war durch Jahrhunderte ein solcher Staatsgedanke nicht so lebendig: Die Deckungsgleichheit zwischen Volk und Staat als Grundziel eines Nationalstaates hatte in Frankreich bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts -als Ergebnis der Französischen Revolution -ihren Abschluß gefunden. Dies galt jedoch nicht für das deutsche Volk, das auch nach 1815 in keinem einheitlichen Staat lebte. Deutschland war in eine Vielzahl von Einzelstaaten aufgesplittert; der seit 1815 bestehende Deutsche Bund war nur eine lockere Zusammenfassung der verschiedenen deutschen Einzelstaaten (siehe Hinweis zu 5. 279 in GA 173b). In den folgenden Jahren begann sich aber immer mehr ein - vor allem von den bürgerlichen Schichten ausgehendes, schwärmerisch-idealistisch geprägtes -gesamtdeutsches Nationalbewußtsein zu entwickeln (siehe Hinweis zu 5. 279 in GA 173b). Die Forderung Frankreichs nach einer Abtretung des Rheinlandes im Jahre 1840 führte zu einem Erstarken des gesamtdeutschen Zusammengehörigkeitsgefühls. Die daraus hervorgehenden revolutionären Bestrebungen in den Jahren 1848/1849, die Einheit unter Umgehung der monarchistischen Obrigkeiten in den deutschen Einzelstaaten zustande zu bringen, scheiterten. Die deutsche Nationalbewegung war nach diesem Mißerfolg vorübergehend gelähmt, nahm aber nach 1859 erneut an Intensität zu. In der nun folgenden machtpolitischen Auseinandersetzung mit Dänemark, Österreich und Frankreich gelang es dem preußischen Ministerpräsidenten Otto von Bismarck schließlich, die deutsche Einigung ohne aktive Beteiligung der deutschen Nationalbewegung von oben durchzusetzen. Die Art, wie die Einheit Deutschlands im Jahre 1871 schließlich zustande kam, bedeutete für viele liberal und demokratisch gesinnte Deutsche eine große Enttäuschung.

216 Lessing, Goethe, Schiller, Herder und alles, was mit ihnen zusammenhängt: Gemeint ist die Strömung des deutschen Idealismus (siehe Hinweis zu 5. 232 in GA 173c).

216 während Corneille, Racine: Pierre Corneille (1606-1684) und Jean Racine (1639— 1699) gehören zu den großen Dramatikern der französischen Klassik. In ihren Tragödien verarbeiteten sie vor allem Stoffe aus der griechischen und römischen Antike.

216 den König, der von sich sagte: «L'état, c'est moi»: Der französische König Ludwig XIV. (Louis XIV) soll diesen Satz am 13. April 1655 vor den Mitgliedern des Parlaments von Paris ausgesprochen haben. Es ging dabei um die Frage, ob die Registrierung der königlichen Steueredikte, die am 20. März 1655 durch die Magistrate des Parlamentes vorgenommen worden waren, rechtmäßig gewesen sei. Als am 13. April 1655 im Parlament darüber beraten werden sollte, erschien der König in



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216 die eben durchaus unpraktischer waren in bezug auf den Staatsgedanken: Im Vergleich zu Deutschland erlangten die Engländer und Franzosen wesentlich früher ihre nationale Einheit. Am klarsten zeigte sich die Konzentration der staatlichen Macht in Großbritannien, wo mit dem Herrschaftsantritt der Könige aus der Tudor-Dynastie im Jahre 1485 endgültig die Grundlage für eine einheitliche Staatsgewalt gelegt wurde. In Frankreich setzte der Prozeß der Überwindung der Feudalgewalten und der staatlichen Vereinheitlichung im 15. Jahrhundert ein, gerade auch im Zusammenhang mit dem Hundertjährigen Krieg gegen England (1337 bis 1453) und dem Auftreten von Jeanne d'Arc im Jahre 1429; seinen Abschluß fand dieser Vorgang aber erst mit der Französischen Revolution. In Spanien verlief die Entwicklung in ähnlicher Richtung; sie setzte ebenfalls im 15. Jahrhundert ein durch die Personalunion von Kastilien und Aragon im Jahre 1479 und den Abschluß der Reconquista im Jahre 1492, fiel aber durch die zunehmende Schwäche des spanischen Staates für das europäische Mächtegleichgewicht kaum mehr ins Gewicht. Dieser Sammlungsprozeß der politischen Macht wurde von der Herausbildung einer gemeinsamen nationalen Identität begleitet.

217 dadurch ist auch das Deutsche Reich in der Zeit von 1864 bis 1870 entstanden: Die deutsche Reichsgründung vollzog sich im Rahmen von drei Kriegen, die Preußen an der Spitze seiner Verbündeten siegreich beendete: den Dänischen Krieg von 1864 (siehe Hinweis zu 5. 42), den Deutschen Krieg von 1866 (siehe Hinweis zu 5. 81) und den Deutsch-Französischen Krieg von 1870 bis 1871 (siehe Hinweis zu 5. 138 in GA 173b).

217 die Großdeutschen, denen dann die Kleindeutschen gegenüberstanden: Siehe Hinweis zu 5. 171.

218 man mag über Schuld oder Unschuld am Ausbruch des Siebziger Krieges denken: Der preußische Ministerpräsident und gleichzeitig auch der Bundeskanzler des Norddeutschen Bundes, Otto von Bismarck (siehe Hinweis zu 5. 221), war sich bewußt, daß die Vollendung der deutschen Einheit durch den Anschluß der süddeutschen Staaten nur gegen den Widerstand des französischen Kaisers Napoleon III. zu gewinnen war.

Charles Louis Napoléon Bonaparte (1808 —1873), wie der französische Kaiser ursprünglich hieß, war ein Neffe von Kaiser Napoleon I. Aufgrund des Ansehens seines Onkels wurde er zum ersten Präsidenten der II. Französischen Republik gewählt; sein Amt trat er im Dezember 1848 an. Am 2. Dezember 1851 führte er mit Hilfe der Armee einen Staatsstreich durch, der ihm aufgrund diktatorischer Vollmachten die Wiedereinführung des Kaisertums in Frankreich ermöglichte. Nachdem in einer Volksabstimmung die Wiederherstellung des Kaisertums Zustimmung gefunden hatte, ließ er sich im Dezember 1852 zum Kaiser proklamieren.



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Napoleon III. war bestrebt, es seinem Onkel, Kaiser Napoleon J., gleichzutun und eine politische Vormachtstellung Frankreichs zu begründen. Deshalb war er grundsätzlich gegen eine deutsche Einigung eingestellt.

Bismarck benutzte nun die Gelegenheit, die sich ihm durch das diplomatisch wenig geschickte Verhalten Kaiser Napoleons III. und der französischen Regierung unter Ministerpräsident Emile Ollivier (1825-1913) — vom Januar bis Juli 1870 im Amt -bot, um Frankreich als Störfaktor auszuschalten. Die öffentliche Meinung gewann Bismarck, indem er in der «Times» vom 25. Juli 1870 den Entwurf eines Bündnisses veröffentlichen ließ, das Frankreich Preußen seit 1867 wiederholt angetragen hatte, auf das aber Bismarck nicht eingegangen war. Als Frucht eines preußisch-französischen Zusammengehens sollte Frankreich die Herrschaft über Belgien und Luxemburg, Preußen die Herrschaft über ganz Deutschland erhalten. Mit der Veröffentlichung dieses Bündnisangebots war die öffentliche Meinung gegen Napoleon III. gewonnen und er moralisch zum Angreifer abgestempelt.

218 Über die spanische Erbfolge.. Nach dem Sturz der spanischen Königin Isabella (Isabel) II. im September 1868 und einer Zeit revolutionärer Instabilität verabschiedeten die Cortes am 2. Juni 1869 eine neue Verfassung, die in Spanien die konstitutionelle Monarchie einführte. Allerdings war es noch eine Monarchie ohne König. Verschiedene Kandidaten standen für die Besetzung des spanischen Thrones zur Diskussion; schließlich wurde am 24. Februar 1870 die Krone Prinz Leopold von Hohenzollern-Sigmaringen (1835-1905) angetragen. Dieser war der Bruder von Carol J., der auf den Fürstenthron von Rumänien gewählt worden war (siehe Hinweis zu 5. 34). Am 20. April 1868 lehnte Prinz Leopold ab, weil König Wilhelm J. von Preußen (1797-1888) als Chef des Hauses Hohenzollern gegen die Annahme war. Dem preußischen Ministerpräsidenten Otto von Bismarck (siehe Hinweis zu 5. 221) — seit September 1862 im Amt - war die ganze Angelegenheit nicht unwillkommen, sah er doch eine Möglichkeit, das Mächtegleichgewicht zuungunsten Frankreichs zu verändern. Es scheint, daß sich Bismarck durchaus bewußt war, daß ein Weiterverfolgen der Thronkandidatur so gut wie sicher zu einer kriegerischen Auseinandersetzung mit Frankreich führen mußte. Er handelte im Vertrauen auf die Armee des Norddeutschen Bundes, aber auch im Bewußtsein, daß er auf das deutsche Nationalgefühl und damit mit der Geschlossenheit der deutschen Staaten in der Abwehr der französischen Bedrohung rechnen konnte. Durch Mittelsmänner ließ er den Prinzen Leopold überreden, die spanische Krone nun doch anzunehmen, was dieser am 15. Juni 1870 tat. Schließlich gab auch der preußische König widerstrebend seine Zustimmung. Am 3. Juli wurde die Thronkandidatur in Paris bekannt, was eine scharfe Reaktion des damaligen französischen Außenministers, Agénor Duc de Guiche et de Gramont (18 19-1880) — er war vom Mai bis August 1870 in diesem Amt - auslöste. Am 6. Juli 1870 hielt er im französischen Parlament eine Brandrede und drohte unverhüllt mit Krieg. Entsprechende Kriegsvorbereitungen wurden in den folgenden Tagen eingeleitet. Bismarck spielte die ganze Angelegenheit herunter und stellte sie als eine dynastische Angelegenheit der Hohenzollern dar. Schließlich sprach Leopolds Vater, Fürst Karl Anton von Hohenzollern-Sigmaringen (siehe Hinweis zu S.219), am 12. Juli 1870 den Verzicht seines Hauses auf den spanischen Thron aus, was für den preußischen König eine große Erleichterung bedeutete.Trotzdem sollte die ganze Angelegenheit schließlich zum Ausbruch des Deutsch-Französischen Krieges führen. Der französische Botschafter in Berlin von 1864 bis 1870, Vincent Comte Benedetti (1817-1 900), wurde angewiesen, Wilhelm J. in Bad Ems aufzusuchen und von ihm zu verlangen, sich dem Thronverzicht des Fürsten



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Karl Anton anzuschließen und eine Erklärung abzugeben, daß er eine Erneuerung der Thronkandidatur nicht gestatten werde. Am 13. Juli 1870 fand die Unterredung statt, wobei der König das französische Ansinnen abwies. Zu diesem Zeitpunkt war Bismarck bereits weitgehend zum Krieg entschlossen. Als am Abend eine Depesche aus Ems mit der Schilderung der Vorgänge in Berlin eintraf, benutzte Bismarck die Gelegenheit und veranlaßte die Veröffentlichung dieser Depesche, allerdings in einer gekürzten Form, die auf eine Demütigung Frankreichs hinauslief. Am 14. Juli 1870 fiel der Beschluß zur Mobilmachung der französischen Armee, und am 19. Juli 1870 erfolgte die Kriegserklärung Frankreichs an den Norddeutschen Bund. In Erwartung einer solchen Kriegserklärung hatten Preußen und der Norddeutsche Bund bereits am 15. Juli 1870 die Mobilmachung angeordnet, und die drei süddeutschen Staaten Bayern, Württemberg und Baden sahen den Bündnisfall ebenfalls als gegeben an. So hatten auch sie bereits am 16. und 17. Juli 1870 die Mobilisation ihrer Truppen veranlaßt.

218 daß in Frankreich sich bestimmte Leute alle Mühe gaben: Der Duc de Gramont (siehe Hinweis zu 5. 218) war der Repräsentant jener chauvinistischen Kräfte, die dem Hegemoniestreben Preußens in Deutschland unter allen Umständen Einhalt gebieten wollten. Er wußte dabei nicht nur die französische Armee hinter sich, sondern auch Kaiser Napoleon III., der unter dem Druck seiner extremistisch gesinnten Anhänger wie auch der bürgerlichen Opposition stand und sich in keinem Falle eine weitere diplomatische Niederlage leisten wollte.

219 daß man eben nur durch dieselben Mittel: Ein wichtiger Repräsentant dieser Überzeugung war Otto von Bismarck, der mit Hilfe von zwei erfolgreich geführten Kriegen in den Jahren 1866 und 1870 bis 1871 sowohl Österreich als auch Frankreich - die beiden Hauptgegner einer Einigung Deutschland unter preußischer Führung - ausschaltete.

219 in dem Paris noch nicht belagert war: Paris wurde am 19. September 1870 von den deutschen Truppen eingeschlossen. In den Tagen zuvor hatte sich gezeigt, daß einer Einigung Deutschlands unter preußischer Führung nichts mehr entgegenstand. Nach der französischen Niederlage in der Schlacht bei Sedan und der Gefangennahme Kaiser Napoleons III. am 2. September 1870 und dem Sturz der kaiserlichen Monarchie am 4. September 1870 war der französische Widerstand gegen einen deutschen Nationalstaat endgültig gebrochen. Österreich, dessen Außenpolitik unter der Leitung von Friedrich Ferdinand Graf von Beust stand (siehe Hinweis zu 5. 254 in GA 173b), hatte zwar am 18. Juli 1870 seine Neutralität erklärt -mit der Absicht, nach dem siegreichen Vordringen der französischen Armee doch noch auf der Seite Frankreichs in den Krieg einzutreten -, aber nach den französischen Niederlagen setzte es auf Verständigung mit Preußen, um möglichen Anschlußgelüsten der Deutschen Österreichs zuvorzukommen und sich die Unterstützung des neuen Reiches für die Balkanpolitik zu sichern. Am 14. Dezember gab Österreich-Ungarn seinen letzten Widerstand gegen den Anschluß der süddeutschen Staaten auf und sprach in der sogenannten Anerkennungsnote seine Zustimmung zur Einigungspolitik Bismarcks aus. Dessen Ziel war die Schaffung eines deutschen Nationalstaats als Föderation monarchischer Staaten unter der Führung Preußens und mit Ausschluß Österreichs. Erreicht werden sollte dieses Ziel nicht mit Waffengewalt, sondern auf friedlichem Wege, das heißt durch Verhandlungen mit den entsprechenden Monarchen und Regierungen. Bismarck erreichte sein Ziel und wurde Reichskanzler des neuen Deutschen Reiches, während Graf von Beust im November 1871 entlassen wurde.



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219 ebenso wenig, wie es einen «Kaiser von Deutschland» gibt: Die Frage nach der Bezeichnung des neuen deutschen Nationalstaates und seines Oberhauptes war eine symbolpolitische Entscheidung von großer Wirkung. Die Wahl des Kaisertitels für das Oberhaupt des neuen Staates war unbestritten, wurde doch damit an eine alte Tradition angeknüpft, die jede Vorstellung einer preußischen Hegemonie ausschloß. Auf sanften Druck Otto von Bismarcks -er half mit jährlichen Geldzahlungen nach - konnte erreicht werden, daß der bayrische König Ludwig II. in einem Brief vom 16Dezember 1870 dem preußischen König Wilhelm J. aus dem Hause Hohenzollerndieser war seit Januar 1861 preußischer König - die Kaiserkrone anbot. Damit war erreicht, daß die Gemeinschaft der verbündeten Fürsten einem der Ihren die kaiserliche Würde übertrug und nicht ein gesamtdeutsches Parlament, wie das 1849 der Fall gewesen war (siehe Hinweis zu 5. 171).Der preußische König hatte zunächst wenig Neigung zu diesem neuen Titel, aber er fügte sich der Staatsräson. Umstritten war bloß noch der genaue Wortlaut: «Kaiser von Deutschland» oder «Deutscher Kaiser». Während König Wilhelm J. den Titel eines «Kaisers von Deutschland» vorzog, sah Bismarck darin eine allzu große Betonung der Gebietsherrschaft, die eine Unterordnung der übrigen deutschen Fürsten beinhaltete. Aus Rücksicht auf dynastische Empfindlichkeiten der süddeutschen Staaten gegenüber einer Hegemonie der preußischen Krone befürwortete er entschieden den Titel «Deutscher Kaiser», aber der König leistete hartnäckigen Widerstand. Dieser Streit gefährdete beinahe die Durchführung der Kaiserproklamation am 18. Januar 1871 (siehe Hinweis zu 5. 216 in GA 173b), aber der Großherzog von Baden, Friedrich J., vermied den genauen Titel und brachte das Hoch auf «Kaiser Wilhelm» aus. So mußte sich der preußische König auch in dieser Hinsicht fügen. Demnach lautete der Artikel 11 der Verfassung des Deutschen Reichs vom 16. April 1871: «Das Präsidium des Bundes steht dem König von Preußen zu, welcher den Namen Deutscher Kaiser führt. » In seinen «Gedanken und Erinnerungen» (Zweites Buch, Zwölftes Kapitel, IV. Abschnitt) schildert Bismarck die schwierigen Auseinandersetzungen mit dem preußischen König Wilhelm in bezug auf diese Frage.

219 es gibt nur einzelne deutsche Staaten: Die Präambel der Verfassung des Deutschen Reichs vom 16. April 1871 lautet: «Seine Majestät der König von Preußen im Namen des Norddeutschen Bundes, Seine Majestät der König von Bayern, Seine Majestät der König von Württemberg, Seine Königliche Hoheit der Großherzog von Baden und Seine Königliche Hoheit der Großherzog von Hessen und bei Rhein für die südlich vom Main gelegenen Teile des Großherzogtums Hessen schließen einen ewigen Bund zum Schutze des Bundesgebietes und des innerhalb desselben gültigen Rechtes sowie zur Pflege der Wohlfahrt des Deutschen Volkes. Dieser Bund wird den Namen Deutsches Reich führen und wird nachstehende Verfassung haben. » Und in Art. 1 wird das Bundesgebiet, bestehend aus den 25 Bundesstaaten, umschrieben: «Das Bundesgebiet besteht aus den Staaten Preußen mit Lauenburg, Bayern, Sachsen, Württemberg, Baden, Hessen, Mecklenburg-Schwerin, Sachsen-Weimar, Mecklenburg-Strelitz, Oldenburg, Braunschweig, Sachsen-Meiningen, Sachsen-Altenburg, Sachsen-Coburg-Gotha, Anhalt, Schwarzburg-Rudolstadt, Schwarz burg-Sondershausen, Waldeck, Reuß älterer Linie, Reuß jüngerer Linie, Schaumburg-Lippe, Lippe, Lübeck, Bremen, Hamburg.»

219 daß man bei der Gründung des neueren rumänischen Staates sehr viel darüber diskutiert hat: Die Erhebung Rumäniens zu einem Königreich war ursprünglich für den 22./10. Mai 1881 vorgesehen. Aber aus innenpolitischen Gründen - die liberale Regierung wollte angesichts der Vorwürfe der Konservativen ihre Königstreue



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Österreich-Ungarn war ein entschiedener Gegner der Proklamation eines Königreichs Rumänien, fürchtete es doch, daß damit möglichen Anschlußwünschen der im eigenen ungarischen Herrschaftsbereich in Siebenbürgen lebenden Rumänen Vorschub geleistet werden könnte. Mit der Gewährleistung der rumänischen Unabhängigkeit durch den Vertrag von Berlin im Jahre 1878 (siehe Hinweis zu 5. 79) hatte man Carol J. zwar für den diplomatischen Verkehr den Titel «Königliche Hoheit» zugesprochen, ohne aber dem Land eine entsprechende Rangerhöhung zuzugestehen. Die Rumänen betrachteten jedoch im Hinblick auf den Erhalt der Dynastie und der Unabhängigkeit der beiden vereinigten Fürstentümer Moldau und Walachai die Erhebung zum Königreich als unverzichtbaren Schritt. Da aber die Großmächte keine Schritte in dieser Richtung unternahmen, blieb nur der Weg der einseitigen Proklamation durch das Parlament. Durch einen solchen Akt aus eigener Machtvollkommenheit konnte auch jedes Abhängigkeitsverhältnis zu einer Großmacht vermieden werden. Die Anerkennung des rumänischen Königtums durch die drei Großmächte Rußland, Österreich-Ungarn und Deutschland erfolgte bereits am 6. April/25. März 1881. Am 22. Mai/10. Mai 1881 fanden die Feierlichkeiten zur Krönung des ersten rumänischen Königs statt.

Um aber dem Vorwurf des rumänischen Irredentismus und einer möglichen ausländischen Intervention vorzubeugen, wurde bewußt auf den Titel «Rumänischer König» oder «König der Rumänen» verzichtet. Es sollte jeder Eindruck vermieden werden, das neue Königreich würde Anspruch auf Siebenbürgen erheben, das damals noch zu Ungarn gehörte und zu einem Grossteil von Rumänen bewohnt war. Bereits am 25.113. September 1878 hatte Fürst Carol von seinem Vater, dem Fürsten Karl Anton von Hohenzollern-Sigmaringen, einen Brief erhalten, in dem dieser sich auch zur Frage einer Erhebung Rumäniens zu einem Königreich äußerte (zitiert nach: Aus dem Leben König Karls von Rumänien, Band IV, Stuttgart 1900, VI. Kapitel «Rückgabe Bessarabiens. Einzug des Heeres in Bukarest»): «Es wäre ein Gegenstand umfassender Überlegung, ob nicht die Würde des Königstitels dem an Ausdehnung und Wichtigkeit mit vielen Königreichen wetteifernden Rumänien zuzusprechen wäre! Auch Belgien hat sich selbständig zum Königreich erhoben und ist ohne große Weitläufigkeit von allen Mächten anerkannt worden. Meines unmaßgeblichen Erachtens müßte man sich davor hüten, den Titel eines Großfürsten oder Königs der Rumänen, wie es der moderne Konstitutionalismus verlangt, anzunehmen. Um keine Nationalitätenfrage namentlich in Siebenbürgen und Ungarn anzuregen, muß die Titelfrage in dem Wörtchen <von>gipfeln, als König oder Großfürst von Rumänien, was den Status quo des jetzigen Länderbesitzes bezeichnet und kein Hinübergreifen auf ideale Ziele. » Karl Anton von Hohenzollern-Sigmaringen (1811-1885), das Oberhaupt des fürstlichen Hauses Hohenzollern, war von August 1848 bis Dezember 1849 der letzte Herrscher des hohenzollerschen Stammlandes. Vom November 1858 bis März 1862 amtierte er als preußischer Ministerpräsident.



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220 durch diese Gründung des Deutschen Reiches für Europa ein großer Schaden entstanden: So zum Beispiel Sir Eyre Crowe, Sachverständiger für Deutschland im britischen Außenministerium und Vertrauensmann des englischen Außenministers Sir Edward Grey, in seinem Memorandum vom 1. Januar 1907 (siehe Hinweis zu S. 234). Wenn er es auch nicht offen schrieb, so ist seine Meinung doch deutlich zwischen den Zeilen herauszuspüren (zitiert nach: George Peabody Gooch/Harold Temperley, Die britischen Amtlichen Dokumente über den Ursprung des Weltkrieges 1898 —1914, Band III, «Die Probe auf die Entente 1904-1906», Berlin/Leipzig 1929, Anhang A): «Mit den Ereignissen von 1871 ging der Geist Preußens in das neue Deutschland über. In keinem anderen Land ist bei allen Klassen der Bevölkerung so tief in Leib und Seele die Überzeugung eingewurzelt, daß der Schutz nationaler Rechte und die Verwirklichung nationaler Ideale absolut auf der Bereitwilligkeit jedes Bürgers beruhen, in letzter Instanz sich und seinen Staat für ihre Geltendmachung und Verteidigung einzusetzen. Mit <Blut und Eisend hatte Preußen seine Stellung in den Räten der Großmächte Europas geschmiedet. » Crowe schätzte das Deutsche Reich als eine -gerade auch für Großbritannien -potentiell gefährliche Macht ein, da es sein Machtstreben nicht auf den europäischen Kontinent begrenze (gleicher Ort): «Deutschland hatte seinen Platz als eine der führenden Mächte, wenn nicht gar als die erste der europäischen Kontinentalmächte errungen. Doch über den europäischen Großmächten und jenseits von ihnen schienen die <Weltmächte>zu stehen. Es war auf einmal klar, daß auch Deutschland eine <Weltmächte werden mußte. Die Entwicklung dieser Idee und ihre Übertragung in die praktische Politik folgte mit eigenartiger Konsequenz dem Gedankengang, der die preußischen Könige bei ihren Bestrebungen beseelt hatte, Preußen groß zu machen. »

220 das Urteil steht im «Matin» vom 8. Oktober 1905. Die beiden Zitate' stammen aus dem Leitartikel des Journalisten Stéphane Lauzanne (1874-1958), «La vérité sur l'affaire du Maroc», der am 8. Oktober 1905 in der großen französischen Tageszeitung «Le Matin» (22. Jg. Nr. 7896) erschienen ist. Anlaß für seinen Artikel gaben Lauzanne die angeblichen politischen Druckversuche Deutschlands auf Frankreich, die sich zum Glück als wenig wirksam erwiesen hätten. Der Artikel von Lauzanne wird auch im Buch von Hans Helmolt, «Die geheime Vorgeschichte des Weltkrieges» (Leipzig 1914) erwähnt (Kapitel «Deutschlands Einkreisung durch König Eduard und seine Helfer», Abschnitt «Die Saat Lansdownes und Delcassés»); die von Rudolf Steiner verwendete deutsche Übersetzung ist diesem Buch entnommen.

220 Wenn Herr von Bülow sich darüber beklagt, daß man Deutschland isolieren wolle. Am 7. Dezember 1905 hatte der deutsche Reichskanzler Bernhard Fürst von Bülow -



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mitten in der ersten Marokko-Krise (siehe Hinweis zu S. 229) —im Reichstag eine Rede gehalten und dort erklärt (zitiert nach: «Basler Nachrichten» vom 8. Dezember 1905, 61. Jg. Nr. 337): «Der Dreibund will in Europa den Frieden und den Status quo aufrechterhalten. Das war sein Zweck, das ist sein Prinzip. Deshalb haben wir den Dreibund abgeschlossen, deshalb haben wir den Dreibund erneuert, deshalb halten wir am Dreibund fest. Aber Deutschland muß stark genug sein, um im Notfalle sich auch ohne Bundesgenossen behaupten zu können. Es muß stark genug sein, um im schlimmsten Fall auch allein seine Stellung verteidigen zu können. Ich sage <im schlimmsten Fallen. Dieser Fall ist nicht eingetreten. Wir hoffen, daß dieser Fall nicht eintreten wird. Wir dürfen aber diesen Fall niemals aus den Augen verlieren. »Tatsächlich hatte sich nach Abschluß der Konferenz von Algeciras am 7. April 1906 (siehe Hinweis zu 5. 229) die Gefahr einer außenpolitischen Isolierung Deutschlands deutlich abgezeichnet. Am 14. November 1906 nahm Bülow im Reichstag erneut Stellung zur außenpolitischen Situation des Deutschen Reiches, indem er vorsichtig warnte (zitiert nach: «Basler Nachrichten» vom 16. November 1906, 62. Jg. Nr. 313): «Eine Politik, die darauf gerichtet wäre, Deutschland einzukreisen, einen Kreis von Mächten um uns zu bilden, um uns zu isolieren und uns lahmzulegen, wäre eine für den Frieden in Europa sehr bedenkliche Politik. Solche Ringbildung ist nicht möglich ohne Ausübung eines gewissen Drucks. Druck erzeugt Gegendruck. Aus Druck und Gegendruck können schließlich Explosionen hervorgehen. Darum ist es besonders erfreulich, daß gerade in französischen Blättern der Gedanke ausgesprochen wurde, ein gutes Einvernehmen zwischen Deutschland und England sei notwendig für die Erhaltung des Friedens und liege deshalb auch im französischen Interesse.» Weiter berichtet die «Basler Zeitung»: «Zwischen Deutschland und England bestehen nach den Ausführungen des Kanzlers keine tieferen politischen Gegensätze. Es hat Verstimmungen gegeben, unverständliche Verstimmungen, an welchen beide Teile [die]Schuld tragen. In geistiger Beziehung, in Kunst und Wissenschaft, stehen beide Völker einander nah; wirtschaftlich sind sie aufeinander angewiesen. Aus der Konkurrenz braucht kein politischer Gegensatz, kein Krieg hervorzugehen. Beide Völker müssen sich gegenseitig als gute Kunden erhalten. [...] Es gibt keinen vernünftigen Menschen in Deutschland, der nicht gute Beziehungen zwischen Deutschland und England wünscht. Die Sympathie der Deutschen für die Buren entsprang nur dem deutschen Idealismus. Der Gedanke, der Ausbau der deutschen Flotte richte sich gegen England, sei töricht. »

Auch wenn die deutsche Regierung bemüht war, die Gefahr einer außenpolitischen Isolierung Deutschlands herunterzuspielen, verstärkte sich das Gefühl einer systematischen Einkreisung Deutschlands durch die drei Großmächte Rußland, Frankreich und Großbritannien im Laufe der Jahre immer mehr (siehe Hinweis zu 5. 260 in GA 173b). Eine Vielzahl von Indizien schienen in diese Richtung zu deuten. Dieser Verdacht der deutschen Regierung schien sich aufgrund der Informationen des aus dem Baltikum stammenden russischen Diplomaten Benno von Siebert (1876-1926) zu bestätigen. Dieser war seit 1908 als Sekretär an der russischen Botschaft in London tätig und ließ in der Zeit zwischen 1909 und 1914 deutschen Verantwortungsträgern über 5000 vertrauliche russische Dokumente zukommen. So hatte die deutsche Reichsregierung zum Beispiel nicht nur von der informellen -lediglich auf einem Notenaustausch beruhenden -englisch-französischen Marinekonvention vom 22./23. November 1912 (siehe Hinweis zu 5. 45) Kenntnis, sondern auch von entsprechenden Geheimverhandlungen zwischen Großbritannien und Rußland nach dem Besuch des britischen Königspaares in Paris vom 21. bis 23. April 1914 (siehe Hinweis 5. 206). Aufgrund der von Sie-



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bert ausgehändigten Dokumente war Wilhelm Freiherr von Stumm (1869-1935), von 1911 bis 1916 Direktor der Politischen Abteilung im deutschen Außenministerium, überzeugt (zitiert nach: Theodor Wolff, Der Krieg des Pontius Pilatus, Zürich 1934, Teil III, «Der Absturz», IX. Kapitel)«Izvolskij habe in Paris durch die französischen Vermittler dem englischen Außenminister eine russisch-englische Flotten-Entente anbieten lassen und Grey habe die Idee nicht abgelehnt. Verhandlungen über das Zusammenwirken der beiden Flotten im Kriegsfall seien eingeleitet und natürlich sei für die Izvolskij, Sazonov und Delcassé auch das nur ein Mittel, um England immer fester mit den russischen und französischen Interessen zu verstricken, ihm die Freiheit der Entschließungen zu nehmen und jeden Ausweg zu versperren.» Diese Mitteilung machte er Theodor Wolff (1868-1943), dem Chefredaktor des «Berliner Tageblatts», und bat ihn, einen entsprechenden Artikel in seiner Zeitung zu veröffentlichen. Der Artikel erschien am 22. Mai 1914 (43. Jg. Nr. 256) unter dem Titel «Ein russischer Vorschlag. Aufforderung zu einer englischrussischen Flottenentente». Obwohl von Außenminister Grey versucht wurde, die Diskussion in der englischen Presse herabzudämpfen, kam es am 11. Juni 1914 zu einer Anfrage im englischen Parlament. In seiner Antwort stellte sich Grey ganz auf einen formalrechtlichen Standpunkt und verneinte die Existenz eines Bündnisses mit Rußland oder auch nur von entsprechenden Absichten zum Abschluß eines solchen (siehe Hinweis zu 5. 45).

Auch der russische Außenminister Sazonov bekräftigte, daß es nie solche Verhandlungen gegeben habe. Allerdings hatte er die Frage einer Unterstützung Rußlands durch die britische Flotte im Kriegsfall bereits im Jahre 1912 anläßlich seines Besuches in Großbritannien Ende September angeschnitten. In der «Neuen Zürcher Zeitung» vom 26. September 1912 (129. Jg. Nr. 268 II) heißt es in einem redaktionellen Kommentar zu diesem Besuch: «Sazonov wird sich in Kürze nach Balmoral, dem schottischen Königsschloß, begeben, sich dort dem König vorstellen und längere Konferenzen mit Sir Edward Grey haben, der zurzeit Gast des Königs in Balmoral und Minister <zum Dienst beim König befohlen> ist. Es ist konstitutionelle Sitte, daß stets einer der Kabinettminister beim König anwesend ist [.1.» Und im Hinblick auf politische Bedenken, die gegenüber diesem Besuch in Balmoral geltend gemacht wurden, heißt es: «Man findet es ungehörig, daß diese wichtigen Konferenzen im Königsschloß von Balmoral stattfinden, wenn auch nicht vielleicht in Gegenwart des Königs, so doch unter seinem Dache. Es würde damit der Anschein erweckt, als ob der König [Georg V.]für die anglo-russische Politik ganz besonders mit seiner Person eintrete, und es würde sich bei der Kritik dieser Politik im Parlament kaum vermeiden lassen, die Person des Königs in die Debatte hineinzuziehen. Die offiziöse Antwort auf diesen Angriff ist, daß Sazonov ein eigenhändiges Schreiben des Zaren an den König zu überreichen hatte und daß, da der Besuch Greys zu dieser Zeit in Balmoral beim König sich nicht vermeiden lasse - die anderen Minister waren schon <zum Dienst beim König befohlene und sind größtenteils abwesend in den Ferien -, so kann Sazonov Grey nicht anders sehen und sprechen als eben in Balmoral. »

Tatsächlich hatte ihn der Zar, wie Sazonov in seinen Memoiren «Sechs schwere Jahre» (Berlin 19272) schildert (Kapitel III), beauftragt, «in England die Frage zu klären zu versuchen, inwieweit man es dort für möglich halte, uns eine gewisse Hilfe durch die großbritannische Flotte zu erweisen, im Falle es zu einer gemeinsamen Verteidigung unserer Interessen gegen deutsche Anschläge kommen sollte. Auf meine in diesem Sinne gestellte Frage sagten mir der König [Georg V.]und der englische Außenminister [Sir Edward Grey], sie könnten mir keine bestimmte Antwort geben noch weniger irgendwelche Verpflichtungen in dieser Richtung übernehmen. Nichts-



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destoweniger ging aus dem weiteren Gedankenaustausch hervor, daß die englische Regierung, wenn die politischen Umstände dazu führen sollten, Großbritannien und Rußland in einen Krieg mit Deutschland zu verwickeln, uns eine Hilfe zur See nach Maßgabe der praktischen Möglichkeit nicht abschlagen würde. »

Diese Antworten waren für den deutschen Reichskanzler eine Bestätigung seiner bisherigen Sicht. Hatte Bethmann Hollweg (siehe Hinweis zu 5. 126 in GA 173b) auf Verbesserung der Beziehungen zu Großbritannien gehofft, so sah er die britische Stoßrichtung zur Vertiefung des Dreiverbandes bestätigt. Dieses Zusammengehen Großbritanniens mit Rußland war für ihn um so alarmierender, als er von der «russischen Gefahr», verstärkt durch das schnelle Anwachsen der militärischen Macht des Zarenreiches, überzeugt war. So hatte er am 19. Februar 1914 dem preußischen Gesandten in Karlsruhe, Karl von Eisendecher (1841-1934), geschrieben (zitiert nach: Stephen Schröder, Die englisch-russische Marinekonvention, Göttingen 2006, Teil B. II. Kapitel, «Die außenpolitische Lageeinschätzung der Reichsleitung im Frühjahr 1914», 1. Abschnitt, «Spannungen, Probleme und Sorgen: Der Dreibund, Frankreich und Rußland»): «Rußland macht Sorgen. Seine Politik ist ganz undurchsichtig, weil man nicht weiß, wer momentan den ausschlaggebenden Einfluß hat, und weil dieser Einfluß schnellem Wechsel unterworfen ist. So hoffe ich, daß die augenblicklich starke panslawistisch aggressive Strömung doch noch der Vernunft weichen wird. Aber ich bin nicht ohne Bedenken.»

