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RUDOLF STEINER Spirituelle Seelenlehre und Weltbetrachtung

Achtzehn öffentliche Vorträge gehalten zwischen dem 6. September 1903 und dem 8. Dezember 1904 im Architektenhaus und im Vereinshaus zu Berlin

1986 RUDOLF STEINER VERLAG DORNACH/SCHWEIZ

IST DIE THEOSOPHIE BUDDHISTISCHE PROPAGANDA?

Berlin,8. Dezember 1904

Der heutige Vortrag ist dazu bestimmt, eines der verbreitetsten Vorurteile über die theosophische Bewegung zu besprechen: es ist dasjenige, als ob die Theosophie nichts anderes wäre als eine Propaganda für den Buddhismus. Man hat sogar das Wort geprägt für diese Bewegung: Neubuddhismus. Nun ist es ohne Zweifel, daß unsere Zeitgenossen manches gegen die theosophische Bewegung einzuwenden haben müßten, wenn das in diesem Vorurteile Ausgesprochene in irgendeiner Weise richtig wäre. Derjenige, welcher zum Beispiel auf dem christlichen Standpunkt steht, wird sich mit Recht fragen: Was soll dem, der das Christentum zu seinem Bekenntnis gemacht hat, oder der im Christentum erzogen ist, eine Religion, welche auf ganz andere Verhältnisse hin, für ein ganz anderes Volk, für ganz andere Zustände bestimmt war? Und derjenige, der auf dem Standpunkte der modernen Wissenschaft steht, der mag sich wiederum sagen: Was kann uns, die wir mit den wissenschaftlichen Begriffen leben, welche im Laufe der letzten Jahrhunderte gewonnen worden sind, der Buddhismus irgend etwas Bedeutungsvolles bringen, da doch alles, was er in sich befaßt, einem Gedankenkreise angehört, welcher viele Jahrhunderte vor unserer Zeitrechnung entstanden ist? — Wir wollen uns heute mit der Frage beschäftigen, wie dieses Urteil hat entstehen können, und welchen Wert es eigentlich hat.

Sie wissen, daß die theosophische Bewegung im Jahre



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1875 durch Frau Helena Petrowna Blavatsky und Colonel Olcott ins Leben gerufen worden ist, daß sie sich seither verbreitet hat über alle gebildeten Länder der Erde, daß Tausende und aber Tausende von Leuten, welche nach den Lösungen der Fragen des Daseins suchen, im tiefsten Sinne in ihr Befriedigung gefunden haben, daß sie Forschungen gezeitigt hat, welche tief zu der Seele des modernen Menschen sprechen. Das alles ist nicht zu leugnen, und wir müssen uns fragen: Wie steht diese Bewegung, die eine reiche Literatur hat, die eine Anzahl von Männern und Frauen hervorgebracht hat, die in ihrem Sinne heute selbständig zu sprechen in der Lage sind, zu den Religionen des Ostens, zum Hinduismus, und namentlich zum Buddhismus?

Ein gutes Stück Schuld an diesem Vorurteil, das ich erwähnt habe, hat der Titel, den eines der verbreitetsten Bücher auf unserem Gebiet trägt. Es ist das Buch, durch welches unzählige Menschen für die Bewegung gewonnen worden sind, der «Esoterische Buddhismus», von Sinnett. Es ist ein merkwürdig unglücklicher Zufall, daß der Titel dieses Buches so gründlich mißverstanden werden konnte. Frau Blavatsky sagt über dieses Buch, es sei weder Buddhismus, noch sei es esoterisch, obwohl es «Esoterischer Buddhismus» heißt. Und dieses Urteil ist außerordentlich wichtig für die Beurteilung der theosophischen Bewegung. Buddhismus steht allerdings auf dem Titelblatt des Sinnettschen Buches, aber dieser Buddhismus müßte geschrieben werden nicht mit zwei d, als ob es von Buddha käme, sondern mit einem d, denn es kommt von Budhi, dem sechsten menschlichen Prinzip, dem Prinzip der Erleuchtung, der Erkenntnis. Budhi bedeutet nichts anderes, als was in den ersten christlichen Jahrhunderten Gnosis genannt wurde. Erkenntnis durch das innere Licht des Geistes, Weisheitslehre.



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Wenn wir den Ausdruck «Budhismus» so auffassen, dann werden wir uns bald gestehen können, daß die Lehre des Buddha nichts anderes ist als eine der mannigfaltigen Formen, in denen diese Weisheitslehre in der Welt verbreitet ist. Nicht allein Buddha, sondern alle großen Weisheitslehrer haben diesen Budhismus verbreitet: der ägyptische Hermes, die alten indischen Rishis, Zarathustra, die chinesischen Weisheitslehrer Laotse und Konfuzius, die Eingeweihten der alten Juden, ferner Pythagoras und Plato, und endlich die Lehrer des Christentums selbst. Nichts anderes haben sie in diesem Sinne verbreitet als Budhismus, und esoterischer Buddhismus heißt nichts anderes als die innere Lehre, im Gegensatz zur äußeren Lehre. Alle großen Religionsbekenntnisse der Welt haben diesen Unterschied gemacht zwischen innerer und äußerer Lehre. Auch das Christentum kannte, namentlich in den ersten Jahrhunderten, diesen Unterschied zwischen esoterischem und exoterischem Gehalt.

