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RUDOLF STEINER Spirituelle Seelenlehre und Weltbetrachtung

Achtzehn öffentliche Vorträge gehalten zwischen dem 6. September 1903 und dem 8. Dezember 1904 im Architektenhaus und im Vereinshaus zu Berlin

1986 RUDOLF STEINER VERLAG DORNACH/SCHWEIZ

IST DIE THEOSOPHIE UNWISSENSCHAFTLICH?

Berlin,6. Oktober 1904

Vor acht Tagen versuchte ich Ihnen zu zeigen, was der moderne Mensch innerhalb der Theosophie heute finden kann. Bevor ich den Zyklus dieser Vorträge fortsetze, ist die spezielle Frage der Theosophie zu besprechen und ihr Verhältnis zu den großen Kulturaufgaben der Gegenwart, zu den bedeutenden Geistesströmungen unserer Zeit. Und so möchte ich heute noch die so wichtige Frage behandeln, ob denn die Theosophie unwissenschaftlich sei.

Das ist ja derjenige Vorwurf, welcher die theosophische Bewegung am schwersten trifft in einer Zeit, in welcher die Wissenschaft die denkbar größte Autorität, ja vielleicht die einzig wirkliche Autorität innehat. In einer solchen Zeit wiegt dieses Mißverständnis allerdings sehr viel. Und so muß es den Theosophen besonders nahegehen, wenn von seiten der Wissenschaft, namentlich von seiten derjenigen, welche eine Welt- und Lebensgestaltung auf wissenschaftlicher Grundlage schaffen wollen, immer wieder der Vorwurf gemacht wird, daß die Theosophie unwissenschaftlich sei. Daß heute die Mehrheit der Menschen gerade nach dieser Autorität der Wissenschaft sucht, können wir an einer Erscheinung der letzten Jahre ermessen, die uns symptomatisch für die Interessen unserer Zeit sein muß. Genau allerdings wird die Frage, die ich jetzt nur berühren will, erst in dem Vortrage über die Wissenschaft besprochen werden. Dennoch aber möchte ich hinweisen auf das große Aufsehen, das Haeckels «Welträtsel» machten, um zu zeigen, daß gerade die Lehren dieses Buches dem, der ihren Wert so anerkennt



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wie ich selber, verraten, wo das Interesse liegt. Dieses Buch will auf der Grundlage der Naturwissenschaft ein ganzes Weltbild aufbauen. Über zehntausend Exemplare sind davon verkauft worden; dann ist eine billige Volksausgabe veranstaltet worden für eine Mark, und über hunderttausend Exemplare dieser Ausgabe sind in den wenigen Jahren seit ihrem Erscheinen abgesetzt worden. Fast in alle bedeutenden Kultursprachen ist das Buch übersetzt. Dies erscheint mir aber weniger bedeutend als das, was ich jetzt sagen werde. Haeckel hat mehr als fünftausend Briefe erhalten, die anknüpfen an naturwissenschaftliche Fragen. Die Briefe enthalten alle fast die gleichen Fragen, und so sehen wir, daß damit ein wichtiges zentrales Bedürfnis getroffen worden ist. Eine Ergänzung zu dem Buch «Die Welträtsel» ist das Buch «Die Lebenswunder». In der Einleitung dazu erzählt uns Haeckel das, was ich eben gesagt habe. In diesem Buche können Sie auch den Vorwurf lesen, der der Theosophie gemacht wird, den Vorwurf der Unwissenschaftlichkeit. Die Frage ist also eine brennende.

Wir müssen uns daher klarwerden, wie die ganze Stellung unserer theosophischen Geistesbewegung zu der Wissenschaft überhaupt ist. Wer nur die letzten Jahrhunderte überblickt, kann sich überhaupt nicht klarwerden darüber. Man muß viel weiter gehen, man muß an den Ursprung der menschlichen Erkenntnis zurückgehen, in eine Zeit, die unserer Zeitrechnung weit vorausliegt, in der Morgendämmerung der menschlichen Erkenntnis oder wenigstens dessen, was wir heute menschliche Erkenntnis nennen.

Um vollständig zu verstehen, wie gewaltig der Gegensatz ist zwischen der Auffassung der wissenschaftlichen Probleme heute und in jener Morgendämmerung der menschlichen Erkenntnis, müssen wir uns klarmachen, daß die heutige Wissenschaft selbst sich völlig unfähig erklärt, die



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großen Fragen des Daseins zu beantworten. In dem Vorwort zu den «Lebenswundern» finden Sie wiederholt, was Haeckel schon oftmals gesagt hat: er vertrete den Standpunkt der Wissenschaft gegenüber dem mittelalterlichen Aberglauben und der Offenbarung. Zwischen Wahrheit und Aberglaube gebe es keine Vermittlung, da sei nur ein Entweder-Oder möglich. Damit behauptet er, daß dasjenige, was er auf der Grundlage seiner naturwissenschaftlichen Studien errungen hat, die einzige Wahrheit sei und daß alles, was andere Jahrtausende hervorgebracht haben, Irrtum, Aberglaube und unwissenschaftlich sei, schon aus dem Grunde, weil ja die Forscher der früheren Jahrhunderte nichts gewußt haben von den großen Entdeckungen des 19. Jahrhunderts.