221 heißen nicht Delcassé, Lansdowne. Théophile Delcassé (1852 —1 923) gehörte zu den führenden Außenpolitikern Frankreichs in der Zeit der Dritten Republik. Delcassé war Freimaurer, das heißt er war Mitglied der in Foix beheimateten Loge «La Fraternité Latine», die zum «Grand Orient de France» gehörte (siehe Hinweis zu 5. 177). Politisch zählte er sich dem linksbürgerlich-radikalen Lager zu. Von 1889 bis 1919 saß er als Abgeordneter in der «Chambre des Députés». Seine eigentliche politische Bedeutung entfaltete er aber als Minister. Nach einem kurzen Gastspiel als Kolonialminister vom Mai 1894 bis Januar 1895 wurde er zum Außenminister ernannt -ein Posten, den er unter wechselnden Ministerpräsidenten vom Juni 1898 bis Juni1905 bekleidete. Sein am 6. Juni 1905 von der Mehrheit der Mitglieder des französischen Ministerrats erzwungener Rücktritt verhinderte den Ausbruch eines deutsch-französischen Krieges im Zusammenhang mit der Ersten Marokkokrise (siehe Hinweis zu 5. 229). Vom Juni 1911 bis Januar 1913 wirkte er als Marineminister und trat -im Zusammenhang mit der Zweiten Marokkokrise (siehe Hinweis zu 5. 261 in GA 173b) —für ein scharfes Vorgehen gegen das Deutsche Reich in Marokko ein. Vom Februar 1913 bis März 1914 hielt er sich als französischer Botschafter in St. Petersburg auf und setzte sich dort für die Festigung des Bündnisses mit Rußland ein. Im Juni 1914 war er für wenige Tage Kriegsminister, stand dann aber erneut vom August 1914 bis Oktober 1915 an der Spitze des französischen Außenministeriums.Die Bestätigung der seit 1892 bestehenden Allianz mit Rußland, der Kolonialausgleich von 1902 mit Italien, der Abschluß der Entente cordiale von 1904 mit Großbritannien, die enge Flottenzusammenarbeit mit Großbritannien und der Eintritt Italiens auf seiten der Ententemächte in den Krieg sind die wichtigsten Stationen seines erfolgreichen Wirkens. Seine ausgesprochen rußlandfreundliche Haltung, die Bulgarien schließlich ins Lager der Mittelmächte trieb, führte zu seinem endgültigen Sturz als Außenminister. Ein wichtiger Partner von Delcassé als Außenminister um die Jahrhundertwende war der englische Außenminister Henry Petty-FitzMaurice, Marquess of Lansdowne (siehe Hinweis zu 5. 233).

221 nicht Eduard VII. und nicht Roosevelt: Siehe Hinweise zu 5. 141 und 151.



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221 sondern sie heißen Bismarck und Moltke, Wilhelm II. und Bülow: Otto Fürst von Bismarck-Schönhausen und Herzog von Lauenburg (18 15-1898) war seit September 1862 —abgesehen von einer kurzen Unterbrechung im Jahre 1873 (Januar bis Oktober) —preußischer Ministerpräsident und als solcher maßgeblich an der Verwirklichung der deutschen Einigung beteiligt. So wurde er im Februar 1867 zum Bundeskanzler des Norddeutschen Bundes und im März 1871 zum Reichskanzler des Deutschen Reiches ernannt. Im März 1890 entzog ihm der neue deutsche Kaiser Wilhelm II. das Vertrauen, und er wurde als Reichskanzler und preußischer Ministerpräsident entlassen. In diesen drei Jahrzehnten dominierte Bismarck nicht nur das politische Geschehen in Deutschland, sondern gehörte zu den herausragenden Politikern Europas überhaupt. Mit Hilfe eines ausgeklügelten Bündnissystems - Isolierung Frankreichs durch direkte und indirekte Vertragsverbindungen mit den übrigen Großmächten -suchte er die Machtposition des neugegründeten deutschen Nationalstaates mit friedlichen Mitteln zu sichern.Helmuth Karl Bernhard Graf von Moltke, das heißt Moltke der Altere (1800— 1891), war seit September 1858 Generalstabschef der preußischen Armee und in dieser Eigenschaft entscheidend am siegreichen Verlauf des Deutsch-Dänischen Krieges, des Deutschen Krieges sowie des Deutsch-Französischen Krieges beteiligt, die die militärische Voraussetzungen für die deutsche Einigung schufen. Im Deutsch-Französischen Krieg war es vor allem der von ihm ausgearbeitete Aufmarschplan, der die rasche Entfaltung der deutschen Truppen und damit ihr siegreiches Vordringen erlaubte. Vielfach ausgezeichnet, erbat Moltke im August 1888 seine Entlassung aus dem Amt des Generalstabschefs.

Wilhelm II. (1859 —1941) von Hohenzollern übernahm im Juni 1888 als Nachfolger seines Vaters, Friedrich III., die Würde des deutschen Kaisers und des Königs von Preußen. Innenpolitisch strebte er nach einem verstärkten Einfluß der monarchischen Gewalt. Im Verhältnis zu den übrigen Großmächten befürwortete er eine auf dem Ausbau der Flotte beruhende, nach Weltgeltung strebende Politik. Hinter seinen militaristischen Reden versteckte sich aber mehr Großsprecherei als echter Wille zur kriegerischen Auseinandersetzung. Das zeigte sich im Verlauf der Juli-Krise von 1914, wo er einerseits ehrlich bestrebt war, den Frieden zu erhalten, auf der anderen Seite aber die Entscheidung schließlich den Militärs überließ. Die Errichtung einer faktischen Militärdiktatur durch Erich Ludendorff nach dem Sturz von Reichskanzler Theodor Bethmann Hollweg im Juli 1917 besiegelte diese Entwicklung. Durch die Einführung der parlamentarischen Monarchie in Deutschland im Oktober 1918 wurde auch verfassungsrechtlich dem persönlichen Regiment des Kaisers jede Grundlage entzogen: Die Regierung hing nicht mehr vom persönlichen Vertrauen des Kaisers, sondern von der Parlamentsmehrheit ab. Nach der absehbaren Niederlage und dem Ausbruch von revolutionären Unruhen wurde Wilhelm II. im November 1918 zur Abdankung gezwungen; der letzte Reichskanzler, Prinz Max von Baden, verkündete eigenmächtig den Thronverzicht des Kaisers. Wilhelm II. floh nach Holland ins Exil.

Bernhard von Bülow (1849-1929) stammte aus einem alten mecklenburgischen Adelsgeschlecht. Sein Vater, Bernhard Ernst von Bülow (1815-1879), war mit Otto von Bismarck befreundet. Nach dem Studium der Rechtswissenschaft bereitete sich der junge Bülow für den Justiz- und Verwaltungsdienst vor. 1874 trat er in den Auswärtigen Dienst ein. Als Diplomat war er in verschiedenen Hauptstädten Europas tätig. Von 1888 bis 1893 war er Gesandter in Bukarest und von 1893 bis 1897 Botschafter in Rom. Die Ernennung zum Außenminister im Oktober 1897 bedeutete einen weiteren Karriereschritt. Im Oktober 1900 wurde er auf Wunsch Kaiser Wilhelms II. zum neuen Reichskanzler ernannt. Der Kaiser wollte auch



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«einen Bismarck» haben. Tatsächlich war von Bülow eine Persönlichkeit von großer Ausstrahlung mit vielfältigen Sprachkenntnissen. In Bülows Amtszeit fällt die Hinwendung Deutschlands zu einer betont nationalistischen Außenpolitik, wodurch sich die Beziehungen zu Großbritannien entscheidend verschlechterten. Stein des Anstoßes war das deutsche Flottenbauprogramm. Bülow betonte auch die unbedingte Treue Deutschlands zu dem mit ihm verbündeten Österreich-Ungarn. Im Juli 1909 mußte Bülow als Folge der «Daily-Telegraph-Affäre» zurücktreten, da er das Vertrauen des Kaisers verloren hatte (siehe Hinweis zu 5. 46). Nach dem Ausbruch des Krieges wirkte er als Sonderbotschafter in Italien, um den Eintritt dieses Landes in den Krieg auf Seiten der Entente zu verhindern, was ihm jedoch nicht gelang (siehe Hinweis zu 5. 51 in GA 173b). Nach dem Krieg lebte er die meiste Zeit bis zu seinem Tode in Rom.

221 und man hört dieses Urteil vielfach: Der französische Philosoph Henri Bergson zum Beispiel zeigte sich in seiner Rede vom 12. Dezember 1914 vor der «Académie des Sciences morales et politiques» überzeugt -diese wurde in seiner Schrift «La Signification de la Guerre» (Paris 1915) veröffentlicht: «Wenn die germanische Rasse die auserwählte Rasse ist, wird sie die einzige sein, die das absolute Recht hat zu leben; die anderen Rassen wird sie gerade noch tolerieren; und diese Toleranz wird gerade das sein, was man den Friedenszustand nennt. Kommt der Krieg, so wird Deutschland die Vernichtung des Feindes anstreben müssen. Es wird nicht nur die Kämpfenden angreifen, es wird auch die Frauen, die Kinder, die Greise niedermetzeln; es wird rauben, es wird in Brand stecken; am idealsten wäre es ihm, die Städte, die Dörfer zu zerstören und die ganze Bevölkerung [auszulöschen].»' Henri Bergson (1859 —1941) war ein Schüler von Emile Boutroux (siehe Hinweis zu 5. 55). Boutroux selber dachte ähnlich, glaubte er doch in seinem Brief «A Monsieur le Directeur de la Revue des Deux-Mondes [Francis Charmes]» vom 28. September 1914 eine klare Tendenz in bezug auf die Geschichte Deutschlands im 19. Jahrhundert zu erkennen (zitiert nach: Emile Boutroux, L'Allemagne et la Guerre, Paris/Nancy 1915, I. «L'Allemagne et la guerre»): «Deutschland - immer gezielter und geschickter vorgehend -begründete einerseits die Theorie des Germanismus oder Deutschtums und bereitete andererseits die Herrschaft des Germanismus in der Welt vor. »2

222 Bei diesem Urteil, das ich Ihnen jetzt vorlesen werde: Es handelt sich um einen Auszug aus einem offenen Brief mit Datum vom 11. November 1870, den der schottische Dichter, Schriftsteller und Historiker Thomas Carlyle (1795-1881) an den Herausgeber der Londoner Tageszeitung «The Times» gerichtet hatte und der am 18. November 1870 dort erschienen war.Carlyle war eine angesehene und einflußreiche Persönlichkeit im viktorianischen England. Von 1809 an studierte er zunächst an der Universität Edinburgh Mathematik, entschloß sich aber schließlich für eine geistliche Laufbahn. 1814 brach



173a-566 Hinweise zum Vortrag vom 18. Dezember 1916 Flip  arpa

er seine Ausbildung zum presbyterianischen Geistlichen ab und verließ die Universität. Er war dann eine Zeitlang als schlechtbezahlter Schullehrer tätig, bis er 1819 an die Universität Edinburgh zurückkehrte und mit dem Studium der Rechte begann. Aber eine Lebenskrise veranlaßte ihn 1821, sein Studium wieder abzubrechen. Vorübergehend als Privatlehrer tätig, entschloß er sich 1824 zu einer Karriere als Schriftsteller. In dieser Zeit begann Carlyle, sich mit der neueren deutschen Literatur auseinanderzusetzen und übersetzte verschiedene Werke ins Englische, so zum Beispiel auch «Wilhelm Meisters Lehr- und Wanderjahre» von Goethe. Er wurde zum großen Bewunderer des deutschen Dichterfürsten, mit dem er einen Briefwechsel führte. Herausragende Leistungen vollbrachte Carlyle auch als Historiker. Er verfaßte nicht nur eine Biographie Friedrich Schillers sowie Oliver Cromwells und Friedrichs II., sondern schrieb auch eine Geschichte der Französischen Revolution. Fortschritte in der Geschichte der Menschheit waren seiner Ansicht nach nur durch das Wirken gottbegnadeter Menschen möglich. Hatte er sich 1828 an der schottischen Universität St. Andrews vergeblich um eine Professur in Moralphilosophie beworben; kam er doch noch zu späten Ehren, indem er 1865 zum Lordrektor der Universität Edinburgh gewählt wurde. 1826 hatte er die selbstbewußte, umfassend gebildete und literarisch begabte Arzttochter Jane Baillie geheiratet; sie besaß ein größeres Gut in Schottland, dessen Einkünfte es ihm schließlich ermöglichten, ohne finanzielle Probleme seine literarische Karriere zu verfolgen. Carlyle lebte seit 1834 in London.

Die in den früheren Auflagen der «Zeitgeschichtlichen Betrachtungen» abgedruckten Zitate aus Carlyles Brief sind ein gekürzter Zusammenziehung von verschiedenen Wortteilen aus Carlyles Brief vom 11. November 1870 und weichen zum Teil erheblich vom ursprünglichen englischen Wortlaut ab. Welchem Werk sie entnommen sind, konnte nicht ermittelt werden. Es ist unklar, ob Steiner tatsächlich diese verstümmelte Quellengrundlage verwendet hat oder ob sich der fehlerhafte Wortlaut erst im Laufe der Bearbeitung eingeschlichen hat. Für die vorliegende, vollständig überarbeitete Auflage wurden die deutschen Zitate der Schrift «Wie ein Engländer 1870 über Elsaß-Lothringen dachte. Brief Thomas Carlyles an die «Times» vom 11. November 1870» (Leipzig o. J. [1915]) entnommen, wo auch der englische Originalwortlaut abgedruckt ist. In der linken Spalte ist der in den früheren Ausgaben abgedruckte deutsche Wortlaut wiedergegeben, in der rechten Spalte der englische Originaltext:

Seit vierhundert Jahren ist Frankreich den Deutschen der böseste Nachbar, der je ein Volk belästigt hat; schamlos und raubsüchtig, immer nach Angriff lüstern, unersättlich und unversöhnlich. Deutschland blieb lange geduldig; heute wäre es töricht, wenn es nicht den Sieg ausnützte und sich eine Grenze sicherte, die ihm den Frieden verbürgt. Welches Gesetz ermächtigt denn die Franzosen, das einst geraubte Gut zu behalten, wenn der Bestohlene sie fest am Kragen hat?

No nation ever had so bad a neighbour as Germany has had in France for the last 400 years; bad in all manner of ways; insolent, rapacious, insatiable, unappeasable [and] continually aggressive.

And now, furthermore, in all history there is no insolent, unjust neighbour that ever got so complete, instantaneous, and ignominious a smashingdown as France has now got from Germany. Germany, after 400 years of ill-usage, and generally ill-fortune, from that neighbour has had at last the great happiness to see its enemy fairly down in this manner: and Germany,



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I do clearly believe, would be a foolish nation not to think of raising up some secure boundary-fence between herself and such a neighbour, now that she has the chance. There is no law of nature that I know of no heaven's Act of parliament, whereby France, alone of terrestrial beings, shall not restore any portion of her plundered goods when the owners they were wrenched from have an opportunity upon them. To nobody, except to France herself for the moment, can it be credible that there is such a law of nature.

Frankreich winselt über drohende Ehrenkränkung. Wird seine Ehre etwa durch die Weigerung gewahrt, die von ihm zerschlagenen Fensterscheiben zu bezahlen?

The French complain dreadfully of threatened «loss of honour», and lamentable bystanders plead earnestly: «Don't dishonour France; leave poor France's honour bright.» But will it save the honour of France to refuse paying for the glass she has voluntarily broken in her neighbour's windows? The attack upon the windows was her dishonour.

Niemals schien uns Frankreich so sinnlos und bis zur Verächtlichkeit erbärmlich wie in dieser Stunde, da es sich sträubt, Wahrheit zu erkennen, und selbstbereitetes Unglück würdig hinzunehmen. Minister, die sich, mit falscher Siegesverkündigung und anderer Lüge als Ballast, in Luftballons aus dem Staube machen, eine Regierung, die lieber das Blutopfer des Volkes verlängern als auf ihr Diktatorrecht in dem wunderlichsten Zerrbild einer Republik, das je erdacht ward, verzichten will, ganze Hochgebirge aus Lug und Trug, um deren Gipfel die Vorstellung nebelt, Frankreich sei das neue Zion, aus dem das Licht übermenschlicher Allweisheit in die Welt strahlt: Nie sah unser Auge auf ein großes Volk solche Schmach gehäuft.

For the present, I must say, France looks more and more delirious, miserable, blameable, pitiable and even contemptible. She refuses to see the facts that are lying palpable before her face, and the penalties she has brought upon herself A France scattered into anarchic ruin, without recognizable head; head or chief indistinguishable from feet or rabble; ministers flying up in balloons ballasted with nothing but outrageous public lies, proclamations of victories that were creatures of the fancy; a government subsisting altogether on mendacity, willing that horrid bloodshed should continue and increase rather than that they, beautiful Republican creatures, should cease to have the guidance of it: I know not when or where was seen a nation so covering itself with dishonour. [...] To me, at times, the mournfullest symptom in France is the figure its «men of genius», its highest literary speakers, who



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should be prophets and seers to it, make back have been making. It is evidently their belief that new celestial wisdom is radiating out of France upon all the other overshadowed nations; that France is the new Mount Zion of the universe, [...].Bismarck wird vom Elsaß und von Lothringen soviel nehmen, wie ihm beliebt. Das wird gut für ihn, für uns, für die ganze Welt und am Ende auch gut für Frankreich sein.

I believe Bismarck will get his Alsace and what he wants of Lorraine; and likewise that it will do him and us and all the world, and even France itself by and by, a great deal of good. Anarchic France gets her first stern lesson there - a terribly drastic dose of physic to sick France! and well will it be for her if she can learn her lesson honestly.

Das große, ernstlich besonnene Planen dieses im höchsten Sinne fähigen Staatsmannes strebt ruhig einem Zweck zu: der Wohlfahrt Deutschlands. Die ist vereinbar mit dem friedlichen Glück aller Länder. Das deutsche Volk ist ernsthaft, hat ein großes Herz und den Willen zum Frieden und zur Geisteshelle; wenn es seine Einheit gestaltet und auf dem Platz, wo bisher das leichtsinnige, reizbare, ehrgeizige, streitsüchtige Frankreich herrschte, Germania des Festlandes Königin wird, sehen wir Ereignis werden, was die Hoffnung, den Wunsch einer Welt erfüllt.

Bismarck [...] in fact seems to me to be striving with strong faculty, by patient, grand and successful steps, towards an object beneficial to Germans and to all other men. That noble, patient, deep, pious and solid Germany should be at length welded into a Nation, and become Queen of the Continent, instead of vapouring, vainglorious, gesticulating, quarrelsome, restless and oversensitive France, seems to me the hopefullest public fact that has occurred in my time.

Eine vollständige Übersetzung von Carlyles Brief wurde während des Krieges von Konrad Rieger (1855-1939 dem Würzburger Professor für Psychiatrie, vorgenommen. Sie erschien in den «Süddeutschen Monatsheften» vom Januar 1915 (12. Jg. Nr. 4). In ihrem Wortlaut weicht sie allerdings völlig von der von Rudolf Steiner verwendeten Übersetzung ab.

Zum Hintergrund dieses Briefes von Carlyle schrieb der Kulturphilosoph und Schriftsteller Egon Friedell (1878-1938) in seinem Essay «Carlyle und Deutschland», der ami. Mai1915 in der «Österreichischen Rundschau» (Band XLIII, Heft 3) erschien: «Bis in seine letzte Lebzeit ist Carlyle der Bewunderer und Verteidiger Deutschlands geblieben. Im Siebzigerkriege waren anfangs die Sympathien der Engländer auf der Seite der Deutschen gewesen, als aber die Franzosen Niederlage auf Niederlage erlitten und die Annexion Elsaß-Lothringens zu einer Gewißheit wurde, da erhoben sich immer mehr Stimmen, die für ein Eingreifen Englands zugunsten der Besiegten plädierten. Daraufhin schrieb Carlyle am 18. November 1870 an die <Times>den <Letter of the Franco-German Wary, in dem er seinen Landsleuten den wahren historischen Sachverhalt darlegte: daß die Deutschen nur zurückgenommen hätten, was ihnen einst durch hinterlistigen Überfall geraubt worden war und daß



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das <edle, fromme, geduldige und solide Deutschland>nicht nur die Macht, sondern auch das göttliche Recht bewiesen habe, an Stelle des <windigen, ruhmgierigen, gestikulierenden, streitsüchtigen Frankreichs die Königin des Kontinents zu werden. Dieser Bri ef machte in ganz England den tiefsten Eindruck und hatte einen völligen Umschwung in der öffentlichen Stimmung zur Folge. »

Diese bejahende Deutung der Reichsgründung, wie sie sich bei Carlyle findet, wurde selbst noch in den Jahren vor Kriegsausbruch von englischen Historikern vertreten. So zum Beispiel von John Holland Rose (1855-1942, siehe Hinweis zu 5. 260 in GA 173b), der in seinem Vortrag über «Die politische Geschichte» Deutschlands im Hinblick auf die deutsche Einigung meinte (zitiert nach: Charles Harold Herford, Deutschland im neunzehnten Jahrhundert, Berlin 1913): «Es läßt sich also, um alles zusammenzufassen, zeigen, daß die Gründung des Deutschen Reiches ein Gewinn für Europa gewesen ist und deshalb auch für Großbritannien. Denn die Ereignisse der Jahre 1866 bis 1871 machten ein für allemal der Möglichkeit, Raubkriege gegen die bis dahin unbeschützte Mitte von Europa zu unternehmen, ein Ende und beseitigten damit eine Lockung zum Kriege, welche in früheren Jahrhunderten Frankreich so oft auf falsche Bahnen gelockt hatte; sie setzten das deutsche Volk instand, seine bis dahin verkümmerten politischen Fähigkeiten zu entwickeln, und sie halfen dazu, auf sicherer Grundlage ein neues europäisches System zu errichten, welches vierzig Jahre lang den Frieden erhalten hat.»

222 wie Deutschland ihn in den letzten vierhundert Jahren an Frankreich gehabt hat. Siehe Hinweis zu 5. 215.

225 Man könnte nun allerdings fragen. Die folgenden Sätze scheinen durcheinandergeraten zu sein und wurden in die richtige logische Reihenfolge gebracht.

225 [Und in der gleichen «Times» konnte man] in einem Leitartikel vom Dezember 1870. Die Sätze des folgenden Zitats gehören nicht zu Carlyles Brief, sondern sie stammen aus einem Leitartikel der Londoner «Times», der am 8. Dezember 1870 erschien - zu einem Zeitpunkt, als die Einigung Deutschlands bereits eine beschlossene Sache war (siehe Hinweis zu 5. 216 in GA 173b). Wie schon im Falle von Carlyles offenem Brief (siehe Hinweis zu 5. 222) beruht das bisherige Zitat auf einem willkürlichen, allzu freien Umgang mit der zugrundeliegenden Quelle. Der im Vortrag wiedergegebene Text ist eine Übersetzung des Herausgebers aufgrund des englischen Originalwortlautes. Dieser wird in der rechten Spalte wiedergegeben, der in den bisherigen Ausgaben verwendete deutsche Text in der linken Spalte:

Die Entstehung des starken Deutschen Reiches schafft eine neue Lage. Wenn vorher die Militärstaaten Frankreich und Rußland sich verbündet hätten, so hätten sie das zersplitterte Deutschland, das zwischen ihnen lag, vernichten können. Jetzt erst wird ihre Willkür durch eine feste Schranke gehemmt. Die kräftige Zentralmacht, die alle englischen Staatsmänner ersehnten, tritt nun aus dem Bereich des Gedankens in die Wirklichkeit...

There will be a powerful united Germany, presided over by a family which represents not only its interests but its military fame. On the one side will be Russia, strong and watchful as ever; but on the other side will be France, which, whether patient under her reveries or burning for revenge, will be for a time incapable of playing that great part in Europe which belonged to her even under the feebleness of the Restoration. Thus, whereas we had formerly two strong centralized military Empires, with a distracted, unready nation



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vacat between them, which might be ground to powder whenever the two closed to crush it, there is now a firm barrier erected in Central Europe, and the fabric is correspondingly strengthened. In this the policy of past generations of English statesmen is fulfilled. They all desired the creation of a strong Central Power, and laboured for it in peace and war, by negotiations and alliances, now with the Empire, now with the new State which had arisen in the North. But their hopes were not to be realized. f...]Now the nation is represented and led by its Princes; but it lives and thin/es and acts for itself, and not only is the Empire possible, but its primary state under its new constitution will probably be but the transition to a more centralized and powerful organization. From a race but dimly conscious of unity and common interests the Germans have been transformed into what they are by suffering and deliverance. In spite of the anomalies which still remain in their political constitution, and the still clumsy Confederation they are obliged to tolerate, they are henceforth one nation, with an unity as perfect in peace as in war.

225 wer die «Times» heute liest: Am 18. November 1914 erschien in der Londoner «Times» unter dem Titel «A Famous Letter to <The Times>» ein Artikel, in dem an den Brief von Carlyle (siehe Hinweis zu S. 222) vor 44 Jahren erinnert wurde. Es ist anzunehmen, daß Rudolf Steiner durch den Aufsatz von Konrad Rieger «Die Times am 18. November 1870 und am 18. November 1914» von diesem Artikel Kenntnis hatte; Riegers Beitrag war in der Juli-Nummer der «Süddeutschen Monatshefte» von 1916 (13. Jg. Nr. 10) erschienen.Im «Times»-Artikel von 1914 wurde die Meinung vertreten, alles Kritische, was Carlyle über Frankreich gesagt habe, gelte jetzt für Deutschland, und umgekehrt: «Andern Sie nur ein Wort, und Sie haben da, kraftvoll und in aller Gerechtigkeit ausgedrückt, die Meinung, die sich die Welt seit 1870 gezwungen war zu bilden - nicht von der französischen, sondern von der deutschen <Kulturen und ihren Schöpfern und Trägern.»' Und: «Vertauschen Sie die beiden Länder, und die gegenwärtige Situation kann kaum zutreffender charakterisiert werden.» 2 Deshalb sei es klar:



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(zitiert nach der Übersetzung Riegers): «Niemand bestreitet, daß das Deutschland des Ideals von Carlyle auch heute noch existiert. Es lebt, aber es lebt in Ketten, gefesselt in den Dienst von Militarismus und Bürokratie. Carlyle dachte noch nicht an diesen Unterschied. Aber uns ist er jetzt klar: das Deutschland der Kultur einerseits und die Brutalität der waffenstarrenden preußischen Arroganz andererseits. Die Kultur ist geworden die Magd der Brutalität, ihre geduldige Sklavin, ihr gefälliger Deckmantel. Es war die charakteristische Tragödie der deutschen Wissenschaft während des letzten halben Jahrhunderts, daß sie begünstigt und geschürt hat alle Parvenu-Passionen und Ideen des Größenwahns in dem deutschen Volk, daß die deutsche Wissenschaft gelobt und gebilligt hat sogar die Politik, welche aus Berlin ein Zentrum von Unruhe und Mißtrauen für die ganze Welt gemacht hat, und daß die deutsche Wissenschaft niemals eine warnende Stimme erhoben hat gegen die Exzesse der Potsdamer Angriffslust. In einem Volk, das ganz besonders veranlagt wäre für das Ideale, haben gerade die Professoren und Studenten, die Historiker und Philosophen am meisten in das Volk gebracht die Doktrin der Gewalt, welche jetzt gekommen ist zu ihrem unvermeidlichen und unseligen Schluß. »1

226 so wie ich es gestern abgegeben habe über Sir Edward Grey: Im Vortrag vom 17. Dezember 1916 (in diesem Band).

226 von einem Mann, der Engländer ist, der auch Sir Edward Grey aus der Nähe kennt: Diesen Hinweis entnahm Rudolf Steiner dem Buch von Hans Helmolt «Die geheime Vorgeschichte des Weltkrieges» (Leipzig 1914), der sich auch zur Person von «Sir Edward Grey» (Kapitel «Die innere Entwicklungsgeschichte des Dreiverbandes») geäussert hatte. Dieser stützte sich dabei auf den Text im «Berliner Lokal-Anzeiger» vom 21. Oktober 1914, wie er von Eberhard Buchner in «Kriegsdokumente» veröffentlicht wurde. Der Weltkrieg 1914/1915 in der Darstellung der zeitgenössischen Presse» (Vierter Band, «Von der Eroberung Antwerpens bis zum Fall Tsingtaus», München 1915, Dokument Nr. 104a) wieder abgedruckt worden war. Einleitend heißt es dort: «Zur Kennzeichnung des Mannes, der vor der Geschichte mit in erster Reihe die ungeheure Verantwortung für die verbrecherischen Anstiftung dieses Krieges zu tragen hat, kann ein Brief dienen, in dem sich während der Tage der Londoner Botschafterkonferenz ein hervorragender englischer Politiker folgendermaßen äußert: [...].» Es folgt das von Rudolf Steiner vorgelesene Zitat; bei Helmolt fehlt allerdings der letzte Abschnitte, und statt von «Tickies», den Nickelmünzen aus Südafrika, ist bloß von «Nickeln» die Rede. Wer genau dieser «hervorragende englische Politiker» war und um was für einen Brief es sich handelte, wird weder bei Helmolt noch bei Buchner weiter ausgeführt. Die Londoner Botschafterkonferenz fand zwischen dem 16. Dezember 1912 und dem 30. Mai 1913 statt und war im Zusammenhang mit



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dem Ersten Balkankrieg für die Aushandlung der Friedensbedingungen einberufen worden (siehe Hinweis zu S. 262 in GA 173b).

226 Rosebery sagte einmal von ihm: Siehe Hinweis zu 5. 134.

227 Bei W. C. (Winston Churchill): Der vor allem im Zweiten Weltkrieg berühmt gewordene britische Premierminister Sir Winston Leonard Spencer Churchill (1874 —1 965) gehörte als Sprößling der Marlborough-Familie dem alten englischen Hochadel an. 1895 verzichtete er aber auf den Adelstitel, da er sich als Politiker im Unterhaus betätigten wollte. Aufgrund seiner Abstammung verfügte Churchill über ein weites Beziehungsnetz zu einflußreichen gesellschaftlichen Machtträgern. Befreundet mit dem aufstrebenden liberalen Politiker David Lloyd George (siehe Hinweis zu 5. 258), war er 1904 der Liberalen Partei beigetreten und bekleidete in der ersten Phase seiner politischen Karriere eine Reihe von Ministerämtern: Zunächst stellvertretender Kolonialminister (1905 bis 1908), wurde er Handelsminister (1908 bis 1909), dann Innenminister (1909 bis 1911), Marineminister (1911 bis 1915), Rüstungsminister (1917 bis 1918) und schließlich Heeres- und Luftfahrtsminister (1918 bis 1921). In seinen Erinnerungen unter dem Titel «Meine Demission» (Berlin 1929) bezeichnete Lord Morley (siehe Hinweis zu 5. 124 in GA 173b) Churchill als zu jener Gruppe von Ministern gehörig, die auf einen Krieg hinarbeiteten. So bemerkte er im Zusammenhang mit den Friedensbestrebungen einzelner Minister (II. Kapitel): «Das führte zu einer Gegenbewegung, die ganz offen von Winston [Churchill] mit seiner besten dämonischen Energie, mit tapferer Einfachheit von [Sir Edward] Grey und <sourdement> [im geheimen] vom Lordkanzler betrieben wurde - der Premierminister sah zu und wartete ab. » Premierminister war zu diesem Zeitpunkt Herbert Henry Asquith (siehe Hinweis zu 5. 206); das Amt des Lordkanzlers bekleidete Richard Burdon Sanderson Haldane, Viscount Haldane (1856-1928). Dieser war von 1905 bis 1912 Kriegsminister und von 1912 bis 1915 und 1924 Lordkanzler («Lord Chancellor»). Das Amt des Lordkanzlers ist eines der alten Staatsämter, die von den «Great Officers of State», den höchsten Staatsbeamten des Vereinigten Königreichs, geführt wurden und sich durch die Vermischung von judikativen mit exekutiven und legislativen Funktionen kennzeichnen.

227 ein paar Tickies: Nickelmünzen aus Südafrika.

228 was zuletzt zu den Ereignissen von 1914 geführt hat, hat sich schon lange vorbereitet: Siehe Hinweis zu S.236.

228 eine Art «gemeinsames Einverständnis» des sogenannten Dreiverbandes: Siehe Hinweis zu 5. 173.

228 aus einer Rede, die im Oktober 1905 in Frankreich gehalten worden ist: Auf diese Äußerung von Jaurès aus dem Jahre 1905 wurde Rudolf Steiner durch das bereits erwähnte Buch von Hans Helmolt «Die geheime Vorgeschichte des Weltkrieges» (München 1914) aufmerksam. In dem mit «Die Saat Lansdownes und Delcassés» betitelten Abschnitt (Kapitel «Die innere Entwicklungsgeschichte des Dreiverbandes») erwähnt Helmolt eine Rede von Jaurès, die dieser am 8. Oktober 1905 in Limoges gehalten hatte, und zitiert Ausschnitte davon in deutscher Übersetzung. Diese Rede erschien am 11. Oktober 1905 in der Zeitung «L'Humanité» (2 Jg. Nr. 542) unter der Überschrift «Discours du citoyen Jaurès».' Allerdings ist das Zitat bei Helmolt nicht ganz vollständig wiedergegeben.