Das Esoterische unterscheidet sich ganz wesentlich von dem Exoterischen. Das Exoterische ist dasjenige, was ein Lehrer verkündigt vor der Gemeinde, das, was durch das Wort, durch das Buch verbreitet wird. Es ist dasjenige, was jeder versteht, der auf einer gewissen Stufe der Bildung steht. Die esoterische Lehre wird nicht durch Bücher verbreitet; der esoterische Teil jeder Weisheitsreligion wird nur von Mund zu Ohr und noch auf ganz andere Weise verbreitet. Es gehört, um einen esoterischen Inhalt an einen Menschen heranzubringen, ein intimes Verhältnis des Lehrers, der zugleich Führer sein muß, zu seinem Schüler dazu; es gehört dazu, daß ein unmittelbares persönliches Band vorhanden ist zwischen Lehrer und Schüler; es gehört dazu, daß in diesem Verhältnis zwischen Lehrer und Schüler selbst ausgesprochen ist, was über die bloße Mitteilung,



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über das bloße Wort weit hinausgeht. Es muß in diesem Verhältnis zwischen Lehrer und Schüler etwas Spirituelles sein; es muß die Geisteskraft des Lehrers auf den Schüler wirken. Der in Weisheit geübte Wille muß etwas einströmen lassen, was unmittelbar auf den Schüler oder die kleine Gemeinde übergeht, welche einzig und allein als kleine Gemeinde einen esoterischen Unterricht genießen soll. Und weiter gehört zum esoterischen Unterricht, daß diese kleine Gemeinde stufenweise hinaufgeführt wird zu den höheren Stufen. Man kann nicht die dritte Stufe erkennen, wenn man sich die erste und zweite nicht völlig zu eigen gemacht hat. Was das Esoterische in sich schließt, ist nicht nur ein Lernen, sondern eine völlige Verwandlung des Menschen, eine Höherbildung und Zucht seiner ganzen Seelenkräfte. Der Mensch, der durch die esoterische Schule gegangen ist, hat nicht nur etwas gelernt, er ist ein anderer geworden nach Temperament, Gemüt und Charakter, nicht nur nach Einsicht und Wissen.

Dasjenige, was der äußeren Welt oder einem äußeren Buche anvertraut wird, kann nur ein schwacher Abglanz einer eigentlichen esoterischen Unterweisung sein. Daher sagt Frau Blavatsky mit Recht, daß Sinnetts Buch kein esoterischer Buddhismus sei, denn in dem Augenblicke, wo irgendeine Lehre überhaupt durch ein Buch, oder öffentlich, mitgeteilt wird, ist sie nicht mehr esoterisch; da ist sie exoterisch geworden, denn die eigentümliche Schattierung durch das Gemüt, die Schattierung durch die feineren Seelenkräfte, der ganze spirituelle Hauch, welcher durchströmen muß, durchwärmen muß dasjenige, was die Esoterik in sich schließt, das alles muß herausgeschwunden sein aus dem bloß durch ein Buch Mitgeteilten.

Eines ist allerdings möglich: es kann derjenige, dessen schlummernde Fähigkeiten leicht erweckt werden können,



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und der den Willen und die Neigung hat, nicht nur zwischen den Zeilen eines Buches zu lesen, sondern an den Worten gleichsam zu saugen, der kann das, was als Esoterik einem exoterischen Buche zugrunde liegt, aus diesem Buche heraussaugen. Man kann unter Umständen bis zu einem hohen Grad in die esoterischen Lehren hineinkommen, ohne daß man unmittelbaren persönlichen esoterischen Unterricht erhält. Aber das ändert nichts daran, daß ein gewaltiger Unterschied ist zwischen allem Esoterischen und Exoterischen. Die christlichen Gnostiker der ersten Jahrhunderte erzählen, wie in den Worten des Origenes, des Clemens von Alexandrien, wenn sie zu ihren intimen Schülern sprachen, das unmittelbare Seelenfeuer, die unmittelbare spirituelle Kraft wirkte, und wie diese Worte dann ein ganz anderes Leben hatten, als wenn sie vor einer großen Gemeinde gesprochen wurden. Diejenigen, die den intimen Unterricht dieser großen christlichen Lehrer genossen haben, wissen davon zu erzählen, wie ihre ganze Seele verwandelt worden ist, und wie ihre ganze Seele anders geworden ist.