Nun erklärt sich aber die Naturwissenschaft unserer Zeit ganz bestimmten Fragen gegenüber für unfähig, sie zu beantworten. Gewiß, wie ich das auch schon im vorigen Vortrage angedeutet habe, diese Naturwissenschaft versucht uns zurückzuführen in längst vergangene Zeiten, sie sucht die vorweltlichen Tiere und Pflanzen auf und führt uns zurück bis zu dem Zeitpunkte, wo wahrscheinlich das erste Leben auf der Erde aufgekeimt ist. Aber die Fragen, diese wichtigen Zentralfragen, die Du Bois-Reymond aufgestellt und deren Beantwortung Haeckel in dem Buche «Die Welträtsel» versucht hat, die Fragen nach dem Ursprunge des Lebens finden in der Naturwissenschaft keine Antwort. Freilich versucht der Naturforscher heute eine Antwort auf diese Fragen zu geben, insbesondere versucht es Haeckel. Er zeigt, wie die Erde hervorgegangen ist aus einem feuerflüssigen Zustand, sich allmählich abgekühlt hat, fester geworden ist, wie dann Wasser sich bilden und sammeln konnte, und wie endlich die Bedingungen da waren, daß die Lebewesen entstanden. Er versucht zu zeigen, wie man sich



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vorstellen könnte, daß aus dem Leblosen Lebendiges hervorgesprossen ist. Das ist dasjenige, was er allen älteren Überzeugungen entgegenhalten wollte: daß das Lebendige einstmals aus dem Leblosen hervorgesprossen ist und daß alles das, was vom Leben abhängt —also auch der Mensch —, nichts anderes sei als ein Produkt der unorganischen Materie, daß es auf nichts anderem fuße als auf dem, was wir in der Physik und in der Chemie haben. Umsonst versucht aber Haeckel zu zeigen, daß der Mensch nichts anderes sei als das Ergebnis der wunderbaren Dynamik und Mechanik des menschlichen Organismus. Denn da kommt nun die große Frage. Da kommt der Naturforscher an den Zeitpunkt, wo auf unserer Erde die Bedingungen vorhanden gewesen sein sollen, daß das erste Lebewesen hervorgegangen ist aus der unlebendigen Materie. Und da findet sich bei den Forschern, selbst bei Haeckel, ein Zugeständnis: Wir können uns absolut keine Vorstellung machen von dem Zustand, in dem unsere Erde damals gewesen ist, als das erste Leben zuerst auf ihr auftrat. Wir wissen nicht, wie die äußere Naturbeschaffenheit damals war, und deshalb können wir unmöglich sagen, wie sich damals das Unlebendige in das Lebendige verwandelt hat.

Das ist die eine Gruppe der Forscher. Sie hatten viele Anhänger im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts, wie auch heute noch. Wäre zum Beispiel der große englische Forscher Darwin in der ersten Zeit, als man gesagt hat, daß man das Leben aus der Materie begreifen müsse, nach seiner Meinung gefragt worden, so hätte er selber zugestanden, daß es unmöglich sei, Lebendiges aus Leblosem zu begreifen. Huxley hat, durch sein Studium der vergleichenden Anatomie, in der letzten Zeit seines Lebens selbst den Satz ausgesprochen, daß wir ja gerade innerhalb der Weltentwickelung sind, und warum sollten wir nicht denken können, daß das, was



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wir um uns herum sehen, sich nicht höher entwickeln könnte, daß wir das Reich der Wesen nicht für abgeschlossen erklären können, daß wir hinaufblicken müssen von den niederen Wesen bis zu den höheren Wesen, die uns aber nicht zugänglich sind, weil wir dafür keine Sinnesorgane haben. Solche Gedanken und Einwände haben sich die Einsichtigen unter den Naturforschern selbst gemacht.

Interessant ist es, daß der deutsche Biologe Preyer auf Grund seiner Studien, die selbst auf dem Darwinismus fußten, zu ganz anderen Anschauungen über das Leben gekommen ist. Er war nicht der Anschauung, daß das Leben sich aus dem Toten entwickelt habe, sondern er kam zu dem Ergebnis, daß damals, als die Erde das erste Lebewesen unserer Art entwickelte, die Erde nicht ein Totes war, sondern ein einziges Lebewesen, und daß damals überhaupt nichts Lebloses auf unserer Erde vorhanden war. Das Leblose hat sich erst aus dem Lebendigen entwickelt. So sehen Sie, hat der Darwinist Preyer die Anschauung, die andere naturforschende Philosophen vertreten haben, ins gerade Gegenteil umgewandelt, indem er die Erde als ein ganz großes lebendiges Wesen ansah. Das war, meint Preyer, vor Jahrmillionen. Ein großes lebendiges Wesen war unsere Erde, zu vergleichen mit einem Menschen- oder Tierorganismus von heute. Auch der Mensch hat heute in sich Lebendiges und scheinbar Lebloses. Unser Knochensystem ist scheinbar etwas Lebloses. Es hat sich ausgesondert aus dem Lebendigen als ein unlebendiger Teil. So stellt sich Preyer ungefähr vor, daß die Erde einstmals ein großes Lebewesen war, und daß die lebendige Erde dann das Leblose, das Tote, das Gestein und die Felsmassen herausgesetzt habe, wie der Mensch das Knochengerüst. Das ist ein Schritt, ein wichtiger Schritt, den die Naturforscher und die Philosophen in der letzten Zeit getan haben. Und dieser Schritt muß notwendig