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Wenn auch Jaurès die britische Politik als gefährlich betrachtete, so sah er auch im Verhalten Deutschlands, in der Blindheit und Arroganz seiner Diplomatie, eine weitere Ursache für die gefährliche Entwicklung (gleiche Quelle): «Verstehen Sie mich recht, ich sage nicht, daß die deutsche Diplomatie nicht ihren Teil Verantwortung an diesen Ereignissen gehabt hätte. Sie war zuerst leichtsinnig und dann arrogant und voreilig. Lange war sie blind, lange ist sie der Geheimpolitik von M. Delcassé nicht auf die Spur gekommen. Dann tut sie so, als ob sie ihr keine Bedeutung zumessen würde, um dann, wenn sie die Gefahr [endlich]durchschaut hat - anstatt Frankreich auf höfliche Art um die nötigen Erklärungen zu bitten -, mit einem Schlag aus heiterem Himmel brutal vorzugehen, indem sie die aufsehenerregende und drohende Reise des deutschen Kaisers nach Tanger veranlaßte [siehe Hinweis zu 5. 229], die in der Tat den Konflikt noch verschlimmerte.»'

Jean Jaurès (1859-1914) war der bedeutendste Sozialistenführer Frankreichs. J aures, aus bescheidenden bürgerlichen Verhältnissen stammend, erwies sich als ein sehr begabter Schüler und brillanter Student. Einen ersten Abschluß, in Philosophie, machte er 1881. Von 1883 an wirkte er als Philosophiedozent in Toulouse. Diese Tätigkeit unterbrach er 1885, weil er sich entschloß, in die Politik einzusteigen. Dieser Entschluß war von Erfolg gekrönt: Er wurde als Abgeordneter für die Deputiertenkammer gewählt und setzte sich auf seiten der gemäßigten Republikaner für die Durchführung von Sozialreformen ein. 1889 schaffte Jaurès die Wiederwahl nicht mehr, und er wirkte erneut als Dozent in Toulouse. 1892 promovierte er mit einer Arbeit über die Wurzeln des deutschen Sozialismus. Jaurès entwickelte sich immer mehr zum überzeugten Sozialisten, der seine Meinung in verschiedenen Organen publizistisch äußerst wirkungsvoll zur Geltung brachte. Nachdem er den Streik in den Minen von Carmaux aktiv unterstützt hatte, wurde er 1893 erneut zum Abgeordneten gewählt. Wegen seines Einsatzes für Dreyfus (siehe Hinweis zu 5. 49) erlitt er 1898 seine zweite Wahlniederlage. 1902 wurde er



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zum dritten Mal Abgeordneter -dieses Amt sollte er bis zu seinem Tode behalten, das heißt er wurde fortan regelmäßig wiedergewählt. Jaurès beherrschte mit seinem herausragenden Rednertalent die politischen Debatten. Zur Unterstützung seiner politischen Wirksamkeit gründet er 1904 die Tageszeitung «L'Humanité». Die Sozialisten in Frankreich waren zunächst gespalten; Jaurès als Führer der «Parti Socialiste Français», dem Zusammenschluß der unabhängigen Sozialisten, zählte sich zur pragmatisch-reformistischen Richtung, die eine Beteiligung von sozialistischen Ministern in bürgerlichen Kabinetten befürwortete. Die Einheit des französischen Sozialismus lag Jaurès trotz aller ideologischen Unterschiede am Herzen, so daß er dem Zusammenschluß mit dem doktrinären marxistischen Flügel unter Jules Guesde, der «Parti Socialiste de France», zustimmte: 1905 schlossen sich die französischen Sozialisten zur «Section Française de l'Internationale Ouvrière» (SF10) zusammen. Bis zu seinem Tode blieb Jaurès aber die dominierende sozialistische Persönlichkeit in Frankreich. Seine politische Tätigkeit erstreckte sich zunehmend über den nationalen Rahmen hinaus, entfaltete er doch angesichts der immer wieder drohenden Kriegsgefahr in Europa eine intensive pazifistische Tätigkeit (siehe Hinweis zu 5. 228).

228 weil ich über Jaurès vor einigen Wochen einiges von ganz anderer Seite her gesagt habe: Bereits am 29. Oktober 1916 sprach Rudolf Steiner in einem Dornacher Mitgliedervortrag (in GA 171) ausführlich über die bedeutende Persönlichkeit von Jean J aures. So charakterisierte er ihn wegen seiner materialistischen Grundgesinnung durchaus als Kind seiner Zeit. Er sei zwar für vieles offen gewesen, habe aber im Grunde für sich nicht wirklich befriedigende Antworten finden können. Die Bedeutung von Jaurès lag vor allem in seiner Persönlichkeit und ihrer menschlichen Ausstrahlung. Die «Berner Tagwacht» schreibt in ihrer Ausgabe vom 3. August 1914 (XXII. Jg. Nr. 178) im Nachruf unter dem Titel «An der Bahre von Jaurès»: «Und in dieser Persönlichkeit überragte der Mensch alles andere. So groß der Genius, der die markige Figur beherrschte, so glänzend, fortreißend und zwingend das oratorische Talent, so umfassend und tief das Wissen -über all diesen wunderbaren, reichen Gaben stand der Mensch, der Charakter, die unbegrenzte Wahrheitsliebe, die unendliche Güte, die das Geheimnis seiner unwiderstehlich bezaubernden Einwirkung entschleiern. Der Mensch Jaurès war es, der ihn vom Professorenstuhl und aus seinem aristokratischen Milieu heraus zur Arbeiterklasse führte, der Mensch Jaurès war es, der ihn leichten Herzens verzichten ließ auf einen glänzenden ruhmreichen Weg äußerer Ehren. Ihm galt mehr als das, wonach andere geizen, der schlichte Mann im Arbeitskittel, das bleiche, abgehärmte Proletarierweib. In die Dienste der Arbeiterschaft stellte er seine Arbeitskraft von so unerhörter Ausdauer, ihr galt sein ganzes Streben. »

228 sondern dem es auch darum zu tun war, diejenigen Menschen zusammenzurufen: Jaurès setzte sich in den Jahren vor 1914 als überzeugter Pazifist mit all seinen Kräften für den Erhalt des Friedens in Europa ein. So war er maßgeblich am Zustandekommen des Friedenskongresses der Sozialistischen Internationale beteiligt, der vom 24. bis 25. November 1912 in Basel stattfand. Dieser «außerordentliche internationale Sozialistenkongreß» stand unter dem Thema «Die internationale Lage und die Verständigung in bezug auf den Krieg». Am ersten Kongreßtag hielt J aures im Basler Münster eine große Friedensrede. Die «Basler Nachrichten» vom 25. November 1912 berichteten (68. Jg. Nr. 321, «Internationaler Sozialistenkongreß in Basel»): «Und nun folgte das brillante Feuerwerk, die Rede von Jaurès, der in seinem prachtvollen Französisch als der vollendete <orateur> die Versammlung elektrisierte. Lebhafter ist wohl noch nie auf der Münsterkanzel gestikuliert worden.



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Als eine wichtige Voraussetzung für den Erhalt des Friedens in Europa betrachtete Jaurès die Versöhnung zwischen Frankreich und Deutschland. So beteiligte er sich auch an der «Deutsch-Französischen Interparlamentarischen Konferenz» in Bern, die am 11. Mai 1913 in der Aula der Universität auf Einladung des schweizerischen Nationalrats stattfand, die sogenannte «Berner Verständigungskonferenz» oder «Pfingstkonferenz», wo sich französische und deutsche Parlamentarier zu gemeinsamen Beratungen über die Verständigung zwischen den beiden Länder trafen. Vom 29. bis 30. Juli 1914 fand eine Sitzung des Internationalen Sozialistischen Büros in Brüssel statt, an der auch Jaurès teilnahm und wo sich bereits die Ohnmacht der Sozialistischen Internationale zeigte, den drohenden Krieg zu verhindern. Am ersten Tag seines Aufenthaltes, also zwei Tage vor seinem Tode, erklärte Jaurès vor den Brüsseler Arbeitern im Cirque Royal (zitiert nach: «Berner Tagwacht» vom 3. August 1914, XXII. Jg. Nr. 178, «An der Bahre von Jaurès»): «Wenn ich zwei Liebende auf der Straße sehe, so erblicke ich drohend die Todesgefahr hinter ihnen. Wenn ich ein lachendes Kind auf blumiger Wiese schaue, so vermag ich den Gedanke an den Tod, der es umgibt, nicht zu bannen. Diese Todesgefahr aber ist der Ausfluß des Rüstungswahnsinns, der heute alle Kultur, alles Menschenwerk, alles Leben zu vernichten droht. » Wenn auch Jaurès eigentlich Pazifist war, so befürwortete er doch nicht die Abschaffung der Armee. Allerdings sah er ihre Aufgabe rein in der nationalen Selbstverteidigung. So lehnte er die Wiedereinführung der dreijährigen Dienstpflicht in Frankreich grundsätzlich ab und veranstaltete am 25. Mai 1913 eine Großkundgebung dagegen. Es gelang ihm allerdings nicht, diesen Plan zu verhindern.

229 Die deutsche Industrie und der deutsche Handel bedrohen alle Tage mehr und mehr. Siehe Hinweis zu 5. 38.

229 als Marokkos wegen Schwierigkeiten zwischen Frankreich und Deutschland ausbrachen. Nachdem sich Frankreich am 8. April 1904 mit Großbritannien und am 3. Oktober 1904 mit Spanien über das weitere Schicksal Marokkos verständigt hatte - dabei sollte Frankreich grundsätzlich die Oberhoheit in Marokko zufallen, mit Ausnahme eines Küstenstreifens an der Mittelmeerküste zugunsten von Spanien - erachtete Frankreich das internationale Marokko-Abkommen von 1880 als hinfällig und begann mit der «friedlichen Durchdringung» Marokkos, unter Mißachtung



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In der Folge schlug der deutsche Reichskanzler -entsprechend dem internationalen Marokko-Abkommen - die Einberufung einer internationalen Konferenz vor. Der französische Außenminister Théophile Delcassé (siehe Hinweis zu 5. 221) nahm entschieden Stellung gegen den deutschen Konferenzvorschlag. Aber da sich Deutschland entschlossen zeigte, im äußersten Falle den Sultan von Marokko mit Waffengewalt gegen französische Truppen zu unterstützen, verlor Delcassé die Unterstützung seiner Kabinettskollegen und mußte am 6. Juni 1905 zurücktreten (siehe Hinweis zu 5. 230). In der ganzen Zeit der Marokko-Krise fanden Geheimkontakte zwischen Frankreich und Großbritannien statt, die eine mögliche militärische Zusammenarbeit zwischen den beiden Ländern im Falle eines deutschen Angriffs auf Frankreich zum Thema hatte. Nach langen diplomatischen Verhandlungen - vor allem zwischen Frankreich und Deutschland -wurde schließlich am 16. Januar 1906 im spanischen Algeciras die angestrebte internationale Konferenz über Marokko eröffnet, an der all jene Staaten teilnahmen, die die alte Marokko-Konvention von 1880 unterschrieben hatten.

Die Konferenz von Algeciras endete am 7. April 1906 mit der Unterzeichnung der Schlußakte. Sie zeigte, daß Deutschland nur auf die Unterstützung Österreich-Ungarns zählen konnte und sonst weitgehend isoliert war. Zwar wurden im Grundsatz die Unabhängigkeit Marokkos und die wirtschaftliche Gleichberechtigung aller Staaten anerkannt, aber Frankreich und Spanien, unterstützt von Großbritannien, Rußland und Italien, wurden auf polizeilichem und finanziellem Gebiet doch wichtige Kontrollfunktionen eingeräumt. Das Ergebnis der Konferenz von Algeciras wurde in Deutschland als niederschmetternd empfunden. Auch wenn die erste Marokko-Krise auf friedlichem Wege hatte beendet werden können, schien sich doch die Befürchtung Deutschlands vor einer Einkreisung zu bestätigen (siehe Hinweis zu 5. 220). Die Gefahr eines gemeinsamen russisch-französisch-englischen Vorgehens gegen das Deutsche Reich war als mögliches Szenario nicht mehr von der Hand zu weisen.

Wie wenig aufrichtig die Politik der beteiligten Mächte damals war, schildert der britische Journalist Edmund Dene Morel (siehe Hinweis zu 5. 175 in GA 173b) in seinem Buch «Ten Years of Secret Diplomacy» (London 1912). Auf diese Schrift nimmt Samuel Zurlinden in seinem Werk «Der Weltkrieg. Vorläufige Orientierung von einem schweizerischen Standpunkt aus» (Erster Band, Zürich 1917) Bezug. Zurlinden über die Gründe, warum Morel die Politik der beteiligten Mächte im Zusammenhang mit Marokko als unehrlich bezeichnet habe (Viertes Kapitel, «Die geheime Diplomatie»): «Unter dem Einfluß des französischen Ministers des Auswärtigen, Delcassé, welcher die Schlappe von Faschoda [siehe Hinweis zu 5. 136] gutmachen wollte, wird 1901 Italien, gegen freie Hand in Tripolis [siehe Hinweis zu 5. 262 in GA 173b], insgeheim für die Eroberung Marokkos durch Frankreich gewonnen; 1902 verhandelt derselbe Minister ebenso heimlich mit Spanien über eine Aufteilung des Landes, doch wird diese von England hintertrieben. Erst als sich 1904 England mit Frankreich über Ägypten und alle andern Streitpunkte einigte, gab es seine Zustimmung zu diesen geheimen Plänen. Und nun geschah das Unerhörte: Während die englische, französische und spanische Diplomatie fortfuhr, sich durch



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öffentliche Verträge, angesichts Europas, für die Integrität und Unabhängigkeit Marokkos zu verbürgen, war bereits dasselbe Land durch geheime Verträge mit Zustimmung Englands zwischen Frankreich und Spanien aufgeteilt! Morel bezeichnet diese Politik als <dishonesty>. »

230 Vor allem wußte Jaurès Dinge, von denen diejenigen nichts wissen: Jaurès verfügte offensichtlich über verschiedene Hintergrundinformationen (siehe Hinweis zu S. 141). Es scheint, daß er bestrebt war, um den Ausbruch eines Weltkriegs doch noch zu verhindern, das ihm zur Kenntnis gekommene belastende Material auf den Tisch zu legen. Charles Rappoport (siehe Hinweise zu S. 141) schrieb dazu in der «Berner Tagwacht» vom 31. Juli 1915 (XXIII. Jg. Nr. 176) unter dem Titel «Was hätte Jaurès getan?»: «Jaurès hatte, als er die Kammer zum letzten Mal verließ, die Absicht, am folgenden Tage in der <Humanité> eine Art von <J'accuse> zu schreiben über alle Ursachen und Verantwortlichkeiten der Krise. Diese Absicht wurde in reaktionären Kreisen bekannt. Als Jaurès von dem Staatssekretär im Ministerium Viviani, von Abel Ferry [188 1-1918], gefragt wurde, was die Sozialisten angesichts der Sachlage tun werden, antwortete ihm Jaurès: <Unsere Kampagne gegen den Krieg fortführen!> Und Abel Ferry bemerkte: <Das werden Sie nicht wagen, man würde Sie ja an der nächsten Straßenecke umbringen!>» Und dieser Schilderung fügte Rappoport bei: «Natürlich werden die Chauvinisten und Sozialpatrioten in den Ländern der Zentralmächte diese Äußerungen, für die ich einstehe, zu ihren Zwecken zu miß brauchen versuchen. Aber sie irren, wenn sie glauben, in den letzten Worten von Jaurès eine Rechtfertigung für ihren Krieg zu finden. Jaurès war gegen jeden Krieg, und was er für das Verhalten des Sozialismus in seinem Lande voraussetzt, das setzte er auch voraus für den Sozialismus in jedem andern Lande. » Diese Unterhaltung zwischen Jaurès und Ferry wird auch von Jacques Prolo in seiner Schrift über die Ermordung von Jean Jaurès, «Une politique ... un crime Le meurtre de Jean Jaurès» (Paris 1915) erwähnt (VI. Kapitel, «La crise supreme»). Bei der Schrift von Prolo, dessen eigentlicher Name Jean Pausader lautet, handelt sich allerdings um eine gegen Jaurès gerichtete polemische Broschüre, die aber nach außen den Anschein von Objektivität zu wahren versucht. Jaurès stand nicht auf der Seite der Befürworter eines bedingungslosen französisch-russischen Zusammengehens. Angesichts der drohenden Kriegsgefahr soll er die Meinung vertreten haben (zitiert nach: Jacques Prolo, VI. Kapitel, veröffentlicht in der «Humanité» vom 1. August 1914): «Es genügt nicht, das Gespräch mit Rußland unentschlossen weiterzuführen. Es ist nötig, eine bestimmte, energische Sprache zu reden.... Wenn dieser Druck nicht energisch und kräftig genug ausgeübt wird, dann geschieht etwas, was nicht mehr rückgängig gemacht werden kann, und darin liegt die schreckliche Verantwortung der Regierung. Es wird sich - leider! offenbaren, daß unser Land, anstatt laut zu sprechen, um sein Interesse zu verteidigen, bloß ein Vasall Rußlands ist, das in selbstsüchtiger Weis versucht, [Frankreich] von seinem Weg abzubringen. »1Jaurès wurde dann am 31. Juli 1914 in Paris im «Café du Croissant» von dem nationalistisch gesinnten Raoul Villain (1885-1936) beim Abendessen erschossen. Der akademisch gebildete, aber psychisch auffällige Täter konnte noch am Tatort verhaftet werden. Uber sein Motiv sagte Villain (zitiert nach: Arthur Dieseldorff,



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Herausgeber, Jean Jaurès. Seine Ermordung vor dem Schwurgericht in Paris, Ludwigsburg 1922, II. «Verhör und Tatzeugen»): «Als am 31. Juli die Mobilmachung angeschlagen wurde, dachte ich daran, daß Jaurès mit einem Kriegsstreik gedroht hatte. Ich sah ihn beim Abendessen im <Café du Croissants, zog den Fenstervorhang beiseite und schoß auf ihn unter unwiderstehlichem Zwange. Mein letzter Gedanke war, daß er als Feind Frankreichs schnell beseitigt werden mußte. » Auch wenn Villain als Täter überführt war, wurde ihm erst 1919, nach dem Ende des Weltkrieges, der Prozeß gemacht. Aufgrund seiner psychischen Verfassung wurde er freigesprochen und begab sich anschließend nach Ibiza, wo er schließlich im Jahre 1936 einen gewaltsamen Tod erlitt -angeblich wegen Spionage zugunsten der unter Führung von Francisco Franco stehenden aufständischen Nationalisten. Zum Motiv von Raoul Villain, der vorgab, als Einzeltäter gehandelt zu haben, schrieb die «Berner Tagwacht» vom 3. August 1914 (XXII. Jg. Nr. 178) in ihrem Nachruf für Jaurès: «Der Mörder gestand es noch am gleichen Abend: er habe den Mord begangen, weil Jaurès das Gesetz über die dreijährige Dienstzeit bekämpfte und dieser <Verrat an Frankreichs Sühne erheische. » Und in der Anklageschrift von Raoul Villain hieß es gemäß Prozeßbericht bereits (gleiche Quelle, II. «Verhör und Tatzeugen»): «Villain hatte keine Teilnehmer; er war weder Mitglied politischer Vereine noch kannte er deren Führer. [...] Villain bekennt, den Mord allein geplant und ausgeführt zu haben. »

Der Mord an Jaurès war äußerst folgenreich für den Erhalt des Friedens in Europa. So die «Berner Tagwacht» in ihrem Nachruf für Jaurès: «Wenn jemand mit starker Hand die Geschicke Frankreichs, die in diesem Augenblicke die Geschicke des alten Europas sind, noch hätte zum Guten lenken können, so Jaurès, den heute ausnahmslos Freund und Feind beweint. So wie es seinem Einflusse, seiner Vernunft, seiner Überlegung zu danken war, daß die Marokkokrise [siehe Hinweis zu 5.229], die hart am Weltbrand vorbeiführte, friedlich gelöst werden konnte, so hätte er wohl auch in diesem schicksalsschweren Momente die französische Regierung so zu bestimmen gewußt, das sie das schmachvolle Band der Solidarität mit dem Henkerzaren zerschnitten und dadurch wenigstens Westeuropa vor der scheußlichsten Schlächterei, die sich denken läßt, bewahrt hätte. » Und der Redakteur Emil Daniels bemerkte in einer Besprechung der «Englischen und französischen Kriegsliteratur», insbesondere auch von Prolos Schrift, in bezug auf die Haltung der französischen Sozialisten nach der Ermordung von Jaurès («Preußische Jahrbücher», Band 164, Heft 1, April 1916): «Für sie ist Jaurès ein Märtyrer, der noch gerächt werden muß; weniger an dem Mörder, der vielleicht wirklich wahnsinnig ist, als an seinen Anstiftern von der <Action française>. Obwohl niemand zu sagen imstande ist, wie Jaurès gehandelt haben würde, wenn er die Nacht vom 31. Juli zum 1. August überlebt hätte, sind die französischen Sozialisten überzeugt, daß die distinguierte Persönlichkeit ihres Parteioberhauptes ein schweres Gewicht in die Waagschale des Friedens geworfen haben würde. » Im Prozeß gegen Villain erklärte ein gewisser Polizeikommissar Gaubert als Zeuge (gleiche Quelle, II. «Verhör und Tatzeugen»):: «Ich fragte ihn, ob er ein <Camelot du roi< [militantes Mitglied der «Action française»] sei? Er antwortete: <Nein, laßt mich in Ruhe, ich werde nichts mehr sagen.>» Und ein anderer Zeuge, ein gewisser Monieur Bardelle, erklärte: «Er war ein eifriger Leser der <Action française>. »

Wer als Drahtzieher an der Ermordung von Jaurès beteiligt war, ist bis heute nicht wirklich geklärt. Es ist anzunehmen, daß der Mörder Raoul Villain nur scheinbar als Einzeltäter gehandelt hatte, zumal Jaurès ja immer wieder mit Morddrohungen konfrontiert worden war. So hatte der aus belgischem Adel stammende und seit 1896 in Paris lebende Journalist und Direktor der Boulevardmedien «Paris-Midi»



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und «Le journal», Maurice de Waleffe (1874-1946), der sich bereits für die Ermordung Franz Ferdinands stark gemacht hatte (siehe Hinweis zu S. 237), zur Liquidation von Jaurès aufgerufen. So bot er am 17. Juli 1914 in einem Artikel im «Paris-Midi» sogar seine Mithilfe bei der Tötung von Jaurès an: «Sagt mir - am Vorabend eines Krieges, wenn ein General, Kommandant einer Abteilung von vier Männern mit einem Korporal, den Bürger Jaurès an die Wand stellen würde und mit ihm Schluß machen würde, indem er ihm ins Gehirn das Blei, das ihm dort fehlt, jagen würde -, glaubt Ihr nicht, daß dieser General seine elementare Pflicht erfüllt hätte? Doch, und ich würde ihm erst noch dabei helfen.»' Ausschlaggebend für die Ermordung von Jaurès war offensichtlich, daß er sich gegen die militärische Unterstützung Rußlands gestellt hatte. Bereits am 2. Mai 1913 hatte Waleffe im «Paris-Midi» Jaurès vorgeworfen, er würde Paris an die preußischen Truppen ausliefern.

Aber Waleffe stand nicht allein. Auch der Schriftsteller Paul Adam (1862-1920) hatte für den Tag des Kriegsausbruchs die Liquidierung von solchen Persönlichkeiten wie Jaurès empfohlen, weil sie gegen die Interessen Frankreichs arbeiten würden. Bemerkenswert ist, daß Adam mit martinistischen Okkultkreisen um Papus (siehe Hinweis zu 5. 226 in GA 173c) in Verbindung stand, zu denen auch der extreme Nationalist und Deutschenhasser Maurice Barres (siehe Hinweis zu 5. 106) gehörte. Barres war einer der wichtigen Träger der militant-katholischen «Action française», die 1899 als Reaktion auf die Begnadigung von Dreyfus (siehe Hinweis zu 5. 49) gegründet wurde und nicht nur den Antisemitismus und den Deutschenhaß, sondern auch einen sozialdarwinistisch abgestützten anti-parlamentarischen Monarchismus predigte. Papus hatte enge Verbindungen zu den russizistisch gesinnten Kreisen am Zarenhof und war -wie Izvolskij (siehe Hinweis zu 5. 81), der damalige russische Botschafter in Paris -ein entschiedener Befürworter der gegen Deutschland gerichteten russisch-französischen Allianz. Sein unmittelbarer Einfluß auf die Gestaltung der russischen Außenpolitik war aber infolge des Aufstiegs von Rasputin (siehe Hinweise zu 5. 52 in GA 173c) zurückgegangen. Dies mußte ihn um so mehr treffen, als sich Rasputin für die Bewahrung des Friedens aussprach und sich entschieden gegen eine Beteiligung Rußlands am Krieg wandte.

230 wie im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts ein Mitglied einer gewissen Bruderschaft gewisse Dinge der Welt: Es handelt sich um die sogenannte «Morgan-Affäre», die seinerzeit viel Staub in den Vereinigten Staaten aufwirbelte. Ein gewisser William Morgan (1774—unbekannt), von Beruf Steinmetz, lebte von 1824 bis 1826 in Batavia im Staate New York. Morgan galt als arbeitsscheu und war ein notorischer Schuldner. Er gab sich als Freimaurer aus und nahm auch die finanzielle Unterstützung seiner Mitbrüder in Anspruch. Um sich aus seiner finanziellen Misere zu befreien, kündigte er 1826 an, ein Buch über die Geheimnisse der Freimaurer zu verfassen. Er schloß mit Geschäftsleuten, die er für die Publikation interessieren konnte, einen Vertrag ab. Als er mit seinem Vorhaben herumprahlte, erregte er die Aufmerksamkeit seiner freimaurerischen Mitbrüder. Diese wollten diese Publikation in keinem Fall zulassen. Was nun geschah, wurde niemals ganz aufgeklärt. Jedenfalls wurde Morgan wegen einer geringfügigen Schuld am 11. September 1826 verhaftet, aber schon in der Nacht wurde die geschuldete Geldsumme von dritter Seite beglichen und Morgan aus dem Gefängnis entlassen. Er wurde aber sogleich von vier Männern abgefangen, die ihn gegen seinen Willen nach Fort Niagara an der kanadischen



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Grenze brachten. Was dort mit ihm geschah, konnte bis heute nicht wirklich aufgeklärt werden. Entweder wurde er dort umgebracht oder er verpflichtete sich, gegen eine größere Geldzahlung unterzutauchen. Sicher ist, daß die Leiche, die im Oktober an Land gespült wurde, nicht jene von Morgan war. Dieser blieb jedenfalls von der Bildfläche verschwunden. Es gibt allerdings auch Behauptungen, er sei schließlich 1831 in Smyrna (in der Türkei) wieder aufgetaucht.Die «Morgan-Affäre» bildete den Anlaß zur Entstehung einer weitreichenden Antifreimaurer-Bewegung in den Vereinigten Staaten, die vor allem von evangelikalen Strömungen getragen wurden. Die Mitglieder der Freimaurer-Logen wurden in der Öffentlichkeit diskriminiert, und die Zahl der Logen sank drastisch. 1826 entstand sogar eine Anti-Freimaurer-Partei («Anti-Masonic-Party») mit dem Ziel, die Freimaurerei in den Vereinigten Staaten völlig zu unterdrücken. Die Anti-Freimaurerer-Partei beteiligte sich 1832 an den Präsidentschaftswahlen mit einem eigenen Kandidaten, William Wirt (1772-1832), von 1817 bis 1829 Oberster Generalstaatsanwalt; dieser konnte sich jedoch gegen seinen Mitbewerber Andrew Jackson, der ein Freimaurer war, nicht durchsetzen. Die antifreimaurerische Agitation beherrschte das öffentliche Leben in Amerika im 19. Jahrhundert bis gegen Ende der dreißiger Jahre; 1838 löste sich die Anti-Freimaurer-Partei wieder auf.

230 gehen schließlich zurück auf eine gewisse Ministerratssitzung: In der Ministerratssitzung vom 6. Juni 1905 war Théophile Delcassé (siehe Hinweis zu 5. 221) zum Rücktritt als französischer Außenminister gezwungen worden. Die Mehrzahl der Minister unter der Führung von Ministerpräsident Maurice Rouvier (1846-1911) sah in der von Delcassé betriebenen Außenpolitik ein Hindernis für die friedliche Beilegung der Marokko-Krise (siehe Hinweis zu 5. 229). Auch der französische Botschafter in London, Paul Cambon (siehe Hinweis zu 5. 45), im Grunde ein Gesinnungsgenosse von Delcassé, erachtete dessen augenblickliche Außenpolitik als gefährlich, sah er doch eine kriegerische Auseinandersetzung zwischen Deutschland und Frankreich infolge der russischen Schwäche nach dem verlorenen Russisch-Japanischen Krieg sowie der Revolution von 1905 als wenig wünschenswert an. In einem Brief, datiert vom 1. Juni 1905, warnte er seinen Gesinnungsfreund vor einem zu scharfen Konfrontationskurs mit Deutschland. Den Inhalt dieses Briefes machte er dem französischen Staatspräsidenten Emile Loubet (1838-1929) bekannt, dem ebenfalls nicht an einer kriegerischen Verwicklung mit Deutschland zum damaligen Zeitpunkt gelegen war.

231 entweder [die «guten» Franzosen]—das heißt die Brüder der «Groß-Orient»-Loge - zu enttäuschen: Diese Enthüllung über die Existenz einer Absprache zwischen Frankreich und England machte Delcassé im Ministerrat vom 6. Juni 1905; durch die Veröffentlichung im «Matin» vom 7. Oktober 1905 wurde sie in die Öffentlichkeit getragen. In dieser Sitzung erklärte Delcassé, Großbritannien habe zugesagt (zitiert nach: Hans Helmolt, Die geheime Vorgeschichte des Weltkriegs, Leipzig 1914, Kapitel «Die Saat Lansdownes und Delcassés»), «wenn Frankreich angegriffen werden würde, sei England bereit, den Kaiser-Wilhelm-Kanal zu besetzen und 100 000 Mann in Schleswig-Holstein auszuschiffen. Wenn Frankreich es wünsche, wolle England dieses Anerbieten schriftlich wiederholen. » Auch Paul Herre weist in seinem Buch «Weltpolitik und Weltkatastrophe» (Berlin 1916) auf dieses Versprechen Großbritanniens hin. Er schreibt (Kapitel «Die Einkreisung Deutschlands. Die Marokkokrisen und die erste Balkankrise»): «Als Leiter der auswärtigen Politik gab [der englische Außenminister]Lord Lansdowne [siehe Hinweis zu 5. 233]Ende Mai 1905 in aller Form das Versprechen ab, die englischen Truppen Frankreich zu Hilfe zu schicken, die Flotte zu mobilisieren, den Kaiser-Wilhelm-Kanal zu besetzen



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Auch wenn dieses mündlich abgegebene Hilfeversprechen wegen des Sturzes von Delcassé (siehe Hinweis zu 5. 230) vorläufig kein Thema mehr war, wurde es von den französischen Regierungen als doch einmal ausgesprochen betrachtet. Jedenfalls berichtete der russische Außenminister Sazonov dem Zaren Nikolaus II. in seinem Memorandum vom 18. Juli 1912 über den Besuch des französischen Ministerpräsidenten Raymond Poincaré in Rußland und erwähnte dabei eine vertrauliche Mitteilung des französischen Ministerpräsidenten (zitiert nach: «Der Weg Izvolskijs zum Weltkrieg», in: «Süddeutsche Monatshefte» vom Oktober 1924, 22.Jg. Heft 1): «Die französisch-englischen Beziehungen waren zwischen H[errn] Poincaré und mir Gegenstand eines besonders offenherzigen Gedankenaustausches. Nach einem Hinweis darauf, daß im Laufe der letzten Zeit, unter dem Einfluß der aggressiven Politik Deutschlands gegen Frankreich, diese Beziehungen den Charakter ganz besonderer



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Intimität angenommen hätten, vertraute der französische Premierminister mir an, daß zwischen Frankreich und England zwar kein schriftlicher Vertrag bestehe, daß jedoch die General- und Admiralstäbe beider Staaten nichtsdestoweniger in enger Fühlung miteinander ständen und sich ununterbrochen und mit voller Offenheit über alles, was sie interessieren könnte, gegenseitig verständigten. Dieser dauernde Ideenaustausch habe zu einer mündlichen Vereinbarung zwischen den Regierung Frankreichs und Englands geführt, in der England sich bereit erklärt habe, Frankreich mit seiner Land- und Seemacht zu Hilfe zu kommen, falls dieses von Deutschland angegriffen würde. England habe versprochen, Frankreich zu Lande durch ein an die belgische Grenze entsandtes Detachement in der Stärke von 100000 Mann zu unterstützen, um einen vom französischen Generalstab erwarteten Einbruch der deutschen Armee durch Belgien abzuwehren. » Tatsächlich wurde die mündliche Zusage Großbritanniens durch den Notenaustausch zwischen dem britischen Außenminister, Sir Edward Grey, und dem französischen Botschafter in London, Paul Cambon, am 22. November 1912 (siehe Hinweis zu 5. 45) — wenn auch nicht offiziell-formell, so doch wenigstens in schriftlicher Form -bestätigt.

Der Inhalt dieses Versprechens war bereits vor dem Kriege der deutschen Öffentlichkeit bekannt. So wies ein gewisser Oberstleutnant Le Juge in der «Österreichischen Rundschau» vom 1. April 1913 (Band XXXV, Heft 1)«auf Oberst Repingtons [siehe Hinweis zu 5. 224 in GA 173b]früheren Versprechungen in der <Times>und Marschall Roberts [Frederick Sleigh Roberts, Earl Roberts of Kandahar, Pretoria and Waterford, 1832-1914] in Aussicht gestellte Landung der Expeditionary Force in einer Stärke von 160000 Man auf jütländischem, belgischem oder holländischem Boden» hin.

231 die er hinter dem Rücken seiner Ministerkollegen geführt hatte: Siehe Hinweis zu 5. 45.

231 der klerikale Senator Gaudin de Villaine, der am 20. November 1906: Am 20. November 1906 beantwortete der französische Ministerpräsident Georges Clemenceau (siehe Hinweis zu 5. 42) im französischen Senat eine Interpellation («Interpellation sur la politique générale du Gouvernement»), die der Senator Adrien Paul Sylvain Gaudin de Villaine (1852-1930) eingebracht hatte. Ursprünglich Berufoffizier, nahm Gaudin de Villaine 1875 seinen Abschied und war als Lokal- und Regionalpolitiker tätig. Von 1885 bis 1889 gehörte er der Abgeordnetenkammer an, von 1906 bis 1930 war er Mitglied des Senats. Politisch zählte er sich als Vertreter der katholisch-klerikalen Richtung zur Rechten und gehörte damit in der laizistischen Dritten Republik zur oppositionellen Minderheit. Mit seinen gezielten parlamentarischen Interventionen erregte er großes öffentliches Aufsehen. Er wandte sich nicht nur gegen jegliche geheime Absprachen in der Außenpolitik, sondern zum Beispiel auch gegen die politische und wirtschaftliche Einflußnahme der Rothschild-Familie oder die Machenschaften der Kriegsgewinnler.

