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RUDOLF STEINER Zeitgeschichtliche Betrachtungen Band 1

Wege zu einer objektiven Urteilsbildung

Sieben Vorträge, gehalten in Dornach zwischen 4. Dezember und 18. Dezember 1916

RUDOLF STEINER VERLAG


ZUR EINFÜHRUNG

Um die Wahrheit zu finden, muß man den Sinn für die Tatsachen haben, gleichgültig ob diese auf dem physischen Plan oder in der geistigen Welt zu suchen sind.

Rudolf Steiner im Vortrag vom 4. Dezember 1916 in Dornach

Eine Welt im Chaos

Die Umstände, unter denen Rudolf Steiner seine «Zeitgeschichtlichen Betrachtungen» hielt, waren zweifellos dramatisch. Die Menschheit stand mitten in einem furchtbaren Weltkrieg, der am 28. Juli 1914 mit der österreichisch-ungarischen Kriegserklärung an Serbien ausgebrochen war. Als unversöhnliche Gegner standen sich die Ententemächte -Großbritannien, Rußland, Serbien, Montenegro, Rumänien, Frankreich, Belgien und Italien einerseits - und die Mittelmächte -Deutschland, Österreich-Ungarn, Bulgarien und die Türkei andererseits -gegenüber. Die Vereinigten Staaten bekannten sich zwar Ende 1916 offiziell noch zu einer Politik der Neutralität, aber es war klar, ihre weitere Stellungnahme würde den Kriegsausgang weitgehend entscheiden.

Für kurze Zeit flammte die Hoffnung auf Frieden auf. Am 12. Dezember 1916 unterbreitete Deutschland dem amerikanischen Präsidenten Thomas Woodrow Wilson ein Friedensangebot zuhanden der Ententemächte. Und am 19. Dezember 1916 ergriff der amerikanische Präsident selber die Initiative und forderte die kriegführenden Mächte auf, ihre Friedensbedingungen bekanntzugeben. Am 31. Dezember wurde die ablehnende Haltung der Ententemächte gegenüber dem deutschen Friedensangebot bekannt, das sie als wenig ernst gemeint verurteilten. Und am 10. Januar 1917 bekräftigten sie in ihrer Antwortnote an den amerikanischen Präsidenten ihr grundsätzliches



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Kriegsziel: die Niederringung der Mittelmächte. Und diese bezeichneten am 12. Januar die Fortführung des Krieges als unausweichliche Notwendigkeit.

Die Wogen der nationalen Erregung schlugen überall hoch. Auch die neutrale Schweiz blieb davon nicht verschont; die Mehrheit der Deutschschweizer stand gesinnungsmäßig auf der Seite der Mittelmächte; die Welschschweizer traten mehrheitlich für die Sache der Entente ein. Diese Spaltung in zwei Lager übertrug sich auch auf die Mitarbeiter in Dornach, deren hauptsächliche Aufgabe ja die Fertigstellung des Goetheanum-Baues war. Es waren diese dramatischen Zeitumstände, die Rudolf Steiners «Zeitgeschichtlichen Betrachtungen» begleiteten - eine Vortragsreihe für Mitglieder, die er am 4. Dezember 1916 in Dornach begann und die er schließlich am 30. Januar 1917 abschloß.

Die persönliche Betroffenheit der Zuhörer

Diese Vorträge fanden einen starken Widerhall bei den damaligen Zuhörern und blieben tief in ihrer Erinnerung haften, waren sie doch in ihrem Verhältnis zur eigenen Nationalität angesprochen. Zu jenen Menschen, die Rudolf Steiners «Zeitgeschichtliche Betrachtungen» persönlich miterleben konnten, zählte zum Beispiel die russische Graphikerin Assja Turgenieff [Anna Aleksevna Turgeneva]. In ihren «Erinnerungen an Rudolf Steiner und die Arbeit am ersten Goetheanum» (Stuttgart 1972) schrieb sie (im Kapitel «Zeitbetrachtungen»): «Schon in der ersten Kriegszeit versuchte Dr. Steiner, über die Hintergründe der Ereignisse und ihre Auswirkungen im Geistesleben zu uns zu sprechen. Die aufgerüttelten chauvinistischen Stimmungen in der Zuhörerschaft, die aus allen Ecken der Welt -wir kamen aus etwa 17 Nationen - zusammen gewürfelt war, ließen es damals nicht zu. Mit Bitternis mußte er es aufgeben, und es klang immer wieder etwas wie ein Vorwurf darüber in seinen Worten. Und jetzt, nach mehr als zwei Jahren, im Spätherbst 1916, sagte er in einem Vortrag, daß wir unsere Aufgabe als Gesellschaft nicht erfüllen, wenn wir nicht fähig sind, in Ruhe das, was er über die Gegenwartsgeschehnisse zu sagen