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zu einem weiteren führen; er muß zu dem Schritte führen, daß nicht nur das Leblose sich aus dem Lebendigen entwickelt hat, sondern daß auch alles Physische, das Lebendige und das Leblose, sich aus dem Höheren, aus dem Geistigen entwickelt hat. So müssen die Forscher, wenn sie die Bahn verfolgen, die sie heute und ganz im Anfange einschlugen, zu dem Satze kommen: Nicht nur Lebloses hat sich aus dem Lebendigen entwickelt, sondern das Lebendige selbst hat sich aus dem Geistigen entwickelt. Das Geistige war zuerst, es hat zunächst Lebendiges abgesondert, und das Lebendige hat wieder das Leblose, das Tote abgesondert. Dies aber ist nichts anderes als die Grundlage der theosophischen Weltanschauung.

Die theosophische Weltanschauung unterscheidet sich von der gegenwärtigen, materialistisch-naturwissenschaftlichen Anschauung dadurch, daß sie den Geist zum Ersten und alles andere vom Geiste abhängig macht. Der Materialist macht die Materie zum Ersten und leitet alles von der Materie ab. Ich habe schon das letzte Mal angedeutet, daß die Lehre von den Sinnen im letzten Jahrhundert selbst hindeutet auf den Grund, warum der heutige Naturforscher bei seinem Satze beharren will, daß sich das Lebendige aus dem Unlebendigen, Geistlosen ableiten lasse. Ich habe hingedeutet auf den großen Satz, den zuerst der Physiologe Johannes Müller und andere bedeutende Physiologen ausgesprochen haben. Helmholtz und dann Lotze haben ihn in die Formel gebracht: Die Welt wäre um uns herum finster und stumm, wenn wir nicht Augen und Ohren hätten, welche die Schwingungen der Luft umwandeln in das, was für uns Farben und Töne sind. —So sagt uns die Naturwissenschaft selbst, daß alles, was wir in der physischen Welt um uns herum sehen, von uns abhängig ist. Hätten wir nicht in ganz bestimmter Weise eingerichtete Augen und



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Ohren, dann könnten wir die Welt nicht in dieser bestimmten Weise sehen und hören. Der Physiologe kann uns die Gründe angeben, warum das Auge und das Ohr sich in ganz bestimmter Weise bilden. Das rührt davon her, daß wir in unseren Sinnesorganen selbst teilnehmen an der physischen Welt. Die Theosophie zeigt uns nun die Grundbegriffe, von denen ich in acht Tagen sprechen werde. Wir sehen ein Ding dadurch, daß wir das Auge in die richtige Lage bringen zu dem Dinge, das wir sehen wollen. Wir verstehen ein Ding dadurch, daß wir Verstand haben und ihn dazu anwenden, die Bilder der Gegenstände zu einem Weltbilde auszugestalten. Dadurch sind wir imstande, uns ein Weltbild zu machen. Die Theosophie spricht dies so aus: Der Mensch ist sich bewußt der physischen Welt.

Nun müssen wir aber die Frage stellen: Lebt der Mensch nur innerhalb der physischen Welt? Andeutungsweise können wir uns diese Fragestellung erläutern, wenn wir uns vorstellen, daß jemand keine Ohren hätte; er würde die Töne seiner Mitmenschen nicht hören. Sie könnten Töne und Worte hervorbringen, aber ohne die Einrichtung des Ohres würden Sie die tönenden Offenbarungen der äußeren physischen Welt nicht wahrnehmen. Sie müssen Ohren haben, um sich der physischen Welt bewußt zu werden. — Besteht nun aber der Mensch bloß aus solchen physischen Äußerungen? Nein, Sie alle wissen, daß innerhalb des Leibes, in den der Mensch und auch das Tier eingeschlossen ist, nicht nur physische Tätigkeiten vorhanden sind, sondern daß in dem menschlichen Wesen auch Gefühle, Triebe, Leidenschaften, Begierden und Wünsche vorhanden sind. Diese Begierden, Wünsche, Triebe und Leidenschaften sind ebensolche Wirklichkeiten wie die physischen Funktionen, die physischen Tätigkeiten. Ebenso wie Sie verdauen und sprechen, fühlen, wünschen und begehren Sie. Das Verdauen



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und das Sprechen sind physische Äußerungen, und wir können sie mit physischen Sinnen für unser physisches Bewußtsein wahrnehmen. Warum können wir die andere Wirklichkeit, die auch in uns ist, die Wünsche, Begierden, Gemütsbewegungen und Leidenschaften, nicht ebenso wahrnehmen? Ganz im Sinne der Naturwissenschaften ist es gesprochen, wenn wir sagen: wir können sie nicht wahrnehmen, weil wir keine Sinnesorgane dafür haben.