Die Antwort Clemenceaus auf die Interpellation Gaudin de Villaines wurde auch in Deutschland mit Interesse verfolgt. So veröffentlichte zum Beispiel die «Frankfurter Zeitung» in ihrer Ausgabe vom 23. November 1906 (50. Jg. Nr. 323) die Ausführungen Clemenceaus: «<Ich sei ein Anhänger der englischen Politik, so sagen Sie, ohne irgend etwas Näheres hinzuzufügen und ohne daß man weiß, was das eigentlich ist, und Sie benutzen dies, um Frankreich das große Unglück vorauszusagen.> Gaudin de Villaine unterbrechend: <Ja oder nein? Gibt es eine Militärkonvention mit England?>. Clemenceau fährt fort: <Glauben Sie, daß ich eine solche Frage mit ja oder nein beantworten kann? Obgleich der Herr Minister des Auswärtigen [Stéphen Pichon]mir wie allen seinen Kabinettskollegen Depeschen übermittelt hat,



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von denen sich einige auf die englisch-französische Entente beziehen können, so habe ich die Frage nicht studiert: Gibt es eine Militärkonvention? Ich weiß es nicht, aber glaube es nicht.> Villaine unterbrechend: <Das ist ungeheuerlich!> Clemenceau: <Was ist ungeheuerlich?>Villaine: <Das, was Sie gesagt haben! Ihr Geständnis!> Clemenceau fährt fort: <Sie haben sodann von Diktatur und Revanche-Ministern gesprochen. Das ist ein Wort, welches auszusprechen Sie nicht das Recht hatten. Was soll ich Ihnen darauf erwidern? Wollen Sie, daß ich die Gesinnungen desavouiere, welche im Herzen vieler Franzosen sind? Das ist es, was Sie zu verlangen wagen. Wollen Sie, daß ich Frankreich den schlimmsten Abenteuern ausliefere, indem ich sage, daß Sie recht haben? Das ist eines guten Franzosen unwürdig.>»Uber die Verhandlungen im französischen Senat berichteten auch die «Basler Nachrichten» am 22. November 1906 (62. Jg. Nr. 319). Im Zusammenhang mit der Interpellation von Senator Gaudin de Villaine über die allgemeine Politik der amtierenden Regierung schrieb der Korrespondent: «Der Interpellant griff die Regierung heftig an, weil sie nach außen eine englische, im Innern eine antiklerikale Politik treibe. Er forderte von Clemenceau Bekanntgabe des Wortlautes der englisch-französischen Verständigung und Auskunft darüber, ob eine Militärkonvention mit England bestehe. Auch gab er seinem Bedauern Ausdruck, daß die französischen Katholiken sich der Verfolgung nicht mit den gleichen Mitteln widersetzen wie die russischen Terroristen. Endlich griff er noch die Minister Pichon und Picquart an. » Zu diesem Zeitpunkt war Stéphen Pichon (1857-1 933), ein Vertrauter Clemenceaus, Außenminister - er war insgesamt dreimal Außenminister (Oktober 1906 bis März 1911, März bis Dezember 1913 und November 1917 bis Januar 1920) —und Marie-Georges Picquart (1854-1914) Kriegsminister (Oktober 1906 bis Juli 1909). Und zur Antwort Clemenceaus: «Ministerpräsident Clemenceau nahm seine Kollegen energisch in Schutz und wies die Angriffe auf Picquart zurück. Uber die Verständigung mit England und die Frage, ob eine Militärkonvention bestehe, verweigerte er jede Auskunft. Letztere Frage glaubte er eher verneinen zu müssen. » Und: «Nachdem auch der Minister des Auswärtigen, Pichon, die Ausfälle Gaudin de Villaines zurückgewiesen, nahm der Senat mit 213 gegen 32 Stimmen eine Tagesordnung an, welche der Regierung das Vertrauen ausspricht und ihre Erklärung gutheißt. »

Auch im Buch von Hans Helmolt «Die geheime Vorgeschichte des Weltkrieges» (München 1914) wird die Antwort Clemenceaus an Senator Gaudin de Villaine erwähnt (Kapitel über «Sir Edward Grey»): «Was den Revanchegedanken betreffe, so sei er - Clemenceau - entrüstet darüber, daß ein französischer Senator ihm eine Falle habe stellen und ihm die Verpflichtung habe auferlegen wollen, entweder die Hoffnungen guter Franzosen zu enttäuschen oder eine kriegerische Erklärung abzugeben. Er werde daher gar nicht antworten. » Von einer Anspielung auf die Brüder des «Groß-Orients» findet sich auch bei Helmolt kein Hinweis. Es ist somit klar, daß es sich um eine Ausdeutung durch Rudolf Steiner handelt, indem er darauf hinweist, welche Gruppierung sich hinter den «guten» Franzosen versteckt.

231 entweder die Brüder der «Groß-Orient»-Loge zu enttäuschen: Das Stenogramm ist an dieser Stelle schwierig zu entziffern. In der früheren Auflage stand «Orangebrüderloge», was in bezug auf Frankreich keinen wirklichen Sinn macht. Die Stelle im Stenogramm lautet wörtlich: «Or [i]ent höchster Brüderloge». Es handelt sich offensichtlich um ein Wortspiel Rudolf Steiners, dessen Sinn sich nicht mehr ganz rekonstruieren läßt.

232 Aber sind denn nicht allerlei Abrüstungsvorschläge gemacht worden. Siehe Hinweis zu 5. 215 in GA 173b.



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233 So finden wir am 13. Oktober 1905 in den «Daily News» eine Erklärung: Zitat aus dem Buch von Hans Helmolt «Die geheime Vorgeschichte des Weltkriegs» (Leipzig 1914) im Abschnitt über «Die Saat Lansdownes und Delcassés» (Kapitel «Die innere Entwicklungsgeschichte des Dreiverbandes»). Es handelt sich um eine Zusammenstellung von verschiedenen Auszügen aus dem Artikel «The German Scare», der am 13. Oktober 1905 in der liberal ausgerichteten «Daily News» in London erschienen war. Veranlassung für diesen Artikel war der Skandal, den das mündliche Hilfeversprechen an Frankreich durch den britischen Außenminister Lansdowne ausgelöst hatte (siehe Hinweis zu 5. 231). In diesem Artikel stellte der ungenannte Verfasser in bezug auf das Verhältnis zwischen Großbritannien und Deutschland grundsätzlich fest: «In keinem Teil der Welt stoßen die Interessen der beiden Mächte aufeinander. Es gibt keinen vernünftigen Grund, weshalb Deutschland nicht seinen eigenen Weg gehen sollte und wir den unseren - ohne Schuldzuweisungen und ohne gegenseitige Einmischung. Deutschland ist zu Land so stark, daß unsere phantomhaften Armeekorps einfach zerrieben würden, wenn sie sich mit Moltkes Armee messen müßten. Großbritannien dagegen ist zur See so stark, daß in jedem Kampf Deutschland Gefahr liefe, seine Flotte und seinen Handel einzubüßen. Deshalb ist auf beiden Seiten der Frieden eine absolute Notwendigkeit, und die Zeit ist gekommen, daß nicht nur in Großbritannien, sondern in ganz Europa die öffentliche Meinung dem üblen Geschwätz, das die Beziehungen zwischen Frankreich, Deutschland und Großbritannien vergiftet, ein Ende machen sollte. Den unfähigen Stümpern -denn nichts weniger sind sie -, die erwarten, daß mächtige Nationen für ihr kleinliches Gezänk mit Blut aufkommen, sollte ein für alle Mal klargemacht werden, daß die Völker in Frieden zu leben wünschen.»'

233 Sein Vorgänger, Lord Lansdowne, wußte schon viel mehr. Hans Helmolt vertrat in seinem Buch «Die geheime Vorgeschichte des Weltkrieges» (Leipzig 1914) die Meinung (Kapitel «Die Saat Lansdownes und Delcassés»): «Selbst für den sehr wahrscheinlichen Fall, daß die Anregung zum Niederzwingen Deutschlands von König Eduard VII. [siehe Hinweis zu S.80]ausgegangen ist, müssen wir den konstitutionell verantwortlichen Mann, der sie aufnahm und weitergab, in dem Marquess Henry of Lansdowne erblicken. » Und er zitiert aus einem Artikel der «Neuen Freien Presse» vom 18. Oktober 1905: «In Lansdowne verkörpert sich die Abneigung gegen Deutschland, die Eifersucht und Antipathie, welche das große Rätsel der englischen Stimmung ist. » Diese Abneigung britischer Politiker gegenüber Deutschland hing mit ihrer Befürchtung zusammen, daß sich eine gegen Großbritannien gerichtete Kontinentalliga unter deutscher Führung bilden könnte (siehe Hinweis zu 5. 141).Henry Petty-FitzMaurice, Earl of Kerry und Marquess of Lansdowne (1845— 1927) gehörte zu den besonders einflußreichen britischen Politikern in der Vor-



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kriegszeit. Er war sehr wohlhabend und verfügte über einen großen Landbesitz. Der irisch-englischen Hocharistokratie angehörig, wurde er im Jahre 1866 nach dem Tode seines Vaters Mitglied des britischen Oberhauses. Mit seinen politischen Überzeugungen stand er auf der Seite der Liberalen Partei. Von 1869 an sammelte er Regierungserfahrung in verschiedenen Ämtern. Vom Oktober 1883 bis Juni 1888 vertrat er mit großem staatsmännischem Geschick die englische Königin Victoria als Generalgouverneur von Kanada und vom Dezember 1888 bis Oktober 1894 als Vizekönig von Indien. Nach seiner Rückkehr schloß sich Lord Lansdowne der Konservativen Partei an und wurde 1895 als Kriegsminister ins Kabinett von Robert Gascoyne-Cecil, Marquess of Salisbury (siehe Hinweis zu 5. 238) aufgenommen. Er war mitverantwortlich für die großen Schwierigkeiten der britischen Armee im Burenkrieg, und es drohte ihm sogar die öffentliche Anklage. Im November 1900 wurde er zum Außenminister ernannt - ein Amt, das er unter Salisburys Nachfolger, Arthur Balfour, beibehielt. In dieser Funktion war er maßgebend am Zustandekommen der englisch-französischen «Entente cordiale» von 1904 (siehe Hinweis zu 5. 173) beteiligt. Nach dem Rücktritt des Kabinetts Balfour im Dezember 1905 und dem Wahlsieg der Liberalen übernahm er die Rolle des konservativen Oppositionsführers im britischen Oberhaus, nachdem er dort bereits seit 1903 die konservative Fraktion geführt hatte. Von 1911 bis 1916 übernahm er zusammen mit Andrew Bonar Law den Vorsitz der Konservativen Partei. Vom Mai 1915 bis Dezember 1916 war er als Minister ohne Geschäftsbereich Mitglied des Kriegskabinetts, das auf einer großen Koalition zwischen Liberalen und Konservativen beruhte und unter der Führung von Herbert Henry Asquith (siehe Hinweis zu 5. 206) stand.

Obwohl nach dem Machtwechsel von 1905 die Regierung von den Liberalen geführt wurde und Sir Edward Grey (siehe Hinweis zu 5.206) neuer Außenminister geworden war, änderte sich die englische Außenpolitik nicht wesentlich. So Hans Helmolt in seinem bereits erwähnten Buch (Kapitel «Sir Edward Grey»): «Aber wer daraus auf eine grundlegende Abkehr von der bisherigen Deutschfeindlichkeit geschlossen hatte, mußte bald erkennen, daß er sich auf dem Holzwege befand: Der Liberale wandelte weiter in den Entente-Geleisen seines konservativen Vorgängers. »

234 das habe ich Ihnen schon charakterisiert: Im Vortrag vom 10. Dezember 1916 (in diesem Band).

234 ein Gedanke eingeflößt wurde von jener Seite, von der man ihm Gedanken einflößte: Grey war offensichtlich Freimaurer; er soll Mitglied einer Universitätsloge in Oxford gewesen sein (nach Robert Minder, Freimaurer-Politiker-Lexikon, Innsbruck 2004). Inwieweit er aufgrund dieser Zugehörigkeit mit gewissen Lehren über langfristige Perspektiven in der Weltentwicklung in Berührung kam, läßt sich nur schwer nachweisen. Klar ist aber, daß Grey in seinem Urteil von einem bestimmten Personenkreis im britischen Außenministerium entscheidend beeinflußt war.Einer dieser wichtigen Persönlichkeiten war Sir Eyre Crowe (1864-1925). Der in Deutschland aufgewachsene Crowe, dessen Mutter eine Deutsche war - sein Vater war britischer Generalkonsul in Deutschland gewesen -, hatte eine seiner deutschen Cousinen, Clema Gerhardt, geheiratet. Deutschland hatte er allerdings bereits im Alter von 18 Jahren verlassen. Seit 1885 war er als Beamter im britischen Außenministerium tätig. Für eine Diplomaten-Laufbahn im Ausland verfügte er aber über ein zu geringes Privatvermögen. 1906 wurde er Direktor der «Westlichen Abteilung» («Western Department»), zu der auch Deutschland gehörte. Wenn auch diese Beförderung nicht unmittelbar im Zusammenhang mit dem Amtsantritt von



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Außenminister Grey stand, so spielte er doch für dessen Meinungsbildung eine massgebliche Rolle. Crowe galt als kompetenter Sachverständiger für alle deutschen Angelegenheiten und übte einen wichtigen Einfluß im Hintergrund aus. Er nahm immer eine entschieden deutschfeindliche Haltung ein, zumal er wegen seiner verwandtschaftlichen Beziehung in England politisch angegriffen wurde. In seiner Broschüre «Deutschfeindliche Kräfte im Foreign Office der Vorkriegszeit» (Berlin 1932) machte Hermann Lutz, der Sachverständige im Untersuchungsausschuß des Reichtags für Kriegsschuldfragen, auf diesen Sachverhalt aufmerksam (J. Kapitel «Eyre Crowe und seine Gesinnungsfreunde»): «So verzeichnete Repington [siehe Hinweis zu 5. 224 in GA 173b] zum Beispiel am 9. August 1917 aus dem Munde des damaligen Ständigen Unterstaatssekretärs des Auswärtigen Lord Hardinge of Penshurst, Crowe eigne sich dazu, seinen, Hardinges, Platz einzunehmen, aber wegen seiner deutschen Verwandten könne man ihm beim gegenwärtigen Stand der öffentlichen Meinung den Posten nicht geben. » Crowe war deshalb nur allzu sehr bestrebt, seine britische Loyalität unter Beweis zu stellen. 1919 nahm Crowe als ranghohes Mitglied der britischen Delegation («Minister Plenipotentiary») an den Versailler Friedensverhandlungen teil. 1920 erreichte er den Höhepunkt seiner Laufbahn mit seiner Ernennung zum «Permanent Under-Secretary at the Foreign Office», was dem Rang eines Staatssekretärs entsprach. Er wurde damit zum Nachfolger des einflußreichen Charles Hardinge, Baron Hardinge of Penshurst (siehe weiter unten).

Crowes Stellung war durch die ganzen Jahre hindurch insofern bedeutsam, als sie ihm erlaubte, unabhängig von den politischen Wechselfällen auf die britische Außenpolitik Einfluß zu nehmen, aber ohne dafür auch politisch zur Rechenschaft gezogen zu werden. Crowe galt -laut Lutz (J. Kapitel «Deutschfeindliche Kräfte im Foreign Office der Vorkriegszeit») —geradezu als «langjährige Säule des Foreign Office». Um so mehr spielte das Beziehungsnetz, in das Crowe verflochten war, eine wichtige Rolle. So war er zum Beispiel mit Leo (Leopold) Maxse (1864 —1 933) gut bekannt; dieser war von 1893 bis 1932 Herausgeber der konservativen Monatsschrift «National Review» und spielte - in Verbindung mit Lord Nortchliffe (siehe Hinweis zu 5. 144 in GA 173b) — eine wichtige Rolle in der öffentlichen Meinungsbildung in England. Maxse seinerseits war ein guter Freund von Georges Clemenceau (siehe Hinweis zu 5. 42) sowie von Théophile Delcassé (siehe Hinweis zu 5. 221) und kritisierte den Versailler Friedensschluß als zu wenig hart gegenüber Deutschland.

Politisch stand Crowe der Liberalen Partei nahe, warf aber den liberalen Kabinetten der Vorkriegszeit vor, sich zu wenig um die Bedrohung des europäischen Mächtegleichgewichts zu kümmern, die vom deutschen Hegemonialstreben ausginge. So war sein Memorandum unter dem Titel «Present State of British Relations with France and Germany», das er zuhanden von Außenminister Sir Edward Grey verfaßte, als eine grundsätzliche Warnung vor der deutschen Außenpolitik gedacht. In diesem Memorandum, datiert vom 1. Januar 1907, ging er zunächst von der außenpolitischen Grundmaxime Englands aus (zitiert nach: George Peabody Gooch/ Harold Temperley, Die britischen Amtlichen Dokumente über den Ursprung des Weltkrieges 1898-1914, Band III, «Die Probe auf die Entente 1904-1906», Berlin/Leipzig 1929, Anhang A, «Memorandum von Herrn Eyre Crowe»): «England ist aus gesundem Instinkt immer für das ungehemmte Spiel und gegenseitige Einwirken der nationalen Kräfte eingetreten, wie es dem eigenen Entwicklungsprozeß der Natur am meisten entspricht. Kein anderer Staat hat dem Spiel der nationalen Kräfte in der inneren Organisation der verschiedenen unter dem Szepter des Königs vereinigten Völker je so weitgehend und so beharrlich freien Raum gewährt wie



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das britische Reich. Es ist vielleicht ebenso sehr das gute Glück wie das Verdienst Englands, daß es bei dieser Auffassung von der Art, wie die Lösung der höheren Probleme des nationalen Lebens gesucht werden muß, nur dasselbe Prinzip auf das Feld der Außenpolitik anzuwenden brauchte, um zu der Theorie und Praxis zu gelangen, die für sein Verhalten als einer internationalen Staatengemeinschaft maßgebend sind. » Aber gleichzeitige warnte Crowe (gleicher Ort): «Solange Deutschland also im Vertrauen auf seine eignen nationalen Vorzüge und Kräfte um eine intellektuelle und moralische Führerschaft der Welt wetteifert, kann England nur bewundern, Beifall spenden und am Wettlauf teilnehmen. Wenn Deutschland jedoch glaubt, daß größeres relatives Übergewicht an materieller Macht, weitere Gebietsausdehnung, unverletzbare Grenzen und die Vorherrschaft zur See die notwendigen und präliminaren Besitztümer sind, ohne die alle auf eine solche Führerschaft gerichteten Bestrebungen scheitern müssen, dann muß England erwarten, daß Deutschland sicherlich danach trachten wird, die Macht aller Rivalen zu schwächen, seine eigene Macht durch Gebietserweiterungen zu stärken, das Zusammenwirken anderer Staaten zu verhindern und schließlich das britische Reich zu zerstückeln und zu verdrängen. »

Und zur Frage nach der richtigen Politik gegenüber Deutschland (gleicher Ort): «Einstweilen ist es wichtig, es ganz klarzumachen, daß eine Erkenntnis der Gefahren der Lage keine Feindschaft gegen Deutschland in sich zu schließen braucht und in sich schließt. England selbst wäre der letzte Staat, der erwartete, daß irgendeine andere Nation sich zur tätigen Unterstützung rein britischer Interessen mit ihm verbände, außer in Fällen, wo man es geschäftlich für zweckmäßig hielte, einen Dienst für einen Gegendienst zu leisten. Dennoch wäre kein Engländer so töricht, diesen Mangel an fremder Beihilfe für die Verwirklichung britischer Ziele als Symptom einer antibritischen Stimmung zu betrachten. Alles, was England seinerseits verlangt - und das ist mehr, als es zu bekommen pflegte -ist, daß England beim Verfolg politischer Pläne, die in keiner Weise die Interessen dritter Parteien schädlich beeinflussen, wie zum Beispiel der Einführung von Reformen in Ägypten zum alleinigen Vorteil der einheimischen Bevölkerung, nicht mutwillig durch parteiischen Widerstand behindert werde. Anderen Ländern, einschließlich Deutschlands, wird England immer bereit sein, dasselbe Maß und sogar ein volleres Maß zu gewähren. » Crowe empfahl, eine konsequente Haltung gegenüber Deutschland einzunehmen. Er wies darauf hin, daß in Deutschland -nach dem Abschluß der «Entente cordiale» zwischen Frankreich und Großbritannien vom 8. April 1904 (siehe Hinweis zu S. 173) und der Unterzeichnung der Algeciras-Schlußakte am 7. April 1906 (siehe Hinweis zu S. 229) — die Furcht vor einer außenpolitischen Isolation und einer möglichen Gegnerschaft Großbritanniens aufkam (gleicher Ort): «Daß das Ergebnis eine sehr ernste Enttäuschung für Deutschland war, ist in reichlichem Masse durch die große Unruhe offenbar geworden, die die Unterzeichnung der Algeciras-Akte im Lande hervorgerufen hat, indem die amtlichen, halbamtlichen und nicht-amtlichen Kreise in der Äußerung ihrer erstaunten Unzufriedenheit miteinander wetteiferten. Die seitdem verstrichene Zeit ist ohne Zweifel erst kurz gewesen. Aber während dieses Zeitraums sind, wie bemerkt werden darf, unsere Beziehungen zu Deutschland wenn auch nicht gerade herzlich, so doch wenigsten praktisch frei von allen Symptomen einer direkten Reibung gewesen, und man hat den Eindruck, daß Deutschland es sich jetzt zweimal überlegen wird, ehe es Anlaß zu einer neuen Mißhelligkeit gibt. In dieser Haltung wird es bestärkt werden, wenn es auf seiten Englands immer gleicher Höflichkeit und Rücksicht in allen Angelegenheiten von gemeinsamem Interesse begegnet, aber auch einer prompten und festen Weigerung, auf irgendwelche einseitigen Geschäfte oder Abmachungen einzugehen sowie der



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unbeugsamsten Entschlossenheit, britische Rechte und Interessen in jedem Teile des Erdballs zu verteidigen. Es wird keinen sichereren oder rascheren Weg geben, um die Achtung der deutschen Regierung und der deutschen Nation zu gewinnen. »

Daß der Einfluß Crowes auf die Politik Greys bedeutend war, unterstreicht Hermann Lutz, in einer weiteren Schrift, «Eyre Crowe -der böse Geist des Foreign Office» (Stuttgart/Berlin 1931), und seine Schlußfolgerung lautet (J. Kapitel, «Flottenrivalität und Invasionspanik»): «Die britische Außenpolitik unter Staatssekretär Sir Edward Grey (Dezember 1905 bis Dezember 1916) ist nur bei genauer Kenntnis von Eyre Crowe und seinem Wirken ganz zu verstehen. » Dies hing mit der besonderen Disposition Greys zusammen: «Er war daher, zumal er Deutschland kaum kannte, in ganz ungewöhnlichem Maß auf seine engeren Mitarbeiter angewiesen. Indessen entsprach die Tendenz Crowes seiner eigenen gefühlsmäßigen Einstellung. Erfand dessen Memorandum <höchst wertvolle, <als Richtschnur für die Politik höchst nützliche und ließ es mit seinen zustimmenden Bemerkungen nur an die Minister Campbell-Bannerman, Lord Ripon, Asquith, Morley [siehe Hinweis zu 5. 124 in GA 173b]und Haldane weitergehen, an Männer also, die nicht für das einseitige Zusammengehen mit Frankreich -geschweige mit Rußland - waren. »

Der Kreis der deutschfeindlichen Kräfte im britischen Außenministerium beschränkte sich allerdings nicht auf Crowe. So schrieb Lutz in der erstgenannten Veröffentlichung, wo er das Thema «Deutschfeindliche Kräfte im Foreign Office der Vorkriegszeit» (J. Kapitel) behandelte: «Crowe war keineswegs der einzige im Foreign Office, der deutschfeindliche Politik betrieb. Da waren noch Sir Charles Hardinge [Baron Hardinge of Penshurst (1858 —1 944), Unterstaatssekretär von 1906 bis 1910 und 1916 bis 1920], Louis Mallet [Sir Louis du Pan Mallet (1864-1936), Stellvertretender Unterstaatssekretär von 1907 bis 1913], William Tyrrell [Baron Tyrrell (1866-1947), Privatsekretär von Sir Edward Grey von 1907 bis 1915] und Sir Arthur Nicolson [Baronet Nicolson, später Baron Carnock (1 849-1928), Unterstaatssekretär 1910 bis 1916].» Und in seinem Buch «British Foreign Secretaries 1807-1916» (Port Washington 1927) schrieb Algernon Cecil (Chapter VII, «Viscount Grey of Fallodon»): «Der Schleier über dem Außenministerium selbst wird ein wenig gelüftet, so daß wir einen Blick erhaschen auf die Gesinnung der Kräfte, die dort wirken, auf Nicolsons pro-russische Tendenzen -durchaus natürlich für jemanden, der berühmt wurde durch seinen bewunderungswürdigen Erfolg als Gesandter am Hof von St. Petersburg - und Crowes anti-deutsche Neigungen, die das Publikum bei einem Mann, der wegen verwandtschaftlicher Beziehungen zu Deutschland so unfair behandelt wurde, nicht vermutete. Nur eine Gestalt, möglicherweise einflußreicher als der ständige oder der stellvertretende Unterstaatssekretär, bleibt verborgen im Dunkel -Lord Greys offizieller Privatsekretär, Sir William Tyrrell. »1

234 sagte er dann. Den Hinweis auf diese Aussage Greys findet sich im mehrfach erwähnten Werk von Hans Helmolt über die geheime Vorgeschichte des Weltkrieges (Kapitel «Reval»), wo Rudolf Steiner die fragliche Stelle sogar doppelt am Rande anstrich. Bei Helmolt ist allerdings der 4. Juli 1908 als Datum für die Rede Greys angegeben, was aber falsch ist. Grey tat diesen Ausspruch tatsächlich am 4. Juni



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1908 in einer Rede vor einem Parlamentskomitee des britischen Unterhauses, wo über die Ausgaben des Außenministeriums verhandelt wurde. In diesem Zusammenhang wurde von einzelnen Mitgliedern des Parlamentsausschusses der Besuch des englischen Königs Eduard VII. beim russischen Zaren Nikolaus II. kritisiert. Diese befürchteten, dadurch würde eine offizielle britische Unterstützung für das reaktionäre Regime in Rußland ausgedrückt. Das Treffen zwischen den beiden Monarchen fand am 9. und 10. Juni/27. und 28. Mai 1908 in der Bucht von Reval (heute Tallinn) statt. Die Herrscher besuchten sich gegenseitig auf ihren Yachten, der königlich-britischen «Victoria and Albert» und der kaiserlich-russischen «Standart».Den geplanten königlichen Besuch in Rußland rechtfertigte Grey mit den Worten (zitiert nach: Parliamentary Debates, House of Gommons, 4th June 1908, Supply): «Ich sehe in Rußland eine große Nation, deren Macht noch weitgehend unentwickelt ist, deren Charakter noch im Wachsen ist und doch noch nicht zu seiner vollen Stärke gefunden hat, aber die durch neue Gedanken und neue Energien in Bewegung gebracht wird. Ich bin überzeugt, daß es eine große Zukunft hat und daß es in der Welt eine große Rolle spielen wird. Der Frieden in der Welt und ihr Wohlergehen hängen weitgehend von Rußland und von uns selbst ab, ja müssen sich auf die Beziehungen zwischen uns stützen. »1

235 daß man Russizismus und Slawismus wirklich unterscheiden muß: Siehe Hinweis zu 5. 110.

235 konnte man sich in Rußland einzig und allein bei denjenigen, die den Russizismus vertreten, etwas Großes versprechen: In seinem Urteil über die grundsätzliche Ausrichtung der russischen Außenpolitik stützte sich Rudolf Steiner auch auf Samuel Rado und sein Büchlein «Der Sturz des Zarismus» (Leipzig 1915). Dieser vertrat eine stark antirussisch, antizaristisch ausgerichtete Haltung, da er sich als Jude von der antisemitischen Politik der russischen Regierung und den damit verbundenen Judenverfolgungen stark betroffen fühlte.Im «Vorwort» zu seinem Büchlein schrieb Rado: «Der moskowitische Eroberungs-und Raubstaat ist der Erzfeind der europäischen Kultur. Das Reich des Weißen Zaren ist von jedem anderen europäischen Gemeinwesen verschieden. Das zarische Rußland verhält sich zu den übrigen Mitgliedern des europäischen Konzerts wie das Reich Timurs und Dschingis Khans zu den die höhere Kultur repräsentierenden Staaten der damaligen Welt. » Und im Kapitel «Rußland und das Slawentum»: «Rußland ist der Unheilstifter, der Ränkeschmied, der Friedensstörer von Europa. Rußland ist nie saturiert. Es umfaßt den sechsten Teil des Erdballes, aber seine Machtgier ist noch immer nicht gestillt; noch leben Staaten, die seiner Herrschaft im Wege stehen. [...] In diesem Reiche ist kein Platz für die Wahrheit, für die Ehrlichkeit und Vernunft. Dieser Staat der Lüge und Ungerechtigkeit ist eine beständige Gefahr für den Frieden und die Kultur der Menschheit. »

235 das Testament Peters des Großen zu verwirklichen. Dazu Alexander Redlich in seiner Schrift «Der Gegensatz zwischen Österreich-Ungarn und Rußland» (Stuttgart/Berlin 1915): «Die Geschichte kennt ein angebliches Testament des Zaren Peter des Großen [siehe Hinweise zu 5. 34], worin auf der einen Seite die Herrschaft in



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der Ostsee, nach der anderen Seite der Besitz von Konstantinopel als Ziel des russischen Strebens bezeichnet wird. Dieses Testament hat zwar nie existiert und gilt als Fälschung Napoleons, aber sein Inhalt deckt sich durchaus mit den traditionellen Plänen, die von den russischen Herrschern seit Peter verfolgt worden sind. Die Ausbreitung Rußlands an den Küsten der Ostsee ist längst zum Stehen gekommen. Der Zug nach Süden aber ist bis heute eines der treibenden Elemente der russischen Politik und gegenwärtig sogar das wichtigste, nachdem seine Ausbreitung gegen Osten hin durch England und Japan vorläufig gehindert wurde. Dieser Zug nach Süden hat nun durch mehr als 100 Jahre die Politik bestimmt, die das russische Reich der Türkei gegenüber betrieb. »

235 Und so wurde es gar nicht als Möglichkeit gedacht. Siehe Hinweis zu 5. 137.

235 der nicht schon am 23. Juli gesagt hätte. Rudolf Steiner meint den englischen Außenminister Sir Edward Grey. Dieser deutete in einer am 23. Juli 1914 stattgefundenen Unterredung mit dem österreichischen Botschafter in London, Albert Graf von Mensdorff, die Möglichkeit eines großen Krieges an (siehe Hinweis zu 5. 139).

236 einschließlich der zwischen den Jahren 1883 und 1887 erfolgten 364 Morde: Siehe Hinweis zu 5. 125.

236 dem einzigen Erfolge, den die Entente in den letzten Wochen dort unten gehabt hat. Nachdem es dem übriggebliebenen Teil der serbischen Armee - nach ihrer Niederlage gegen die Truppen der Mittelmächte -gelungen war, sich durch Albanien an die Mittelmeerküste zu retten, wurde diese von der französischen Marine nach Griechenland evakuiert und nach einer Ruhepause an die Saloniki-Front transportiert. Die serbischen Truppen wurden in die französisch-englische Orient-Armee integriert, die dem Oberkommando des französischen Generals Maurice Sarrail (1856 —1929) unterstand und im griechischen Saloniki ihr Hauptquartier hatte. Im Zusammenhang mit dem Kriegseintritt Rumäniens unternahmen die serbischen Truppen im Verein mit den französischen Truppen am 12. September 1916 eine Offensive gegen die von deutschen Truppen unterstützte bulgarische Armee. Während die rumänische Armee immer mehr an Boden verlor und schließlich in einen Waffenstillstand einwilligen mußte, gelang der Orient-Armee («Armée d'Orient») am 19. November 1916 die Rückeroberung des zu Serbien gehörenden und von bulgarischen Truppen besetzten Monastir (heute Bitola in Makedonien). Damit war ein kleiner Teil des serbischen Staatsgebietes wieder befreit, ohne daß die Befreiungsaktion hätte weitergeführt werden können. So blieb die serbische Regierung weiterhin auf der Insel Korfu im Exil.

