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RUDOLF STEINER Spirituelle Seelenlehre und Weltbetrachtung

Achtzehn öffentliche Vorträge gehalten zwischen dem 6. September 1903 und dem 8. Dezember 1904 im Architektenhaus und im Vereinshaus zu Berlin

1986 RUDOLF STEINER VERLAG DORNACH/SCHWEIZ

WAS WISSEN UNSERE GELEHRTEN VON THEOSOPHIE?

Berlin,28. April 1904

Wenn eine Geistesrichtung sich im Verlaufe der Menschheitsentwickelung durchsetzen soll, eine Geistesrichtung, welche nicht die Anerkennung oder vielleicht auch nicht einmal die Kenntnis der sogenannten maßgebenden Kreise, der herrschenden geistigen Kreise genießt, so muß sie immerzu kämpfen mit den widerstrebenden Gewalten, die sich da innerhalb der Menschheitskultur hervortun.

Wir brauchen, um das zu verstehen, nur zu erinnern an dasjenige, was sich abspielte, als das Christentum gegenüber alten Vorstellungsarten, gegenüber einer alten Geistesströmung sich durchzusetzen hatte in der Welt. Wir brauchten nur wieder daran zu erinnern, wie im Beginne der neuen Geistesrichtung Galilei, Kopernikus, Giordano Bruno zu kämpfen hatten gegen die sogenannten maßgebenden, herrschenden Kreise. Wir dürfen annehmen, daß die von Giordano Bruno inaugurierte Geistesrichtung zu kämpfen hatte gegen Althergebrachtes.

In einer ähnlichen Lage ist heute diejenige Geistesrichtung, die unter dem Namen Theosophie vertreten wird in der Literatur, in Vorträgen und auch sonst seit einer Reihe von Jahren. Wenn Sie sich erinnern an das Schicksal solcher zur Zeit ihres Auftretens mehr oder weniger unbekannten Geistesrichtungen, so werden Sie finden, daß die Art und Weise, wie man ihnen entgegentritt von Seiten der herrschenden Parteien, von seiten der sogenannten maßgebenden Kreise, sich zwar ändert mit den Moden der Kultur, daß



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aber das Wesentliche, das Unverständnis, gepaart mit einer gewissen Art von Engherzigkeit, immer wieder und wieder auftreten. Es ist ja heute nicht mehr üblich, daß man Ketzer verbrennt und insbesondere würden sich diejenigen, welche sich liberale Kreise nennen, verwahren dagegen, zusammengeworfen zu werden mit solchen Leuten, welche Ketzer verbrannt haben. Aber vielleicht kommt es darauf weniger an. Das Ketzerverbrennen ist heute nicht mehr Mode. Aber wenn wir die Gesinnung prüfen, aus der hervorgegangen ist die Ketzerverfolgung und dasjenige, was damit zusammenhängt, wenn wir die Gründe für eine solche Verfolgung mit der menschlichen Seele prüfen und das, worauf wir da kommen, vergleichen mit dem, was in der Seele derjenigen sich auslebt, welche die theosophische Geistesrichtung heute mehr oder weniger bekämpfen oder sich ihr entgegenstellen, dann werden wir an Gesinnung und inneren Seelenvorgängen bei den Gegnern etwas ganz Ähnliches finden.

Freilich wollen wir heute uns nicht darauf einlassen, mit dem ganzen weiten Kreise der Gegner der theosophischen Weltauffassung uns auseinanderzusetzen. Wir wollen vielmehr uns beschränken auf dasjenige, was mit unserer zeitgenössischen Gelehrsamkeit zusammenhängt, wir wollen einmal das Verhältnis unserer zeitgenössischen Gelehrsamkeit zu derjenigen Weltauffassung, die hier vertreten wird, die man die theosophische nennt und die geisteswissenschaftliche, wie sie von mir seit einiger Zeit zu nennen versucht wird, wir wollen das Verhältnis der gelehrten Kreise zu dieser Weltanschauung einer Betrachtung unterziehen.

Es ist vielleicht doch nicht ganz so bedeutungslos, wenn man mit kleinen Symptomen diese Betrachtung anfängt. Ein sehr verbreitetes kleines Konversationslexikon, ein sogenanntes Taschenkonversationslexikon, das auf seinem Titelblatt oder wenigstens in seiner Vorrede sagt, daß es



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von den besten wissenschaftlichen Kräften zusammengestellt ist, soll den Anfang machen. Wenn wir es aufschlagen unter dem Schlagwort «Theosophie», finden wir als Erklärung nur zwei Worte: «Gottsucher, Schwärmer.» Nun ist natürlich eine solche Art gelehrter Betrachtung des Theosophen nicht in allen ähnlichen Nachschlagewerken mehr üblich. Aber viel gescheiter als aus dieser kurzen Bemerkung wird wohl derjenige, der über Theosophie etwas erfahren will, auch aus den anderen ähnlichen Nachschlagebüchern nicht werden.

Nun habe ich versucht, in den eigentlichen philosophischen Nachschlagebüchern einmal wenigstens so äußerlich zu prüfen, was denn da zu finden ist. Ich will Ihnen nicht etwa mit einer Blumenlese kommen aus solchen Nachschlagebüchern. Ich möchte nur zur Probe anführen, was in dem Wörterbuch der philosophischen Begriffe und Ausdrücke, quellenmäßig bearbeitet, erschienen zu Berlin 1900, zu finden ist. Also in einem der neuesten Werke, das tatsächlich auch die meisten theosophischen Begriffe aufführt, ist das Folgende enthalten: [Lücke im Stenogramm.]* Mit diesen Namen sind es etwa drei Zeilen, etwas darüber. Wer versuchen will, eine Vorstellung zu bekommen von Theosophie aus dieser Anführung, der wird sich sagen müssen: auch in solchen philosophischen Wörterbüchern finden wir nichts anderes, als eine noch nicht einmal zutreffende Übersetzung des Namens und dann ein paar Namen angeführt.