Nun zeigt uns aber gerade die der theosophischen Bewegung zugrunde liegende Weltanschauung, daß sich der Mensch bewußt werden kann nicht nur einer physischen, sondern auch einer höheren Welt. Und wenn wir auf die Äußerungen dieser höheren Welt sehen, dann sind die Wünsche, Begierden, Leidenschaften und Triebe ebenso wahrnehmbare Wirklichkeiten, wie es das physische Wahrnehmungsvermögen ist, wie die Sprache der physische Ausdruck ist für eine physische Tätigkeit. Man sagt dann, das Bewußtsein der sogenannten astralischen Welt ist erwacht. Dann steht der Mensch als Trieb-, Wunsch- und Leidenschaftswesen vor uns, wie er als physisches Wesen erwacht und die Lichteindrücke zurückwerfen kann für unser physisches Auge. Wie diese höheren Sinne erwachen, wie der Mensch das höhere Bewußtsein erwerben kann, das werden wir in dem Vortragszyklus über «Die Grundbegriffe der Theosophie» hören. Der Mensch lebt in dieser höheren Welt, aber sein Bewußtsein, insofern er Durchschnittsmensch der Gegenwart ist, ist nicht erwacht für diese höhere Welt.

Dann gibt es noch eine dritte Welt, eine Welt des Denkens, eine Welt des höheren geistigen Lebens, die über den Leidenschaften, Begierden, Wünschen und Trieben liegt. Diese Welt der Gedanken, die Welt der Spiritualität, ist dem physischen Bewußtsein noch weniger zugänglich. Diese



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Welt des reinen Geistes sollte derjenige nicht ableugnen, der auf dem Standpunkte der modernen Philosophie steht, sondern bedenken, daß vielleicht dem heutigen Menschen dafür nur die Organe fehlen, um sie wahrzunehmen. Auch in dieser dritten Welt lebt der Mensch. Er denkt in dieser Welt, nur wahrnehmen kann er sie nicht.

So müssen wir sagen: Der Mensch lebt heute in drei Welten. Diese drei Welten nennen wir in deutscher Sprache: die physische Welt, die seelische Welt und die geistige Welt. In der gebräuchlichen theosophischen Ausdrucksweise werden sie benannt: die physische Welt, die astrale Welt und die mentale Welt. Bewußt aber ist sich der Mensch nur der ersten, der physischen Welt, und er kann daher wissenschaftlich nur etwas ausmachen über die physische Welt. Über die anderen Welten kann er erst dann etwas ausmachen, wenn er in ihnen ebenso sehend, ebenso wahrnehmend, ebenso bewußt wird, wie er es heute in der physischen Welt ist.

So haben wir in dem Menschen ein dreigeteiltes Lebewesen vor uns, das ein Ganzes bildet aus Physis, Seele und Geist, das aber nur in der Physis sich bewußt ist. Deshalb aber kann der heute innerhalb der Physis forschende Forscher nur so weit zurückblicken, als die physische Welt diesem Forscherblick sich eröffnet. Auch dem Forscherblick, der ausgerüstet ist mit allen Mitteln der Wissenschaft, bietet sich keine andere Welt als die, welche sich dem gewöhnlichen Sinnenleben bietet. Wenn er auch um Jahrmillionen zurückblickt auf den Werdegang der Erde, so sieht er zurück auf den Punkt, wo aus der astralen Morgendämmerung —die leuchtender ist als je ein physisches Licht —allmählich das Physische sich verdichtet hat. Dahin, wo aus Astralem das Physische, und noch früher aus dem Geistigen das Astrale hervorgegangen ist; dahin, wo der Geist sich allmählich



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zum Lebendigen und später zum Leblosen verdichtet hat, dahin kann nur das Auge dringen, das sehend geworden ist. Daher verläßt den physischen Forscher seine Forschungsmethode an dem Punkt, wo gleichsam das Physische aufblitzt, wo es sich herausgebildet hat aus dem Seelisch-Geistigen. So kommt es, daß der Physiologe sich bis zur Peripherie erhebt, bis dahin, wo das Lebendige zum Geistigen wird. In noch frühere Vergangenheit erhebt sich der Geistesforscher, und damit schafft er sich ein umfassenderes Weltbild, ein Weltbild, das weit hinausreicht über das, was der physische Forscher kennt.