236 das Attentat auf den Erzherzog Franz Ferdinand nur eine letzte große Unternehmung war. In der von Rudolf Steiner benützten Schrift von Alexander Redlich «Der Gegensatz zwischen Österreich-Ungarn und Rußland heißt es (Kapitel «Die Balkanpolitik Österreich-Ungarns und Rußlands»): «Es stellt sich heraus, daß der Erzherzog-Thronfolger nicht das Opfer eines Einzelnen, sondern einer regelrechten Verschwörung geworden ist. Die Täter sind Österreicher, die Waffen aber sind serbisch, und der Gedanke ist ebenfalls serbisch. Es handelt sich um einen politischen Fürstenmord, begangen in einem Lande, das mit allen Mitteln zur Revolution aufgereizt werden sollte, angestiftet von den Angehörigen desjenigen Volkes, welches in dieser Revolution seine politische Zukunft erblickte und welches andererseits schon einmal durch Königsmord und schon mehrmals durch Verschwörungen seine Geschicke beeinflußt hatte. Serbiens Pläne aber waren Rußlands Pläne. » Und: «Sicher ist, daß sich der Doppelmord von Sarajevo als ein höchst geeigneter Zufall in das



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Deshalb die Schlußfolgerung Redlichs: «Noch ehe die Mitschuld der serbischen Regierung an dem Verbrechen von Sarajevo erwiesen war, noch ehe der Zusammenhang zwischen diesem Verbrechen und den maßgebenden Kreisen Rußlands behauptet werden konnte, stand eines fest: Die moralische Mitschuld an diesem Mord konnten Petersburg und Belgrad nicht von sich abwälzen. Mochte er angestiftet sein von wem immer, er wurde jedenfalls zur Belastungsprobe für die Lebensfähigkeit Österreich-Ungarns. Er war die Probe auf das Exempel für eine jahrzehntelang betriebene russische Politik, die sich mit diplomatischen Aktionen und militärischen Drohungen nicht begnügte, sondern systematisch die Völker der Monarchie selbst gegen das sie einigende Staatswesen aufgehetzt hatte. In jener langen, langen Kette von Ubeltaten, die auf unterirdischem Wege von Petersburg und Moskau aus geleitet wurden, die mit der angeblichen oder wirklichen russischen Politik niemals etwas zu tun gehabt haben sollten und die bei den Tschechen, Polen, Ruthenen, Rumänen, Italienern und Serben den Funken des Aufruhrs entzünden und schließlich im geeigneten Augenblick zur Flamme anfachen sollten - in dieser Kette war die Mordtat von Sarajevo das letzte Glied. Nun galt es zu beweisen, ob die Monarchie noch stark genug war, diese Kette zu zerreißen. »

In seinen Memoiren «Sechs schwere Jahre» (Berlin 19272) leugnete der russische Außenminister Sergej Dmitrievic Sazonov (siehe Hinweis zu 5. 193 in GA 173b) jeden größeren verschwörerischen Zusammenhang (Kapitel IX): «Der Verbrecher erwies sich als ein junger Serbe, Bosnier von Geburt, mithin österreichischer Staatsangehöriger. Er wurde am Ort des Verbrechens festgenommen. Nach dem ersten Schreckenseindruck, den dieses Verbrechen in Österreich-Ungarn hervorrief, begann die Aufregung sich allmählich zu legen, als plötzlich aus Wien Nachrichten des Inhalts eintrafen, die österreichisch-ungarische Regierung sei geneigt, in dem Mord von Sarajevo das Ergebnis einer politischen Verschwörung zu sehen, deren Fäden nach Belgrad führten. Die öffentliche Meinung, die im Laufe vieler Jahre durch eine ununterbrochne Hetze der offiziellen wie der nicht-offiziellen österreichisch-ungarischen Presse gegen den serbischen Nachbar schon vorher vorbereit war, klammerte sich an diese Gerüchte, und in wenig Tagen bildete sich in ganz Österreich-Ungarn eine sehr gefährliche Stimmung, gegründet auf der Überzeugung, daß die serbische Regierung an der Vorbereitung der Ermordung des Erzherzogs beteiligt sei. » Und: «Die Unbeteiligtheit der serbischen Regierung an dem Verbrechen von Sarajevo war für uns so augenscheinlich, daß wir die Hoffnung noch nicht aufgaben, die österreichisch-ungarische Regierung werde freiwillig oder unfreiwillig auf die Beschuldigung der serbischen Regierungsbehörden, an dem Verbrechen eines fanatischen Halbwüchsigen teilzuhaben, verzichten müssen, einem Verbrechen, aus dem Serbien zudem nicht den geringsten Nutzen für sich ziehen konnte. Mir persönlich schien der Versuch des Wiener Kabinetts, die Ermordung des Erzherzog-Thronfolgers mit einer ausländischen Verschwörung zusammenzubringen, besonders absurd in Anbetracht dessen, daß die Politik Ahrenthals und die sklavisch folgende Politik Berchtolds im Lauf vieler Jahre innerhalb der Doppelmonarchie selbst eine Menge Zündstoff angehäuft hatte, der bei der ersten geeigneten Gelegenheit explodieren konnte. »



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Was Sazonov an dieser Stelle aber verschwieg, machte er an anderem Ort unmißverständlich klar, indem er auf die gegen den Bestand Österreich-Ungarns gerichtete Außenpolitik Rußlands hinwies (Kapitel J): «In Wien hatte man schon längst begriffen, daß das Erwachen des nationalen Selbstbewußtseins der slawischen Untertanen der habsburgischen Monarchie - das Ergebnis der Befreiungspolitik Rußlands auf der Balkanhalbinsel -früher oder später unvermeidlich den Untergang Österreich-Ungarns herbeiführen mußte. Der in seiner Rechtlosigkeit ungeheuerliche Organismus der Doppelmonarchie, die in jedem ihrer Teile auf der Unterdrückung der Mehrheit der Bevölkerung durch eine Minderheit von Unterjochern beruhte, begann schon vor der langen Regierung Franz Josephs unzweifelhafte Anzeichen innerer Zersetzung aufzuweisen. Das in seinen Lebenssäften junge Italien machte den Anfang mit der Zerstückelung des österreichischen Reiches, und wenn es auch seine Aufgabe nicht durch den Anschluß aller italienischen Gebiete der gebrechlichen habsburgischen Monarchie erfüllte, bildete es doch gerade deswegen trotz des Bundesgenossenverhältnisses für sie eine ständige Bedrohung. »

236 über die okkulten Untergründe dieser Individualität des Erzherzogs Franz Ferdinand: Siehe Hinweis zu 5. 101.

237 dieses Paar, das im eminentesten Sinne slawenfreundlich war: Siehe Hinweis zu 5. 109.

237 daß dieses Paar scheinbar von slawischer Seite aus der Welt geschafft wurde: In seinem Aufsatz «<Grand Orient>. Zwischenfälle am Sonntag, dem 28. Juni 1914, in London», erschienen in den «Berliner Monatsheften für internationale Aufklärung: die Kriegsschuldfrage» vom Februar 1931 (9. Jg. Nr. 2), beschreibt der Labour-Abgeordnete Clarence Henry Norman (siehe Hinweis zu 5. 46) seine damaligen Erlebnisse. So zum Beispiel berichtet er: «Zu jener Zeit war Adolphe Smith Mitglied des <National Liberal Club>, in dem ich wohnte. Daß ich im Club wohnte, war A. Smith bekannt. An jenem Sonntag verließ ich den Club, um mich in mein Büro zu begeben, wo ich noch einige Arbeiten zu erledigen hatte. Als ich den Strand herunterging, traf ich gerade vor dem Justizgebäude A. Smith, der etwas aufgeregt zu sein schien. Er kam auf mich zu und fragte mich, ob aus Sarajevo Nachrichten eingetroffen seien. [...] Ich erwiderte, daß zur Zeit noch keine Nachrichten eingetroffen seien (es war ungefähr 11.30), worauf Smith sehr ärgerlich wurde und irgend etwas murmelte, was ähnlich klang wie <Ist es möglich, daß sie einen Fehler gemacht haben?>. Durch seine Art aufmerksam geworden, fragte ich ihn, was er denn erwarte, er überhörte aber die Frage und ging weiter, während ich, etwas erstaunt über sein Benehmen, in mein Büro ging. » Und dazu die Erklärung Normans: «Der Leser wird sich vielleicht daran erinnern, daß das erste Attentat auf den Erzherzog ungefähr um 9 Uhr [10 Uhr mitteleuropäische Zeit] verübt wurde und fehlschlug. Das Wichtigste an diesem Zwischenfall ist, daß Herr Smith scheinbar um 11.30 Uhr [12.30 Uhr mitteleuropäische Zeit]Nachrichten über die Ermordung, die noch nicht stattgefunden hatte, die aber zu der Zeit hätte geschehen sein können, erwartete. Die Nachricht traf tatsächlich im Laufe des Nachmittags in London ein, und zwar über Athen und Paris, da die österreichische Zensur den üblichen Weg über Wien, Berlin und Amsterdam gesperrt hatte. » Aufgrund solcher Vorkommnisse war Norman überzeugt: «Es besteht Grund zu der Annahme, daß Princip, der Mann, der nach dem mißlungenen Bombenangriff die Pistole abfeuerte, sich einige Wochen vor dem Mord in London aufhielt, da er zweifellos in Paris gewesen ist. Es ist ferner auffallend, daß Jaurès [siehe Hinweis zu 5. 228] ermordet wurde, ehe er in der französischen Kammer die Rede halten konnte, in der er beabsichtigte, sich



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gegen die Kriegskredite auszusprechen und den <Grand Oriente in Zusammenhang mit dem Mord von Sarajevo in Verbindung zu bringen. »Adolphe Smith (eigentlich Adolphe Headingley, 1846-1924) war ein englischer Fotograf und politischer Schriftsteller. Einer größeren Öffentlichkeit bekannt wurde er vor allem durch die Artikelserie «Street Life in London», die er dann zusammen mit John Thomson als Bildband herausbrachte «With permanent photographic illustrations taken from life» (London 1877). Politisch bekannte sich Smith zum Sozialismus, den er mit großem Eifer vertrat:. Von 1886 bis 1905 war er auf den internationalen Gewerkschaftskongressen als Übersetzer tätig. Während des Ersten Weltkriegs stellte sich Smith mit Überzeugung auf die Seite der Entente. So lehnte er die in Kreisen der Sozialisten lebenden Sympathien für die Sache Deutschlands entschieden ab, so zum Beispiel in seinem Aufsatz «Pro-Germanism among the Socialists» erschienen in: «The Daily Dispatch» vom 12. April 1915.

Auf eine gewisse Verbindung zwischen der serbischen Freimaurerei mit den politisierten Freimaurer-Kreisen des französischen und italienischen Großorients deutet eine Meldung aus Belgrad, die am 29. Oktober 1908 im Wiener «Vaterland» (49. Jg. Nr. 498) im Zusammenhang mit der bosnischen Annexionskrise veröffentlicht wurde. Sie lautete: «Der gewesene Ministerpräsident Svetomir Nikolajevic' [1844-1922, er stand vom April bis Oktober 1894 an der Spitze der serbischen Regierung], welcher Großmeister der hiesigen Freimaurerloge [Pobratim]ist, hat einen Appell an sämtliche Freimauererlogen in Europa gerichtet, worin er dieselben auffordert, <den Serben in ihrem Kampfe gegen Österreich die werktätige Unterstützung aller maurerischen Brüder zuzuwenden>. Vor allem bittet er die <Brüder Freimaurern, in der liberalen Presse aller Länder für die Sache Serbiens mit brüderlicher Liebe in die Schranken zu treten. Nachdem die Belgrader Freimaurerloge eine Tochterloge der Budapester <Loge vom großen Oriente ist, welcher Kossuth [siehe Hinweis zu 5. 120]und alle Koryphäen des radikalen Magyarentums angehören, so hat sich Svetomir Nikolajevic' zunächst in die ungarische Hauptstadt begeben, um die leitenden Persönlichkeiten der dortigen Freimaurerlogen für Serbien zu gewinnen. Hierauf wird er sich in gleicher Mission nach Rom und Paris begeben, um die italienischen und französischen Logen für Serbien günstig zu stimmen. » Es ist durchaus denkbar, daß aufgrund eines bestehenden, engeren Beziehungsnetzes zwischen serbischen und französisch-italienischen Freimaurern eine westliche Einflußnahme auf das Attentatsgeschehen nicht auszuschließen ist.

Im Laufe des Prozesses gegen die Attentäter in Sarajevo wurde der Angeklagte Nedeljko Cabrinovic vom Gerichtspräsidenten Alois von Curinaldi gefragt, ob er sich unter dem Einfluß der Freimaurer zum Attentat entschlossen habe. Cabrinovic laut Auszug aus dem Protokoll der Sitzung vom 12. Oktober 1914 (zitiert nach: Albert Mousset, L'attentat de Sarajevo, Paris 1930, Kapitel «Audiences du 12 octobre 1914», Abschnitt «Nedeljeko Cabrinovic»):

Präsident. «Inwiefern hat also die Freimaurerei bei Tankosic und Ciganovic' eine eine Rolle beim Attentat gespielt?»

Angeklagter. «Ich habe die Freimaurerei keineswegs in einen Zusammenhang mit dem Attentat gebracht, aber ich bestätige, daß die beiden Freimaurer sind.

Präsident. «Ich frage Sie, ob die Tatsache, daß sie Freimaurer sind, eine Verbindung zum Attentat ergibt.»

Angeklagter. «Insofern sind wir alle Anhänger von freimaurerischen Ideen. »

Präsident. «Popagiert die Freimaurerei nicht die Durchführung von Attentaten gegen die Machtträger? Oder zumindest, wissen Sie etwas darüber?»

Angeklagter. «Sie befürwortet so etwas. Ciganovic' selber hat mir gesagt, dass der



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selige Ferdinand von den Freimaurern zum Tode verurteilt worden sei. Er hat es mir aber erst gesagt, als ich mich schon entschieden habe. »

Präsident: «Ist da nicht ein bißchen Phantasie darin? Wo soll er verurteilt worden sein? [...] Wo hat er Euch das gesagt?»

Angeklagter: «Ich weiß es nicht.»

Präsident: «Ich wiederhole meine Frage: Haben Sie das gewußt, bevor Sie sich entschieden haben, das Attentat zu begehen?»

Angeklagter: «Nicht vorher, sondern nachher.»'

Milan Ciganovic, ein Eisenbahnbeamter, war der Kontaktmann der drei Attentäter in Belgrad, als sie sich wegen der Planung des Attentats dort aufhielten; er war Komitadzi-Mitglied und handelte im Auftrage von Voja Tankosic. Trotz dieser Verbindungen betonten die Attentäter nachdrücklich, nicht auf Anstiftung der «Narodna odbrana» gehandelt zu haben. So zum Beispiel Cabrinovic (zitiert nach der gleichen Quelle, Kapitel «Audiences du 19 octobre 1914», Abschnitt «Nedeljeko Cabrinovic»):

Präsident: «Sie haben gesagt, Sie hätten zuerst bei der <Narodna odbrana< nach Waffen gefragt, und jetzt erzählen Sie uns von den Freimaurern!»

Angeklagter: «Ich glaubte, Sie wüßten mehr über die Freimaurer. Man hat mich gefragt, ob ich Freimaurer sei und hat dann behauptet, ich hätte mich dessen gerühmt. Nun, ich habe nichts über diese Sache gesagt, und ich habe nicht mehr die Absicht, darüber zu sprechen. Ich kann Ihnen nur versichern, daß wir in keiner Beziehung zur <Narodna odbrana> stehen. Ich weiß, daß es zu einem Krieg zwischen Serbien und Österreich kommen wird, und das ist der Grund, warum man von dieser <Narodna odbrana>spricht. »2

1 Originalwortlaut (Übersetzung aus dem Bosnischen ins Französische):

Président: «En quoi alors la franc-maçonnerie de Tankosic et de Ciganovic a-t-elle joué un role dans l'attentat?«

Accuse: «Je n 'ai aucunement mis la franc-maçonnerie en liaison avec l'attentat, mais je confirme qu'ils sont francs-maçons. »

Président: «Je vous demande si le fait qu'ils sont francs-maçons a une connexion avec l'attentat?»

Accuse: «En tant que nous sommes partisans des idées maçonniques. »

Président: «La maçonnerie préconise-t-elle l'accomplissement d'attentats contre les détenteurs du pouvoir? Du moins, savez-vous quelque chose a ce sujet?»

Accuse: «Elle le préconise. Ciganovic m'a dit lui-meme que le feu Ferdinand avait été condamné a mort par les francs-maçons. Il me l'a dit après que j'ai eu pris ma décision. »

Président: «N'y a-t-il un peu de fantaisie la-dessous? Ou a-t-il été condamné? [.1 Ou vous a-t-il dit cela?»

Accuse: «Je ne sais pas. »

Président: «Je vous répète ma question: avez-vous su cela avant de vous décider a commettre l'attentat?»

Accuse: «Pas avant, mais après. »



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Cabrinovic hatte kurz vorher die Auslandsaktivitäten eines angeblich leitenden serbischen Freimaurers erwähnt, die dieser im Zusammenhang mit der von ihm und seinen Mitverschwörern geäußerten Attentatsabsicht entfaltet habe (gleicher Ort):

Cabrinovic': «Als ich Ciganovic' sagte -in einem Gespräch, das ich mit ihm hatte-, daß man das Attentat ausführen müsse und daß ich finanzielle Mittel dafür benötige, hat er mir zur Antwort gegeben, daß gewisse Personen mir diese zur Verfügung stellen würden und daß er mit ihnen sprechen würde. Später hat er mir mitgeteilt, daß er mit Tankosic und jenem anderen gesprochen habe, der ebenfalls Freimaurer sei, sozusagen einer ihrer Chefs. Unmittelbar nach dem Gespräch sei letzterer ins Ausland verreist und hätte eine Rundreise durch den ganzen Kontinent angetreten. Er sei nach Budapest, nach Frankreich und nach Rußland gefahren Jedesmal, wenn ich mich nach dem Stand des Geschäfts erkundigte, antwortete er mir: <Sobald dieser zurückkommt.> Ciganovic' hat mir bei dieser Gelegenheit erzählt, dass die Freimaurer schon vor zwei Jahren den Thronfolger zum Tode verurteilt hätten, aber daß sie niemand gehabt hätten, um die Tat auszuführen. Und als er mir die Browning und die Munition dazu übergab, sagte er mir. <Dieser Mann ist gestern abend aus Budapest zurückgekommen.> Ich wußte, daß seine Reise in Zusammenhang mit unserer Geschichte stand, daß er ins Ausland gereist war und mit gewissen Milieus Konferenzen abgehalten hatte. »1

Später wurde der Name dieses Freimaurers genannt: Radovan Kazimirovic, ein auf altslawisches Christentum spezialisierter Theologe und Doktor der Rechte - er hatte in Kiew und in Tübingen studiert -, der in Belgrad als Gymnasiallehrer wirkte. Auf die erstaunte Frage des Gerichtspräsidenten, wie sich denn eine solche Gesinnung mit der Freimaurerei in Verbindung bringen ließe, antwortete Cabrinovic (gleicher Ort):

Angeklagter: «Die Freimaurer verschaffen sich Zutritt zu allen Kreisen und arbeiten überall an der Verwirklichung ihrer Ziele. »2

Dazu die Aussage von Princip auf die Frage des Gerichtspräsidenten, was er denn von Kazimirovic wisse (gleicher Ort):

Princip. «Ich weiß nur, dass sich dieser Mensch Kazimirovic nannte und ungefähr 28 Jahre alt war und daß er vier Jahre vorher seine Studien an einer Theologiefakultät



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in Rußland beendet hatte. [.. .1 Ich weiß, daß er ein intimer Freund von Tankosic ist. Ich weiß, daß Ciganovic' mir von den Freimaurern erzählt hat, aber ich habe ihm auch gesagt, daß ich nicht die Bekanntschaft dieses Mannes machen möchte und daß ich es lächerlich fände, wenn sich Leute aus dem Ausland sich in diese Geschichte einmischen würden. »1

Auch wenn die Attentäter glaubten, im wesentlichen aus eigenen Impulsen zu handeln, so waren sie doch auf Unterstützung von außen angewiesen. Und es muß nicht zwingend angenommen werden, daß sie über all die verschiedenen Fäden, die im Hintergrund zusammenliefen, klar im Bilde waren.

Nach dem Krieg verwahrte sich Kazimirovic dagegen, in das Attentat verwickelt gewesen zu sein. Er schrieb am 5. November 1929 in einem Brief an Albert Mousset (zitiert nach: Stephan Rekule von Stradonitz, Der Mord von Sarajewo. Eine Aufklärung, Leipzig 1931, XIV. Kapitel, «Ein Brief von Kazimirovic»): «Ich bezweifle, daß die Feimaurer an diesem Attentat einen Anteil gehabt haben. Zur Zeit unseres Unglücks (1915-1918) hat ihre Presse, vor allem in Genf uns ihre Hilfe geleistet, denn sie hat unseren Zusammenbruch gesehen und unseren Wünschen nach Wiederherstellung Gerechtigkeit widerfahren lassen. Aber in dieser Richtung sind wir in gleicher Weise von dem Präsidenten der Vereinigten Staaten, Herrn Wilson, und der geistigen Elite der Welt unterstützt worden. Ich erkläre feierlich und entschieden, daß ich niemals Mitglied der Freimaurerei gewesen bin und infolgedessen die mir zugeschriebene Rolle nicht gespielt habe. » Und weiter: «Sonderbare Irreführungen! Man glaubt, Tankosic habe sich an mich als einen Freund gewendet, <bevor er die Verschwörer bewaffnetem, und ich habe zuvor nach Paris, Moskau und Budapest abreisen müssen! Ich habe den Urheber des Attentats (Gavro Princip) gekannt, denn ich war Lehrer, als er sich zu seinem Examen vorbereitete, aber ich habe ihm nie geraten, Franz Ferdinand zu töten. Die Lesart von Cabrinovic' (den ich nicht kannte), der zufolge ich auf Befehl von Tankosic (mir unbekannt, ich wiederhole es) abgereist sein soll, um in Europa die Feimaurerei zu Rate zu ziehen, bricht ebenso zusammen. » Rekule von Stradonitz gelangt deshalb zum Schluß (gleiche Quelle, XVI. Kapitel, «Ergebnisse»): «Die Sachlage ist vielmehr, [.1 auf eine kurze Formel gebracht, folgende gewesen. In den Köpfen einer Anzahl junger bosnischer, nationalistischer Republikaner ist der Gedanke der Ermordung des Erzherzogs-Thronfolgers gekeimt. Von diesen sind einige in Serbien (Belgrad) mit Kreisen der <Narodna odbrana> und der <Schwarzen Hand< in Berührung gekommen, von denen jene in ihrem verbrecherischen Vorhaben bestärkt, mit Mitteln zur Ausführung versehen worden sind, und mit deren Hilfe die Attentäter dann auch nach Sarajevo gelangen konnten. Vor den Richtern, die von der <Schwarzen Hand<, dem <politischen Geheimbundes nichts ahnen und immer nur an die <Narodna odbrana>, ursprünglich mehr einen serbisch-vaterländischen <Kulturbund>, denken, geben sich die Verbrecher alle erdenkliche Mühe, von der Fährte zur <Narodna odbrana>, die schließlich zur Entschleierung der <Schwarzen Hand> hätte führen können, abzulenken. Zu diesem Zwecke ziehen sie mit vagen Andeutungen die Freimaurerei hinein, von der sie gelegentlich gehört haben. »



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Eine solche Verwicklung der Freimaurerei in das Attentat von Sarajevo stellt auch der Journalist und Freimaurer Eugen Lennhoff (1891-1941) in seinem Buch «Die Freimaurer» (Zürich 1929) entschieden in Abrede (Kapitel «Die nationalen Maurereien der Gegenwart», Abschnitt «Jugoslawien (Das Attentat von Sarajevo)»): «Es scheint unbegreiflich, wie vernünftige Menschen auf derlei haltlose <Unterlagen> konkrete Beschuldigungen aufbauen können. Niemals hat der Großorient von Frankreich in spanischer oder irgendeiner anderen Sprache über Attentatspläne verhandelt, niemals waren die jugendlichen Mörder von Sarajevo oder die intellektuellen Anstifter des fürchterlichen Verbrechens Freimaurer. Den Belgrader Logen der kritischen Zeit des Jahres 1914 gehörten in der Hauptsache Leute an, die der aktiven Politik vollständig fernstanden. Auch Pasic den man manchmal, mit dem Maurerschurz bekleidet, in antifreimaurerischen Büchern als <Bruders auftreten sieht, war nicht Mitglied einer Bauhütte. Fest steht aber, daß der Komitadziführer Voja Tankosic [siehe Hinweis zu S. 129]das Attentat organisierte, daß er an Princip und Genossen [siehe Hinweis zu S. 173] Bomben und Brownings verteilte, daß er die Burschen dem Eisenbahn beamten Milan Ciganovic' empfahl, damit dieser sie im Bombenwerfen und Revolverschießen unterrichtete und daß er es ihnen schließlich ermöglichte, die serbische Grenze zu überschreiten und die Mordwaffen nach Bosnien zu bringen. Tankosic war ein von ewiger Unruhe gejagter, zügelloser, roher Mensch, ein grausamer Aufrührer mit eisernen Nerven. Er war der geborene Terrorist, dem seit Jahren der Ruf voranging, daß er von der Polizei nicht zu greifen und unverwundbar sei. »

Auch wenn die Deutungen von Kazimirovic und Lennhoff über den tatsächlichen Tathergang und die darin verwickelten Persönlichkeiten für eine bestimmte Handlungsebene durchaus richtig sein mögen, so heißt das nicht, daß damit die ganze Tiefe des Verschwörungsgeschehens ausgelotet wäre. Auch wenn zum Beispiel Lubomir Jovanic-Cupa, erwiesenermaßen ein Freimaurer, zum Zeitpunkt des Attentats bereits nicht mehr lebte (siehe Hinweis zu 5. 111), so ist es trotzdem möglich, daß die serbische Terrororganisation «Schwarze Hand», die das Attentat logistisch erst ermöglicht hatte (siehe Hinweis zu 5. 111), in Verbindung mit den politisierten Freimaurerkreisen in Budapest, Paris und London stand. Beide Gruppierungen strebten eine Auflösung der Habsburger Doppelmonarchie an (siehe Hinweis zu 5. 116). Bei der Verwirklichung einer solchen Zielsetzung mußte der Thronfolger Franz Ferdinand im Wege stehen, war von ihm doch zu erwarten, daß er sich um eine Modernisierung und Stabilisierung Österreich-Ungarns bemühen würde. Außerdem war von ihm bekannt, daß er mit der Bildung einer Kontinentalliga, einer Wiederbelebung des Dreikaiserbündnisses, sympathisierte. So schreibt der ehemalige österreichisch-ungarische Staatsmann Ottokar Graf Czernin (siehe Hinweis zu 5. 139) in seinen Erinnerungen «Im Weltkriege» (Berlin/Wien 1919) über die grundsätzliche außenpolitische Haltung Franz Ferdinands (II. Kapitel, «Konopischt», Abschnitt «Dreikaiserbündnis gegen die Revolution») — er stand vom Dezember 1916 bis April 1918 dem gemeinsamen österreichisch-ungarischen Außenministerium vor: «In außenpolitischer Richtung hat der Erzherzog stets an dem Gedanken eines Dreikaiserbündnisses festgehalten. Das leitende Motiv bei diesem Gedanken dürfte das gewesen sein, daß er in den drei damals so mächtig scheinenden Monarchen von Petersburg, Berlin und Wien die sicherste Stütze gegen die Revolution erblickte und dergestalt einen starken Wall gegen den Umsturz aufzurichten wünschte. Er sah in der Wien-Petersburger Konkurrenz auf dem Balkan eine große Gefahr für das gute Einvernehmen zwischen Rußland und uns, und er war daher ganz im Gegensatze zu den über ihn verbreiteten Gerüchten bei weitem eher ein Gönner als Gegner der Serben. Er war für die Serben schon aus dem Grunde,



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weil er davon durchdrungen war, daß die kleinliche magyarische Agrarpolitik den Hauptgrund der ewigen Verstimmungen der Serben bilde. Er war zweitens für ein Entgegenkommen Serbien gegenüber, weil er die serbische Frage als störend zwischen Wien und Petersburg empfand, und er war drittens für die Serben, weil er aus persönlichen und sachlichen Gründen kein Freund König Ferdinands von Bulgarien war, welcher seinerseits ja eine antiserbische Politik betrieb. Ich glaube, wenn diejenigen, welche die Mörder gegen den Erzherzog geschickt haben, gewußt hätten, wie wenig gerade jene Intentionen bei ihm vorhanden waren, wegen derer sie ihn ermordeten -sie wären von ihrem Mordplane abgestanden. »Es ist nicht ganz klar, wie sehr sich Franz Ferdinand bewußt war, daß er sich mit einer solchen außenpolitischen Zielsetzung in einen scharfen Gegensatz zur britischen Außenpolitik setzte; für diese war ja die Bildung einer Kontinentalliga ein ausgesprochenes Schreckgespenst (siehe Hinweis zu 5. 141). Aber von diesem Gesichtspunkt ließe sich eine schockierende und zunächst eher unglaubliche Äußerung Franz Ferdinands gegenüber Graf Czernin besser verstehen; er erzählte ihm nämlich, daß die Freimaurer seinen Tod beschlossen hätten. Czernin in seinen Erinnerungen (gleicher Ort, Abschnitt «Persönliche Furchtlosigkeit»): «Eine hübsche Eigenschaft des Erzherzogs war seine Furchtlosigkeit. Er war sich vollständig im klaren darüber, daß die Gefahr eines Attentates für ihn immer bestehe, und er sprach oft und vollständig ohne jede Pose über diese Eventualitäten. Von ihm erhielt ich ein Jahr vor Kriegsausbruch die Nachricht, daß die Freimaurer seinen Tod beschlossen hätten. Er nannte auch die Stadt, wo dieser Beschluß angeblich gefaßt worden sei - dies ist mir entfallen - und nannte die Namen verschiedener österreichischer und ungarischer Politiker, welche davon wissen müßten. » Erstaunlich ist jedenfalls, daß seine Ermordung ab dem Jahre 1912 als feststehende Tatsache vorausgesagt wurde, so zum Beispiel von der berühmten französischen Wahrsagerin Mme de Thèbes (siehe Hinweis zu 5. 237).

237 Die Herzogin sieht im letzten Augenblick aus dem Wagen heraus. Eine Darstellung all dieser Einzelheiten findet sich in Maximilian Hardens Aufsatz «Wetterscheide», der in der Wochenschrift «Die Zukunft» vom 11. Juli 1914 (XXII. Jg. Nr. 41) erschienen ist und in der zweibändigen Aufsatzsammlung «Krieg und Friede» (Berlin 1918) wieder abgedruckt wurde (Band I, 2. Kapitel «Fata Morgana»). Aber auch in der redaktionellen Nachbemerkung zum Aufsatz «Potemkinsland» in der Halbmonatsschrift «Das freie Wort» von Anfang August 1914 (XIV. Jg. Nr. 9, siehe Hinweis zu 5. 239) werden diese Vorgänge geschildert. Der Kommentator - vermutlich der Herausgeber Max Henning (1861-1927), ein bedeutender Orientalist und Übersetzer des Korans -bemerkt: «Tags vorher waren Depeschen nach allen Seiten [ausgeschickt worden], daß die Besuchsfahrt des <Thronfolgerpaares> so nannte man wider Recht und Eid und Wirklichkeit die hohen Herrschaften [siehe Hinweis zu 5. 100] — einem Triumphzug gleich von einem Sturm von Ovation begleitet sei. Und dann ein so grausames Ende nach der kurzen Freude, zum ersten Mal, als das mächtigste Paar der Monarchie magistratliche Huldigungen empfangen zu haben [hatte], die im militärischen Reiseplan gar nicht vorgesehen, sondern vom Thronfolger einfach verfügt worden waren, so daß der Sicherheitsdienst gar nicht mitkommen konnte! Der Herzogin letzter glücklicher Augenblick war es, als beim Heraustreten aus dem Rathause eine weibliche Stimme in der Nähe <Nazdar!>rief <Hörst Du, eine Slavka!>, sagte da Sophie von Hohenberg lächelnden Antlitzes zu ihrem ernsten Gemahl. Bei ihren Tschechen fühlte sich die hohe Frau geborgen. » Sophie von Hohenberg war ja von Herkunft Tschechin, weshalb ihr der tschechische Willkommensgruß «Nazdar» eine besondere Freude bereitet haben muß.



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237 in einer wenn auch schlechten Pariser Zeitung im Januar 1913: Im Leitartikel des «Berner Tagblattes» vom 28. August 1915 (27. Jg. Nr. 400) «Zur Vorgeschichte der Mordtat von Serajewo» wurde auf einen Bericht hingewiesen, den Max Beer (siehe Hinweis zu S. 132), der Pariser Korrespondent dieser Zeitung mit Datum vom 7. Januar 1913 an die Zeitung geschickt hatte. In diesem Artikel - vermutlich stammte er aus der Feder des Chefredaktors, G[ustav] Beck -heißt es:Es ist zuweilen gut und nützlich, in alten Papieren und Zeitungen zu blättern. Der Zufall fördert dann und wann wieder Dinge zutage, an denen man seinerzeit achtlos vorbeiging, die dann vergessen wurden, um plötzlich im Lichte neuer Ereignisse grell beleuchtet wieder aufzuerstehen.

So stießen wir beim Blättern in alten Nummern des «Berner Tagblatts» zufällig auf einen Pariser Brief, den uns im Januar 1913 unser Pariser Korrespondent Herr Dr. Max Beer sandte. In diesem Brief wurde die Stellungnahme Frankreichs zu den Balkanereignissen und dem russisch-österreichischen Gegensatze besprochen. Dabei erwähnte unser Korrespondent mit Entrüstung einen Artikel, den der «Paris-Midi», das viel gelesene chauvinistische Boulevard blatt, unter der Unterschrift seines Chefredakteurs Maurice de Waleffe [siehe Hinweis zu 5. 230]veröffentlichte.

Der betreffende Passus lautete: «Der einzige Wunsch, den das neue Jahr nötig macht, ist dieser: Seitdem es Anarchisten gibt und seitdem sie die Gewohnheit haben, den Herrschern ans Leben zu gehen, haben sie nach meiner Ansicht selten eine so gute Gelegenheit gehabt, uns mit ihnen zu versöhnen. Glauben Sie nicht auch, daß der Anarchist, der morgen den Erzherzog Franz Ferdinand ermorden würde, der Welt Ströme von Blut und Tränen ersparen würde?»

Dieser Ausspruch, diese Hoffnung auf eine Ermordung des österreichisch-ungarischen Thronfolgers, wurde in der ersten Januarwoche des Jahres 1913, also über anderthalb Jahre vor Erfüllung dieses Herzenswunsches in einem verbreiteten Pariser Blatt gedruckt und, ohne Widerspruch zu erwecken, verbreitet. Die Pariser Korrespondenz, in der wir damals diesen ungeheuerlichen Satz berichteten, erschien in dem Abendblatt Nr. 8 des Berner Tagblatts vom 7. Januar 1913 [unter dem Titel «Frankreichs Sorgen am Jahresbeginn»]. Unser Pariser Korrespondent fügte damals der Mordhoffnung des «Paris-Midi» folgenden Kommentar bei. «Es ist zwar richtig, daß der <Paris-Midi> sich von jeher durch derartige neurasthenische Ausdrücke auszeichnete, aber wenn eine verbreitete Zeitung derartige Dinge schreibt und schreiben kann, so gibt das doch wohl zu denken.»

Wir wollen nicht in die Geschmacklosigkeit verfallen, intimere Zusammenhänge zwischen dem Wunsche einer Pariser Zeitung, Franz Ferdinand möge ermordet werden, und der tatsächlich eintreffenden Mordtat aufzustellen. Wir wollen auch nicht besonders den furchtbaren Irrtum des Attentatsjournalisten unterstreichen, der von dem Verschwinden des Thronfolgers die Beruhigung Europas erwartete! Wir können vielleicht aber in diesem tragischen und verbrecherischen Ausspruch aus dem Januar des Jahres 1913 die Erklärung dafür finden, daß die Mordtat von Sarajevo auf die Franzosen so wenig Eindruck machte und nicht als das furchtbare Verbrechen wirkte, als das die Deutschen und Österreicher es auffaßten, als sie die Hoffnung auf eine allgemeine europäische Solidarität an der Bahre des Ermordeten hegten. Wir müssen aber auch daran erinnern, daß derselbe «Paris-Midi» während der Debatten über den dreijährigen Dienst erklärte, daß im Falle der Mobilmachung Jaurès [siehe Hinweis zu 5. 228]als einer der ersten ermordet werde. Zwei Mordtaten, die Mordtat, die die Weltkrisis vom August 1914 ein-



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leitete, und die Mordtat, die jene Krisis abschloß, beide wurden in einem Pariser Boulevardblatt angekündigt und empfohlen. Wir beschränken uns darauf den Kommentar unseres Korrespondenten aus dem Jahre 1913 zu wiederholen: Wenn eine verbreitete Zeitung derartige Dinge schreibt und schreiben kann, so gibt das doch wohl zu denken - um ihr heute nur die Worte hinzuzufügen -, um so mehr, wenn diese Dinge eintreffen

Mit der Erörterung einer möglichen Ermordung des österreichisch-ungarischen Thronfolgers hatte der «Paris-Midi» allerdings bereits bekanntes Terrain betreten.