Auch sonst sieht es nicht besonders gut aus, wenn wir uns über dasjenige, was hier als Theosophie vertreten wird, orientieren wollen, was die zeitgenössische Gelehrsamkeit darüber weiß. Aber um so leichter —Sie werden das finden — — wird diese zeitgenössische Gelehrsamkeit auf ein paar kleine Dinge hin, die sie aufgeschnappt hat aus irgendeiner theosophischen Broschüre, über dasjenige, was Theosophie



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ist, aburteilen wollen. Wir können die merkwürdige Erfahrung machen: Ein Achselzucken und die Bemerkung, «was die theosophische Literatur verbreitet, ist nichts anderes als ein Aufwärmen von ein paar buddhistischen Begriffen», oder, «es ist nichts anderes als etwas anders ausgedrückter spiritistischer Aberglaube». Solche Dinge werden Sie in Hülle und Fülle hören können. Was Sie aber wenig werden hören können, das wird sein eine wirkliche Antwort auf die Frage: Ja, was ist denn eigentlich Theosophie? — Es wird Ihnen begegnen können, vielleicht nicht bloß in Kaffeegesellschaften, dasjenige, was ja tatsächlich in einer Kaffeegesellschaft jüngst einmal vorgekommen ist, was aber gar nicht so unbezeichnend ist für die ganze Stellung unserer Zeitgenossen zur Theosophie. Da sagte eine Dame zu einer anderen: Wie kommt es, daß du Theosophin geworden bist? Das ist ja etwas Fürchterliches, etwas Schreckliches. Bedenke doch, was du deiner Familie antust, bedenke, wie du dich in Widerspruch setzest zu dem, was die anderen Menschen denken. —Sie schwieg dann ein paar Sekunden und sagte darauf: Du, was ist denn das eigentlich —Theosophie?

Das ist gerade nicht aus gelehrten Kreisen entsprossen, aber dem Typus nach könnten Sie es auch wirklich im gelehrten Kreise finden. Sie können immer und immer wieder das Urteil finden, daß die Theosophie etwas ganz und gar nichts Wissenschaftliches sei, daß sie nur eine Schwärmerei einiger phantastischer Menschen sei, daß sie vor allen Dingen Behauptungen vorbringe, die man nicht beweisen könne.

Es soll heute hier keineswegs, wo es sich um eine Charakteristik des Verhältnisses unserer Gelehrsamkeit zur Theosophie handelt, eine Kritik gegeben werden, nicht einmal eine Kritik unseres Verhältnisses zu den Gelehrtenkreisen. Denn niemand mehr als der, welcher vom theosophischen Gesichtspunkte aus unsere gegenwärtige Gelehrtenbildung



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überblickt, weiß besser, daß aus der heutigen Gelehrtenbildung heraus, aus den Vorstellungen, Begriffen und Ideen, welche herausgebildet wurden aus der heutigen Schulbildung, nichts anderes entspringen kann als ein übermütiges und etwas hochnäsiges Achselzucken über dasjenige, was die Theosophie behauptet und was wirklich jener Gelehrsamkeit —weil sie es nicht besser verstehen kann —nicht anders erscheinen kann denn als Schwärmerei und als ganz unwissenschaftliches Gerede.

Gerecht wollen wir wirklich sein gegen diese Gelehrsamkeit. Der Theosoph steht da wirklich auf einem Standpunkt und muß auf einem stehen, welchen ich an einem Beispiel zeigen will, das sich nicht auf theosophischem Boden zugetragen hat, das aber leicht sich auf theosophischem Boden hätte zutragen können. Der Theosoph ist in einer ähnlichen Lage der zeitgenössischen Gelehrsamkeit gegenüber, wenn er das Naserümpfen und den Vorwurf der Schwärmerei zurückweist, wie eben in dem Beispiel der vor kurzem verstorbene Philosoph Eduard von Hartmann gegenüber der materialistisch-darwinistischen Naturinterpretation. Es soll hiermit keine Partei ergriffen werden für die «Philosophie des Unbewußten» von Eduard von Hartmann. Aber immer wieder müßte man hinweisen auf die Art und Weise, wie er seinen Gegnern begegnet ist. — Im Jahre 1869 war es, da erschien die «Philosophie des Unbewußten», ein Buch, für das der Theosoph nicht gerade Partei ergreifen muß, ein Buch, welches aber damals eine kühne Tat war. Und gerade in dem Verhältnis dieses Buches zu der damaligen Gelehrsamkeit kann sich uns ein Beispiel ergeben für die Art und Weise, wie heute wiederum der Geisteswissenschafter oder Theosoph seinen Gegnern gegenübersteht. Diese «Philosophie des Unbewußten» war in einer gewissen Weise eine kühne Tat. Damals war es, wo die Wogen der materialistischen