Damit haben wir gezeigt, daß die theosophische Weltanschauung deshalb nicht unwissenschaftlich zu sein braucht, weil sie ein etwas anderes Weltbild entwirft als die physische Forschung. Es liegen da andere Erfahrungen — das Erwachtsein auf dem geistigen Plane —zugrunde. Wie Sie in einem Zimmer, das finster ist, sich tastend fortbewegen müssen und tastend wahrnehmen, und wie ein ganz anderer Eindruck entsteht, wenn das finstere Zimmer beleuchtet wird, so erscheint für den Geistesforscher, für den, dessen Augen geöffnet sind, alles neu, in neuer Tätigkeit, in einem anderen Licht. Nicht unwissenschaftlich ist dieser Forscher deshalb geworden, weil seine Erfahrung sich bereichert hat. Die Logik des Theosophen ist ebenso sicher wie die Logik des besten Naturforschers. Nur bewegt sich diese Logik auf einem anderen Gebiet. Es ist eine seltsame Unkenntnis, wenn man die Wissenschaft unserer Forschung ablehnen will, bevor man sie geprüft hat. Wir denken in derselben Weise auf den höheren Planen, wie der physische Forscher auf dem physischen Plane denkt; das harmonisiert die theosophische Forschungsmethode und die physikalische.

Nun müssen wir eine Erklärung darüber haben, weshalb der moderne Forscher dieses harte Entweder-Oder ausspricht



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und alles ablehnt, was nicht physische Natur ist. Dem theosophischen Forscher wird es klar, warum es so sein muß: das hängt mit der Entwickelung der Menschheit zusammen. Weil der Theosoph die Entwickelung der Menschheit in einem höheren Lichte betrachtet und weil er sozusagen das Zubereiten auf dem geistigen Gebiete verfolgen kann, deshalb ist der Theosoph imstande, aus der Entwickelung heraus zu erkennen, warum der physischen Verstandeswissenschaft die alleinige Autorität zugesprochen wird. Was man heute Wissenschaft nennt, ist ja nicht immer dagewesen. Geradeso wie jede Pflanze, wie jedes Tier sich entwickelt hat, wie die Geschlechter und Menschenrassen sich entwickelt haben, genauso hat sich auch das geistige Leben entwickelt. Und selbst die Wissenschaft von heute ist nicht immer in demselben Stadium gewesen. Auch sie ist ein Entwickelungsprodukt. Es hat aber auch in den ältesten Zeiten eine Art und Weise des menschlichen Anschauens gegeben, wenn sie auch nicht wissenschaftlich in dem modernen Sinne war. Deshalb muß man zurückgehen in die Zeit, in der die Anfänge unseres menschlichen Lebens beginnen.

Alles ist in Entwickelung. Das Menschengeschlecht war vor Jahrmillionen verschiedener von dem heutigen, als man es sich vorstellt. Auch diese Verschiedenheit wird in den Vorträgen über die «Grundbegriffe der Theosophie» zur Sprache kommen. Dem Menschengeschlecht von heute ist ein anderes vorangegangen, das atlantische Menschengeschlecht. Von ihm erzählt Plato noch. Dieses Geschlecht ist für die Naturwissenschaft keine wegzuleugnende Tatsache. Es hat anders vorgestellt, anders gelebt, andere Kräfte ausgebildet als die heutige Menschheit. Wer sich davon näher unterrichten will, kann in meiner Zeitschrift «Luzifer» Weiteres über dieses Menschengeschlecht nachlesen. Nach dem Untergange dieses Menschengeschlechts, dieser «Wurzelrasse»,



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entwickelte sich erst ein solches Vorstellen, ein solches Denken und Anschauen, wie es das heutige ist. Und auch innerhalb unserer gegenwärtigen Wurzelrasse unterscheiden wir nach theosophischer Auffassung wieder sieben Unterrassen, von denen unsere eigene die fünfte ist.

Langsam hat sich die heutige Menschheit entwickelt, langsam hat sich das Geistesleben entwickelt. Gehen wir zurück zu dem geistigen Leben der ersten Unterrasse unserer Wurzelrasse, dann stellt sich dieses geistige Leben schon ganz anders dar als unser heutiges geistiges Leben. Das Denken dieser Menschen war anders. Es war ein solches, das sich mit unserem heutigen kombinierenden Verstandeswissen gar nicht vergleichen läßt. Dieses Denken war ein spirituelles, ein solches, das durch Intuition, durch eine Art geistigen Instinkt — aber auch das ist nicht das richtige Wort, es ist mehr eine vergeistigte Art des Denkens — zustande kam. Diese vergeistigte Art des Denkens hatte wie im Keime alle anderen heute nebeneinanderliegenden menschlichen geistigen Tätigkeiten harmonisch in sich beschlossen. Was heute getrennt sich äußert als Phantasie, als religiöse Frömmigkeit, als sittliches Gefühl und zu gleicher Zeit als Wissenschaftlichkeit, das war dazumal eins. So wie die ganze Pflanze eingeschlossen ist in den Samen, in einer Einheit, so war das, was heute ausgeprägt ist in vielen geistigen Tätigkeiten, in einer Einheit eingeschlossen. Die Phantasie war nicht diejenige Phantasie, die wir als eine unwirkliche ansprechen. Die Phantasie war befruchtet von dem geistigen Inhalt der Welt, so daß sie die Wahrheit hervorbrachte. Sie war nicht, was wir heute die künstlerische Phantasie nennen, sie war diejenige, die in ihren Vorstellungen zugleich Wahrheit enthielt. Das Gefühl und der ethische Wille waren innig verbunden mit dieser Phantasie. Der ganze Mensch war eine Einheit, eine geistige Zelle. Wir können