Das Thema lag ganz offensichtlich in der Luft, wurde doch die Ermordung des österreichischen Thronfolgers ein paar Monate vorher im «Almanach de Mme de Thèbes 1913. Conseils pour être heureux» (Paris 1912) vorausgesagt. So verkündete Mme de Thèbes («Mes prophéties pour 1913)»: «Jetzt ist auch die Stunde nahe zum offenen Ausbruch der Feindschaft zwischen Slawen und Germanen. Jener, der glaubt, einmal regieren zu können, wird nicht regieren, und ein junger Mann, der nicht regieren sollte, wird an seiner Stelle regieren. »1 Ein Jahr später, im Almanach für das Jahr 1914 (Paris 1913), bestätigte Madame de Thèbes ihre Voraussage («Mes prophéties pour 1914»): «Was das kaiserliche Drama betrifft, das ich vorausgesagt habe - es ist auf dem Wege, sich zu erfüllen.» 2 Und im Almanach für das Jahr 1915 (Paris 1914) schrieb sie im Rückblick auf ihre Prophezeiungen vom vergangenen Jahr («Mes prédictions de l'an passe»): «Das kaiserliche Drama, das ich vorausgesagt habe, hat sich vollzogen. Niemand kann das Schicksal aufhalten. Ich sah, wie der Tod auf Franz-Ferdinand von Este und seine Gattin zuging. Sie waren gewarnt. »3 Im Almanach von 1913 wies sie ebenfalls auf den zu erwartenden Sturz des deutschen Kaisers hin, antwortete sie doch auf den Brief einer deutschen Dame, die von einem siegreichen Einzug des deutschen Kaisers in Paris ausging: «Nein, sehr verehrte Frau, er wird nicht als König nach Paris kommen. Er wird vielleicht später - als Ex-König -kommen, und Berlin wird er einmal rascher verlassen, als er es jetzt noch glaubt. »4

Die Prophezeiungen der Mme de Thèbes, insbesondere auch ihre Aussagen über einen kommenden Krieg fanden nicht nur in Frankreich, sondern in ganz Europa Beachtung. So befaßte sich die Wissenschaft, zum Beispiel auch der deutsche Parapsychologe Albert Freiherr von Schrenck-Notzing (1862-1929) in den «Psychischen Studien» vom November 1918 (XLV. Jg. Nr. 11) mit den «Prophezeiungen der Madame de Thèbes über den Weltkrieg». Er erwähnte weitere Voraussagen, zum Beispiel, daß wegen Belgien ganz Europa in Flammen aufgehen würde oder daß das deutsche Kaisertum das Ende des Krieges nicht überleben werde. Tatsächlich schrieb Mme de Thèbes in ihrem Almanach für das Jahr 1912 (Kapitel «Mes prophéties pour 1912»), in bezug auf Belgien: «Ich habe vorausgesagt, daß innerhalb von drei Jahren, aus gegebenem Anlaß, von Belgien aus Europa in Brand gesetzt werden könnte. »5 Und in bezug auf Deutschland meinte sie (gleicher Ort): «Deutschland bedroht



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Europa im allgemeinen und Frankreich im besonderen. Wenn der Krieg ausbrechen wird, wird es ihn gewollt haben, aber es wird nachher weder die Hohenzollern noch ein herrschsüchtiges Preußen mehr geben: Das ist das Ergebnis, daß Berlin mit seinen Gewalttätigkeiten und seiner barbarischen Politik erreichen wird. Ich habe es bereits gesagt und werde es jeden Tag wiederholen, daß die Tage des Kaisers gezählt sind und daß nachher in Deutschland alles anders sein wird. Ich sage ausdrücklich: die Tage seiner Regierung, nicht die Tage seines Lebens. »1 Bemerkenswert sind auch ihre Aussagen im Hinblick auf England und Rußland (gleicher Ort): «Es offenbart nichts Friedliches im unmittelbaren Schicksal von England. Nichts Beruhigendes zeigt sich auch im Zusammenhang mit Rußland. Der Friede ist unsicher und neue Erhebungen werden in der nächsten Zeit stattfinden. Der kaiserlichen Familie drohen neue Trauerfälle [...]. Der Haß wächst gegen jene, die regieren, da wie dort, und die Russen organisieren sich nach und nach. »2 Und in bezug auf die Vereinigten Staaten schrieb sie im gleichen Almanach: «Indessen bin ich geneigt zu denken, dass Nordamerika sich am europäischen Konflikt beteiligen wird, der durch außergewöhnliche und unbesonnene Anschläge ausbrechen wird. »3

Mme de Thèbes war eine berühmte Pariser Hellseherin und Chiromantin und hieß eigentlich Anne-Victorine Savigny (1845 —1916). Sie war von Beruf Schauspielerin, hatte aber keinen durchschlagenden Erfolg. Unter dem Einfluß des Dichters Alexandre Dumas fils (1824-1895), mit dem sie befreundet war, begann sie sich der Handlesekunst und der Astrologie zu widmen. Geschult von Adolphe Desbarolles (1804-1886), einem viel beachteten Chiromanten und Freund des Okkultisten Eliphas Lévi, übernahm sie nach dessen Tod seine geistige Nachfolge. Savigny, die sich eine recht umfassende Bildung angeeignet hatte, verstand es, sich durch eine geschickte Anwendung ihrer hellseherischen Gabe eine angesehene soziale Position zu verschaffen und ein beträchtliches Vermögen anzuhäufen. Sie war mit vielen führenden Köpfen der französischen Gesellschaft persönlich bekannt, aber ihre Verbindungen reichten über die Grenzen ihres Landes hinaus. Berühmt wurde sie durch ihre Voraussage der Brandkatastrophe vom 4. Mai 1897 in Paris anläßlich eines Wohltätigkeitsbasars, die Dutzenden von Menschen das Leben kostete. Ihr Ruf verbreitete sich weitherum durch den seit 1902 regelmäßig im Oktober erscheinenden «Almanach de Mme de Thèbes». Es erschienen insgesamt 15 Ausgaben; der letzte Almanach war derjenige für 1917. Mit seinem roten Titelblatt und dem Bild eines weißen Elefanten enthielt der Almanach - so Schrenck-Notzing - «neben kabbalistischen und chiromantischen, oft recht unklaren Eröffnungen und Wetterprognosen, neben Ratschlägen über Behandlung schlechter Dienstboten und zur Kunst, einen Mann zu finden» eben auch einige Mitteilungen über die künftige politische Entwicklung in Europa. Die Prophezeiungen der Mme de Thèbes bezogen sich jeweils auf die Zeitspanne vom Frühling des nächsten Jahres bis zum



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Frühling des übernächsten Jahres. Mme Savigny: «Der Frühling ist der eigentliche Jahresanfang und der Zeitpunkt, wo sich alle Einflüsse und Energien, aus denen das irdische Leben besteht, erneuern.»' So bezog sich zum Beispiel der Almanach von 1914 auf die Zeit vom 21. März 1914 bis zum 21. März 1915.

Die Prophezeiungen der Madame de Thèbes fanden auch in okkulten Kreisen Beachtung. So wurde zum Beispiel in der vom Theosophen Paul Zillmann herausgegebenen «Neuen Metaphysischen Rundschau» (Band 21 Nr. 5/6 vom Januar 1915) auf Mme de Thèbes hingewiesen. Auch Bruno Grabinski erwähnte sie in seinem Buch «Neuere Mystik. Der Weltkrieg im Aberglauben und im Lichte der Prophetie» (Hildesheim 1916). In diesem Buche machte er (Kapitel «Der Weltkrieg im Lichte der Prophetie») auf einen Artikel der Pariser Tageszeitung «Le Matin» vom 5. Juli 1914 über Mme de Thèbes aufmerksam, wo es heißt: «Daß Madame de Thèbes den Tod des Thronfolgers voraussagte, ist ebenso bemerkenswert wie der Umstand, daß in Sarajevo auf dem Turme der serbischen Kirche die Trauerfahnen schon eine halbe Stunde vor dem Attentat gehisst war.» Aber: «Bei Madame ist nichts Mystisches im Spiele, höchstens, daß man ihr einen sehr feinen assoziierenden Geist zuschreibt [...]. Aber das ist nichts Übernatürliches. Ihre Weisheit besteht darin, daß sie aus allen Ländern sehr gute Informationen erhält und diese dann in sich verarbeitet und durch assoziatives Talent zu <Prophezeiungen>umgestaltet. Sie gesteht im Almanach 1914 ganz offen zu, daß sie ihren wertvollen Freundschaften in Wien eine große Zahl wichtiger Nachrichten verdankt. Es mag von größerem Interesse sein zu erfahren, daß Madame de Thèbes im nationalistischen Lager steht und infolgedessen auch der panslawistischen Clique in Paris sehr nahe. [...] Aus ihren Prophezeiungen ersieht man nun, daß schon 1913 ein Attentat auf den Thronfolger geplant sein mußte; es kam nicht zur Ausführung, aber für 1914 konnte sie ihre <Prophezeiungen wiederholen, da man im panslawistischen Lager den Tod des Erzherzogs beschlossen hatte. Die Bestimmtheit, mit der Madame de Thèbes ihre Prophezeiung für 1914 wiederholte, ist bemerkenswert, und nach den neuesten Nachrichten aus Sarajevo war auch um das Thronfolgerpaar ein so verhängnisvolles Netz von Verschwörern gelegt, daß es auf keinen Fall entkommen wäre. Für die Panslawisten ist es wertvoll, eine <Hellseherin> zu besitzen, und sie informieren sie über die geheimsten Beschlüsse. »

Uber das geistig-politische Umfeld der Madame de Thèbes und die mit ihr in Verbindung stehenden Persönlichkeiten hatte sich Rudolf Steiner bereits in seinem öffentlichen Vortrag vom 24. März 1916 in Berlin (in GA 65) geäußert: «Es kann leichtgläubige Menschen geben, die nichts mehr und nichts weniger glauben, als da habe sich eine große Prophetie erfüllt, und denen gar nicht in ihrem blinden Glauben klar zu machen ist, daß hier unlautere, in der europäischen Welt lebende Strömungen gewirkt haben, welche den Aberglauben und allerlei dunkle Okkultismen benützt haben, um irgend etwas in die Welt hineinzubringen. » Und über die geheimnisvolle Persönlichkeit der Madame de Thèbes: «Dieselbe Persönlichkeit, die jenen Almanach erscheinen läßt, ist in den ersten Augusttagen 1914 nach Rom gereist, um dort gewisse Leute zu beeinflussen, die eben solchem Einflusse zugänglich sind, nach einer Richtung hin, von der ich nicht sagen will, daß sie mit den Hauptursachen der Stellung Italiens verknüpft ist, die aber schon gewirkt hat in dieser Sache. » In einem Brief des deutschen Astrologen Wilhelm Becker an den bekannten englischen Astrologen Alan Leo (1860 —1917), den Herausgeber der Zeitschrift «Modern Astrology», heißt es («Modern Astrology», 25.Jg., März 1915,



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«Letters to the Editor»), daß «von Madame de Thèbes berichtet werde, sie habe eine grosse Kundschaft von Leuten aus der französischen Regierung, die sie regelmäßig befragen und ihren Aussagen bedingungslos Glauben schenken würden. »1Prophezeiungen und Warnungen vor einem großen Krieg waren in den Jahren vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs offensichtlich keine Seltenheit. Mit dieser Frage beschäftigte sich auch die Monatsschrift «The Theosophist» vom Oktober 1916 (Vol. XXXVIII No. 1), zum Beispiel im Aufsatz «The War and the Prophets». Der unter dem Pseudonym «Mercurial» schreibende Verfasser zählt dort insgesamt acht verschiedene Aussagen -die Prophezeiungen der Mme de Thèbes miteinbezogen - auf. So hätten in der Zeitschrift «Modern Astrology» vom Juli 1910 im Zusammenhang mit den Horoskopen der wichtigsten gekrönten Häupter Europas die Sätze gestanden: «Das Schicksal der europäischen Völker hängt an einem dünnen Faden; [es hängt ab] vom Geburtshoroskop des Kaisers von Österreich. In seinem Geburtshoroskop liegt der Planet Mars genau auf dem Aszendenten von König Georgs Horoskop, weshalb es nicht müßig ist zu prophezeien, daß, falls während der Lebenszeit dieser beiden Monarchen ein europäischer Krieg ausbricht, der Kaiser von Österreich der direkte Grund dafür ist, wenn England in diesen Kampf mit hineingezogen wird. »2 Zum Kreis der Wahrsager soll auch Alfred Percy Sinnett (siehe Hinweis zu 5. 222 in GA 173c) gehört haben.

238 wie es zum Beispiel in Rumänien gegenüber Österreich: In dem von Rudolf Steiner kurz nachher erwähnten Aufsatz «Potemkinsland», der in der Halbmonatsschrift «Das freie Wort» Anfang August 1914 (siehe Hinweis zu 5. 239), erschienen war, beleuchtet der Verfasser auch das Verhältnis zu Rumänien. Er schreibt: «In Rumänien gibt es zwei Losungen: <Jos [cul Austria perfida>!>(<Nieder mit dem treulosen Osterreich!<) und <Lieber russisch als magyarisch!> ein Spruch, den die Not der vergewaltigten Rumänen in Ungarn geschaffen, der aber auch im Königreiche Widerhall gefunden hat. » Und weiter: «Und wäre das rumänische Volk auch gar nicht russisch, so ist es doch österreichfeindlich gesinnt, und es wird mit jedem Gegner der Donaumonarchie gehen, der ihm die geknechteten Brüder befreien hilft. Das ist die Wirklichkeit, die König Karol selbst anerkannt hat, da er von der unwiderstehlichen Macht des Volkswillens in seinem Lande sprach, und die ein Führer der Kulturliga bestätigte, da er bei der Tagung in Bukarest betonte, daß die Dynastie es niemals wagen dürfe, sich der Volksbewegung, die über die ungarische Grenze strebe, zu widersetzen. »

238 Und nun hat man eine ganz besonders organisierte Kampagne. Gemeint sind vermutlich die irredentistischen Bestrebungen der «Lega Nazionale» (siehe Hinweis zu 5. 174).

238 Als durch den bedeutenden Einfluß Lord Salisburys Österreich auf dem Berliner Kongreß.. Robert Arthur Gascoyne-Cecil, Marquess of Salisbury (1830-1903) war nach dem Tode von Benjamin Disraeli, Earl of Beaconsfield der prominenteste konservative Staatsmann. Lord Salisbury entstammte der vornehmen Familie der Cecil, einer seit der Zeit Königin Elisabeths I. tonangebenden Familie. Nach einer



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seinem Stand entsprechenden Erziehung in Eton und Oxford wurde er bereits 1853 als Vertreter der Konservativen Partei ins Unterhaus gewählt, wo er bis zum Tode seines Vaters im Jahre 1868 blieb. Die Erbschaft des Hochadelstitels bedeutete, daß er ins Oberhaus wechseln mußte. Aufgrund seiner gut fundierten politischen Kenntnisse und seines sachlich-ruhigen Auftretens im Parlament gewann er bald große Wertschätzung und wurde ab 1866 mit Regierungsverantwortung betraut: Er war vom Juli 1866 bis März 1867 und vom Februar 1874 bis April 1878 Minister für Indien und dann vom April 1878 bis April 1880 Außenminister. Aufgrund seiner politischen Stellung nahm er an der Konferenz von Konstantinopel von 1876 bis 1877 und am Berliner Kongreß von 1878 als Vertreter Großbritanniens teil (siehe Hinweis zu 5. 79); in Berlin war er der Begleiter von Premierminister Disraeli. Mit großem diplomatischem Geschick vertrat er während der Orientkrise von 1875 bis 1878 die britischen Interessen. Ihm ging es darum, die russische Expansion auf dem Balkan und die Bildung eines russisch dominierten großbulgarischen Staates zu verhindern. Deshalb trat er auch für ein verstärktes Engagement Österreich-Ungarns auf dem Balkan ein: Mit der Okkupation Bosnien-Herzegovinas durch österreichisch-ungarische Truppen sollte ein Gegengewicht zu Rußland geschaffen werden. Das kam der Idee all derjenigen entgegen, die die Schaffung eines Walls gegen den Russizismus forderten (siehe Hinweis zu 5. 257 in GA 173b). Gleichzeitig war es Lord Salisbury gelungen, sich von der Türkei das Protektorat über die Insel Zypern als wichtigen Stützpunkt auf dem Seeweg nach Indien zu sichern.Nach dem Tode Disraelis gelang es Salisbury, die Konservative Partei durch Verschmelzung mit den liberalen Unionisten - einer Abspaltung der Liberalen, die gegen die irische Selbstverwaltung eingestellt waren - zu stärken und damit ab 1885 eine Periode von zwanzig Jahren einzuleiten, in denen die Konservativen das politische Geschehen beherrschten. In dieser Zeit war er insgesamt dreimal Premierminister - vom Juni 1885 bis Januar 1886, vom Juli 1886 bis August 1892 und vom Juni 1895 bis Juli 1902. Als Premierminister hatte er zeitweise auch das Außenministerium übernommen; so wirkte er vom Juni 1885 bis Februar 1886, vom Januar 1887 bis August 1892 und vom Juni 1895 bis November 1900 auch als Außenminister. Außenpolitisch verfolgte er eine Politik der Bündnisfreiheit, die er immer noch als die beste Garantie für die Durchsetzung der britischen Interessen in der Welt betrachtete. Obwohl für ihn die Interessensgegensätze zu Frankreich und Rußland im Vordergrund standen, hegte er doch ein grundsätzliches Mißtrauen gegenüber der deutschen Politik. Die weltpolitische Isolierung, in die Großbritannien gerade im Zusammenhang mit dem Burenkrieg in Südafrika geraten war (siehe Hinweis zu 5. 46), ließ die Frage nach einer Abkehr von der bisherigen Politik der Bündnisfreiheit aufkommen (siehe Hinweis zu S.141).

238 in Österreich die heftigste Opposition gegen die Angliederung von Bosnien und der Herzegovina: Siehe Hinweis zu 5. 254 in GA 173b.

238 man wollte nur das Reich zusammenhalten, um der Kampagne zu begegnen: So hieß es im österreichisch-ungarischen Ultimatum an Serbien vom 23. Juli 1914 unter anderem (zitiert nach: Max Beer, «Das Regenbogen-Buch», Bern 1915, Kapitel «22. Juli»): «Die angeführten Ergebnisse der Untersuchung gestatten es der le. und k. Regierung nicht, noch länger die Haltung zu wartender Langmut zu beobachten, die sie durch Jahre jenen Treibereien gegenüber eingenommen hatte, die ihren Mittelpunkt in Belgrad haben und von da auf die Gebiete der Monarchie übertragen werden. Diese Ergebnisse legen der k. und k. Regierung vielmehr die Pflicht auf, Umtrieben ein Ende zu bereiten, die eine beständige Bedrohung für die Ruhe der Monarchie bilden. »



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239 seit Delcassé, seit der italienische Außenminister Tittoni an die Macht kamen: Diese Vortragsstelle ist im Stenogramm nur schwer zu entziffern und mußte sinngemäß erschlossen werden. Als Interpretationshilfe dienten die Angaben Rudolf Steiners auf dem Notizblatt Nr. 3900 (in GA 173c). In die Wirkenszeit von Théophile Delcassé (siehe Hinweis zu S. 221) und von Tommaso Tittoni (siehe Hinweis zu S. 249) fällt die Kolonialverständigung vom 1. November 1902 zwischen Frankreich und Italien (siehe Hinweis zu S. 262 in GA 173b) und damit der Beginn der allmählichen außenpolitischen Umorientierung Italiens, verbunden mit einer schleichenden Loslösung aus dem Dreibund.

239 indem ich Ihnen ein Stückchen aus einem Aufsatz vorlese: Es handelt sich um den Aufsatz «Potemkinsland», der in der Frankfurter Monatsschrift «Das freie Wort» von Anfang August 1914 (XIV.Jg. Nr.9) erschienen war. Als Verfasser wird ein «Altösterreicher» bezeichnet; welche Persönlichkeit hinter dem Pseudonym verbirgt, konnte nicht geklärt werden. Mit «Potekimsland» ist Österreich-Ungarn gemeint, dessen Politik der Verfasser als bloße «Potemkinade» bezeichnet, weil sie rein auf den äußeren Schein gerichtet sei. Deshalb auch seine Anspielung auf Grigorij Aleksandrovic Potemkin (Potjomkin, 1739-1 791) und dem von ihm angeblich zur Täuschung veranlaßten Bau von fein herausgeputzten Dorfkulissen ohne wirklichen sozialen Lebenshintergrund. Nach heutiger Auffassung geht dieser Vorwurf allerdings auf eine Intrige neidischer Adliger am St. Petersburger Hof zurück, um Potëmkins zivilisatorische Leistung als Generalgouverneur der südlichen Provinzen herabzusetzen.In seinem Aufsatz stellt der «Altösterreicher» fest: «Gewiß, die Donaumonarchie selbst ist noch eine Wirklichkeit und könnte daher eine Macht sein. Aber die Politik, die sie betreibt, hat allen festen Untergrund verloren, die Bündnisse und Freundschaften im Süden sind dahin; Österreich ist eingekreist und isoliert. Das muß man einsehen und anerkennen und dann auf die Gebärde der Macht verzichten, die in sich selbst beruhen und sogar noch ungeheure Ansprüche erheben will. Diese Politik führt in allernächster Zeit zu der vernichtenden Katastrophe, der Hochmut und Verblendung noch nie entgangen sind. » Und gerade deshalb erachtet es der Verfasser als äußerst gefährlich, wenn sich Deutschland bedingungslos hinter Österreich-Ungarn stelle: «Heute nun ist diese deutsche Politik der Unwirklichkeit auf einen Punkt gelangt, wo sie nicht mehr allein den Verlust weltpolitischer Vorteile nach sich zieht, sondern eine unmittelbare Gefahr für den Bestand des Reiches selbst erzeugt, dadurch nämlich, daß sie das Bündnis mit Österreich-Ungarn unentwegt als Sicherheitsfaktor und Aktivposten in ihre Rechnung einsetzt, während in der Tat die Donaumonarchie nur mehr eine Belastung der deutschen Stellung und eine Gefahrenquelle schlimmster Art für sie bedeutet. Die deutsche Politik läßt sich von einem großen Trugbilde blenden, das verbündete Reich, auf das sie sich stützt, ist ein Potemkinsland geworden. Es ist durchaus notwendig und eine patriotische Tat zum Besten Österreichs wie eine nationale Tat zum Besten des Deutschtums, daß diese Wahrheit ausgesprochen wird. » Und so gelangt er zum Schluß: «Potemkinade an der Donau und Unwirklichkeitspolitik an der Spree: so treibt man der dunklen Zukunft entgegen. » Als einzigen Ausweg aus diesem Dilemma empfiehlt er: «Die Donaumonarchie muß heute ihr Heil und ihre einzige Rettung in der Gründung einer militärpolitischen und wirtschaftlichen unlöslichen Einheit Mitteleuropas erkennen, sonst ist ganz Mitteleuropa den Verhältnissen nicht gewachsen. Österreich-Ungarn ist nach der Lage der Dinge unhaltbar, und das ergäbe auch für das Deutsche Reich eine für die Zukunft aussichtslose Situation in einem Ringe von Feinden. Wenn aber eine Fusion, so enge als sie nur denkbar ist, ohne die innere Selbständigkeit der Vertragsteile zu beschränken, stattfindet, so fließt die ungeheure Kraft des Deutschen



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Reiches auf ganz Mitteluropa über, und die Wucht dieses Bundes wird jeden Angreifer abschrecken. »

240 bevor noch die letzte Ursache, das Attentat, eingetreten war: Als Nachbemerkung zu den Ausführungen des Autors heißt es in diesem Aufsatz: «Vorstehendes war schon geschrieben und im Satz, als die furchtbare Katastrophe von Sarajevo wie ein greller Blitz durch das Gewölk der Täuschungen hindurch die Wirklichkeit erkennen ließ.»

240 Rumänien und Italien von der Teilnahme am Kampfe gegen den früheren Verbündeten zurückzuhalten: Italien gehörte zum Dreibund (siehe Hinweis zu 5. 173), und Rumänien war auf indirekte Art mit dem Dreibund verbunden (siehe Hinweis zu 5. 34).

241 von Mitteleuropa sei dieser Krieg angestiftet worden: Siehe Hinweis zu 5. 139.

242 ich will, daß die Menschen Mitteleuropas: In diese Richtung weisen zum Beispiel die Verlautbarungen der Entente-Finanzkonferenzen im Jahre 1916 in Paris (siehe Hinweis zu 5. 51). Daß die Ententemächte auf eine Unterwerfung und Ausschaltung Mitteleuropas zielten, und zwar sowohl in geistig-kultureller wie auch materiellwirtschaftlicher Hinsicht -davon war Rudolf Steiner überzeugt. Dies schien sich ihm auch durch den Inhalt der Entente-Note vom 10. Januar 1917 (siehe Hinweis zu 5. 80 in GA 173c) zu bestätigen. Auch der Abschluß des Waffenstillstandes änderte nichts an seiner Überzeugung. So sagt er zum Beispiel im Vortrag vom 1. Dezember 1918 (in GA 186): «Worum es sich handelt, ist doch, daß in den ihr Wissen geheimhaltenden Zirkeln des Westens sehr darauf gesehen wird, daß gewisse Dinge sich so herausbilden, daß dieser Westen unter allen Umständen über den Osten die Herrschaft erwirbt. Mögen die Leute heute in ihrem Bewußtsein sagen, was sie wollen, dasjenige, was angestrebt wird, ist, eine Herrenkaste des Westens zu begründen und eine wirtschaftliche Sklavenkaste des Ostens, die beim Rhein beginnt und weiter nach Osten bis nach Asien hinein geht. Nicht eine Sklavenkaste im alten griechischen Sinne, aber eine ökonomische Sklavenkaste, eine Sklavenkaste, welche sozialistisch organisiert werden soll, welche alle Unmöglichkeiten einer sozialen Struktur aufnehmen soll, die aber dann nicht angewendet werden soll auf die englischsprechende Bevölkerung. Darum handelt es sich, die englisch sprechende Bevölkerung zu einer Herrenbevölkerung der Erde zu machen. »

242 zum Teil zu Heloten gemacht werden. Ursprünglich wurden in der griechischen Antike die Staatssklaven Spartas -die von den Dorern unterworfene achäische Urbevölkerung -als Heloten bezeichnet. Es handelte sich um leibeigene, an die Scholle gebundene Bauern, die aber im Gegensatz zu den gewöhnlichen Sklaven keine privaten Dienste verrichten mußten und deshalb auch nicht verkauft oder getötet werden konnten. Ihre hauptsächliche Verpflichtung bestand darin, die den spartanischen Vollbürgern gehörenden Landgüter zu bewirtschaften und den größten Teil der erzielten Erträge abzuliefern. Darüber hinaus spielten sie als Hilfstruppen innerhalb der spartanischen Armee eine wichtige Rolle. Die Freilassung der Heloten konnte nur der Staat verfügen.

243 niemals zehn Jahre hintereinander vergangen, ohne daß England nicht Krieg geführt hätte. Tatsächlich führte Großbritannien im 19. Jahrhundert zahlreiche Kriege. Abgesehen von den beiden großen Kriegen gegen Frankreich (Revolutionskrieg 1793 bis 1802 sowie Napoleonischer Krieg 1803 bis 1815) und Rußland (Krim-Krieg 1853 bis 1856, siehe Hinweis zu 5. 141) handelte es sich um Kolonialkriege, die Großbritannien im Zusammenhang mit dem Aufbau des British Empire gegen



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244 Und als jener Brooks Adams die Ideen, die ich Ihnen angeführt habe: Siehe Hinweis zu 5. 152.

244 wer Herbert Spencer gut kennt oder John Stuart Min: Siehe Hinweis zu 5. 103 in GA 173c.

245 von England her den deutschen Sozialismus begründet haben: Siehe Hinweis zu 5. 122 in GA 173c.

245 Die Bildung Mitteleuropas war so sehr vom französischen Elemente durchdrungen: Diese Entwicklung hing mit der überragenden Bedeutung der von Frankreich ausgehenden Aufklärungsbewegung und ihren literarischen und philosophischen Vertretern wie zum Beispiel René Descartes (1596-1650) oder Voltaire (François Marie Arouet, 1694-1778) zusammen.

245 Lessings «Laokoon»: «Laokoon: oder über die Grenzen der Malerei und Poesie. Mit beiläufigen Erläuterungen verschiedener Punkte der alten Kunstgeschichte» war eine kunsttheoretische Abhandlung des deutschen Dichters und Philosophen Gotthold Ephraim Lessing (1729-1781). Ausgehend von einer griechischen Plastik, der «Laokoon-Gruppe», und dem dort dargestellten Schmerz Laokoons setzte sich Lessing in seiner Schrift mit den Unterschieden zwischen der Wahrnehmung über das Ohr (Dichtkunst) und über das Auge (Malerei und Plastik) auseinander. Die Schrift wurde erstmals 1766 in Berlin veröffentlicht; 1788 erschien sie in einer zweiten, erweiterten Auflage. Tatsächlich hatte Lessing eine französische Vorrede, «Préface», zu seinem Werk verfaßt, die sich nicht genauer datieren läßt, aber vermutlich nach dem Erscheinen des ersten Teils geschrieben wurde. Darin kündigt er an, nicht nur den ersten Teil der Schrift zu überarbeiten, sondern auch den zweiten Teil in französischer Sprache zu schreiben, da sie sich für die Darstellung des geplanten Inhaltes wegen ihrer Klarheit und Präzision besser eigne als die deutsche Sprache.

245 haben die gebildetsten Leute schlecht deutsch und gut französisch geschrieben: So erledigte zum Beispiel der preußische König Friedrich II. (1712-1786) — er regierte vom Mai 1740 bis August 1786 — seine Korrespondenz ausschließlich auf Französisch. In seiner Abhandlung «De la littérature allemande» («Uber die deutsche Literatur»), erschienen 1780 in Berlin, vertrat er die Meinung, daß sich die deutsche Sprache noch wenig als schriftliches Medium eigne. So meint er: «Ich finde eine noch halb barbarische Sprache vor, die in ebenso viele Dialekte zerfällt, wie Deutschland Länder und Gegenden aufzuweisen hat. Jeder Bezirk meint, seine Mundart sei die beste. Es gibt noch keine Sammlung, die nationale Geltung besäße und in der man gewisse Wörter und Sätze fände, die ausmachten, was man die Reinheit der Sprache nennen könnte. Was man auf schwäbisch schreibt, ist in Hamburg unverständlich, und die Schreibweise in Österreich erscheint in Sachsen verworren. Es ist also von dieser Tatsache her unmöglich, daß ein noch so genialer Autor auf wirklich vortreffliche Weise sich dieser ungehobelten Sprache bedienen



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245 was Goethe als Evolutionstheorie der Tiere und Pflanzen geliefert hat: Die Grundlage für Goethes Evolutionstheorie findet sich im I. Band der Naturwissenschaftlichen Schriften Goethes (GA la), die Rudolf Steiner im Rahmen der von Joseph Kürschner herausgegebenen Reihe «Deutsche National-Litteratur» (114. Band, Goethes Werke XXXIII, Berlin/Stuttgart o. J. [1883]) herausgegeben hat.

245 als der materialistische Darwinismus: Die von Goethe vertretene Evolutionstheorie trat angesichts der von dem deutschen Naturforscher Ernst Haeckel (1834-1919) popularisierten materialistischen Entwicklungstheorie von Charles Darwin (siehe Hinweis zu 5. 256) völlig in den Hintergrund.

246 Das, was ich Ihnen jetzt vorführe, sind durchaus Tatsachen: Vermutlich ließ sich Rudolf Steiner durch den Aufsatz von Ralph Waldo Emerson über «Goethe und Shakespeare» für die Charakterisierung der Eigenheiten der einzelnen Volkstümer anregen (siehe Hinweis zu 5. 40 in GA 173c).

247 Philosophen wie Fichte, Schelling, Hegel: Siehe Hinweis zu 5. 232 in GA 173c.

247 ob man zum Beispiel das Wort «association» französisch oder englisch ausspricht: Der Begriff, der «Verbindung, Vereinigung, Zusammenschluß» bedeutet, stammt aus dem Lateinischen und setzt sich aus den beiden Wurzeln «ad» («zu») und «socius» («Gefährte») beziehungsweise «sociare» («verbinden») zusammen: «associatum» («das miteinander Verbundene»).