Es war im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts die Notwendigkeit heraufgezogen, in der Menschheit das spirituelle Leben zu wecken als Gegengewicht für die materialistische Weltanschauung, die nicht nur die wissenschaftlichen, sondern auch die religiösen Kreise ergriffen hat, denn die Religionen haben ein ganz materialistisches Gepräge angenommen. Es war notwendig geworden, das innere spirituelle Leben wieder zu erwecken. Dieses innere Leben kann nur von demjenigen erweckt werden, der in seinen Worten ausgeht von der Kraft, die in der Esoterik geschaffen wird. Es war notwendig geworden, daß wiederum einige von den Dingen sprachen, die nicht nur aus Büchern und Unterweisungen, sondern aus unmittelbarer



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persönlicher Anschauung etwas wußten von den Welten, die über dem physischen Plan liegen. Genau ebenso wie jemand ein Erfahrener auf dem Gebiete der Naturwissenschaft sein kann, so kann auch jemand ein Erfahrener sein auf dem Gebiete des Seelenlebens und des Geisteslebens. Man kann unmittelbare Erkenntnis von diesen Welten haben.

Zu allen Zeiten hat es solche Menschen gegeben, die geistige Erfahrungen hatten; und diejenigen, die solche Erfahrungen hatten, waren die wichtigen Lenker und Führer der Menschheit. Was an Religionsbekenntnissen eingeflossen ist in die Menschheit, ist hervorgegangen aus der geistigen und seelischen Erfahrung dieser Religionsstifter. Diese Religionsstifter waren nichts anderes als Abgesandte der großen Brüderschaften von Weisen, die die eigentliche Führung in der Menschheitsentwickelung haben. Sie senden ihre Weisheit, ihr spirituelles Wissen von Zeit zu Zeit in die Welt, um einen neuen Impuls, einen neuen Einschlag im Fortschritt der Menschheit zu geben. Für die große Menge der Menschen ist nicht sichtbar, woher diese Einströmungen in die Menschheit kommen. Diejenigen aber, welche eigene Erfahrungen machen können, die den Zusammenhang haben mit den fortgeschrittenen Brüdern der Menschheit, die eine Stufe erreicht haben, welche die Menschheit erst in fernen Zeiten erreichen wird, die wissen, woher diese Impulse kommen. Dieser Zusammenhang, durch welchen das Wort des Geistes zu den Mitbrüdern und Mitschwestern von innen spricht durch die fortgeschrittenen Brüder der Menschheit, ist selbst ein esoterischer, der nicht durch eine äußere Gesellschaft geknüpft werden kann, der unmittelbar durch die geistige Kraft geknüpft wird.

Von einer solchen Brüderschaft vorgerückter Individualitäten



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mußte wiederum ein Strom von Weisheit, eine neue spirituelle Welle im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts in die Menschheit einfließen. Nichts anderes war Frau Blavatsky als ein Sendbote solcher höheren menschlichen Individualitäten, die einen hohen Grad von Weisheit und göttlichem Willen erlangt haben. Und von solcher Art, wie sie kommen von solchen vorgeschrittenen Menschenbrüdern, waren auch die Mitteilungen, die dem «Esoterischen Buddhismus» zugrunde liegen.

Nun kam es durch eine notwendige, aber noch nicht leicht überschaubare Verkettung von weltgeschichtlichen geistigen Ereignissen, daß die ersten Einflüsse der theosophischen Bewegung vom Orient, von orientalischen Meistern ausgingen. Aber schon als Helena Petrowna Blavatsky ihre «Geheimlehre» verfaßte, waren es nicht mehr solche orientalische Weisen allein, welche als große Eingeweihte die Lehren, welche Sie in der «Geheimlehre» finden können, an Frau Blavatsky vermittelten. Ein ägyptischer und ein ungarischer Eingeweihter hatten bereits dasjenige, was sie beizutragen hatten, zu dem neuen großen Einschlag hinzugegeben. Und seit jener Zeit ist noch manche neue Strömung in diese theosophische Bewegung eingeflossen, so daß für denjenigen, der aus eigenem Wissen weiß, was hinter den Kulissen vorgeht —notwendig hinter den Kulissen vorgeht, weil es nur langsam in die theosophische Strömung eindringen kann —, es heute keinen Sinn mehr hat, davon zu sprechen, daß in dieser theosophischen Bewegung nur ein Neubuddhismus enthalten sei.

Nicht nur der Durchschnittsmensch ist abhängig von seiner Umgebung, von seinem Zeitalter und seiner Nation, sondern selbst der höchstentwickelte Mensch. Auch der, welcher eine hohe Stufe von Weisheit und göttlichem Willen erlangt hat, ist noch in gewisser Weise abhängig von



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seiner Umgebung. Das haben gleich im Anfang der Bewegung die großen Weisen der Bewegung betont. Die großen Weisen waren hervorgegangen aus orientalischem Wissen, aus der orientalischen Welt. Sie gehörten einer Bruderschaft an, die ihre Wurzel hatte in dem, was man den tiefen Buddhismus des Orients nennt. Diese Bruderschaft hat ihre Wurzel nicht in dem sogenannten südlichen Buddhismus, den Sie namentlich auf Ceylon finden können, sondern in dem nördlichen Buddhismus, der nicht nur die reine und edle Morallehre und die Gerechtigkeitslehre des südlichen Buddhismus in sich schließt, sondern auch eine erhabene Lehre von dem Geistigen, dem spirituellen Leben der Welt. Dieser nördliche Buddhismus kann in gewissem Sinne als eine Art esoterische Lehre, im Gegensatz zu dem südlichen Buddhismus, betrachtet werden.