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Wissenschaft hoch gingen, wo sich die materialistische Wissenschaft ausgewachsen hatte zu einer Art materialistischer Religion, Bücher wie «Kraft und Stoff» von Büchner, andere Bücher von Vogt, Moleschott und dergleichen, die in Kraft und Stoff, in dem rein sinnlichen materiellen Dasein das einzig Wirkliche gesehen haben, sie haben Aufsehen gemacht, viele Auflagen erlebt, Herzen und Seelen erobert. In jener Zeit galt jeder für einen Tropf und Dummkopf, welcher nicht einstimmte in diesen Chor des Materialismus, welcher von einem selbstschöpferischen Geist sprach. In diese Zeit hinein, in der man der Ansicht war, daß Darwins Werk die wissenschaftliche Denkweise liefere für den Materialismus, in dieser Zeit, wo Philosophie selbst ein Wort war, das man für etwas höchst Überwundenes ansah, in dieser Zeit ließ Eduard von Hartmann seine «Philosophie des Unbewußten» erscheinen, eine Philosophie, welche trotz ihrer großen Fehler den einen Vorzug hat, daß sie in einer rücksichtslosen Weise die Welt auf ein Geistiges zurückführt, überall, in allen Erscheinungen die Grundlage eines Geistigen sucht, wenn auch das Geistige als ein Unbewußtes angesehen wird, wenn es auch einen besonders hohen Rang einnimmt. Das eine ist sicher, der Geist ist da der materialistischen Richtung scharf entgegengehalten. Während damals die darwinistische Richtung die Natur ganz aus Kraft und Stoff heraus erklärte, suchte sie Eduard von Hartmann so aufzufassen, daß der Geist als die innere Zweckmäßigkeit eines geistigen Wirkens ersichtlich sein sollte. —Da kamen diejenigen, welche glaubten, achselzuckend auf alles herabsehen zu können, was von Geist sprach und urteilten: Solch etwas Dilettantisches hat es noch nicht gegeben wie diese «Philosophie des Unbewußten». Da spricht ein Mensch, der eigentlich gar nichts gelernt hat über all die Erscheinungen, die der Darwinismus nun so wissenschaftlich erklärt. —



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Viele Gegenschriften gab es in der damaligen Zeit. Eine erschien auch von einem unbekannten Verfasser. Auf dem Titelblatt stand: «Das Unbewußte vom Standpunkte der Deszendenztheorie und des Darwinismus.» Es war eine gründliche Widerlegung der «Philosophie des Unbewußten». Der Verfasser zeigte, daß er mit dem Allerneusten in der Naturwissenschaft bekannt war. Ernst Haeckel sagte in einer Broschüre, es wäre schade, daß der Verfasser sich nicht genannt habe, da er selbst nichts Besseres gegen Eduard von Hartmann hätte vorbringen können, als was in dieser Schrift steht. Oscar Schmidt schrieb eine Broschüre und erklärte, kein Naturforscher hätte Besseres zu sagen vermocht gegen den grenzenlosen Dilettantismus des Eduard von Hartmann als der anonyme Verfasser dieser Broschüre. Er nenne sich uns und wir betrachten ihn als einen der Unsrigen. —Die Broschüre war schnell vergriffen und eine zweite Auflage erschien mit dem Namen des Verfassers. Und das genügte, um die Leute alle zum Schweigen zu bringen. Es war Eduard von Hartmann. Seit jener Zeit herrscht allgemeines Schweigen im Chorus derjenigen, welche über den Dilettantismus der «Philosophie des Unbewußten» nicht über Eduard von Hartmann, sondern in der ihnen eigenen Redseligkeit über die Broschüre, die ohne den Namen des Verfassers erschienen war, geschrieben hatten.

Man kann manches einwenden gegen ein solches Verfahren, aber man kann nicht leugnen, daß es gründlich wirksam war. Derjenige, welcher zunächst als Nichtwisser hingestellt worden war, hat den gelehrten Kreisen gezeigt, daß er so gescheit wie sie noch immer sein könne. Lassen Sie mich diesen trivialen Ausdruck gebrauchen, es wäre gut, wenn auch etwas anachronistisch, ein gleiches zu tun. Aber leicht, sehr leicht könnte derjenige, welcher auf der Höhe der theosophischen Weltanschauung steht, all das Zeug



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auch zusammenschreiben, das man heute gegen die Theosophie fabrizieren kann. Das muß vor allen Dingen betont werden: Die Theosophie ist nichts, was sich gegen die echte, wahre Wissenschaft richtet, wenn sie richtig verstanden wird. Die Theosophie wird jederzeit die wahre, echte Wissenschaft verstehen können, wie Eduard von Hartmann seine Gegner verstehen konnte. Das Umgekehrte ist in dem einen und anderen Fall nicht so leicht möglich. Wir müssen aber auch begreifen, woher das so hat kommen können.

Wenn ich Ihnen heute einen Vortrag bloß darüber hielte, was unsere Gelehrten wissen von der Theosophie, dann hätte der heutige Vortrag recht kurz werden können, und ich hätte kaum nötig gehabt, länger als ein paar Sekunden vor Ihnen zu stehen. Aber ich möchte weiter ausholen, ich möchte davon sprechen, warum und aus welchen Gründen unsere zeitgenössische Gelehrsamkeit so wenig wissen kann, was in der Theosophie als eine neue Vorstellungsart über die Dinge der Welt erschlossen werden soll.