248 weshalb auch nur im Deutschen das Wort einen Sinn hat, das Hegel und die Hegelianer geprägt haben: So stellte Hegel im dritten Band seiner «Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie» (Berlin 1836) im Zusammenhange mit den Auswirkungen des scholastischen Denkens einleitend fest (zitiert nach: Georg Wilhelm Friedrich Hegel's Werke. Vollständige Ausgabe, Band XV, Berlin 18442, Zweiter Teil, «Philosophie des Mittelalters», Dritter Abschnitt, «Wiederaufleben der Wissenschaften»): «Aus jener Entfremdung des tiefern Interesses in geistlosem Inhalte und der in unendliche Einzelheit sich hinausverlaufenden Reflexion erfaßte sich der Geist nun in sich selbst und erhob sich zu der Forderung, sich als wirkliches Selbstbewusstsein



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sowohl in der übersinnlichen Welt als in der unmittelbaren Natur zu finden und zu wissen. Dieses Erwachen der Selbstheit des Geistes führte das Wiederaufleben der alten Künste und der alten Wissenschaften herbei -ein scheinbares Zurückfallen in die Kindheit, aber in der Tat ein eigenes Erheben in die Idee, das Selbstbewegen aus sich, während bisher die Intellektualwelt ihm mehr eine gegebene war. » Und das war von großer Bedeutung für die weitere Entwicklung der Menschheit: «Daß die Menschen selbst etwas sind, hat ihnen ein Interesse gegeben für die Menschen, die als solche etwas sind. Damit ist die nähere Seite verbunden, daß, indem die formelle Bildung des Geistes der Scholastik das Allgemeine geworden ist, das Resultat hat sein müssen, daß der Gedanke sich in sich selbst weiß und findet; daraus ist dann der Gegensatz entsprungen vom Verstand und von der kirchlichen Lehre oder dem Glauben. Die Vorstellung ist allgemein geworden, daß der Verstand etwas für falsch erkennen könne, was die Kirche behauptet; und es ist von Wichtigkeit gewesen, daß der Bestand sich so erfaßt hat, obschon im Gegensatz gegen das Positive überhaupt.»Wie dieses «Selbstbewußtsein des Gedankens» ganz grundsätzlich zu verstehen ist, beschreibt Hegel in seiner Vorrede zur «Phänomenologie des Geistes» (Bamberg/Würzburg 1807). Dort schreibt Hegel zum Beispiel (zitiert nach: Georg Wilhelm Friedrich Hegel's Werke. Vollständige Ausgabe. Band II, Berlin 18412, Vorrede, «Vom wissenschaftlichen Erkennen»): «Das reine Selbsterkennen im absoluten Anderssein, dieser Äther als solcher, ist der Grund und Boden der Wissenschaft oder das Wissen im Allgemeinen. Der Anfang der Philosophie macht die Voraussetzung oder Forderung, daß das Bewußtsein sich in diesem Elemente befinde. Aber dieses Element erhält seine Vollendung und Durchsichtigkeit selbst nur durch die Bewegung seines Werdens. Es ist die reine Geistigkeit als das Allgemeine, das die Weise der einfachen Unmittelbarkeit hat; dies Einfache, wie es als solches Existenz hat, ist der Boden, der Denken, der nur im Geist ist. Weil dieses Element, diese Unmittelbarkeit des Geistes, das Substantielle überhaupt des Geistes ist, ist sie die verklärte Wesenheit, die Reflexion, die selbst einfach die Unmittelbarkeit als solche für sich ist, das Sein, das die Reflexion in sich selbst ist. Die Wissenschaft verlangt von ihrer Seite an das Selbstbewußtsein, daß es in diesen Äther sich erhoben habe, um mit ihr und in ihr leben zu können und zu leben. » Und das heißt: «Die Gedanken werden flüssig, indem das reine Denken, diese innere Unmittelbarkeit, sich als Moment erkennt oder indem die reine Gewißheit seiner selbst von sich abstrahiert; nicht sich wegläßt, auf die Seite setzt, sondern das Fixe ihres Sich-Selbst-Setzens aufgibt, sowohl das Fixe des reinen Konkreten, welches Ich selbst im Gegensatze gegen unterschiedenen Inhalt ist, als das Fixe von Unterschiedenen, die im Elemente des reinen Denkens gesetzt an jener Unbedingtheit des Ichs Anteil haben. Durch diese Bewegung werden die reinen Gedanken Begriffe und sind erst, was sie in Wahrheit sind, Selbstbewegungen, Kreise, das, was ihre Substanz ist, geistige Wesenheiten. Diese Bewegung der reinen Wesenheiten macht die Natur der Wissenschaftlichkeit überhaupt aus. Als der Zusammenhang ihres Inhalts betrachtet, ist sie die Notwendigkeit und Ausbreitung desselben zum organischen Ganzen. »

In einem an Hegel gerichteten Brief vom 22. November 1828 äußerte sich sein Schüler, der deutsche Philosoph und Junghegelianer Ludwig Andreas Feuerbach (1804-1872), über die wahre Bedeutung, die Hegels Philosophie für die Menschheit habe (zitiert nach: Karl Grün, Ludwig Feuerbach in seinem Briefwechsel und Nachlaß sowie in seiner Philosophischen Charakterentwicklung, Leipzig/Heidelberg 1874, Erster Band, «Sein Briefwechsel und Nachlaß 1820-1850, «I. Periode, 1804— 1828», «Brief Feuerbachs an Hegel 1828»): «Denn wenn es sich bei der Philosophie, die nach Ihnen benannt wird, wie die Erkenntnis der Geschichte und der Philosophie selbst lehrt, nicht um eine Sache der Schule, sondern der Menschheit handelt, wenn



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der Geist wenigstens der neuesten Philosophie darauf Anspruch macht, dahin drängt, die Schranken einer Schule zu durchbrechen und allgemeine, weltgeschichtliche, offenbare Anschauung zu werden, und in eben jenem Geiste nicht bloß der Same zu einem bessern literarischen Treiben und Schreiben, sondern zu einem in der Wirklichkeit sich aussprechenden, allgemeinen Geiste, gleichsam zu einer neuem Weltperiode liegt, so gilt es jetzt, so zu sagen, ein Reich zu stiften, das Reich der Idee, des sich in allem Dasein schauenden und seiner selbst bewußten Gedankens, und das Ich, das Selbst überhaupt, das, seit Anfang der christlichen Ara besonders, die Welt beherrscht hat, und sich als den einzigen Geist, der ist, erfaßt hat und als absoluten, den wahren absoluten und objektiven Geist verdrängenden Geist geltend machte, von seinem Herrscherthrone zu stoßen, auf daß die Idee wirklich sei und herrsche. » Und weiter: «Es gilt jetzt einen neuen Grund der Dinge [zu schaffen], eine neue Geschichte, eine zweite Schöpfung, wo nicht mehr die Zeit und drüber und draußen der Gedanke, sondern die Vernunft die allgemeine Anschauungsform der Dinge wird. Wenn, wie sich sonnenklar nachweisen läßt, der Mensch sich den verrücktesten Widerspruch zu Schulden macht, wenn er auch nur spricht von Dingen als vom Gedanken abgelösten und getrennten, wenn, geschweige daß das Denken etwas Subjektives und Nicht reales ist, vielmehr der Mensch, wie die Dinge selbst, gar nicht außer dem Denken existieren, das Denken das Allumfassende, der allgemeine wahre Raum aller Dinge und Subjekte ist, ferner jedes Ding, jedes Subjekt nur diese sind, durch die Vorstellung davon, in dem Gedanken derselben, so ist klar, daß wenn das Ich, das Selbst (nebst dem unendlich Vielen, was damit zusammenhängt) als das absolut feste, als das allgemeine und bestimmende Prinzip der Welt und der Anschauung überwunden ist in der Erkenntnis, es aus der Anschauung selbst verschwindet, daß das Selbst aufhört, das zu sein, was es bisher war, ja es selbst erstirbt. »

248 in keinem andern Volkstum kann das so erreicht werden außer im deutschen Volkstum: Gemeint sind die in den einzelnen Völkern verankerten besonderen Begabungen. Solche Begabungen bilden die Grundlage für alle Angehörigen eines bestimmten Volkes; sie sind Ausdruck des durch ein Volk wirkenden Volksgeistes (siehe Hinweis zu 5. 96 in GA 173b) in seiner besonderen Entwicklungsform. So betonte Rudolf Steiner in seinem öffentlichen Berliner Vortrag vom 13. April 1916 (in GA 65): «Selbstverständlich handelt es sich hier durchaus nicht darum, irgendeine Volksseele zu kritisieren, irgendeine Volksseele so darzustellen, als ob sie einen anderen Wert hätte als eine andere Volksseele, sondern um objektive Charakteristik handelt es sich. » Dem einzelnen Volksangehörigen eröffnen sich dadurch bestimmte Entwicklungsmöglichkeiten, aber jedem einzelnen Menschen in der Welt ist es grundsätzlich gegeben, über die Bedingtheit seines eigenen Volkstums hinauszuwachsen und sich die Fähigkeiten und Begabungen anderer Volkskreise anzueignen. Rudolf Steiner weiter: «Der Mensch kann das eine Volk verlassen, in das andere aufgenommen werden. Aber die Wirkungen sind trotzdem so, wenn sie sich dadurch auch modifizieren.» Das heißt: «Wer während seines ganzen Lebens in seinem Volke stehenbleibt, hat eben diese Wirkung sein ganzes Leben hindurch. Wer von einem Volk in das andere geht, wird eben zurerst die Wirkung der einen Volksseele, nachher auch die der anderen Volksseele haben. » Auch wenn Rudolf Steiner von solchen Wirkungen der Volksseele auf den einzelnen Menschen ausgeht, gilt für ihn der Grundsatz: «Selbstverständlich wächst ja der Mensch als menschliche Individualität heute über das Nationale hinaus. »Das Besondere, worin sich das deutsche Volkswesen ausdrückt, ist die philosophische Strömung des deutschen Idealismus (siehe Hinweise zu 5. 232 in GA 173c). Für Rudolf Steiner ist es wichtig zu erkennen - so im Vortrag vom 14. März 1915



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in Berlin (in GA 64) —, «wie der deutsche Idealismus selbst noch ein Keim ist, wie er gerade dadurch, daß die deutsche Volksseele mit den einzelnen Seelen in Zusammenhang steht, sich zur Blüte, zur Frucht, zum völligen Ergreifen der geistigen Welt entwickeln muß, die erfaßt wird in ihrer wahrhaften, konkreten Lebendigkeit. »

248 hatte man sich in Österreich freiwillig bereit erklärt, Italien das Trentino zu geben: Als Folge des Umschwungs in der italienischen Außenpolitik ab Oktober 1914 (siehe Hinweis zu S. 110 in GA 173c) war Österreich-Ungarn mit italienischen Gebietsforderungen konfrontiert. Nach einigem Zögern hatte im österreichisch-ungarischen Kronrat vom 8. März 1915 grundsätzlich beschlossen, durch Gebietsabtretungen die italienische Neutralität zu sichern, was von der deutschen Regierung befürwortet wurde. Auf deutsches Drängen schließlich erfolgte am 4. Mai 1915 die Zustimmung zu konkreten Gebietsabtretungen an Italien. Uber den Verlauf dieser Vorgänge muß sich Rudolf Steiner vor allem anhand des Buches von Paul Herre «Weltpolitik und Weltkatastrophe 1890 —1915» (Berlin 1916) orientiert haben. Paul Herre über das Ausmaß der österreichisch-ungarischen Konzession (6. Kapitel, «Der Eintritt Japans, der Türkei, Italiens und Bulgariens in den Weltkrieg»): «Angesichts dieser Zuspitzung der Lage riet der österreichisch-ungarische Botschafter [in Italien], [Carl]Freiherr von Macchio [1859-1945, von 1914 bis 1915 Sonderbotschafter und anschließend 1915 ordentlicher Botschafter], zu einem weiteren Entgegenkommen, wenn überhaupt noch eine friedliche Lösung in Betracht gezogen werde, über deren Möglichkeit er selbst freilich damals, Anfang Mai [1915], schon sehr skeptisch urteilte. Da auch die deutsche Regierung wieder ihren Einfluß in Wien zugunsten eines umfassenden Nachgebens geltend machte, ging [Stephan]Baron Buriàn von Rajecz, [1852 —1 922, der österreichisch-ungarische Außenminister von Januar 1915 bis Dezember 1916], nunmehr bis an die Grenze des Möglichen zurück. Er willigte am 4. Mai in die Abtretung des gesamten Südtirols und rechtsseitigen Isonzo-Gebietes, soweit sie italienischen Charakter haben, und sagte zugleich die Autonomie Triests, die Errichtung einer italienischen Universität daselbst sowie die Anerkennung der italienischen Herrschaft in Valona zu. Österreich-Ungarn war bereit, Italien wertvolle Landesteile zu überlassen, mehr, als nationalistische Heisssporne im Ernst gehofft hatten, und bei weitem mehr, als besonnene Politiker zur Kompensation für die Aufrechterhaltung der Neutralität forderten. » Die Forderungen, die die italienische Regierung am 8. April 1915 gestellt hatte, waren aber viel weiter gegangen (gleicher Ort): «Italien begehrte das ganze Südtirol unter Einschluß des deutschen Bozen, dazu das Isonzo-Gebiet mit Görz, Gradisca und Montfalcone [Bestandteile des Küstenlandes]sowie einen Streifen von Kärnten; es verlangte die Umwandlung der Stadt und des Hinterlandes von Triest in einen unabhängigen Staat, die Abtretung der völlig slawischen Curzolari-Inseln [vor der Küste Albaniens], die Anerkennung der italienischen Souveränität über Valona [heute Vlora in Albanien] und das völlige Desinteressement Österreich-Ungarns in Albanien. Schließlich forderte es von neuem die sofortige Durchführung dieser Bedingungen und dementsprechend die sofortige Entlassung aller aus jenen Gebieten stammenden Angehörigen der Armee und Marine. Als Gegenleistung bot es lediglich die Neutralität für die ganze Dauer des Krieges und den überaus geringfügigen Entschädigungsbetrag von 200 Millionen Franken.» Am 10. Mai 1915 wiederholte Österreich-Ungarn seine Bereitschaft, den italienischen Territorialforderungen in vielen Punkten entgegenzukommen. Im Falle von Deutsch-Südtirol blieb aber die österreichisch-ungarische Regierung hart.Zum Zeitpunkt des österreichisch-ungarischen Nachgebens waren die Würfel für Italien schon gefallen. Die italienische Regierung unter Ministerpräsident Antonio Salandra und Außenminister Sidney Sonnino (siehe Hinweis zu 5.249) stand bereits



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seit Februar 1915 mit der Entente in Geheimverhandlungen. Die Angebote der österreichisch-ungarischen Regierung dienten nur noch dazu, die Bereitschaft der Ententemächte zu territorialen Konzessionen weiterzutreiben. Am 26. April 1915 unterzeichnete die italienische Regierung in London ein Geheimabkommen mit der Entente, die die Anerkennung aller italienischen Gebietsansprüche zusagte, sofern Italien bis zum 24. Mai gegen Österreich-Ungarn vorgehe. Am 4. Mai 1915 kündigte Italien - vertragswidrig -die Bündnisverpflichtungen mit Österreich-Ungarn auf, und am 23. Mai 1915 erklärte Italien Österreich-Ungarn den Krieg, nicht jedoch dem Deutschen Reich. Vorerst handelte es sich um eine Art von bilateralem Krieg zwischen Italien und Österreich-Ungarn. Erst am 28. August 1916 erfolgte -auf Druck der Ententemächte -die italienische Kriegserklärung auch an das Deutsche Reich.

Zur Rechtfertigung seines Vorgehens hatte Außenminister Sonnino am 20. Mai 1915 dem italienischen Parlament eine Sammlung diplomatischer Dokumente vorgelegt, das sogenannte «Il Libro Verde. Documenti diplomatici presentati al Parlamento Italiano dal Ministro degli Affari Esteri Sonnino nella seduta del 20 maggio 1915» (Milano 1915).

249 was Italien respektive die drei Leute -Salandra, Sonnino, Tittoni -da taten: Alle drei Regierungspolitiker gehörten ins Lager der maßgeblichen Interventionisten (siehe Hinweis zu 5. 49 in GA 173b), die den Kriegseintritt Italiens auf der Seite der Entente befürworteten, wobei sich Außenminister Sonnino als überzeugter Anhänger einer harten Linie hervortat. Diese Männer handelten zwar mit Billigung von König Viktor Emanuel (Vittorio Emanuele) III. aus dem Hause Savoyen (1869-1947), der im Juli1900 sein Amt angetreten hatte und bis zu seiner Abdankung im Mai 1946 regierte. Diese Politik wurde gegen den Willen der Mehrheit der italienischen Bevölkerung geführt, die die Zielrichtung der italienischen Außenpolitik als katastrophal betrachtete. Dazu kam, daß Italien nur ungenügend politisch, militärisch und wirtschaftlich auf einen Krieg vorbereitet war.Der konservative Antonio Salandra (1853 —1 931) war zum Zeitpunkt des Kriegseintritts italienischer Ministerpräsident und damit oberster Verantwortlicher für diejenige Politik, die Italien maßloses Kriegsleid bescherte. Er stand von März bis Oktober 1914 und von November 1914 bis Juni 1916 an der Spitze des italienischen Kabinetts. Als die Kriegserfolge ausblieben, mußte er zurücktreten. Nach dem Kriege entwickelte er sich zum Anhänger des italienischen Faschismus.

Ihm zur Seite als Außenminister stand Sidney Costantino Sonnino, (1847-1 922), aus einer italienisch-jüdischen Familie stammend, wobei seine Mutter eine gebürtige Waliserin war. Fast fünf Jahre, das heißt vom Oktober 1914 bis Juni1919, stand er dem italienischen Außenministerium vor. Ursprünglich ein überzeugter Verfechter des Dreibundes, entwickelte er sich nach der Übernahme des Außenministeriums im November 1915 zum entschiedenen Interventionisten. Die Aushandlung des Londoner Abkommens mit der Entente geschah unter seiner Federführung. Sonnino hatte bereits vor dem Kriege eine wichtige politische Rolle gespielt, stand er doch zweimal für kurze Zeit an der Spitze des italienischen Ministerrats - von Februar bis Mai 1906 und von Dezember 1909 bis März 1910. Als sich die Hoffnungen auf weitgespannte territoriale Erwerbungen im Laufe der Friedensverhandlungen nach dem Kriege nicht erfüllten, verlor er an politischem Einfluß und zog sich aus der Politik zurück.

Tommaso Tittoni (1855 —1 931) war zum Zeitpunkt des Abschlusses des Londoner Abkommens italienischer Botschafter in Paris -ein Amt, das er von 1910 bis 1916 ausübte. Bekannt war Tittoni in der Vorkriegszeit vor allem durch seine Tätigkeit als Außenminister - von September 1903 bis Dezember 1905 und von Mai 1906 bis



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Dezember 1909. Dazwischen war er im Jahre 1906 für einige Monate italienischer Botschafter in London. Nach dem Kriege übernahm er im Juni 1919 für einige Tage wieder das Außenministerium, und schließlich wurde mit der diplomatischen Leitung der italienischen Delegation für die Friedensverhandlungen in den Pariser Vororten betraut. Von 1919 bis 1929, das heißt für drei Legislaturperioden, wirkte er als Präsident des italienischen Senats. Er entwickelte sich immer mehr zum entschiedenen Anhänger Benito Mussolinis und seiner faschistischen Bewegung und war seit 1929 Mitglied des faschistischen Großen Rates.

249 immer mehr Verständnis haben für Mediales oder Mediumähnliches: Der moderne Spiritismus nahm in der Mitte des 19. Jahrhunderts im angelsächsischen Kulturraum seinen Anfang. Der Ausgangspunkt war das amerikanische Hydesville im Staate New York, wo im Haus des Farmers John Fox Klopfzeichen empfangen wurden, die angeblich vom Geist eines gewissen James Ryan stammten, der dort ermordet worden sein soll. Als man nachgrub, fand man im Keller tatsächlich die Überreste einer Leiche. Der Spiritismus beruht auf der Überzeugung, daß sich die Geister der Verstorbenen mit Hilfe von Medien den Lebenden kundgeben können. Dazu gehört zum Teil auch die Überzeugung von der Tatsache wiederholter Erdenleben. Die Grundlagen der spiritistischen Lehre wurden durch den Franzosen Hippolyte Rivail (1804-1869), einen Schüler des Schweizers Johann Heinrich Pestalozzi aus Yverdon, systematisiert; durch seine Frau, Amélie Rivail-Boudet, unterstützt und ermuntert, veröffentlichte er fünf Bücher zum Thema Spiritismus: «Le Livre des Esprits» (Paris 1857), «Le Livre des Médiums» (Paris 1861), «L'Evangile selon le Spiritisme» (Paris 1864), «Le Ciel et l'Enfer» (Paris 1865), «La Genese, les Miracles et les Prédictions selon le Spiritisme» (Paris 1868). Rivail schrieb unter dem Pseudonym «Allen Kardec» —nach Mitteilung eines Geistes soll das sein Name als Druide in einem früheren Leben gewesen sein.Der Spiritismus und damit die Frage der Beweisbarkeit einer übersinnlichen Welt fand große Beachtung durch die Wissenschaft. Zahlreiche bekannte Persönlichkeiten befaßten sich mit dem Phänomen des Spiritismus, so zum Beispiel Sir Oliver Lodge (siehe Hinweis zu 5. 275 in GA 173b) oder Cesare Lombroso (siehe Hinweis zuS. 107 in GA 173c). Auch der mit Rudolf Steiner bekannte Philosoph Eduard von Hartmann (1842-1906) setzte sich mit spiritistischen Erscheinungen auseinander. Ebenso der Mediziner Albert Freiherr von Schrenck-Notzing (1862-1929) oder der Philosoph und Mediziner Max Dessoir (1 867-1 947), ein entschiedener Gegner der Anthroposophie (siehe Hinweis zu 5. 114 in GA 173b). Der Spiritismus hat insbesondere in Brasilien eine weite Verbreitung gefunden und zählt dort zu den staatlich anerkannten Religionen.

Zu den okkulten Hintergründen der ganzen spiritistischen Bewegung und des damit verbundenen Mediumismus sagte Rudolf Steiner im Mitgliedervortrag vom 10. Oktober 1915 (in GA 254): «So kam es, daß bewußt in Szene gesetzt wurde der Mediumismus. Gewissermaßen waren die Medien die Agenten derjenigen, die auf diesem Wege den Menschen die Überzeugung von einer geistigen Welt beibringen wollten, weil man durch sie mit äußeren Augen sehen konnte, was aus der geistigen Welt stammte, weil sie etwas hervorbrachten, was man auf dem physischen Plane zeigen konnte. Der Mediumismus war ein Mittel, um dem Menschen beizubringen, daß es eine geistige Welt gibt. Es hatten sich die Exoteriker und Esoteriker geeinigt, den Mediumismus zu protegieren, um dem Hang des Zeitalters entgegenzukommen. »

249 Die alten Rosenkreuzer, die alten Inder und so weiter: So fand zum Beispiel die von Johann Valentin Andreae (1586-1654) ausgehende Rosenkreuzer-Strömung



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250 Ein Geist wie Jakob Böhme: Siehe Hinweis zu 5. 106 in GA 173c.

250 hat er seine große Anhängerschaft gehabt durch Samt-Martin: Siehe Hinweis zu 5. 226 in GA 173c.

250 daß man also mit seinem Volkstum durch sein Karma in ähnlicher Weise zusammenhängt, wie ich es gestern charakterisiert habe: Siehe den Vortrag vom 17. Dezember 1916 (in diesem Band).

252 in meiner letzten Schrift «Vom Menschenrätsel»: Das Buch «Vom Menschenrätsel. Denken, Schauen, Sinnen einer Reihe deutscher und österreichischer Persönlichkeiten» (GA 20) gehört zu den späteren Schriften Rudolf Steiners. Es erschien im Juli 1916, mitten in den Geschehnissen des Ersten Weltkriegs. In der Einleitung zu seiner Schrift drückte Rudolf Steiner die Hoffnung aus, «man werde aus ihr seine Empfindung erkennen, daß liebevolles erkennendes Vertiefen in die seelische Eigenart einer Volkheit nicht führen müsse zur Verkennung und Mißachtung des Wesens und Wertes anderer Volkheiten. Unnötig wäre zu anderer Zeit, dies besonders zu sagen. Heute ist es nötig angesichts der Gefühle, die von vielen Seiten deutschem Wesen entgegengebracht werden. Von dem Anteil sowohl deutscher wie auch deutsch-österreichischer Persönlichkeiten am Geistesleben zu sprechen, liegt dem Verfasser dieser Schrift besonders nahe, ist er doch durch Geburt und Erziehung Deutschösterreicher, der seine ersten drei Lebensjahrzehnte in Österreich und dann eine -bald eben so lange -Zeit in Deutschland verlebt hat. »

252 Und nun steht die Menschheit gegenwärtig davor, ganz bestimmte Dinge: Diese Entwicklung von ganz neuen Fähigkeiten in der Zukunft -des mechanischen, eugenetischen und hygienischen Okkultismus -besprach Rudolf Steiner eingehend im Vortrag vom 1. Dezember 1918 (in GA 186): «Sehen Sie, von diesem fünften nachatlantischen Zeitraum ab werden sich in der Evolution der Menschheit ganz bestimmte Kräfte erheben. Die Menschheit entwickelt sich ja vorwärts. Man kann niemals von dem kleinen Zeitraum, den man anthropologisch oder historisch in der äußeren materialistischen Wissenschaft überschaut, ein Urteil gewinnen über die Kräfte, die sich in der Menschheitsevolution ergeben, denn in diesem kleinen Zeitraum, den man anthropologisch oder historisch in dem äußeren Werden überschaut, hat sich eben nur sehr wenig geändert. » Aber: «Daß solche Kräfte, die das Leben der Erde umgestalten werden, sich entwickeln werden aus dem Menschen heraus, das weiß man in jenen geheimen Zentren. [...] Und man weiß auch, daß von dreifacher Art diese Fähigkeiten sein werden, die der Mensch heute erst in den allerersten Anfängen hat. Sie werden sich so aus der Menschennatur herausentwickeln, wie sich im Laufe der Menschheitsevolution andere Fähigkeiten ergeben haben. » Daß man dieses Wissen in den geheimen Zentren des Westens geheimhalten wolle, habe mit deren Absicht, eine Weltherrschaft zu begründen, zu tun.Rudolf Steiner wies auch auf verschiedene Anzeichen für dieses allmähliche Auftauchen von solch ganz neuen Kräften hin. So sagte er im Vortrag vom 8. November 1920 in Stuttgart (in GA 197): «Wir müssen uns klar sein, wie im Westen eine Anfangskultur



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vorhanden ist. Wir sehen, wie in diesem Westen sich diese Anfangskultur gerade da am allerstärksten ankündigt, wo das Wirtschaftliche aus dem Technischen aufsprießt. Nichts ist charakteristischer in dieser Beziehung als jenes Ideal, das einstmals vor einem Amerikaner gestanden hat und was ganz gewiß im Westen einmal verwirklicht werden wird, ein rein ahrimanisches Ideal, aber ein Ideal von hoher Idealität, das darin besteht, daß man die eigenen Vibrationen des menschlichen Organismus benützt, indem man sie fein studiert und sie überträgt auf die Maschine, so daß der Mensch an der Maschine steht und seine kleinsten Vibrationen sich in der Maschine potenzieren, so daß dasjenige, was der Mensch an Nervenvibrationen aufbringt, in die Maschine übergeht. Denken Sie an den Keeley-Motor, der ja auf den ersten Anhieb noch nicht so weit gelungen ist, daß er ging, weil er noch zu stark aus dem bloßen Instinkt heraus bearbeitet ist, aber es ist etwas, was durchaus der Verwirklichung entgegengeht. » Auch wenn der amerikanische Erfinder John Ernst Worrell Keely (1827-1898), der vorgab, aus den «intermolecular vibrations of ether» einen Motor betreiben zu können, heute als Betrüger dargestellt wird, so waren für Rudolf Steiner solche Bemühungen doch Ansätze zu ganz neuen technischen Entwicklungen.

Rudolf Steiner wies auch auf den britischen Schriftsteller und Politiker Edward George Earle Bulwer-Lytton, Baron Lytton of Knebworth (1803 —1873) und die von ihm in seinem Roman «The Coming Race» (London 1871) erwähnte neue Kraft «Vril» hin. Auf eine diesbezügliche Frage, die am 13. Oktober 1906 in Leipzig (in GA 97) nach dem Mitgliedervortrag gestellt wurde, sagte er: «Der Vril-Kraft liegt etwas Besonderes zugrunde. Jetzt kann der Mensch eigentlich nur die Kräfte der mineralischen Welt benutzen. Schwerkraft ist mineralisch, Elektrizität ist ebenfalls mineralisch. Den Betrieb von Eisenbahnen verdanken wir der Steinkohle. Was aber der Mensch noch nicht zu benützen versteht, das ist die pflanzliche Kraft. Die Kraft, die in einem Getreidefeld die Halme herauswachsen läßt, ist noch eine latente Kraft, und diese wird der Mensch ebenso in seinen Dienst zwingen wie die Kraft der Steinkohle. Das ist Vril. » Auf Veranlassung von Rudolf Steiner erschien Bulwer-Lyttons Schrift 1922 in Stuttgart, im «Verlag Der Kommende Tag AG», unter dem Titel «Vril. Eine Menschheit der Zukunft».

252 worauf ich schon aufmerksam gemacht habe und was zusammenhängt mit der bewunderten modernen Technik: Im Vortrag vom 12. November 1916 in Dornach (in GA 172) hatte Rudolf Steiner über die künftige Entwicklung der Technik gesprochen: «Heute werden Maschinen konstruiert. Selbstverständlich sind Maschinen heute objektiv, das Menschliche ist noch wenig darinnen. Aber so wird es nicht immer bleiben. Der Weltengang geht dahin, daß ein Zusammenhang entsteht zwischen dem, was der Mensch ist, und dem, was der Mensch erzeugt, was er hervorbringt. Dieser Zusammenhang wird ein immer intimerer und intimerer werden. Er wird zuerst hervortreten auf denjenigen Gebieten, die eine nähere Beziehung begründen zwischen Mensch und Mensch; er wird hervortreten zum Beispiel in der Behandlung der chemischen Stoffe, die verarbeitet werden zu Arzneien. [...] Die feinen, in dem menschlichen Willensleben und Gesinnungsleben liegenden Pulsationen werden sich immer mehr und mehr in dasjenige hineinverweben, hineingliedern, was der Mensch erzeugt, und es wird nicht gleichgültig sein, ob man einen zubereiteten Stoff von dem einen Menschen empfängt oder von dem anderen Menschen. » Und weiter:«Wer sich heute ahnende Vorstellungen von der Zukunft der technischen Entwicklung machen kann, der weiß, daß in der Zukunft ganze Fabriken individuell wirken werden, je nachdem, wer die Fabrik leitet. Denn denken Sie sich einmal einen recht guten Menschen in der Zukunft, einen Menschen, der wirklich auf besonderer Höhe menschlicher



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Ein paar Tage später, am 26. November 1916 (in GA 172), bestätigte Rudolf Steiner, «daß feine Vibrationen sich summieren und große Wirkungen erzielen werden». Und er meinte: «A uf der Erde ist es noch nicht erreicht, Gott sei Dank!» Aber für ihn war es klar, als er am 1. Dezember 1918 (in GA 186) erneut aufs Thema zu sprechen kam: «Diese Dinge sind heute im Werden. Diese Dinge werden innerhalb jener geheimen Zirkel auf dem Gebiete des materiellen Okkultismus als ein Geheimnis gehütet. Motoren gibt es, welche dadurch, daß man die betreffende Schwingungskurve kennt, durch sehr geringfügige menschliche Beeinflußung in Tätigkeit, in Betrieb gesetzt werden können. »

253 Da reden die Leute heute, wie man die Geburtenzahl: Über solche Ansätze, die Bevölkerungsfrage rein aus volkswirtschaftlichen Gesichtspunkten zu beurteilen, sagte Rudolf Steiner in seinem Vortrag vom 26. Januar 1919 in Dornach (in GA 188): «Ob eine starke Vermehrung der Menschen oder ein Erhalten der Bevölkerung auf einem bestimmten Niveau der Bevölkerungszahl wünschenswert ist, das darf niemals von volkswirtschaftlichen Erwägungen abhängen, sondern da müssen andere -ethische, spirituelle -Erwägungen mitsprechen. Bei Erörterung dieser Frage muß ganz besonders bedacht werden, daß, wenn man künstlich durch Volkswirtschaft hinarbeitet auf eine bedeutende Vermehrung der Bevölkerung, daß man dann Seelen, die vielleicht sich erst nach vier oder fünf Jahrzehnten haben verkörpern wollen, zwingt, daß sie jetzt schon herunterkommen, um in um so schlechterem Zustande auf diese Weise herunterzukommen. So kann eine Bevölkerungszunahme unter Umständen einen Zwang bedeuten, den Sie auf die Seelen ausüben, die dann in um so schlechterer Verfassung in die Körperinkarnation hinein müssen. »

253 ist es unmöglich, irgend etwas auch nur im einzelnen zu tun. Obwohl Rudolf Steiner immer wieder auf die Bedeutung der anthroposophischen Geisteswissenschaft für die Entwicklung neuer medizinischer Ansätze hingewiesen hatte und er in seiner Zeit als Generalsekretär der Deutschen Sektion auch schon mit verschiedenen Ärzten zusammengearbeitet hatte, zum Beispiel mit dem Tübinger Naturarzt Emil Schlegel (1852-1932) oder mit den Schulmedizinern Dr. Felix Peipers (1873-1944) aus München, Dr. Ludwig Noll (1872-1930) aus Kassel oder mit der in Dornach lebenden Russin Dr. Henriette Ginda Fridkin (1879-1 943), kam es erst nach Kriegsende zu einer eigentlichen medizinischen Bewegung auf der Grundlage der Anthroposophie. Am Anfang dieser Bewegung stand der erste Medizinische Kurs am Goetheanum in Dornach, den Rudolf Steiner vom 21. März bis 9. April 1920 (in GA 312) vor medizinischem Fachpersonal hielt (siehe «Beiträge zur Rudolf Steiner Gesamtausgabe» Sommer 1997, Nr. 118/119).

253 paulinisch sein und wissen, daß die Sünde von dem Gesetz kommt. Siehe Hinweis zu 5. 42 in GA 173b.

253 das Urteil von Lord Acton auf einem bestimmten Gebiete mitteilen. Diese Äußerung machte Lord Acton in seiner Antrittsvorlesung vom 11. Juni 1895 in Cambridge. Die Vorlesung wurde ins Deutsche übersetzt und erschien 1897 in Berlin unter dem Titel «Uber das Studium der Geschichte». Die Essenz von Actons geschichtsphilosophischer Auffassung beruhte auf der Überzeugung, «daß das Werk des Auferstandenen an der erlösten Menschheit nicht nachläßt, sondern zunimmt,



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John Emric Dalberg-Acton, Baron Acton of Aldenham (1834-1902), ein berühmter englischer Historiker, entstammte der katholischen Nebenlinie der Familie, die nach Italien ausgewandert war. Nach dem Verlöschen der Hauptlinie kehrte Actons Großvater nach England zurück und übernahm den Familiensitz in Aldenham. Der junge Acton studierte in Edinburgh, Paris und München - in Cambridge wurde er wegen seiner Konfession nicht zugelassen - und erwarb sich eine umfassende Kenntnis der europäischen Sprachen und der Geschichte, ohne jedoch seine Studien mit einem entsprechenden Universitätsgrad abzuschließen. Acton erhielt aber aufgrund seiner Verdienste drei Ehrendoktorate zugesprochen (München, Cambridge und Oxford). Acton war stark beeinflußt durch den methodischen Ansatz des deutschen Historikers Leopold von Ranke - er bezeichnete ihn als seinen Lehrer. Er übte vorerst kein Lehramt aus, sondern war ein Privatgelehrter, der eine riesige Privatbibliothek - etwa 67000 Bände, verteilt auf seine drei Wohnsitze Aldenham, Cannes und Tegernsee - sein eigen nannte. Von durchgängig liberaler Gesinnung setzte er sich für die Ziele der Liberalen Partei unter William Gladstone (siehe Hinweis zu 5. 129 in GA 173b) ein; von 1859 bis 1865 war er Mitglied des englischen Unterhauses. Ursprünglich Baronet und bloß Mitglied der «gentry», wurde Acton 1869 zum Baron erhoben. Damit gehörte er als Angehöriger der «nobility» nun dem britischen Oberhaus an. Actons liberale Einstellung zeigte sich aber auch auf religiösem Gebiet, sprach er sich doch entschieden gegen die Bestrebungen zur Erklärung der päpstlichen Unfehlbarkeit aus. Im Laufe seines Lebens veröffentlichte Acton zahlreiche Aufsätze zu politischen und religiösen Fragen. Er war auch als Herausgeber tätig - so gehörte er zu den Mitbegründern der «English Historical Review». Seine eigentliche Berufung lag aber auf dem Gebiet der Lehre. 1895 wurde er schließlich als Nachfolger von Sir John Seeley (siehe Hinweis zu 5. 237 in GA 173b) zum «Regius»-Professor für Moderne Geschichte an der Universität Cambridge ernannt. In dieser Eigenschaft setzte er sich für die Herausgabe einer modernen Universalgeschichte ein, die dann im Rahmen der Reihe «The Cambridge Modern History» erschien.