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hat, anzuhören, und er fing an, diese von neuem zu charakterisieren. Es waren nur noch wenige Menschen nach dem Vortrag da, als eine ältere, aufgeregte Amerikanerin ihm entgegenstürzte und sagte, daß er sich in der Beurteilung der Dinge irre, daß sie ganz anders seien, als er sie darstelle. Ich hatte Dr. Steiner nie so entsetzt gesehen. Etwas mußte geschehen. Da ich am Morgen wegen Krankheit nicht ausgehen durfte, übernahm es meine Schwester, mit anderen einen Brief an Dr. Steiner aufzusetzen, mit der Bitte weiterzusprechen, auch wenn Unzufriedene sich dagegen wehrten. Ich glaube, achtzehn Menschen unterschrieben diese Bitte, und am nächsten Tag beri ef sich Dr. Steiner darauf daß es ihm durch diesen Brief möglich geworden sei, sein Vorhaben fortzusetzen, sonst hätte er über diese Themen schweigen müssen. » Die Erzählung von Assja Turgenieff -ihre persönliche Betroffenheit, vermischt mit einer großen Dramatik der Situation -ist ein typisches Beispiel für die Umstände, die die damaligen Vorträge Rudolf Steiners begleitet haben.

Allerdings ist zu bedenken: In der Erinnerung vermischen sich oft verschiedene Handlungsstränge, die sich in einem emotionalen Gleichklang befinden, zu einem -zeitlich verkürzten -Ganzen, das sich bei genauer Nachprüfung nicht in dieser Form abgespielt haben kann. Davon machen auch die Erinnerungen von Assja Turgenieff keine Ausnahme. Ihre Aussagen werfen eine Reihe von Fragen auf: Trifft es tatsächlich zu, daß die Initiative zu diesen Vorträgen von Rudolf Steiner ausgegangen war? Was hatte es mit diesem Vorfall auf sich, wo eine ältere Amerikanerin Rudolf Steiner Unobjektivität vorgeworfen haben soll? Wollte Rudolf Steiner tatsächlich nach diesem Vorfall auf die Weiterführung seiner Vorträge verzichten? Hatte er wirklich einen Brief mit der Bitte um Weiterführung seiner zeitgeschichtlichen Vorträge erhalten? Wann hatte sich das Ganze abgespielt?

Wie es zu diesen Vortragen kam

Zunächst fällt auf, daß Rudolf Steiner ursprünglich gar nicht an eine ausgedehnte Vortragsreihe dachte, sondern bloß an einem einzigen



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Abend eine episodische Betrachtung über die Zeitereignisse einschieben wollte. So bemerkte er am 4. Dezember 1916 (in diesem Band): «Da wir heute einen einzelnen Vortrag haben, so darf es wohl auch eine Art ein geschobener sein -mit Betrachtungen, die vielleicht herausfallen aus dem fortlaufenden Gange, die aber als episodische immer auch wiederum eingeschoben werden müssen. Wir werden ja dann am nächsten Sonnabend mit unseren fortlaufenden Betrachtungen weiterfahren.» Aber es sollte anders kommen.