Warum mußte nun die Erneuerung des spirituellen Lebens angeregt werden von dieser Seite her? War das notwendig? Geben wir uns keiner Täuschung hin über die ganze Sachlage, die hier vorliegt, sondern sprechen wir sie so aus, wie sie sich dem unbefangenen Wissenden darstellt.

Alle großen Weltreligionen und alle großen Weltanschauungen stammen von Abgesandten dieser großen Brüderschaften vorgerückter Menschen. Aber indem diese großen Bekenntnisse dann ihre Wanderung durch die Welt machen, müssen sie sich anpassen an die verschiedenen Volksauffassungen, dem Verstande, den Zeiten und den Nationen. Unsere materialistische Zeit, namentlich seit dem 15., 16. Jahrhundert, hat nicht nur die Wissenschaft, sondern auch die Religionsbekenntnisse des Westens materialisiert. Sie hat das Verständnis für das Esoterische, für das Spirituelle, für das eigentliche Geistesleben immer mehr und mehr zurückgedrängt; und so kam es denn, daß im 19. Jahrhundert nur noch sehr, sehr wenig Verständnis vorhanden



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war für eine tiefere Weisheit. Bezüglich dessen, woraus auch die europäische Religion entstanden ist, müssen wir uns doch gestatten zu sagen, daß die, welche ein spirituelles Gewissen haben, suchten nach dem Geistigen, daß sie aber sehr wenig Anregung mehr fanden in dem protestantischen Religionsbekenntnis des 19. Jahrhunderts, daß sie unbefriedigt waren von dem, was sie von den Religionsbekenntnissen und Theologen hören konnten. Gerade diejenigen, welche die tiefsten Religionsbedürfnisse hatten, waren es, welche die geringste Befriedigung in den Religionsbekenntnissen des 19. Jahrhunderts fanden. Diese Religionsbekenntnisse des 19. Jahrhunderts sind im Innersten wieder belebt worden von dem esoterischen Kern der universellen Weisheitslehren. Unzählige, die früher durch die interessanten naturwissenschaftlichen Tatsachen dem Christentum abwendig gemacht worden waren, führte die Theosophie wieder zurück zum Christentum. Es ist also so, daß die theosophische Bewegung dieses Christentum wieder vertieft hat, daß sie die wahre, echte Gestalt des Christentums wieder gezeigt hat, und auch viele derjenigen zum Christentum wieder hingeführt hat, welche ihre Seelen und Herzen durch es nicht mehr hatten befriedigen können. Das kommt daher, weil die Theosophie nichts anderes tut gegenüber dem Christentum, als seinen inneren Kern wieder zu erneuern, und es in seiner wahren Gestalt aufzuzeigen. Dazu war aber notwendig, daß in dem kleinen Kreise des Orients, in dem sich noch eine fortlaufende Strömung erhalten hatte aus den Zeiten eines hochentwickelten spirituellen Lebens im Beginne unserer Wurzelrasse, daß von da die Anregung ausging.

Vom Mittelalter bis in die neue Zeit herein hat es auch in Europa große Weise gegeben; und auch solche Brüderschaften hat es gegeben. Die Rosenkreuzer muß ich da



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immer wieder erwähnen; aber das materialistische Jahrhundert konnte wenig mehr annehmen von dieser Rosenkreuzergesellschaft. Und so kam es, daß die letzten Rosenkreuzer sich schon im Beginne des 19. Jahrhunderts vereinigt hatten mit den orientalischen Brüdern, von denen dann die Anregungen ausgegangen sind. Es war der europäischen Kultur die spirituelle Kraft verlorengegangen, und die großen Anregungen mußten daher zunächst vom Orient kommen. Daher das Wort: Ex oriente lux. —Dann aber, als dieses Licht gekommen war, fand man wiederum den Funken, so daß auch in Europa die religiösen Bekenntnisse angefacht werden konnten.

Heute haben wir es nicht mehr im Entferntesten nötig, noch fortzupflanzen die Anklänge an den Buddhismus. Heute sind wir imstande, durchaus aus unserer europäischen Kultur, ja aus der christlichen Kultur heraus, ohne irgendwelche Hinweise auf buddhistische Quellen oder Ursprünge oder andere orientalischen Einflüsse, die Sache darzustellen. Es ist bemerkenswert, was einer der bedeutendsten Theosophen Indiens auf dem Religionskongreß in Chicago über den Weltberuf der theosophischen Bewegung sagte. Chakravarti hat damals eine Rede gehalten und gesagt: Auch im indischen Volke ist das alte spirituelle Leben verlorengegangen. Der Materialismus des Westens hat auch in Indien seinen Einzug gehalten. Man ist auch in Indien hochmütig und ablehnend geworden gegenüber den Lehren der alten Rishis, und die theosophische Bewegung hat sich das Verdienst erworben, die spirituelle Lehre auch nach Indien zu bringen. —So wenig ist es richtig, daß wir indische Weltanschauung verbreiten, daß gerade das Umgekehrte zutrifft: daß vielmehr die theosophische Bewegung die Weltanschauung, die sie zu vertreten hat, erst wieder nach Indien brachte.