254 in einen inneren Ausschuß verlegt: Diesen Vorgang beschrieb Roger Casement in seinem Aufsatz über «Sir Edward Grey» (im zweiten Teil seiner Schrift «Irland, Deutschland und die Freiheit der Meere und andere Aufsätze», siehe Hinweis zu 5. 38): «Für die Liberalen war es gefährlich, für die Tories war es unpassend, daß die Volksvertreter irgend etwas zu sagen haben sollten in Angelegenheiten, die am besten aufgehoben waren, wenn die Herren und Meister Englands sie schweigend und geheim erledigten. So ist es gekommen, daß die Führer beider Parteien, der Tories, die im Amte waren, und der sogenannten Liberalen, die vom Amte ausgeschlossen waren, sich schließlich darüber einigten, auswärtige Fragen von der parlamentarischen Diskussion auszuschließen. Ein neues Schlagwort wurde gefunden, nämlich daß der <höheren Patriotismus als <kontinuierliche auswärtige Politiker anspricht. Diese <Kontinuität der auswärtigen Politiker bedeutete aber, daß alle auswärtigen Angelegenheiten der Mitarbeit des Volkes entzogen und aus dem Parlament in die



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254 Lord Acton sagte. Siehe Hinweis zu 5. 253.

255 Die Debatten verfassunggebender Versammlungen. In Philadelphia versammelte sich seit 1775 der Zweite Kontinentalkongreß («Second Continental Congress») der verschiedenen amerikanischen Staaten; er erklärte 1776 die Unabhängigkeit von Großbritannien und erließ 1781 — vor seiner Auflösung im gleichen Jahr -eine Föderationsverfassung für die Vereinigten Staaten von Amerika («United States of America»). Ebenfalls in Philadelphia beriet der Verfassunggebende Konvent («Constitutional Convention») von 1787, der die heute noch geltende bundesstaatliche Verfassung für die Vereinigten Staaten ausarbeitete. In Versailles tagte von 1789 bis 1791 die Nationalversammlung («Assemblee constituante»), die 1791 die erste geschriebene Verfassung Frankreichs -mit einer monarchischen Staatsspitze - verabschiedete. Der Konvent («Convention nationale»), der sich von 1792 bis 1795 in Paris versammelte, verabschiedete zwei republikanische Verfassungen, die Verfassung von 1793 und 1795. In der gleichen Stadt trat nach dem endgültigen Sturz des Königtums 1848 erneut eine konstituierende Nationalversammlung («Assemblee nationale constituante») zusammen, die noch im gleichen Jahr eine neue republikanische Verfassung beschloß; 1849 löste sie sich auf. Im spanischen Cadiz wurde 1810 eine verfassunggebende Versammlung («Cortes de Cadiz») einberufen, die schließlich 1812 eine Verfassung für das Königreich Spanien billigte. Brüssel spielte 1790 und 1830 bis 1831 als Sitz einer verfassunggebenden Versammlung eine maßgebliche Rolle; im ersten Fall wurde nach der der Unabhängigkeitserklärung der niederländischen Provinzen von Österreich vom «Souveränen Kongreß» («Congrês souverain») die republikanische Verfassung der Vereinigten Staaten von Belgien («Etats unis belgiques», «Verenigde Belgische Staten») von 1790 ausgearbeitet; im zweiten Fall wurde 1831 vom Nationalkongreß («Congrês national») die Verfassung für ein unabhängiges Königreich Belgien verabschiedet. In Genf tagte von 1793 bis 1794 eine Nationalversammlung («Assemblee nationale»), die 1794 eine demokratische Verfassung für den republikanischen Stadtstaat verabschiedete. Eine «Deutsche Nationalversammlung» trat in Frankfurt zusammen und gab 1849 einer demokratischen Verfassung für das Kaiserreich Deutschland ihre Zustimmung. In Berlin tagte ebenfalls zwischen 1848 und 1849 eine «Preußische Nationalversammlung»; die von ihr 1848 ausgearbeitete demokratische Verfassung für das Königreich Preußen wurde aber nie in Kraft gesetzt. Die Arbeit der verschiedenen



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255 Und trotzdem ist England das Musterland des Parlamentarismus: Die Entwicklung des Parlamentarismus, verbunden mit der Beschneidung der königlichen Macht, setzte in England schon im Mittelalter ein. Durch die revolutionären Vorgänge im 17. Jahrhundert verschob sich das Machtgleichgewicht im Ringen zwischen der Krone und dem englischen Parlament endgültig auf die Seite des Parlaments. Mit der Anerkennung der «Bill of Rights» am 26. Oktober 1689 durch das englische Königspaar Wilhelm (William) III. aus dem Hause Oranien (1650 —1702) und Maria (Mary) II. aus dem Hause Stuart (1662-1694) wurde Großbritannien endgültig zur konstitutionellen Monarchie. Für die Gesetzgebung galt fortan die Formel des «King in Parliament» beziehungsweise der «Queen in Parliament», das heißt die Gesetze bedurften nun der Zustimmung durch das Parlament. Im Laufe des 18. Jahrhunderts setzte sich auch das Prinzip der Ministerverantwortlichkeit durch, womit Großbritannien zur parlamentarischen Monarchie wurde.Zu den Hintergründen und der Bedeutung der Parlamentarisierung des gesellschaftlichen Lebens führte Rudolf Steiner im Dornacher Vortrag vom 20. Oktober 1918 aus (in GA 185): «Nicht wahr, die Persönlichkeit will sich emanzipieren, sie will sich auf sich selbst stellen. Das heißt aber, auch wenn sie zu gleicher Zeit soziale Persönlichkeit sein will, will sie sich geltend machen als Persönlichkeit. Der Parlamentarismus ist nur ein Weg, sich geltend zu machen als Persönlichkeit. Aber indem derjenige, der teilnimmt am Parlamentarismus, sich geltend macht, vernichtet er seine Persönlichkeit in dem Augenblicke, wo aus seinem Wollen die Abstimmung wird. Die Persönlichkeit hört auf in dem Augenblicke, wo aus dem Wollen die Abstimmung wird. Und richtig studiert bedeutet das Heranreifen des Parlamentarismus in der englischen Geschichte in den Jahrhunderten seit dem Bürgerkrieg im 15. Jahrhundert nichts anderes als dieses: Wir erblicken am Ausgangspunkt dieses nach dem Parlamentarismus hintendierenden Lebens Stände - Stände [mit den verschiedensten Interessen]. [Die Angehörigen] dieser Stände wollten sich nicht [einfach]bloß als Stände geltend machen, sondern in Form von Voten; sie wollten reden und sich dabei geltend machen als Stände. Nun, reden konnten sie. Aber die Leute sind nicht zufrieden mit dem Reden und Sich-Verständigen, sondern sie wollen dann auch abstimmen. Indem man abstimmt, indem man die Rede ausfließen läßt in die Abstimmung, ertötet man dasjenige, was in der Seele lebt, solange man redet. Und so redet sich jede Parlamentarisierung hinein in das absolute Menschheitsnivellement. Sie geht hervor aus der Geltendmachung der Persönlichkeit und endet mit der Auslöschung der Persönlichkeit. »

255 eine ganz bestimmte Aufgabe vorhanden ist gegenüber der Bewußtseinsseele der fünften nachatlantischen Zeit. Im Vortrag vom 18. Oktober 1918 (in GA 185) stellte Rudolf Steiner den Zusammenhang zwischen der Entwicklung des Parlamentarismus und der Bewußtseinsseele dar: «Die Menschen wollen, als im 15. Jahrhundert das Zeitalter der Bewußtseinsseele beginnt, ihre Angelegenheiten selbst in die Hand nehmen. Sie wollen mitreden, sie wollen parlamentarisieren, sich unterhalten über das, was geschehen soll, und wollen dann aus dem, worüber sie sich unterhalten, die äußeren Geschehnisse formen oder wollen sich wenigstens manchmal einbilden, daß sie die äußeren Geschehnisse formen. Und das entwickelt sich innerhalb Englands aus den schweren Bürgerkriegen im 15. Jahrhundert [Zeit der Rosenkriege zwischen 1452 bis 1485]heraus, aus jener Konfiguration, die in deutlicher Differenzierung, in deutlichem Unterschiede ist zu dem, was sich in Frankreich unter dem Einfluß des nationalen Impulses gebildet hatte. Dieser Parlamentarismus in England bildet



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Und was diese Neigung des englischen Volkes zur Entwicklung der Bewußtseinsseele genau bedeutet, erläutert Rudolf Steiner im Vortrag vom 15. Dezember 1918 (in GA 185): «Nun tritt das Eigentümliche ein, daß innerhalb der englischsprechenden Bevölkerung die Intelligenz instinktiv ist, daß sie instinktiv wirkt. Es ist ein neuer Instinkt, der da heraufgekommen ist in der Menschheitsentwicklung: der Instinkt, intelligent zu denken. Was gerade die Bewußtseinsseele erziehen soll - die Intelligenz - wird von der englischsprechenden Bevölkerung instinktiv geübt. Das englische Volkstum ist für das instinktive Üben der Intelligenz veranlagt. »

255 ein großer Geist, einer der größten Geister aller Zeiten, ist Faraday. Der berühmte englische Chemiker und Physiker Michael Faraday (1791-1867) stammte aus ärmlichen Verhältnissen; sein Vater, James Faraday, war Hufschmied und über längere Zeit leidend, bis er schließlich 1810 starb. Der junge Faraday verfügte nur über eine bescheidene Schulbildung - so fehlten ihm zeitlebens tiefere mathematische Kenntnisse -, war aber sehr wißbegierig. Zunächst Zeitungsjunge, begann er 1805 eine siebenjährige Lehre als Buchbinder. In dieser Zeit erwachte sein Interesse für Naturwissenschaften. Er las sehr viel und hielt die ihm wichtigen Ideen in sorgfältig geführten Merkbüchern fest. 1812 hatte er Gelegenheit, Vorlesungen des berühmten Chemikers Sir Humphry Davy, Baronet Davy (1778-1829) zu besuchen. Als Faraday ihm seine Notizen zusandte, zeigte sich Davy an ihm interessiert, und Faraday erhielt 1813 aufgrund seiner Empfehlung die Stelle eines Laborassistenten an der Royal Institution -einer Privatinstitution zur Verbreitung wissenschaftlicher Erkenntnisse -, die er 1815 schließlich antrat, nachdem er Davy während einer zweijährigen Reise auf dem europäischen Kontinent als dessen Sekretär begeleitet hatte. 1816 erschien seine erste wissenschaftliche Arbeit. Aufgrund seiner genialintuitiven Fähigkeiten als wissenschaftlicher Forscher wurde er 1824 zum Mitglied der angesehenen Gelehrtengesellschaft, der «Royal Society», gewählt - trotz des Widerstandes von Davy, der seine Konkurrenz fürchtete. Ein Jahr später wurde er zum Direktor des Laboratoriums der «Royal Institution» ernannt. Von 1827 an wirkte er als Professor für Chemie an der «Royal Institution». Außerdem lehrte er auch - von 1829 bis 1842 — an der Militärakademie in Woolwich.Faraday war ein begeisternder Lehrer. Berühmt waren seine Vorlesungen für junge Menschen, die «Royal Institution Christmas Lectures»; eine solche Vorlesungsreihe erschien 1861 in London gedruckt unter dem Titel «The Chemical History of a Candle». Zunächst erstreckte sich seine Forschungstätigkeit vor allem auf das Gebiet der Chemie. So beschäftigte er sich zum Beispiel mit der Verflüssigung von Kohlensäure und Chlor. Bahnbrechend waren auch seine Untersuchungen über die Elektrizität und den Magnetismus, wo er das Phänomen der elektromagnetischen Induktion entdeckte. Er betrieb auch Forschungen über die chemischen Zersetzungen durch den elektrischen Strom. Seine elektrolytischen Versuche führten schließlich zur Entdeckung der nach ihm benannten Faraday'schen Gesetze. Als die primären Gegebenheiten in der Natur betrachtete Faraday Kräfte oder Energien wie zum Beispiel Magnetismus, Elektrizität, Licht, Wärme und glaubte an deren gegenseitige Umwandelbarkeit. So sprach Faraday von den verschiedenen Ausprägungsformen («conditions of force») der Naturkräfte.



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Als Faraday seine Kräfte und insbesondere auch sein Gedächtnis schwinden fühlte, trat er 1861 von seiner Professur und 1865 als Direktor der Laboratorien zurück. Hochangesehen als Wissenschafter, bekannte sich Faraday stets zu seiner einfachen Herkunft und lehnte jede Erhebung in den Adelsstand ab. Zweimal sogar lehnte er die Wahl zum Präsidenten der «Royal Society» ab. Faraday gehörte der Freikirche der Sandemanier an (siehe Hinweis zu 5. 255), wo er seine Ehefrau, Sarah Bernard (1800-1879), kennengelernt hatte. Faraday hatte keine direkten Nachkommen.

255 Michael Faraday hat es ausgesprochen, wie er sich als Naturforscher verhält zu den Dingen der Religion: Diese Sätze stammen aus einem Brief von Michael Faraday, den er am 24. Oktober 1844 an Ada Byron Countess of Lovelace (1815-1852) geschrieben hatte. Sie sind von Wilhelm Ostwald in seiner Schrift «Michael Faraday. Eine psychographische Studie» (Zürich 1924) zitiert. In etwas anderen Worten, aber sinngemäß findet sich dieser Briefauszug auch im Buch von Silvanus Thompson über «Michael Faradays Leben und Wirken» (Düsseldorf 1900). Lady Lovelace war die Tochter des englischen Dichters Lord Byron und mit William King, dem späteren Earl of Lovelace, verheiratet. Sie war mathematisch sehr gebildet und hatte Faraday gebeten, ihr Privatunterricht zu erteilen, was er jedoch in diesem Brief ablehnte. Der englische Originalwortlaut' von Faradays Brief findet sich im zweiten Band der Zusammenstellung von Bence Jones, «The Life and Letters of Michael Faraday» (London 18702).Faraday gehörte als streng fundamentalistisch orientierter Protestant der kleinen Sekte der Glasiten oder Sandemanier an, die 1730 von John Glas (1695-1773) als eine Abspaltung von der schottisch-presbyterianischen Kirche begründet worden war. Die meisten Gemeinden, die sich in England und später auch in den Vereinigten Staaten bildeten, entstanden durch das Wirken von Robert Sandeman (1718-1771), des Schwiegersohns und Nachfolgers von Glas. Die Gruppe der Sandemanier verstand sich als eine von Christus und den Aposteln regierte Glaubensgemeinschaft, die sich streng nach den Grundsätzen der Bibel richtete und nach der konsequenten Umsetzung urchristlicher Glaubensgrundsätze strebte. Das wöchentliche Feiern des Abendmahls und die Durchführung von Fußwaschungen waren wichtige Bestandteile der Glaubenspraxis der sandemanischen Brüder und Schwestern. Die Sandemanier lehnten jede Form von Staatschristentum ab. 1821 trat Faraday dieser Glaubensgemeinschaft bei durch Ablegen eines Sünden- und Glaubensbekenntnisses, nachdem schon sein Vater und Großvater dieser Glaubensrichtung angehört hatte. 1840 wurde er in den Kreis der Ältesten der Londoner Gemeinde gewählt - ein Amt, das er bis 1864 bekleidete. Allerdings wurde er wegen einer Verfehlung - er hatte wegen einer Einladung an den königlichen Hof nicht am sonntäglichen Gottesdienst teilgenommen - gezwungen, dieses Amt vorübergehend niederzulegen, ja er wurde sogar zeitweise als ordentliches Mitglied ausgeschlossen. Trotzdem wohnte er regelmäßig den Gottesdiensten bei. Als Ältester oblag ihm die Aufgabe, die jeweiligen Bibeltexte zu lesen und zu predigen. Gerade in der Kunst der Bibellesung soll er eine große Meisterschaft entwickelt haben. Der Physikprofessor John Tyndall (1820-1893) soll von seinem Freund Michael Faraday laut Silvanus Thompson gesagt haben (8. Kapitel, «Religiöse Ansichten»): «Wenn Faraday seine Gebetstür öffnete, so schloß er seine Laboratoriumstür zu. »



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256 seinen materialistischen Darwinismus begründen und dabei ein frommer Mann bleiben: Aufgrund seiner Thesen -die Entwicklung des Lebens als Ergebnis eines umfassenden materiellen Evolutionsprozesses auf der Grundlage eines allgemeinen Kampfes ums Dasein und die Einbeziehung des Menschen in diese natürlichen Prozesse -, hatte sich der englische Naturforscher Charles Robert Darwin (1809-1882) in Widerspruch zur damaligen in England herrschenden christlichen Theologie gestellt, die von einem göttlichen Schöpfungsprozeß ausging. So erklärte er zum Beispiel am 24. November 1880 in einem Brief an einen gewissen F. McDermott (zitiert nach: Adrian Desmond/James Moore, Darwin, München/Leipzig 1992, 41. Kapitel, «Niemals ein Atheist»): «Ich bedaure, Ihnen mitteilen zu müssen, daß ich nicht an die Bibel als göttliche Offenbarung glaube und daher auch nicht an Jesus Christus als den Sohn Gottes. » Auch wenn Darwin im Laufe seines Lebens seinen jugendlich-naiven christlichen Glauben verlor, bezeichnete er sich doch nie als Atheist. Für ihn lag es durchaus im Bereich des Möglichen, daß die Materie mit ihrer Fähigkeit, sich zu organisieren und zu entwickeln, von einem Gott erschaffen worden sei. Darwin litt zeitweise an Gewissensbissen über den agnostischen Charakter seines Denkens und die möglichen gesellschaftlichen Folgen seiner Weltanschauung. Mit dem anglikanischen Priester seiner Dorfgemeinde, John Brodie Innes (1817-1894), der von 1846 bis 1869 in der «Down Parish» wirkte, war er gut befreundet und unterstützte dessen Arbeit vor allem auf sozialem Gebiet.

256 und Newton konnte der größte Dogmatiker und der bigotteste Mensch der Welt sein: Der englische Mathematiker und Naturwissenschafter Sir Isaac Newton (1643 —1727) hatte sich nicht nur mit naturwissenschaftlichen Fragen, sondern auch intensiv mit der Bibel und dem christlichen Glauben auseinandergesetzt. Nach seiner Überzeugung waren die Gesetze, nach denen das Universum funktioniert, von Gott geschaffen worden, und es ist Aufgabe des Menschen, diese zu erkennen. Newton war überzeugt, auch in der Bibel Darstellungen grundlegender göttlicher Gesetze zu finden. So versuchte er zum Beispiel, den Zeitpunkt der Wiederkunft Christi oder die Maße des Tempels von Jerusalem aufgrund der Angaben in der Bibel zu berechnen. Sein genaues Bibelstudium führte Newton dazu, die Lehre von der Dreifaltigkeit immer mehr in Frage zu stellen; für ihn war Jesus Christus mehr ein Mensch als ein Gott. Bedeutete das aus der Sicht der anglikanischen Kirche eine Ketzerei, so betrachtete Newton deren Lehre von der Dreifaltigkeit des Göttlichen immer mehr als eine sündhafte Götzenanbetung. Newton kannte aber nicht nur die Bibel sehr genau, sondern hatte sich auch eingehend mit der alchemistischen Überlieferung beschäftigt. Auch dort suchte er nach Hinweisen auf das Wirken göttlicher Gesetze.

256 Als der Darwinismus nach Mitteleuropa getragen wurde: Die darwinistische Weltauffassung wurde von dem deutschen Naturforscher Ernst Haeckel (siehe Hinweis zu 5. 162 in GA 173c) aufgegriffen und in Form einer monistischen Weltanschauung popularisiert (siehe Hinweise zu 5. 162 in GA 173c).

256 denn unsere Devise ist: Siehe Hinweis zu 5. 24.

257 kommt jetzt auch noch das furchtbarste Geschoß, das Geschoß des Friedens: Diese Aussage findet sich in einem Korrespondentenbericht aus Rußland, der in der «National-Zeitung» vom 16. Dezember 1916 (75.Jg. Nr. 882) erschienen war. Unter der Überschrift «Zum Friedensangebot der Zentralmächte. Russische Kommentare» meldete der Korrespondent am 15. Dezember 1916: «Die russischen Zeitungen aller Schattierungen mißbilligen einstimmig den letzten deutschen Akt. Alle Organe sehen darin nur einen heuchlerischen Versuch, den neutralen Ländern den Glauben



173a-623 Hinweise zum Vortrag vom 18. Dezember 1916 Flip  arpa

258 Briand, Lloyd George können sich ja allerlei Dinge noch ausdenken: Aufgrund der am 7. Dezember in Großbritannien und am 12. Dezember 1916 in Frankreich stattgefundenen Kabinettsumbildung (siehe Hinweis zu S. 147) war klar, daß sowohl der französische Ministerpräsident Aristide Briand wie auch der britische Premierminister David Lloyd George für eine Fortsetzung des Krieges gegen die Zentralmächte eintraten und deshalb nicht wirklich gewillt waren, auf das deutsche Friedensangebot einzugehen.So sagte zum Beispiel Aristide Briand in der französischen Abgeordnetenkammer am 14. Dezember 1914 (zitiert nach: «Basler Nachrichten» vom 15. Dezember 1914, 72. Jg. Nr. 637): «Nachdem Deutschland seinen Sieg proklamiert hat und indem es zugleich weitere Anstrengungen macht, ihn zu gewinnen, richtet Deutschland aus der Ferne gewisse Worte an uns, zu denen ich mich erklären muß.» Und: «Wenn ein Land sich bis an die Zähne bewaffnet, wenn es seine ganze Zivilbevölkerung aufbietet, auf die Gefahr hin, seinen Handel zu vernichten und seine Heimstätten zu entblößen, wenn seine Schmelzöfen weiß glühen, um die Kriegsfabrikation zu steigern, wenn es, unter Mißachtung des Völkerrechts, die Bevölkerung der besetzten Länder aufbietet und sie zwingt, für sein Land zu arbeiten, so würde ich eine schwere Schuld auf mich laden, wenn ich in diesem Augenblicke meinem Lande nicht zurufen würde: Achtung! Sehen wir uns vor!» Weiter fragte Briand: «Was erkennen wir in dieser Rede [von Reichskanzler Bethmann Hollweg zum deutschen Friedensvorschlag am 12. Dezember 1916]? Zunächst ein Geschrei, das zugleich die Neutralen und das deutsche Volk in den trügerischen Glauben versetzen soll: Nicht wir Deutsche haben diesen schrecklichen Krieg gewollt; er ist uns aufgezwungen worden. Auf dieses Geschrei antworte ich zum hundertsten Male. Nein, Ihr waret die Angreifer! Es sind Tatsachen vorhanden, welche Euch das beweisen. Das Blut kommt auf Eure Häupter, nicht auf die unsrigen. Ich habe das Recht, diese plumpe Falle bloßzustellen. » Und weiter: «Ich habe das Recht, von dieser Tri hüne herab zu erklären. Es handelt sich da um ein Manöver, um einen Versuch, die Alliierten auseinanderzubringen, die Gewissen zu verwirren und die Völker zu entmutigen. »

Und am 19. Dezember 1916 sagte David Lloyd George in seiner Regierungserklärung (zitiert nach: «Basler Nachrichten» vom 21. Dezember 1916, 72. Jg. Nr. 648): «In dem Moment, wo sich Deutschland als Sieger proklamiert, auf seine Einladung zu einer Konferenz zusammenzutreten, ohne die Vorschläge zu kennen, die es machen wird, das hieße, unsern Kopf in eine Schlinge zu stecken, deren beide Enden Deutschland hält. Großbritannien besitzt einige Erfahrung in dieser Art von Geschäften. Nicht zum ersten Mal kämpft es gegen einen großen Militärdespotismus, der auf Europa lastet, und nicht zum ersten Mal stürzt es einen derartigen Despotismus.» Und er fragte: «Welche Hoffnung gibt uns die Rede des Kanzlers, daß der anmaßende Geist der preußischen Militärkaste, die Quelle und die Ursache



173a-624 Hinweise zum Vortrag vom 18. Dezember 1916 Flip  arpa

dieser großen Ubel, nicht seine Herrschaft behält, wenn jetzt ein überstürzter Friede geschlossen wird?» Und zum Motiv des Friedensangebotes der Mittelmächte: «Die deutsche Note sagte, daß die Zentralmächte zur Verteidigung ihrer Existenz und für die Freiheit ihrer nationalen Entwicklung zu den Waffen greifen mußten. Derartige Phrasen dienen zur Verteidigung derjenigen, die sie schreiben. Sie bezwecken eine Täuschung der deutschen Nation, um sie zu veranlassen, die Absichten der preußischen Militärkaste zu unterstützen. Wer wünschte jemals ihrer nationalen Existenz oder der Freiheit ihrer Entwicklung ein Ende zu machen?»Aristide Briand (1862-1932), von Beruf Rechtsanwalt, gehörte zu den herausragenden französischen Politikern in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Als gemäßigter Sozialist - er gehörte zur Gruppe der «républicain-socialistes» — war er von 1902 bis 1932 Mitglied der Abgeordnetenkammer und bekleidete in der Zeit zwischen 1906 und 1932 zahlreiche Ministerämter. Er war nicht nur zweimal Unterrichtsminister und dreimal Justizminister, sondern auch viermal Innenminister und siebzehnmal Außenminister. Außerdem war er elfmal Ministerpräsident (Juli 1909 bis November 1910, Januar 1913 bis Februar 1913, Oktober 1915 bis Dezember 1916, Dezember 1916 bis März 1917, Januar 1921 bis Januar 1922, November 1925 bis März 1926, März 1926 bis Juni 1926, Juni 1926 bis Juli 1926, Juli 1929 bis Oktober 1929). Diese Vielzahl der politischen Ämter war ein Ausdruck der damals herrschenden politischen Instabilität in der dritten französischen Republik. Während des Krieges trat er als Ministerpräsident und Außenminister für den bedingungslosen Kampf gegen Deutschland und seine Verbündeten ein. Nach dem Kriege gehörte er aber zu den Befürwortern des Völkerbundes und einer Verständigung und Aussöhnung mit Deutschland. 1926 erhielt er - zusammen mit dem deutschen Politiker Gustav Stresemann -den Friedensnobelpreis.

David Lloyd George (1863 —1 945) ist ebenfalls zu den bedeutenden Politikern zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu zählen. Er war Rechtsanwalt und vertrat als Politiker einen sozialen Liberalismus. Er sprach sich entschieden für Sozialreformen und die Selbstverwaltung der Dominions aus. 1890 wurde Lloyd George als Mitglied der Liberalen Partei ins Unterhaus gewählt. Er war ein glänzender Redner. Ab Dezember 1905, nach dem großen Sieg der Liberalen, wurde er mit Regierungsfunktionen betraut. Lloyd George war nacheinander Handelsminister, Finanzminister, Rüstungsminister und schließlich Kriegsminister. Im Dezember 1916 stürzte er mit einem Teil der liberalen Parlamentsfraktion in Zusammenarbeit mit den Konservativen Premierminister Asquith und seine Koalitionsregierung wegen zu wenig aktiver Kriegsführung (siehe Hinweise zu 5. 24 und 5. 133). Als Führer der neuen parlamentarischen Mehrheit wurde er zum Nachfolger von Asquith (siehe Hinweis zu 5. 206) gewählt. Durch die Bildung eines fünfköpfigen Kabinettsausschusses war es ihm möglich, mit fast diktatorischer Gewalt das Land politisch durch den Krieg zu führen. Er war die Verkörperung des entschlossenen britischen Kriegswillens und trat für die völlige Niederwerfung des Deutschen Reiches ein. Nach dem Kriegsende bildete er im Januar 1919 wieder ein gewöhnliches Friedenskabinett. Aufgrund der inneren Spannungen in seinem Koalitionskabinett sah er sich aber schließlich im Oktober 1922 gezwungen, seinen Rücktritt zu erklären, worauf die Konservativen die Macht übernahmen. Lloyd George blieb zwar im Unterhaus, verlor aber jeden politischen Einfluß; vorübergehend gehörte er sogar zu den Bewunderern Hitlers. Später unterstützte er Winston Churchill in seinem Feldzug gegen das nationalsozialistische Deutschland. 1945, das heißt zwei Monate vor seinem Tod, wurde Lloyd George geadelt und wechselte als Earl Lloyd George of Dwyfor and Viscount Gwynedd ins Oberhaus.

Im Vortrag vom 17. Juli 1917 in Berlin (in GA 176) äußerte sich Rudolf Steiner



173a-625 Hinweise zum Vortrag vom 18. Dezember 1916 Flip  arpa

ausführlich über Lloyd George. Er stellte in bezug auf seine Bedeutung für Großbritannien fest: «Überall in dem, was sich sozial in England ausgelebt hat, sind die Spuren von Lloyd George zu finden. » Und was seine Meinung im Hinblick auf einen möglichen Krieg in Europa betraf: «Der Mann sprach das aus, was [in den Impulsen] der unmittelbaren -unkriegerischen -Gegenwart lebte, zu der gerade das englische Volle gekommen war. Drei Stufen, sagte er, gibt es zum Ruin; vor diesen drei Stufen muß man sich hüten -das prägte er immer wieder und wieder den Leuten ein. Die erste Stufe zum Ruin ist der Schutzzoll, die zweite die Rüstungen, die dritte der Krieg! Das war Lloyd Georges Leitspruch. Zum Ruin wird man geführt erstens durch den Schutzzoll, zweitens durch die Rüstungen, drittens durch den Krieg. » Aber die Überzeugung von Lloyd George wurde ins Gegenteil verkehrt: «Der Mann, der gegen die Rüstungen aus innerster Überzeugung gesprochen hat, brachte es zustande, daß England so gerüstet wurde, wie die anderen gerüstet waren. Da sehen wir das Zusammentreffen des [...] Repräsentanten der Gegenwart mit den dunklen Mächten, die dahinter stehen können, die selbst Überzeugungen, wenn sie noch so tief wurzeln, umkrempeln, weil dasjenige, was nur hier innerhalb des sinnlichen Lebens lebt, immer dirigiert wird von dem Geistigen, also auch dirigiert werden kann von einem Geiste, der im Sinne des Egoismus irgendeiner Gruppe wirkt. Es gab vielleicht wenige Fälle in der Welt, in denen Überzeugungen so in ihr Gegenteil umgekrempelt wurden, wie die Überzeugung des Lloyd George durch die jetzt hinter ihm stehenden Mächte umgekehrt worden ist. » Rudolf Steiner sah ihn damit durchaus auf derselben Stufe wie Asquith und Grey (siehe Hinweise zu 5. 206): «So ein Grey, so ein Asquith waren in Wahrheit nur Marionetten, die selber bis Anfang August 1914 geglaubt haben, daß kein Krieg für England kommen würde, daß sie alles tun wollen, damit kein Krieg kommen könne, und die sich plötzlich gezogen, gestoßen von okkulten Mächten sahen. Diesen Mächten gegenüber, die noch in ganz anderen Persönlichkeiten ihren Ursprung haben als in denen, deren Namen genannt werden, diesen Mächten gegenüber, die aus ganz anderen menschlichen Lebensaltern [und nicht nur aus der Entwicklungsstufe eines Siebenundzwanzigjährigen] heraus wirkten, weil sie aus alten Traditionen heraus wirkten und diese alten Traditionen in den Dienst des englischen Egoismus nahmen, diesen Impulsen gegenüber bedeutet auch [...]Lloyd George nur eine Marionette. Und dasjenige, was unter dem Einfluß dieser Mächte wirkte, das wird eine Welle sein, die auch für England über Lloyd George hinweggeht, der ein großer Mann ist, der aber eben durchaus ein Repräsentant der Gegenwart ist. »

259 Gerade aus diesen Kreisen der Pazifisten aber haben einige in den letzten Tagen angefangen. Vermutlich meint Rudolf Steiner den Artikel «Es muß jetzt Friede werden!», der von Adolf Saager (1859-1949), einem schweizerischen Journalisten und überzeugten Pazifisten, verfaßt wurde und den die «National-Zeitung» am 13. Dezember 1916 (75. Jg. Nr. 875) veröffentlichte. Saager sah mit dem deutschen Friedensangebot ein wichtiges Ziel der pazifistischen Bewegung erfüllt: «Zu einer Zeit, da die Pazifisten in Deutschland von den militärischen Behörden in ihren Bestrebungen vollständig lahmgelegt waren, erklärte einer der Männer, die heute die politischen Geschicke der Zentralmächte gestalten, einem der deutschen Pazifistenführer, die Zukunft werde die Zeit der Pazifisten sein. Diese Ankündigung hat sich erfüllt. Die Regierungen der Zentralmächte haben, was sogar ein Pazifist nie zu erwarten gewagt hätte, selbst den ersten Schritt zum Frieden getan, und zwar - das darf man nach den früheren Reden des Reichskanzlers mit Bestimmtheit annehmen -auf der Grundlage der pazifistischen Hauptforderung einer künftigen Rechtsorganisation. » Saager betonte die Ernsthaftigkeit des Friedensangebotes der



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259 nachdem wir am Donnerstagabend in Basel sind. Am 21. Dezember 1916, einem Donnerstag, hielt Rudolf Steiner für den Basler Zweig einen Mitgliedervortrag, der 1948 von Marie Steiner unter dem Titel «Weihnachten in schicksalsschwerster Zeit» als Einzelvortrag herausgegeben wurde. Er wird künftig im GA-Band «Rudolf Steiner und der Erste Weltkrieg» (GA 255) enthalten sein.

259 daß in dieser Woche auf Sonnabend etwas so furchtbar Schönes vorzubereiten ist. Am Samstag, 23. Dezember 1916, fand vermutlich eine intensive Probearbeit für die geplante Eurythmieaufführung vom 25. Dezember 1916 statt. Die Bestrebungen zur Ausbildung der eurythmischen Kunst wurden nicht nur in Stuttgart, sondern auch in Dornach mit solcher Intensität vorangetrieben, daß —wie der anthroposophische Musiker Leopold van der Pals im Tagebuch festhielt -, selbst am Heiligabend, nach dem Oberuferer Paradeisspiel und dem Vortrag Rudolf Steiners noch eine Eurythmie-Probe mit Musik stattfand.