Am nächsten Vortragsabend, am 9. Dezember 1916, erklärte er gleich einleitend (in diesem Band): «Heute möchte ich, da ich bemerkt habe, daß dies doch den Wünschen einiger unserer Freunde entspricht, einige weitere Bemerkungen zu dem machen - so weit es möglich ist -, was ich am letzten Montag begonnen habe. Weil es den Wünschen einzelner unserer Freunde entspricht, werde ich also heute und morgen weiter in diese Sache einzudringen versuchen [...].» Nach dem ersten Vortrag -vermutlich noch am gleichen Abend - müssen verschiedene Mitglieder an ihn herangetreten sein mit dem Anliegen, seine Ausführungen doch unbedingt fortzusetzen. Aber es sollte nicht bei zwei, drei zusätzlichen Vorträgen bleiben, sondern sich daraus die größte Vortragsreihe entwickeln, die Rudolf Steiner je gehalten hat. Seine Betrachtungen zur Zeitgeschichte schloß er erst am 30. Januar 1917 ab -ausschlaggebend war ein äußerer Grund, die geplante Abreise nach Deutschland, wo er sich die nächsten Monate aufhielt. Er kehrte erst wieder Ende September 1917 nach Dornach zurück. Im gesamten waren es vierundzwanzig Vorträge, die Rudolf Steiner zur Beleuchtung des Zeitgeschehens in Dornach gehalten hatte. Das war nur möglich -wie er am 30. Dezember 1916 noch einmal betonte (in GA 173 b) —, weil «von einem großen Teil unserer Freunde der Wunsch geäußert worden ist, eben über diese Zeiterscheinungen etwas zu hören. »

Das Anliegen Rudolf Steiners

Im Grunde ist es kaum überraschend, wenn unter den in Dornach versammelten Mitgliedern - es handelte sich ja um ein aus den verschiedensten



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Nationen zusammengesetztes Völkergemisch - angesichts der ganzen Kriegskatastrophe der Wunsch entstand, Rudolf Steiner möge einmal ganz grundsätzlich Stellung zu den dramatischen Vorgängen nehmen. Viele müssen von ihm eine Rechtfertigung für die eigene Parteinahme erwartet haben. Aber diese fehlende Bereitschaft zu einer wirklich objektiven Sicht der Dinge bewogen Rudolf Steiner zunächst zur Zurückhaltung. Am 2. Mai 1915 erklärte er den Mitgliedern in Dornach (in GA 161), «daß sich Dinge ereignet haben -ich will nur so sagen -, die es gar nicht mehr erlauben, daß ein objektives, unserer Bewegung angemessenes Wort über unsere Zeitereignisse gesprochen werden kann. Daß dies im Grunde schmerzlich ist und daß es schmerzlich ist, eine solche Summe von Mißverständnissen pulsieren zu fühlen durch unsere Bewegung, das darf aufrichtig und ehrlich gestanden werden.» Aber mit dem Andauern der kriegerischen Verwicklungen und angesichts der zunehmenden Dramatik der Lage mußte es Rudolf Steiner immer notwendiger erscheinen, wenn sich die Mitglieder -möglichst sachlich und ohne vorschnelle Parteinahme - mit den Hintergründen der Zeitereignisse auseinandersetzten. Er selber hatte sich ja seit Kriegsausbruch intensiv mit den politischen Vorgängen befaßt und in zahlreichen öffentlichen Vorträgen in verschiedenen deutschen Städten seine Deutung des Zeitgeschehens dargelegt. Darüber hinaus hatte er sich intensiv mit den spirituellen Hintergründen des Kriegsgeschehens auseinandergesetzt. Er war dabei zum Schluß gelangt, daß der tiefste Grund für die kriegerischen Ereignisse im «Zurückweisen des Zusammenhanges mit der spirituellen Welt» lag - so im Vortrag vom 16. Dezember 1916 (in diesem Band). Die Kriegskatastrophe als notwendige Folge der allgemein verbreiteten materialistischen Grundhaltung innerhalb der europäischen Zivilisationsgrenzen: so lautete seine Diagnose. Um so mehr mußte es ihm ein Anliegen sein, sich an die Mitglieder zu wenden und die Vorgänge auch aus einer vertieften, geisteswissenschaftlichen Sicht zu beleuchten.