Wenn wir uns heute umsehen in unserer zeitgenössischen gelehrten Literatur, so werden wir finden, daß sich diese Betrachtungen unterscheiden, schon ganz äußerlich, von aller Literatur vor zirka hundert Jahren. Wenn wir ein Buch in die Hand nehmen, das zum Beispiel den Titel trägt: Der Ursprung des Menschen, der Mensch und seine Stellung zur Welt —, dann werden wir finden, daß uns kaum viel anderes erzählt wird, als wie einmal der Mensch auf der Erde nicht gelebt hat, wie er dann sein Dasein auf der Erde begonnen hat in einem kindlichen, halb tierischen Zustand. Wir werden dann darauf hingewiesen, daß tierische Vorfahren vor dieser Zeit auf der Erde gelebt haben und daß diese sich allmählich heraufgestaltet haben zum heutigen Menschen. —Wenn wir ein anderes Buch in die Hand nehmen, das uns über die Geheimnisse des Kosmos unterrichten



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soll, dann werden wir finden, daß uns erzählt wird, was man sehen kann durch das Fernrohr und was man erreichen kann mit der Mathematik. Mit anderen Worten: überall tritt uns, selbst da, wo es sich um höchste Fragen handelt, entgegen das, was ich in meinem Buche über «Goethes Weltanschauung» mir zu nennen erlaubte —der Tatsachenfanatismus, jener Tatsachenfanatismus, der sich an die sinnlichen Tatsachen hält, an das, was unsere Sinne wahrnehmen können, höchstens noch an das, was die bewaffneten Sinne wahrnehmen können. Dazu gehört auch alles das, was heute in ausführlichster Weise dargeboten ist in allen möglichen populären Schriften, und was einzig und allein aus den festgestellten wissenschaftlichen Tatsachen heraus der Mensch beizubringen vermag über die Rätsel und Geheimnisse der Welt. Und wenn wir Umschau halten in den Kreisen, die nur aus solchen Büchern heraus schöpfen, dann werden wir finden, daß es eigentlich da alle möglichen Zwischenstufen gibt, daß aber doch diese Zwischenstufen zwischen zwei Extremen zu finden sind. Das eine Extrem sind die nüchternen Gelehrten. Die werden nichts als wissenschaftlich gelten lassen als das, was sie sehen und mit ihrem Verstand aus dem Gesehenen kombinieren können. Da wird mit Instrumenten die Welt nach allen Seiten durchforscht. Da wird nach schriftlichen Urkunden gesucht, da wird die Zeit und die Entwickelung der Menschheit nach reinen Tatsachen erforscht. Das eine soll Naturwissenschaft, das andere soll Geschichte sein.

In der Geschichte kommt man manchmal zu ganz merkwürdigen Dingen. Namentlich wenn es sich handelt um Erfahrungen der Geisteswissenschaft. Da findet man, daß es Leute gibt, die dicke Bücher schreiben über die alten Gnostiker zum Beispiel oder über irgendeinen Zweig alter Geistesweisheit, denen es aber gar nicht einfällt, irgend etwas von



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dieser Geistesweisheit selbst wissen zu wollen. Sie betrachten das rein historisch, sie registrieren rein die schriftlichen Urkunden und sind damit zufrieden. Man braucht heute kein Gnostiker zu sein, um über die Gnosis zu schreiben. Das gilt heute in gelehrten Kreisen geradezu als Grundsatz. Und als bester Grundsatz gilt, möglichst wenig eingenommen zu sein von den Dingen, über die man eigentlich schreibt. Wenn Sie diesen Tatsachenfanatismus auf der einen Seite nehmen, so haben Sie ungefähr dasjenige, was dazu führt, daß solche gelehrten Kreise sagen: Diese Dinge können wir feststellen, diese Dinge wissen wir; was darüber hinausgeht, ist Gegenstand des Glaubens. Darüber kann dann jeder glauben oder nicht glauben, was er will. — Das Resultat dieser Gesinnung ist eine gewisse Gleichgültigkeit gegenüber all den Gegenständen, Gedanken und Wesenheiten, die über die bloß sinnlichen Tatsachen hinausgehen. Man sagt dann: Wenn sie jemand für seinen Glauben braucht — wir lassen sie ihm, aber die Wissenschaft hat damit nichts zu tun. Eine dicke Scheidewand wird da aufgerichtet zwischen Wissenschaft und Glaube, und Wissenschaft soll nichts anderes sein als dasjenige, was rein mit dem Auge und mit dem Ohr wahrgenommen werden kann, nichts als Tatsachenbetrachtung und was man daraus abstrahiert. Etwas anderes soll nicht geprüft werden. — Etwas anderes tritt dann aber auf, das da etwa sagt: Es ist nicht richtig, daß da irgendwo die Wissenschaft aufhört, sondern das ist richtig, daß der Mensch sich immer mehr entwickelt und daß er im Schaffen immer mehr Kräfte ausbildet und entfaltet, so daß er dann alles wissen kann, daß es keine Grenzen gibt für das Wissen. Zwar sind die letzten Gegenstände des Wissens nur in unendlich weiter Ferne zu erreichen, aber sie sind so, daß wir uns ihnen immer mehr annähern können. Grenzen dürfen nirgends aufgerichtet werden. Es erscheint als ein



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Gipfel der Anmaßung, wenn solche Vertreter auftreten, die behaupten, in jedem Menschen schlummere diese Fähigkeit. Entwickelt sie nur und ihr werdet sehen, daß die Gegenstände, die früher Gegenstände eures Glaubens waren, Gegenstände eures Wissens, eurer Weisheit werden können. Es ist mit den Gegenständen, die sich beziehen auf die Unsterblichkeit der Seele, auf die geistige Welt, auf die große und kleine Welt im Raume und auf die ganze Entwickelung des Menschen, es ist damit nicht anders als mit den Dingen, die uns auch in der gewöhnlichen Naturwissenschaft entgegentreten. —Oder was weiß ein Mensch, der ein populäres Buch über die Astronomie in die Hand nimmt, aus eigener Erfahrung über das, was ihm das Buch sagt? Ich frage Sie, wie viele Wissende sind unter denjenigen, die an die materialistische Schöpfungsgeschichte glauben? Wie viele sind unter denen, die schwören auf den materialistischen Geist, die jemals durch ein Mikroskop gesehen haben und wissen, wie man diese Dinge erforscht? Wie viele gibt es, die an Haeckel glauben und wie viele, die wissen auf diesem Gebiete? Die Forschung kann jeder ausbilden, wenn er die Zeit dazu aufwendet und die Energie. Ebenso ist es auch mit den geistigen Dingen.