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Die Gelehrten, die sich im Laufe des 19. Jahrhunderts mit der Erforschung des Buddhismus befaßt haben, haben von ihrem Standpunkte aus etwas gegen das Wort «esoterischen Buddhismus» eingewendet. Sie haben gesagt: der Buddha hat niemals etwas gelehrt, was man mit Esoterik bezeichnen könnte. Er hat eine populäre Religion, die vorzugsweise auf das moralische Leben hinausging, gelehrt, und dabei Worte gesprochen, die von jedem verstanden werden können; von einer geheimen Lehre sei aber bei Buddha überhaupt nicht die Rede. Daher haben auch einige gesagt, einen Geheimbuddhismus könne es überhaupt nicht geben. Es ist viel Unzutreffendes über Buddha und den Buddhismus geschrieben worden. Das können Sie schon aus Stellen des Büchelchens, das bei Reclam erschienen ist, ersehen. Es heißt da: «So ist das viel mehr, was ich erkenne und nicht verkündige, als das, was ich euch verkündigt habe. Und wahrhaft habe ich euch dies nicht verkündigt, weil es euch keinen Gewinn bringt, weil es nicht den Wandel in Heiligkeit fördert, weil es nicht zur Abhärtung, nicht zu Unterdrückung der Lust, nicht zu Friede, Erkenntnis, Erleuchtung und Nirwana führt. Deshalb habe ich euch jenes nicht verkündigt. Und was habe ich euch verkündigt? Das ist das Leiden, das ist die Entstehung des Leidens, das ist die Aufhebung des Leidens, und das ist der Weg, der zur Aufhebung des Leidens führt. Das habe ich euch verkündigt.»

Eine solche Stelle zeigt uns sofort, daß wir es im Buddhismus auch mit einer Lehre zu tun haben, die nicht öffentlich verkündigt worden ist. Und aus welchem Grunde nicht öffentlich verkündigt worden ist? Weil eine esoterische Lehre überhaupt nicht öffentlich verkündigt werden kann! Was wollte Buddha anders als seinem Volke eine erhebende Sitten- und Morallehre verkündigen, durch die jeder



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einzelne reif werden kann, um in eine Schule der Weisheitswissenschaft aufgenommen zu werden, nachdem er sich die Tugend, das Temperament, die Charakteranlage herangebildet hat, die erforderlich sind, um in die Esoterik aufgenommen zu werden. Seinen intimsten Schülern hat Buddha verkündigt, was er über das Exoterische hinaus zu sagen hatte. Der nördliche Buddhismus hat nun in einer lebendigen Geistesströmung diese Geheimlehre des Buddhismus und aller großen Weisheitsreligionen bewahrt, und von ihnen konnte daher jener Einfluß ausgehen, welcher zur Begründung der Theosophischen Gesellschaft geführt hat.

Nun sträuben sich ja namentlich unsere Zeitgenossen auch dagegen, daß uns irgendein günstiger Einfluß hätte kommen können, sei es von dem Buddhismus, dem Hinduismus oder irgendeinem anderen orientalischen Religionsbekenntnis. Und wie wir da einem Vorurteil unglaublichster Art begegnen, so könnte man auch in bezug auf unzählige andere Punkte nachweisen, wie wenig die orientalischen Bekenntnisse in Europa verstanden worden sind, und wie über diese Bekenntnisse in Europa geredet wird von denjenigen, die niemals sich die Mühe gegeben haben, in dieselben einzudringen, und die sich so verhalten, als ob etwas für die abendländische Weisheit ganz Fremdes einfließen müßte in das Abendland. So wird gesagt, daß der Buddhismus zur Lebensflucht, zur Askese führe, daß er dazu führe, das Nichtsein höher zu schätzen als das Leben. Und man sagt ferner, daß eine solche Lebensflucht, eine solche Lebensfeindseligkeit etwas sei, was dem tätigen modernen Menschen nicht zieme. Was soll uns eine solche Lebensflucht, sagen sie. Man braucht nur eine einzige Stelle aus den buddhistischen Schriften mitzuteilen, um zu zeigen, wie wenig begründet der Vorwurf der Lebensfeindlichkeit ist, wenn man ihn dem Buddhismus macht. Der Ausdruck



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«Bikschu» bedeutet einen Schüler im Buddhismus. Wenn irgendein Bikschu ein menschliches Wesen des Lebens beraubt, eine Lobrede auf das Sterben hält oder andere zum Selbstmord aufstachelt und sagt: Was nützt dir dieses Leben? Sterben wäre besser als Leben! —Und wenn er das Leben nach dem Tode auf diese Weise begründet, dann ist er abgefallen und gehört nicht länger der Gemeinschaft an. —So lautet ein strenges Gebot des Buddhismus, und ein Verbot, jemandem davon zu sprechen, daß der Tod wertvoller sei als das Leben: das ist eine der größten Sünden in dem wahren Buddhismus. Wenn Sie so etwas nehmen, so werden Sie, von da ausgehend, ermessen können, wie wenig zutreffend die Vorstellungen sind, die immer wieder von denjenigen verkündigt werden, welche sich mit der Sache selbst ungenügend befaßt haben.