Wie stark dieses Motiv in ihm lebte, bestätigt Marie Steiner, wenn sie in ihrem Vorwort für die erste -hektographierte -Ausgabe der «Zeitgeschichtlichen Betrachtungen» von 1949 schreibt: «Als der



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Weltkrieg 1914 ausgebrochen war und eine große Anzahl am Goetheanum-Bau Arbeitender Dornach verlassen mußte, verblieb dort eine immer noch genügend große Anzahl Neutraler, um im Verein mit den zu doppelter Energie aufgerufenen Kräften der Künstlerinnen die Fertigstellung des Baues als festes Ziel ins Auge zu fassen. Sie hatten alle den redlichen Vorsatz, in ihrem persönlichen Verkehr sich nicht durch Sympathien und Antipathien zu nationaler Stellungnahme und Affekten hinreißen zu lassen, aber im äußeren Alltagsleben gab es genügend Anlaß zu Kontroversen und Emotionen, und immer wieder wurde Dr. Steiner in diesem oder jenem strittigen Falle gebeten, seine Meinung zu äußern. Die Fragesteller waren beim Zuhören nicht wunschfrei. Sie ersehnten eine ihnen angenehme Antwort, um sie ihren in Wünschen und Antipathien noch mehr befangenen Freunden weiter mitteilen zu können, und so wurde manches, was man so mitteilte, frisiert, gefärbt und umgebogen und kam so recht unkenntlich nach Dornach zurück. Dr. Steiner schien es infolgedessen notwendig, in geschlossenem Kreise, aber doch zu einer gewissen Gesamtheit von Anthroposophen zu sprechen, um immer wieder zu Objektivität im Suchen nach Wahrheit zu ermahnen und die Zuhörer darin zu schulen. »

Diese innere Unbefangenheit in der Wahrheitssuche war für Rudolf Steiner sozusagen die Probe für die Ernsthaftigkeit anthroposophischen Strebens. So hatte er zum Beispiel im Vortrag vom 18. September 1916 (in GA 171) den in Dornach anwesenden Mitgliedern ans Herz gelegt: «Und ebenso warm, wie ich vor etwa acht Tagen hier gesprochen habe, möchte ich auch heute wiederum betonen, daß nicht vergessen werden möge in unserem Kreise, daß der Menschheit in der Gegenwart notwendig ist ein Kreis von Menschen, zu dem in unbefangenster Weise von dem ganzen heute zu offenbarenden Wahrheitsgehalt gesprochen werden kann, ohne daß sich dagegen vorurteilsvolle Emotionen erheben. » Es entsprach also durchaus einem inneren Herzensbedürfnis Rudolf Steiners, wenn er dem Wunsch der Mitglieder nach einer Deutung der Zeitereignisse aus geisteswissenschaftlicher Sicht nachkam.



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Ein beharrliches Ringen um Objektivität

Und tatsächlich -das Interesse an Rudolf Steiners zeitgeschichtlichen Vorträgen war so groß, daß sich nach dem Vortrag noch längere Gespräche anschlossen, in denen auch Fragen gestellt wurden. Dora Harnischfeger, ein Mitglied aus Dresden, erinnert sich: «Während der Kriegsjahre ereignete es sich oft, daß eine kleine oder größere Gruppe nach dem Vortrage noch um Herrn Dr. Steiner sich versammelte und in bezug auf die Ereignisse Fragen an ihn stellte, welche er immer wieder, manchmal in ganz lapidaren Sätzen, beantwortete. » Auch Assja Turgenieff berichtet von solchen Gesprächen nach den Vorträgen in der Schreinerei: «Nach einem dieser Vorträge entschloß sich plötzlich unser sonst so scheue und zurückhaltende Freund Dr. Trapesnikoff [Trifon Georgevic Trapeznikov], zum Podium vorzugehen und mit lauter Stimme ein paar Fragen an Dr. Steiner zu richten. Andere schlossen sich ihm an, und bald standen wir alle um Dr. Steiners Pult herum und wollten mit Fragen nicht aufhören. Erst gegen Mitternacht schickte uns Dr. Steiner weg mit einem freundlichen <Gute Nachtr. Nicht alles ist in die gedruckten Vorträge aufgenommen worden, was er damals sagte, und vieles, ja alles von den anschließenden Gesprächen ist für die Nachwelt verloren. » Diese Feststellung von Turgenieff trifft leider zu: Da der Inhalt dieser persönlichen Gespräche nicht schriftlich festgehalten wurde, sind bloß einige wenige Erinnerungsfetzen der Nachwelt überliefert.