Töricht ist es, wenn man sagt, die Dinge hören auf. Ebenso töricht ist es, wenn man sagt, was in Haeckels Schöpfungsgeschichte steht, muß man glauben, selber erforschen kann man das nicht. In keinem anderen Sinne spricht die Theosophie von Gegenständen und Dingen der höheren Welt. Man ist gewohnt geworden, für diese Geisteswissenschaft das Wort Theosophie zu gebrauchen. Nicht deshalb, weil sie einzig und allein Gott zum Gegenstande ihrer Betrachtung hat, sondern weil sie unterscheidet zwischen dem äußeren sinnlichen Menschen, der durch seine fünf Sinne sieht, hört, riecht, schmeckt, tastet und durch seinen an das



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Gehirn gebundenen Verstand die Sinneswahrnehmungen kombiniert — und dem anderen Menschen, der in diesem leiblichen Menschen wohnt, der darin schlummert und erweckt werden kann und der ebensolche Geistesorgane, geistige Sinneswerkzeuge im Gebrauch hat, wie der Leib die physischen Sinneswerkzeuge hat. Wie der Leib mit dem physischen Auge sieht, so sieht der Geist mit dem geistigen Auge. Und wie der Leib hört mit dem physischen Ohr, so hört der Geist mit dem geistigen Ohr.

Wenn der Mensch seine geistige Entwickelung selbst in die Hand nimmt, so können diese geistigen Wahrnehmungsorgane ausgebildet werden, so daß der innere Mensch in eine geistige Welt hineinschauen kann. Weil man einen solchen inneren Menschen den göttlichen nennt, deshalb mache ich den Unterschied. Was der äußere sinnliche Mensch schaut, gibt Sinnesweisheit, und das, was der innere göttliche Mensch schaut, ist, im Gegensatz zur sinnlichen Weisheit, Theosophie, göttliche Weisheit. So ist es gemeint, wenn man von Theosophie spricht. Man spricht von Theosophie nicht deshalb, weil der Gegenstand der Forschung Gott ist, denn Gott ist etwas, was erst am Ende der Dinge, auf dem Gipfel der Vollkommenheit dem Okkultisten offenbar werden könnte. Gott zu erforschen, obgleich wir wissen, daß wir in ihm leben, weben und sind, das wird sich am wenigsten der Theosoph vermessen. Ebensowenig wie derjenige, der am Strande des Meeres sitzt und seine Hand in das Meer hineinsenkt, glauben wird, daß er das ganze Meer ausschöpfen kann, ebensowenig wird der Theosoph glauben, daß er Gott umfassen kann. Wie aber der, welcher am Strande des Meeres sitzt und eine Handvoll Wasser herausholt, weiß, daß das, was er herausnimmt, an Wassermasse von gleicher Wesenheit ist wie das ganze große umfassende Meer, so weiß auch der Theosoph, daß das, was er als göttlichen



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Funken in sich trägt, von gleicher Art und Wesenheit ist wie die Gottheit. Nicht wird der Theosoph behaupten, daß seine Wesenheit die Gottheit umfassen könne, er wird auch nicht behaupten, daß in seiner menschlichen Seele die unendliche Gottheit wohne, oder daß der Mensch selbst der Gott sei. Niemals wird ihm solches einfallen. Was er aber sagt, was er erleben und erfahren kann, das ist etwas anderes, das ist eben das, daß im Menschen lebt ein Teil der Gottheit, der gleicher Art und Wesenheit ist mit der ganzen Gottheit, so wie gleicher Art und Wesenheit die Wassermasse ist in der Hand mit dem ganzen umfassenden Weltmeer. Wie das Wasser in der Hand und das Wasser im Meer von gleicher Art und Wesenheit ist, so ist auch das, was in der Seele wohnt, von gleicher Art und Wesenheit mit der Gottheit. Deshalb nennen wir das, was im Inneren des Menschen ist, göttlich, und die Weisheit, die der Mensch in seinem Innersten erforschen kann, die nennen wir göttliche Weisheit oder Theosophie.

Dies ist ein Gedankengang, den jeder zugeben müßte, wenn er nur logisch denken wollte. Oft wird der Theosophie entgegengehalten: Ihr verlangt, daß der Mensch eine Entwickelung durchmachen soll. Aber es ist doch so, daß nicht alle das prüfen können, was die Theosophie behauptet. — Es wird niemals derjenige, der die Dinge durchschaut, behaupten, daß nicht ein jeder Mensch, wenn er nur die nötige Geduld, Kraft und Ausdauer haben kann, nicht zu dem kommen könne, wozu einzelne im Laufe der Menschheitsentwickelung gekommen sind. Aber es liegt in den sogenannten Beweisen der theosophischen Wahrheiten noch etwas ganz anderes. Es ist manches in der theosophischen Literatur und in theosophischen Vorträgen zu finden, oder sonst irgendwo innerhalb der theosophischen Bewegung zu hören, wovon der, welcher sich aus unserem Zeitgeist heraus



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gebildet hat, sich sagt: Das sind Behauptungen. Die kann man hinnehmen, beweisen tut sie kein Theosoph; er behauptet sie eben. —Diese Redensart von den Beweisen, das ist etwas, was immer wieder auftaucht, was immer wieder der Theosophie entgegengehalten wird. Wie verhält es sich eigentlich damit? Es verhält sich damit so.