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uns äußerlich eine Vorstellung davon machen, wenn wir das prüfen, was uns noch geblieben ist. Wenn Sie die alten Geistesprodukte, wie zum Beispiel die Veden der alten Inder studieren, finden Sie da Kunst, Dichtung und Geist wie aus einem Borne fließen. Wahrheit, Dichtung und Pflichtgefühl flossen damals wie aus einem einzigen Zentrum des Menschen, aus der gemeinsamen Intuition. Wir können auch die Vorstellungen, die historisch geblieben sind aus der ältesten Druidenzeit und die den unsrigen zugrunde liegen, studieren — und wir werden finden, daß die Tempelbauten, die Steinsetzungen der Druiden nachgebildet sind den kosmischen Weltenmaßen. Alles das zeigt uns eine frühere Entwickelung.

Dann kommen wir herauf zu den nächsten Unterrassen. Da sehen wir, wie sich die geistigen Tätigkeiten trennen, wie sie sich im Anfange wie die Äste eines Baumes ausgebreitet haben. Wir sehen, wie später, in der chaldäisch-ägyptischen Zeit, die Wissenschaft der Himmelskunde sich abtrennt von der rein praktischen Wissenschaft; wie Stück für Stück sich abtrennt von dem, was eine Einheitsanschauung war und zu Sonderbestrebungen wird. Und ein ganz bestimmtes Gesetz können wir dann verfolgen in unserer fünften Wurzelrasse: daß nämlich der Mensch dieser fünften Wurzelrasse sich allmählich gerade die physische Welt in allen ihren Gebieten erobert. Betrachten wir den eben geschilderten geistigen Menschen vom ersten Anfang unseres Zeitalters, so sehen wir, wie bei ihm noch alles Geist ist. Der alte Vedenpriester kennt noch nicht das Hängen am Physischen. Das Physische war ihm noch etwas Unwürdiges; sein Blick war nur gerichtet auf den ewigen Gang der Ereignisse; sein Blick war himmelwärts gerichtet, das Irdische berührte ihn kaum. In unserer Zeit nimmt sich diese Vedenanschauung wie ein Anachronismus aus; wir



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sehen, wie diese Anschauungen dem Physischen nicht mehr gewachsen sind, und wie gerade das indische Volk darunter leidet, daß sein innerer Blick zurückgedunkelt wird, zurückgedrängt wird von einer Welt, die diesen Blick nicht mehr verstehen kann. Der Mensch mußte sich mit seinem geistigen Blick die physische Welt erobern; der Mensch ist untergetaucht in die physische Welt und muß die physische Welt immer mehr bearbeiten. Erst war der Blick in das innere Selbst gerichtet, dann, bei den Chaldäern und Ägyptern, war er gerichtet nach den Sternen. Und schreiten wir zu den Griechen fort, dann sehen wir, wie bei ihnen allmählich das, was früher vereint war, Philosophie, Religion und Kunst, als drei ganz getrennte Geistestätigkeiten uns entgegentreten. Im alten Vedentum ist der Priester zu gleicher Zeit Dichter, Forscher und religiöser Prophet; schreiten wir vor zum Griechentum, so sehen wir den Philosophen, den Künstler, den Priester getrennt auftreten. Und was ist geschehen, nach dem Entwickelungsgesetze im alten Griechenland? Die physische Welt wurde zunächst durch eine der Geistestätigkeiten, durch die Phantasie erobert. Die Eroberung der physischen Welt mit dem Mittel der Phantasie, das ist die gewaltige griechische Kunst.

Gehen wir weiter in die erste christliche Zeit. Vorbereitet hat sich das schon im Alten Testament, im Altertum, aber das neue Gebiet ist erst erobert worden von der Spiritualität der christlichen Zeit. Es ist das Gebiet des ethischen, des sittlichen Lebens. Gehen Sie ins ältere Griechenland, so sehen Sie das Moralische nicht als gesondert erscheinen von der allgemeinen Weltanschauung. Erst bei Sokrates und Plato beginnt es, daß das sittliche Wesen sich heraussondert. Das Christentum erobert die sittliche Welt. So wie das alte Griechentum in der Kunst durch die Phantasie das Physische spirituell erobert hat, so hat das Christentum die



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physische Sittlichkeit, das sittliche Leben auf der Erde, spirituell erobert. Das ist eine zweite Phase der Entwickelung.