Diese Gespräche, zusammen mit den vorausgehenden Vorträgen, übten eine nachhaltige Wirkung auf die Zuhörer aus. Durch die darin vertretene ungewöhnliche Sichtweise wurden diese buchstäblich um ihren Seelenschlaf gebracht. Vieles wirkte auf sie wie eine Provokation. Die russische Malerin Margareta Woloschin-Sabaschnikow [Margareta Wolosina-Sabasnikova] in ihren Erinnerungen «Die grüne Schlange» (Stuttgart 1968): «Rudolf Steiner wollte es uns nicht bequem machen. So entsinne ich mich, wie er uns an einem Weihnachtsabend [24. Dezember 1916], als wir in Erwartung eines besonders feierlichen Vortrages in die Schreinerei kamen, eine politische Rede von D'Annunzio vorlas und daran die Lüge als Methode in der Politik zeigte. In dieser Zeit, als die Lüge wie ein Nebel die Menschheit



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blind machte, durften wir nicht nur in hohen Regionen schweben, ohne uns mit diesen Dingen auseinanderzusetzen. »

Worum es Rudolf Steiner in all diesen Vorträgen schließlich ging, berichtet Dora Harnischfeger in ihren ungedruckten Aufzeichnungen: «Nach einem Vortrage [Vortrag vom 18. Dezember 1916], in welchem Herr Doktor eingehend über die zweijahrzehntelange Vorbereitung des Krieges und über die Einkreisung Deutschlands gesprochen hatte, betonte er auch in dem nachfolgenden Gespräch, wie wichtig es sei, diese Dinge heute in ihrer Wahrheit zu wissen, und sagte dann wörtlich zu einer vor ihm stehenden Persönlichkeit: <Wenn Sie zum Beispiel aufgrund des heutigen Vortrages Ihre Meinung ändern und die Wahrheit mitdenken und meinetwegen nach 14 Tagen wieder in ihre frühere Meinung verfallen, so haben diese 14 Tage für die geistige Welt schon ein große Bedeutung. Daraufhin rief ein Mitglied, eine Amerikanerin: <Wieso das, Herr Doktor? Dr. Steiner sagte darauf ziemlich streng: <Wieso das? Weil Gedanken dynamische Kräfte sind.» Die richtigen, das heißt wirklichkeitsgemäßen Gedanken zu entwickeln jenseits aller persönlichen Vorlieben: Das war das große Anliegen Rudolf Steiners. Darin sah er die Grundlage jeder ernsthaften Wahrheitsfindung und zugleich auch die Aufgabe der anthroposophischen Bewegung. Rudolf Steiner in seinem Abschiedsvortrag vom 30. Januar 1917 (in GA 173 c): «Das gerade soll unsere Bewegung schon auch leisten: mit unserem Blick über das einzelne Persönliche hinwegzugehen, unseren Blick zu richten auf die großen Angelegenheiten der Menschheit, die auf dem Spiele stehen. Und die größte Aufgabe ist doch diese: Verständnis zu bekommen für wirklichkeitsgemäßes Denken. »

Der Vorwurf der einseitigen Parteinahme

Dieses grosse Ziel, über das «einzelne Persönliche hinwegzugehen» und den Blick auf die «grossen Angelegenheiten der Menschheit zu richten» —wie sich Rudolf Steiner im letzten Vortrag am 30. Januar 1917 (in GA 173 c) ausdrückte -,war für viele Anthroposophen nicht leicht. Zwar legte Rudolf Steiner am 11. Dezember 1916 (in diesem



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Band) den Zuhörern ans Herz, «die Dinge, die ich sage, so aufzunehmen [...]' daß in keiner Weise das eine oder andere Volk als ganzes oder das Volk als solches durch ein Urteil, wie es aus den Tatsachen heraus abgegeben werden soll, getroffen zu denken ist. » Und er warnte: «Man würde mich vollständig mißverstehen, wenn man immer wieder und wieder in der Weise generalisieren würde, daß mit dem, was ich in bezug auf die wirklichen, realen Elemente, also zum Beispiel über gewisse Persönlichkeiten sage, Völker gemeint seien. »