Dasjenige, was die Theosophie als höhere geistige Weisheit verbreitet, kann erforscht werden, wenn diejenigen Kräfte, die in jeder Menschenseele schlummern, erweckt werden. Diese Kräfte und Fähigkeiten, die wir die Kräfte und Fähigkeiten des Sehers, des geistigen Erschauens der Dinge nennen, sind notwendig, um die Dinge zu erforschen. Will man erforschen, will man auffinden die Tatsachen der geistigen Welt, dann braucht man diese Fähigkeiten und Kräfte. Etwas anderes ist es aber, zu verstehen dasjenige, was der geistige Erforscher gefunden hat. Also wohlgemerkt, zum Auffinden der geistigen Wahrheiten braucht man die Kräfte des Sehers, zum Verstehen braucht man nur den klaren, logischen, bis zu den letzten Konsequenzen gehenden Menschenverstand. Das ist es, worauf es ankommt. Derjenige, welcher behauptet, er könne nicht verstehen, was von der Theosophie behauptet wird, der hat noch nicht genügend darüber nachgedacht. Im Gegenteil, gerade dasjenige, was die Wissenschaft heute behauptet, werden wir besser verstehen können. Gerade das, was wir, wenn wir bei wahrer Wissenschaft stehenbleiben, heute über die Tatsachen der Natur, über die Dinge des scheinbar Leblosen und des lebendigen Naturgeschehens erfassen, auch wenn wir die Tatsachen der Kulturgeschichte nehmen — wenn wir sie verstehen wollen, wir können sie nimmermehr verstehen, wenn wir nur mit der materialistischen Gelehrsamkeit an sie herangehen, die nichts weiter als materialistische Phantastik ist. Verstehen können wir gerade das, was uns



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die wahre Wissenschaft liefert, wenn wir die wahre Wissenschaft der geistigen Welt kennen. Für denjenigen, der tiefer sieht, ist zum Beispiel die Wissenschaft, insofern sie von Ernst Haeckel dargeboten wird, erst verständlich, wenn man die Theosophie als Voraussetzung, als Grundlage hat.

Ein Vergleich soll es klarmachen, was ich sagen will. Denken Sie sich, Sie haben ein Bild vor sich, das Ihnen darstellt, sagen wir, irgendeine Szene, irgendeine Heiligenlegende. Sie können auf zweifache Weise dieses Bild zu verstehen suchen. Das eine Mal stellen Sie sich vor das Bild hin und versuchen, dasjenige, was in der Seele des Malers gelebt hat, in Ihrer Seele aufleben zu lassen. Sie versuchen das, was als geistigen Inhalt das Bild darstellt, in Ihrer Seele wachzurufen. Da lebt etwas darin, was Ihre Seele vielleicht innerlich erhebt, erhaben stimmt, etwas, was Ihre Seele innerlich belebt. Sie können aber noch anders sich zu diesem Bilde verhalten. Sie können hingehen und sagen, das interessiert mich nicht. Auch was der Maler sich dabei gedacht hat, interessiert mich nicht besonders. Ich will aber versuchen, herauszubringen, wie er die Farben gemischt hat, was für Stoffe in die Farbe gemischt sind, die er auf die Leinwand gemalt hat. Ich will prüfen, wie das da ist auf der Leinwand, wieviel an Gewicht von roter und grüner Farbe verwendet worden ist, wo gerade und wo krumme Linien angewendet worden sind.

Das sind zwei verschiedene Betrachtungsweisen eines Bildes. Töricht wäre es, zu sagen von dem einen: Du betrachtest etwas, was unwahr ist. —Nein, er betrachtet etwas, was durchaus wahr ist. Er betrachtet die Art, wie die Farbe an der Leinwand klebt und wie dieselbe zusammengestellt ist. Er betrachtet, ob und wie die Farben zersprungen sind und so weiter. Echte Wahrheiten können das sein. Da



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kommt nun der zweite und sagt zum ersten: Das ist nicht das Richtige, was du da denkst. Das ist ja nur ein Gedanke. Was ich erforsche, das kann man objektiv feststellen.

Ich will noch ein anderes Beispiel danebenstellen, damit wir uns ganz genau verstehen. Sagen wir, es kann jemand auf einem Klavier eine Sonate spielen. Sie hören sich mit musikalischem Ohr diese Sonate an, Sie schwelgen in dem herrlichen Reich der Töne, die Ihnen diese Sonate überliefert. Das ist eine Art, wie Sie das, was hier vorgeht, erforschen können. Eine andere Art aber könnte auch die folgende sein. Es kommt da einer und sagt, das interessiert mich nicht, was man mit dem musikalischen Ohre hört. Aber da steht ein Klavier, darin sind Saiten ausgespannt. Diese Saiten bewegen sich. Ich will nun einmal an diese Saiten anhängen das, was wir Papierreiterchen nennen. Die springen ab, wenn sich die Saite bewegt und dadurch kann ich studieren, wo die Saiten sich bewegen und wo sie in Ruhe sind. Von dem will ich ganz absehen, was du da mit deinem Ohre hörst. Das ist nicht objektiv festzustellen. — So wie dieser zweite Betrachter sich zu dem ersten Betrachter verhält, so verhalten sich die Ihnen charakterisierten Gelehrten zu den Theosophen. Keinem Theosophen wird es einfallen, die Gelehrsamkeit zu leugnen. Ebensowenig wie der, welcher über den geistigen Inhalt eines Bildes schwärmt, sagt, es ist nicht wahr, was du da von der Farbe erforschest, ebensowenig wie der, welcher ein musikalisches Ohr hat, sagen wird, das ist nicht wahr, was du mit den Papierreiterchen untersuchst —denn wahr ist es —, ebenso wahr ist es, was der Naturforscher an seinem Stoff erforscht. Nichts soll dagegen eingewendet werden. Aber dieser Naturwissenschaft entgeht dasjenige, worauf es ankommt im Weltprozeß. Ebenso wie dasjenige, worauf es ankommt, dem entgeht, der nur die Papierreiterchen betrachtet, und was auch