Und wiederum, wenn wir einige Zeit übergehen, so sehen wir um die Wende des 15. zum 16. Jahrhundert, wie sich das, was früher vereinigt war, noch einmal spaltet. Wir sehen, wie der Weltanschauungsmensch, der Philosoph, und der Forscher sich trennen. Vorher gab es noch keine Trennung zwischen Philosophen und naturwissenschaftlich-physischen Forschern. Sehen Sie zurück in die erste Zeit des Mittelalters, betrachten Sie Scotus Erigena, Albertus Magnus, alle diejenigen, welche das Geistesleben in der Welt besorgt haben, Sie werden sehen, daß da alles Hand in Hand geht. Zwischen geistig-philosophischen Forschern und rein physischen Forschern war keine Trennung. Noch bei Cartesius und Spinoza können Sie Anklänge der Verbundenheit von Philosophie und Wissenschaft finden. Das philosophische Denken ging früher Hand in Hand mit der Naturwissenschaft. Mit dem 15., 16. Jahrhundert kommt dann diese Abzweigung: die Wissenschaft sondert sich von der Philosophie; die Wissenschaft wird selbständig. Ein neues Gebiet des physischen Lebens wird erobert: das Gebiet, welches durch Physik, Astronomie und so weiter, kurz, durch die rein physische Verstandeswissenschaft zu erobern ist. So sehen wir jetzt das, was früher vereint war: Wissenschaft, Kunst, Philosophie, Religion, Ethik, getrennte Wege gehen.

Wiederholt sind später Versuche gemacht worden, das, was früher eine Einheit war, wieder zur Einheit zu bringen. Wir sehen dieses Bestreben auch bei Goethe. Wir sehen, wie er bemüht ist, eine geistige Naturwissenschaft zu schaffen und eine Brücke zu finden zwischen der Wissenschaft und der Kunst. Ein Wort von ihm zeigt das: «Das Schöne



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[ist] [eine] [Manifestation] geheimer Naturgesetze, die uns ohne dessen Erscheinung ewig wären verborgen geblieben.» So hat ferner Richard Wagner versucht, den Mythos der Religionen zu vereinigen in einer neuen Kunstform, die mehr sein sollte als die auf reine Phantasie gebaute Kunst.

Diese Bestrebungen erinnern an etwas, was zu allen Zeiten vorhanden war. Neben den getrennten Wegen, die Religion, Kunst, Wissenschaft und Ethik gegangen sind, gab es immer das, was man die große Einheit nennt. Neben Wissenschaft, Kunst und Philosophie gab es das Mysterienwesen. Das ganze Weltbild wurde dem Eingeweihten der Mysterien vorgeführt. Da wurde ihm nicht in wissenschaftlicher Weise erzählt, was einstmals war und wie die Weltgesetze sind: ein Abbild des Lebens wurde da geschaffen. In dem Drama des Dionysos wurde ihm enthüllt, wie der Mensch, der Geistesmensch, eingetaucht ist in die physische Materie, wie das Geistige sich verdichtet hat zur Materie, um sich in Zukunft wieder zu erheben zum Geistigen. In großen Bildern wurde dieses Kunstwerk, dieses Dionysosdrama, aufgeführt in den alten griechischen Mysterien. Es wurde gezeigt, wie Dionysos der Sohn ist von Zeus und Semele, wie er gerettet wird durch Pallas Athene und wie sein Herz gerettet wird von Zeus. Das ist die Aufführung eines großen menschlichen Dramas; es sollte nichts anderes darstellen als das Leben innerhalb unserer Erde. Gezeigt sollte werden, wie der Mensch untergetaucht ist in die physische Gestalt, wie er seine Seele gerettet hat durch das tiefste Geistige im Inneren und wie er sich selbst wieder hinaufentwickeln soll zu einem neuen göttlichen Dasein. — Äußerlich in der griechischen Kultur erscheint dann das getrennt, was in den Tiefen der Mysterientempel eine Einheit darstellt. Was Sokrates erzählt und was Plato darstellt in der Philosophie, das ist nichts anderes



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als ein äußeres Abbild, eine Abspaltung dessen, was in den Mysterien sich fand. Lesen Sie Plato, so werden Sie die philosophische Ausgestaltung des Mysteriendramas sehen; lesen Sie die tragischen Geschicke der Helden, so haben Sie in diesen Heldendramen einen schwachen Abglanz des Mysteriendramas. Herausgebildet hat sich die Philosophie aus der alten Kunst. In unserer neuen Zeit ist, wie gesagt, die letzte Abspaltung geschehen: die Verstandeswissenschaft, die auf die physische Welt beschränkt ist, sie hat die Welt erobert; das Mikroskop und das Teleskop haben die Welt erobert. Wie die christliche Kunst die innere Gefühlswelt, so hat die physische Wissenschaft die äußere Natur erobert. Das ist die Aufgabe, die große Weltenmission gewesen: das, was früher eine Einheit war, in einzelnen Partien getrennt zu erobern.