Es ist schwer, Vorurteile, die sich so eingenistet haben, wieder aus der Welt zu schaffen. Man kann nur immer wieder auf die wahre Gestalt dieser Dinge hinweisen. Man hat dann zwar gesprochen, aber bald kommen dann doch wieder dieselben und wieder dieselben Einwände. Man kann hundertmal davon sprechen, daß das Nirwana nicht das Nichtsein sei, sondern Fülle und Reichtum des Seins, daß es der höchste Gipfel des Bewußtseins und Seins ist, daß es keine einzige Stelle gibt —auch nicht in den exoterischen Schriften —, aus welcher hervorgeht, daß sich ein wahrer Kenner unter dem Nirwana das Nichtsein vorstellt: man kann das hundertmal wiederholen, aber immer wieder wird von der Lebensflucht gesprochen. Nirwana ist genau dasselbe, wovon auch das Christentum spricht. Aber nur diejenigen, welche eingeweiht waren in die tieferen Geheimnisse des Christentums, können darauf hinweisen.

Es ist nicht zu bestreiten, daß die wahren Christen, daß die Scholastiker und Mystiker tief beeinflußt waren von



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dem Dionysios Areopagita. Bei ihm finden Sie, daß, wenn man von dem göttlichen Sein spricht, mit dem sich das Menschliche am Ende der Entwickelung vereinigen muß, so soll man diesem höchsten Sein kein Prädikat beilegen, das von unseren irdischen Vorstellungen hergenommen ist. Alles, was wir aussagen können von Eigenschaften, haben wir uns erworben in dieser Welt. Legen wir dem göttlichen Sein eine solche Eigenschaft bei — so sagt dieser christliche Esoteriker —, dann sagen wir von dem Göttlichen, daß es gleich sei dem Endlichen, gleich sei dem, was in der Welt ist. Dionysios Areopagita spricht daher in seinen Schriften davon, daß man nicht einmal Gott sagen solle, sondern Übergott, und daß man, um die ganze Heiligkeit dieses Begriffes anzudeuten, vor allen Dingen sich hüten soll, irgendein Merkmal, das aus der Welt geholt ist, diesem göttlichen Sein beizulegen; daß man sich also klar sein muß, daß die Eigenschaften, die wir in der Welt erfahren können, das göttliche Wesen nicht haben könne, sondern viel mehr.

Und wiederum hat diese Anschauung erneuert der große Kardinal Nikolaus Cusanus im 15. Jahrhundert, auch die christlichen Mystiker, Meister Eckhart, Tauler, Jakob Böhme, überhaupt alle Mystiker, welche aus unmittelbarer Erfahrung eine Einsicht bekommen haben in die großen Rätsel des Daseins. So sprachen von Nirwana auch die westlichen Buddhisten. Wir können uns vielleicht besser einen Begriff machen von Nirwana, wenn wir die europäischen, christlichen Worte dafür suchen.

Wer heute bei uns zurückgeht in das 16. Jahrhundert und die Worte der damaligen Zeit prüft, wird finden, daß es schwieriger ist, den Sinn derselben festzustellen. Daher ist es auch vollständig unzutreffend, was von philologischer Seite über Nirwana gesagt wird. Derjenige, welcher von



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der theosophischen Bewegung als von einer neubuddhistischen spricht, der wird vor allen Dingen von der buddhistischen Geistesrichtung nichts Zutreffendes sagen können. Diejenigen, welche das Vorurteil aufgebracht haben, wissen gewöhnlich gar nicht, von was sie reden. Denn es ist nicht nötig, zu den orientalischen Quellen Zuflucht zu nehmen. Nur die erste Anregung ist ausgegangen von dieser orientalischen Quelle. Was wir heute haben, strömt uns nicht zu aus dem Buddhismus heraus. Im Gegenteil, es ist seit den ersten Zeiten der theosophischen Bewegung das Leben, das unmittelbare spirituelle Leben in der theosophischen Geistesströmung immer reger und reger geworden. Und wenn heute derjenige, der die ursprüngliche theosophische Lehre verkündigen will, nur ein buddhistisches Bekenntnis verkündigen wollte, so wäre das gerade so, wie wenn jemand, der heute Mathematik lehren will, nicht dasjenige, was er selbst weiß, lehren würde, sondern den alten Euklid oder den alten Cartesius lehren wollte. Das ist ja das Bedeutungsvolle der theosophischen Bewegung, daß die ersten großen Lehrer nur die großen Anreger waren, und daß seitdem Männer und Frauen erstanden sind, die wirklich geistige Erfahrung haben, die das geistige Wissen mitzuteilen in der Lage sind. Was sind uns Zarathustra, Buddha, Hermes und so weiter? Sie sind uns die großen Anreger, vor denen wir in Verehrung und Bewunderung stehen, weil, wenn wir sie anblicken, in uns die Kräfte angeregt werden, welche wir brauchen. Das Wissen kann auch von den größten Weisen nicht auf Autorität hin übermittelt werden. Wenn wir noch in einem anderen Verhältnis zu Buddha, Zarathustra, Christus stehen als zu den großen Mathematiklehrern oder Physiklehrern, so hat das seinen guten Grund. Das, was als Weisheitsprinzip verkündigt wird, wird unmittelbares äußeres Leben im Menschen.