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dem entgeht, der nur die Farbe und vielleicht noch den Stoff, die Leinwand untersucht.

Da kommen nun einzelne und sagen, es gibt ein Subjektives, das lebt nur in der Seele und das kann nicht objektiv festgestellt werden. Man muß das, was tatsächlich festgestellt werden kann, untersuchen. Draußen lebt bloß die schwingende Äthermaterie, der schwingende Stoff. Gewiß. Als Theosoph erwidert man einem solchen: Wenn du bloß den Stoff untersuchst, da findest du draußen nur deinen Stoff, so wie derjenige, welcher sich die Ohren verstopft, nur dasjenige findet, was man an den Papierreiterchen sehen kann.

Es ist vor wenig Jahren noch ein großer Unfug getrieben worden mit dieser Objektivität der Naturforschung. Es ist dies die sogenannte atomistische Theorie, wo man dasjenige, was der Mensch wahrnimmt als Sinnesempfindung, was er wahrnimmt als Ton, Farbe und so weiter, subjektiv nennt und zurückführt auf objektive Vorgänge. Und diese Vorgänge sollten Schwingungen irgendeines Stoffes sein. Damals nannte man es —als Beispiel —immer bloß Rot. Rot, sagte man, ist nur in deinem Auge. Draußen im Raum ist nichts als eine Ätherschwingung von so und so viel Millionen Schwingungen. — So verwandelte diese Pseudowissenschaft, die nicht mehr Wissenschaft, sondern Religion ist, die Welt der Wahrnehmungen in eine Unsumme von Atomen, die alle in schwingenden Bewegungen sind. Dieser Unfug, alles dasjenige, was wir erleben an farbenfrischem und lebendigem Inhalt zu verwandeln in abstrakte Vorgänge, die nichts anderes sind als errechnete Dinge, nichts als ergrübelte und erspekulierte Dinge, dieser Unfug tritt in letzter Zeit etwas zurück. Wir sehen, wie schon das Atom und die schwingende Bewegung von einsichtigen Naturforschern nur noch als Rechnungsansatz angesehen werden und wie in



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den besseren Denkerkreisen man sich nicht mehr kümmert um die Ungenauigkeit der Atomhypothesen und so weiter. Aber es hat sich festgesetzt in den Gehirnen der Menschen, die Welt anzusehen als ein objektives Nichts, als bloß materialistische Schwingungsvorgänge, so daß es in den ersten Jahren der theosophischen Bewegung auch in diese eingedrungen ist und in die Theosophie selber. Wir haben es erleben müssen, daß die geistigste Bewegung vom Materialismus in der herbsten Weise angekränkelt worden ist. Wir haben es erleben müssen, daß man in den verschiedensten theosophischen Büchern immer wieder hat lesen können, das ist diese Vibration und das ist jene Vibration. Insbesondere die englischen Bücher wurden nicht müde, von Vibrationen zu reden.

Es ist ein Charakteristikon unserer Zeit, daß in die geistigste Bewegung diese materialistische Richtung hineinkommen konnte. Wir werden noch lange zu tun haben, um diese Kinderkrankheit der Theosophie zu überwinden. Erst dann aber, wenn die Zeit gekommen sein wird, wo innerhalb der Theosophie verschwunden sein werden alle Redereien von sich bewegenden Atomen, verschwunden sein wird jene ausgeklügelte Konstruktion von irgendwelchen Monaden, die sich herunterwirbeln von den Höhen und alles aufnehmen — eine groteske materialistische Idee. Erst wenn man erkennen wird, daß in der Theosophie es sich nur darum handeln kann, das Geistige als solches zu erkennen, wenn man klar darüber sein wird, daß man stehen läßt in der materialistischen Wissenschaft die schwingenden Papierreiterchen und die Untersuchung der Farben und der Leinwand und daß es sich bei der Theosophie handelt um die Ausbildung der höheren Sinne, um die Erkenntnis der höheren Sinne, daß es sich handelt um das, was der Mensch mit den höheren Seelenkräften sieht, zusammenfaßt, überblickt,



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was er mit dem musikalischen Ohr hört, also das, was die schwingende Saite räumlich ausdrückt, dann wird man einigermaßen verstehen können, was Theosophie ist.