Rudolf Steiner wurde aber mißverstanden, so zum Beispiel von jener Amerikanerin, die in den Erinnerungen von Assja Turgenieff erwähnt wird; ihr Name ist aber nicht bekannt. Vermutlich ereignete sich dieser Zwischenfall nach dem Vortrag vom 26. Dezember 1916, wo sich -wie üblich -eine Gruppe von Zuhörern um Rudolf Steiner scharte. Dabei muß sie Rudolf Steiner beschuldigt haben, seine Ausführungen über die Verletzung der belgischen Neutralität seien einseitig und entsprächen deshalb nicht der ganzen Wahrheit. Vier Tage später betonte jedenfalls Rudolf Steiner ausdrücklich (in GA 173 b): «Leicht kann gerade auf einem solchen Gebiete ein Mißverständnis sich geltend machen, und es scheint mir, als ob einiges von dem, was ich gesagt habe in den letzten Betrachtungen, denn doch einem Mißverständnisse ausgesetzt gewesen ist. Deshalb sei im allgemeinen, weil jedem ein solches Mißverständnis passieren kann, gleich bemerkt, daß es sich mir zum Beispiel an den Stellen, wo ich aufmerksam gemacht habe auf die Vorgänge, die mit der belgischen Neutralitätsfrage zusammenhängen, wahrhaftig nicht darum gehandelt hat, irgend etwas zu verteidigen, irgend etwas anzugreifen, sondern lediglich ein Faktum hinzustellen. »

Der ausgesprochene Vorwurf war für Rudolf Steiner von großem Gewicht, ging es ihm doch um die Frage nach der Wahrheit -sicher nicht im Sinne einer absoluten Wahrheit, sondern als ein beständig nötiges Ringen um Objektivität. Das machte er am 30. Dezember seinen Zuhörern eindringlich klar: «Aber bei allem, meine lieben Freunde, hat es sich mir nicht darum gehandelt, diese oder jene Maßnahme der einen oder der andern Seite in irgendeinem politischen Sinne zu taxieren, sondern darum, die Wichtigkeit des Wahrheitsprinzips



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in der Welt zu betonen - zu betonen, daß das Karma, das sich an der Menschheit erfüllt hat, vielfach damit zusammenhängt, daß die Aufmerksamkeit auf die Tatsachenwelt, die Aufmerksamkeit überhaupt auf die geschichtlichen und sonstigen Lebenszusammenhänge in unserem materialistischen Zeitalter nicht so ist, daß Wahrheit waltet.» Nach diesem Zwischenfall stand Rudolf Steiner vor einer schwierigen Frage: Er konnte doch unmöglich einer Mitgliedschaft, die diese Notwendigkeit einer kompromißlosen Wahrheitssuche für sich nicht erkannte, weiterhin solche Vorträge halten, die eine große Unvoreingenommenheit voraussetzten. Deshalb muß er durchaus den Abbruch der Vortragsreihe ins Auge gefaßt haben. Erst der Erhalt der Briefpetition muß ihn umgestimmt haben. Sie zeigte ihm, daß eine große Mehrheit der Mitglieder bereit war, ihn in seinem Bemühen zu unterstützen. Leider ist der von Nathalie Pozzo-Turgenieff (Natalie Pozzo-Turgeneva) und verschiedenen anderen Mitgliedern unterschriebene Brief, in dem sich die Unterzeichner entschieden gegen den Vorwurf der Parteilichkeit aussprachen und ihren Wunsch nach Fortsetzung der Vortragsreihe ausdrückten, bis jetzt verschollen geblieben.

«Politische» Vorträge?