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Nicht wie Mathematik oder Naturwissenschaft ist es äußeres Wissen, sondern es ist lebendiges Leben. Was die Weisheitswissenschaft übermittelt, spricht zum ganzen Menschen. Bis in die Fingerspitzen hinein durchrieselt es die ganze Persönlichkeit. Und wenn es der Persönlichkeit entströmt, so entströmt die Weisheit selbst, sie strömt über von einem Wesen in die anderen. Daher stehen wir allerdings zu Jesus, Hermes, Buddha nicht so, wie wir zur Wissenschaft stehen, sondern so, daß wir mit ihnen in einem gemeinschaftlichen Leben stehen, daß wir in ihnen leben und weben und sind. Aber in anderer Weise wieder sind sie doch nur die bloßen Anreger. Wenn die Weisheit unser eigen geworden ist, dann betrachten sie ihre Aufgabe als erfüllt. Daher kommt es nicht auf Dogmen, nicht auf Lehrsätze oder auf im Buche Stehendes an, sondern darauf, daß das lebendige Leben in Bewegung ist, pulsiert. Wer nicht im tiefsten Herzen weiß, daß ein lebendiges Leben jedes einzelne Glied, jede einzelne Persönlichkeit, die zur theosophischen Bewegung gehört, durchpulst, daß er durchströmt wird von lebendigen Geistesströmen, der faßt die theosophische Bewegung nicht in der richtigen Weise auf. Nicht ein Buch haben wir in der Hand und verkündigen die Lehrsätze des Buches, Leben sind wir, und Leben wollen wir mitteilen. Und soviel Leben wir mitteilen, soviel wird die Theosophie wirken.

Wenn wir das verstehen, dann werden wir uns auch darüber klar sein, daß es nicht auf den Wortlaut der Lehre ankommt, sondern auf die unmittelbare geistige Erfahrung, die jemand zu verkündigen hat, die er selbst zu sagen hat. Das ist das große Mißverständnis, daß man glaubt, man müsse nun wieder in der Theosophie auf irgendwelches Meisterwort schwören, oder man müsse diese oder jene Dogmen oder Lehrsätze, die von höheren Individualitäten



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herrühren, immer wiederholen, und das sei dann Theosophie. Man glaubt, man sei Theosoph, wenn man von der astralen Welt und von Devachan spricht, und das, was in den Büchern steht, verbreitet. Das macht jemand noch nicht zum Theosophen. Nicht darauf kommt es an, was verkündigt wird, sondern darauf, wie es verkündigt wird: daß es verkündigt wird als unmittelbares Leben. Daher wird derjenige, der das Leben, das aus diesen Büchern stammt, die Frau Blavatsky oder jemand anders geschrieben hat, in der richtigen Weise lebt, dieses Leben so leben, daß er es individuell lebt. Und das wird die beste Anregung sein, die jemand empfangen kann, die man auch von Blavatsky erlangen kann, wenn er in sich selbst Spirituelles zu empfangen und wiederum zu entsenden vermag. Wir brauchen Persönlichkeiten, die aus sich selbst heraus zu verkündigen wissen, was sie erfahren haben in den höheren Welten. Und dann ist es gleichgültig, ob es geschieht in Worten des Orients, in Worten des Christentums, oder mit den neugeprägten Worten. Im wahren Theosophen leben nicht Worte und nicht Begriffe, in ihm lebt der Geist. Und der Geist hat nicht Worte und nicht Begriffe, der hat unmittelbares Leben. Alle Begriffe und Worte sind nur äußere Form für diesen im Menschen lebenden Geist. Das wird der Fortschritt der theosophischen Bewegung sein. Und sie wird um so theosophischer werden, je mehr wir Männer und Frauen haben werden, die das theosophische Leben begreifen werden, die verstehen werden, daß es nicht darauf ankommt, über Karma zu sprechen und über Reinkarnation, sondern darauf: den Geist, der in ihnen lebt, zum Former, zum Gestalter der Worte zu machen. Dann werden wir vielleicht gar nicht in den Worten sprechen, die gültig waren in der theosophischen Bewegung, und wir sind doch bessere Theosophen. Rechtgläubige und Ketzer



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werden wir nicht wiederum haben in der theosophischen Bewegung. Wenn wir Rechtgläubige und Ketzer unterscheiden würden, so würden wir in demselben Augenblick die theosophische Bewegung nicht mehr begriffen haben. Und aus keinem anderen Grunde können wir weder ein hinduistisches noch ein buddhistisches Religionsbekenntnis haben. Wir sprechen zu jedem Menschen so, wie er es, durch seinen Fortschritt und durch die Zeitverhältnisse bedingt, verstehen kann.