Die Einheit von allen vier, von Wissenschaft, Philosophie, Ethik und Kunst, anzubahnen, ist die Mission einer neuen anbrechenden Zeit; die Mission einer neuen Menschheit will die Theosophie vorbereiten. Deshalb trat auch das erste bedeutsame Werk, die «Geheimlehre» von Helena Petrowna Blavatsky auf mit dem Untertitel: Vereinigung von Wissenschaft, Religion und Philosophie. — So verhält sich die theosophische Weltanschauung zu den einzelnen Zweigen, die heute das geistige Leben verschütten. Sie sehen, warum sie sich nicht trösten kann, wenn uns die Weltanschauung der naturwissenschaftlichen Welt ein Entweder-Oder entgegenruft. Sie sehen, warum der Theosoph, der auf das Ganze blickt, versöhnend hinsehen kann auf die Wissenschaft, und geradezu von der Weiterentwickelung der Wissenschaft erhoffen kann einen weiteren Aufstieg in der wissenschaftlichen Sphäre. Das ist das Ideal der Theosophie. Weil die Menschheit in jedem einzelnen Menschen ein Ganzes ist, deshalb ist dieses Ideal das große



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Menschheitsideal unserer Zeit. Auf getrennten Wegen mußten die Menschen innerhalb unserer Wurzelrasse ihr Ziel erreichen. Nur eine Weile aber, so lautet das große Weltengesetz, gehen die Wege getrennt; dann müssen sie sich wieder vereinigen. Jetzt ist die Zeit der Vereinigung.

Eine vereinigende Weltanschauung kann nur eine tolerante Weltanschauung sein. Deshalb steht der große Grundsatz der Toleranz an der Spitze der Bewegung. Ein Mißverständnis wäre es, wenn man die theosophische Bewegung auf irgendeine ausgesprochene Wahrheit hin beurteilen wollte. Nicht auf eine bestimmte einzelne Wahrheit hin, nicht auf ein Dogma, nicht auf dasjenige, was dieser oder jener Mensch erkannt hat oder zu erkennen glaubt, vereinigen wir uns. Derjenige, welcher in der theosophischen Bewegung, wenn auch noch so bestimmt und noch so energisch eine Wahrheit ausspricht, spricht sie nicht in dem Sinne aus, wie andere das verlangen, daß man sich zu ihr bekennen muß. Sehen Sie sich die einzelnen Bekenntnisse an, auch die wissenschaftlichen Richtungen, Materialismus, Monismus, Dualismus und so weiter, überall können Sie eines wahrnehmen: der Anhänger einer solchen Richtung glaubt einzig und allein die Wahrheit zu besitzen und schaltet alles andere aus. Entweder-Oder heißt es hier. Streit der Sekten, Streit in den Anschauungen ist die Folge. Die Theosophie unterscheidet sich ganz fundamental davon. In jedem einzelnen Menschen muß sich die Wahrheit entwickeln. Wer seine Erkenntnis ausspricht, spricht sie in keinem anderen Sinne aus als zur Anregung der übrigen. Zu nichts weiter. Der theosophische Lehrer ist sich bewußt, daß in jedem Menschen die Wahrheit herausgeholt werden muß. Dabei vereinigen sich gegenseitig völlig tolerante Menschen in Brüderlichkeit zu einem gemeinschaftlichen großen Ziel, sie vereinigen sich in der Theosophischen Gesellschaft,



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in der geisteswissenschaftlichen Bewegung. Die toleranteste Gesinnung, Toleranz bis ins Gefühl und in den Gedanken hinein, ist in dieser Bewegung zu finden. Der Theosoph ist, gerade wenn er in seinem Erkenntnisweg vorangeschritten ist, sich klar darüber, daß in jedes Menschen eigener Brust der Wahrheitskern ruht, daß er nur umgeben zu werden braucht mit einer geistigen Atmosphäre, um sich zu entwickeln. Die Gesamtheit, das Zusammenwirken ist es, worauf es ankommt. Wo Theosophen sich vereinigen, da schaffen sie um sich herum jene Atmosphäre, in welcher der einzelne Menschenkeim gedeihen kann. In diesem Zusammenwirken sehen sie ihre eigentliche Aufgabe. Das ist dasjenige, was die theosophische Bewegung grundsätzlich von allen anderen unterscheidet. Andere bekämpfen sich — wir aber vereinigen uns. Andere sind Monisten und betrachten den Dualismus als falsch, wir aber wissen, daß der Dualismus und der Monismus eine Einheit in einer noch höheren Harmonie finden werden, wenn man geistig in sich weiter sucht.

Das haben die großen Geister ausgesprochen, auch Goethe —mit seinen Worten an alte Meister anknüpfend —, wie in dem Menschen selbst sich entwickeln muß die göttliche Wahrheit, wie sie herausquellen muß aus dem einzelnen menschlichen Herzen. Das hat er, wie zum Motto unserer theosophischen Bewegung, an die Spitze eines seiner wissenschaftlichen Werke geschrieben. Dieses Motto heißt:


Wär nicht das Auge sonnenhaft, Wie könnten wir das Licht erblicken? Lebt' nicht in uns des Gottes eigne Kraft, Wie könnt' uns Göttliches entzücken?