Tatsächlich wollte Rudolf Steiner unter keinen Umständen einen politisch einseitigen, nationalistischen Standpunkt, etwa zugunsten Deutschlands, einnehmen -das hätte seinen Grundintentionen widersprochen. Auch wenn er keine Politik zu betreiben beabsichtigte, wollte er dennoch nicht auf die erkenntnismäßige Durchdringung der verschiedenen politischen Bestrebungen verzichten. Das machte er auch an diesem 30. Dezember (in GA 173b) unmißverständlich klar, als er auf den Vorfall anspielte: «Zunächst sei noch einmal betont, meine lieben Freunde, daß mir hier nichts ferner liegt, als politische Betrachtungen anzustellen - das kann unsere Aufgabe gewiß nicht sein. Unsere Aufgabe liegt in Erkenntnisbetrachtungen. Erkenntnis der Zusammenhänge, die ja natürlich notwendig machen, daß man den Blick auch auf einzelne Details hinlenkt. Deshalb sollen diese Betrachtungen



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auch weit, weit entfernt sein von jeglicher Parteinahme. Und gerade in dieser Beziehung, meine lieben Freunde, bitte ich Sie, mich ja nicht mißzuverstehen, denn welchen Standpunkt in bezug auf diese oder jene nationalen Aspirationen der eine oder der andere unter uns hat, das darf in die tieferen Grundlagen unserer geisteswissenschaftlichen Bestrebungen denn doch gar nicht eingreifen. Ich möchte sagen: Anregungen nur möchte ich geben zur Beurteilung, aber nicht das Urteil von irgend jemandem im geringsten beeinflussen. »

Auch wenn Rudolf Steiner die Meinungsfreiheit der Mitglieder grundsätzlich achtete, erwartete er von ihnen im Grunde doch eine ausgewogene und nicht bloß von nationalistischen Gesichtspunkten diktierte Urteilsbildung. Und so betonte er am 13. Januar 1917 (in GA 173 c) einmal mehr: «Ich habe Sie nun mit verschiedenerlei Ausführungen, die ich in der letzten Zeit gemacht habe, nicht bloß aus dem Grunde, möchte ich sagen, <belästigte, um Ihnen dies oder jenes in diesem oder jenem Lichte erscheinen zu lassen, sondern weil ich durchdrungen bin davon, daß es wichtig ist, mancherlei Begriffe zu korrigieren. Wer glaubt, daß ich diese Dinge aus irgendeinem nationalen Pathos heraus sage, der versteht mich einfach nicht. » Nicht eine einseitige parteipolitische oder nationalistisch gefärbte Stellungnahme, sondern das möglichst neutrale, objektiv geleitete Begreifen des Gegenwartsgeschehens -gerade auch als Gradmesser für die innere Qualität der anthroposophischen Bestrebungen - war das große Anliegen Rudolf Steiners.

Und es war nicht einfach als unverbindliche Plauderei gemeint, wenn er am 30. Dezember (in GA 173b) seine Zuhörer ermahnte: «Und wir müssen es uns ja auch gestehen, meine lieben Freunde, daß der Ernst der Zeit schon dafür spricht, die unmittelbar konkreten Ereignisse des Tages an dasjenige anzuknüpfen, was der Nerv, der innerste Impuls unserer geisteswissenschaftlichen Bestrebungen ist. Nach den mancherlei Betrachtungen, die wir angestellt haben, können wir uns doch sagen, daß die Gründe, warum es in der Menschheitsentwicklung zu einer solchen Katastrophe gekommen ist, wie sie sich um uns herum zeigt, tief liegen und daß es eigentlich eine Oberflächlichkeit ist, nur von den sozusagen alleräußersten Ranken der



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Ursachen unserer heutigen Zeitereignisse zu sprechen. » Gewiß, der Vorstoß in die objektiven Tiefen der Politik verbietet jede vorschnelle Parteinahme, aber gerade der Einblick in die hintergründige Dunkelwelt politischer Entscheidungen erlaubt den Zeitgenossen doch ein unabhängigeres Urteil und erschwert damit jedes manipulative Vorgehen. Insofern ist eine solche Aufklärung natürlich gesellschaftspolitisch nicht folgenlos, berührt sie doch die Fundamentalebene der gesellschaftlichen Lebenswelt.

(Fortsetzung in GA 173 b)

Alexander Lüscher