Es ist also nicht richtig, wenn wir in buddhistischen Phrasen zu unseren Europäern sprechen, weil für unsere europäischen Herzen und Gemüter der Buddhismus in seiner Form etwas Fremdartiges ist. Wir haben uns wirklich hineinzuleben in die Gemüter, nicht aber ihnen etwas Fremdes aufzuoktroyieren. Es heißt geradezu dem Sinne der theosophischen Bewegung ins Gesicht schlagen, wenn wir ein fremdes Bekenntnis aufoktroyieren wollten, welches nicht im lebendigen Volksleben wurzelt. Das war gerade das Geheimnis der Weisheitslehrer, daß sie Worte und Begriffe fanden, um zu jedem zu sprechen, so daß er sie verstand. Unter den Weisheitslehrern zeigen uns dies Hermes, Moses, Pythagoras, Buddha, Jesus Christus. Sie verkündigten den Völkern das, was sie an ihren Orten und zu ihren Zeiten verstehen konnten. Niemals hätte Hermes etwas anderes gelehrt, als was für das ägyptische Herz geeignet war. Buddha hätte niemals etwas anderes gelehrt, als was für das indische Herz war. Und wir müssen das lehren, was für das abendländische Herz ist. Wir müssen uns anschmiegen an das, was schon im Volke lebt. Das war das Geheimnis der großen Lehrer aller Zeiten. Und so werden wir wiederum den Weisheitskern der großen Religionsbekenntnisse vertiefen, und vor allen Dingen den Zugang finden zu einem jeden Herzen. Wir müssen verlernen,



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auf Dogmen zu schwören, verlernen, in der Anerkennung eines Lehrsatzes das Richtige zu suchen. Wir müssen allein auf das Leben sehen. Dann werden wir nicht mehr Anlaß geben zu solchen Vorurteilen, als ob wir einen neuen Buddhismus verkündigen wollten, als ob wir buddhistische Propaganda machen wollten. Diejenigen, welche die Theosophie als eine neuzeitliche spirituelle Bewegung verstehen, werden zu dem Christen in christlichen Vorstellungen, zu dem Wissenschafter in wissenschaftlichen Formen sprechen. Der Mensch kann ja im einzelnen irren, aber in seinem tiefsten Inneren muß er die Wahrheit finden, in welcher Form sie sich auch ausspricht. Aber man redet, als ob man dem, der Brot sucht, Steine geben will, wenn man zu ihm in fremden Formen spricht.

Das gibt zu gleicher Zeit einen Fingerzeig dahin, wie falsch und unrichtig es ist, wenn wir irgendeine Dogmatik im Sinne einer alten Kirche wieder zu dem machen, worauf wir fußen. Wir haben keine solche Dogmatik. Diejenigen, welche wissen, wie es wirklich steht mit der theosophischen Bewegung, die schauen auf keine Dogmen. Das, was wir zu lehren haben, steht tief geschrieben in eines jeglichen Gemüt. Was der Theosoph zu verkündigen hat, das hat er nicht zu suchen in einem Buche oder in einer Überlieferung, das entspringt keinem Dogma, das entspringt lediglich seinem Herzen. Er hat nichts zu tun, als seine Zuhörer zum Lesen dessen zu bringen, was in ihrer eigenen Seele geschrieben steht. Der, welcher helfen will, muß Anreger sein.

So steht der Theosoph vor dem Leben jeder einzelnen Seele, und will nichts sein als der Anreger, der zur Selbsterkenntnis verhilft. Immer mehr und mehr Menschen werden die theosophische Bewegung so auffassen und dann durch positive Arbeit es dahin bringen, daß solch ein Vorurteil



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wie das, daß wir buddhistische Propaganda machen wollen, als ob wir dem Christentum etwas Fremdes einimpfen wollten, nicht mehr Platz greifen kann. Nein, tot ist das Vergangene, wenn es nicht zu neuem Leben erweckt wird. Nicht dasjenige hat Leben, was wir in den Büchern und Urkunden lesen, sondern das, was in unseren Herzen jeden Tag aufs neue entsteht. Wenn wir das verstehen, dann sind wir erst richtige Theosophen. Dann gibt es in unserer Gesellschaft theosophische Freiheit, theosophisches Selbststreben eines jeglichen, nicht einen Schwur auf irgendein Dogma, lediglich Forschung, lediglich Streben, lediglich Sehnsucht nach eigener Erkenntnis. Dann gibt es auch nicht irgendwelche Ketzerei, auch nicht irgend etwas, was als nicht erreichbar anerkannt werden könnte, nicht Kampf, sondern vereintes Streben zu immer vereintem spirituellem Leben! So haben es die Großen immer gehalten. So hat es auch Goethe gehalten und schön ausgedrückt in den Worten:

Nur der verdient sich Freiheit wie das Leben,
der täglich sie erobern muß.