Daher müssen wir auch verzichten, ganz und gar verzichten darauf, etwa zu glauben, daß eine Art Harmonie zwischen der heutigen Gelehrsamkeit und der Theosophie möglich sei. Die ist nicht möglich. —Diese Harmonie wird erst kommen, wenn die Gelehrsamkeit selbst so weit sein wird, daß sie Theosophie verstehen kann. Gewiß, wir haben es zu tun mit der Untersuchung der Farben — chemisch —, mit der Untersuchung der Linien, mit der Untersuchung der Leinwand, mit der Untersuchung der Papierreiterchen auf den bewegten Saiten, aber das schließt nicht aus, daß bei der höheren Entwickelung der geistigen Kräfte, in demselben, was wir äußerlich untersuchen, sich das Geistig-Höhere erschließt. Weit entfernt ist die heutige Gelehrsamkeit von dem Verstehen einer solchen Sache. Man wird milde gegenüber dieser Gelehrsamkeit, wenn man zum Beispiel sieht, wie gar nicht imstande ist derjenige, der herausgeboren ist aus dieser Gelehrsamkeit, zu begreifen etwas, was im tiefsten Sinne gelehrt und zugleich aus gewissen Geisteswissenschaften heraus entstanden ist. Ich weiß, daß ich für viele, die als physikalisch gebildet hier sitzen können, etwas höchst Anrüchiges sage. Aber es ist etwas, was symptomatisch bezeichnet, worüber ich zu sprechen habe. Welcher Physiker würde nicht geringschätzig sprechen über das, was man Goethes Farbenlehre nennt. Über diese zu sprechen, ist heute ein Ding der Unmöglichkeit, aber es werden Zeiten kommen —und sie liegen nicht gar zu fern —, wo man alles dasjenige, was heute als Einwände gegen Goethes Farbenlehre existiert, als veraltetes Vorurteil erkennen wird. Näheres über Goethes Farbenlehre können Sie in meinem Buch über «Goethes Weltanschauung» lesen.



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Goethes Farbenlehre ist herausgeboren aus einer geistigen Weltanschauung und für den, der dies verstehen kann, ist diese Farbenlehre allein schon der Beweis dafür, wie tief Goethe dachte. Aber sie geht auch nicht aus von dem Vorurteil, daß die Farbe schwingender Äther sei. Sie steht vielmehr auf einem Boden, der sich so umschreiben läßt, wie ich es jetzt versuchen werde. Ich bitte Sie, mir zu folgen in meinem subtilen Gedankengang. Wenn derjenige, der da sieht, hinausschaut und die rote Farbe sieht, so erblickt sein Auge zunächst Rot. Da kommt nun der Physiker und sagt, dieses Rot ist nur subjektiv. Das ist ein Vorgang im Raum oder im Gehirn. Was aber draußen wirklich ist, das ist nichts als schwingende Ätherbewegung. Wenn nun jemand kommt, der da sagt, das, was du da siehst, das ist scheinbar, das ist nur schwingende Ätherbewegung, dann wende man einmal das Folgende ein. Versuche dir doch einmal diese schwingende Ätherbewegung vorzustellen. Ist dann das farblos? Farblos muß es ja sein, denn die Farbe willst du ja erklären aus den Schwingungen. Also muß das, was draußen ist, farblos sein. Frage ich, hat es vielleicht noch andere Eigenschaften, hat es vielleicht die Eigenschaft der Wärme? Da kommt der Physiker und sagt, die Wärme kommt auch nur von schwingender Bewegung. Am komischsten sind diese Leute aber, wenn sie sagen, sinnliche Eigenschaften haben diese Schwingungen nicht, sondern nur solche, die wir denken können. Wenn man nun aber dasjenige, was die Sinne sagen, als subjektiv ansieht, dann muß man doch auch das, was man denkt, als subjektiv annehmen. Und dann muß man ja auch sagen, das, was du da errechnet hast als schwingende Nebelmasse, das ist erst recht subjektiv, das ist nie wahrgenommen, sondern nur errechnet. Alles das ist subjektiv errechnet. Wer sich klar darüber ist, daß das, was wir in uns erleben, objektiv ist und daß das Objektive das Subjektivste



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werden kann, der hat ein Recht davon zu sprechen, daß auch das Errechnete ein objektives Dasein hat. Der wird auch nicht dazu kommen, Rot und Grün, Cis und G für bloß subjektive Erscheinungen zu halten.

Jetzt habe ich Ihnen eine ganze Reihe von Dingen gesagt, die für jeden naturwissenschaftlich Denkenden heute furchtbare Ketzereien sind. Nun, es wird viel geredet, daß die Zeiten anders geworden sind. Ja, die Zeiten sind anders geworden als zur Zeit des Giordano Bruno. Da galt noch nicht das Dogma der Unfehlbarkeit. Heute gilt, wie Sie wissen, in gewissen katholischen Kreisen das Dogma der Unfehlbarkeit. Aber dieses Dogma der Unfehlbarkeit ist nicht bloß aus dem Katholizismus heraus geboren. Da ist es geboren als äußeres Gesetz, als äußeres Dogma. Als Gesinnung lebt aber das Unfehlbarkeitsdogma auch im Geiste der materialistisch Denkenden, der monistischen Freigeister. Die halten sich —ich will nicht sagen, jeder für ein Päpstlein —aber doch für so unfehlbar, daß sie alles das für abergläubisch halten, was nicht ihren Kreisen entstammt. Und wenn sich einer diesen unfehlbaren Physikern und Psychiatern —sie werden es nicht aussprechen, daß sie unfehlbar sind, aber man fühlt es —gegenüberstellt, dann wird er abgetan. Er wird nicht mehr verbrannt, aber mit den Mitteln, die heute in der Mode sind, unmöglich gemacht.

Es kann sich bei den Theosophen nicht darum handeln, daß er Zustimmung findet. Der Wahrheit gegenüber ist die Zustimmung höchst gleichgültig. Dem, der die Wahrheit eines mathematischen Lehrsatzes begriffen hat, kann es ganz gleichgültig sein, ob eine Million Leute zustimmen oder nicht. Durch Majorität werden Wahrheiten nicht entschieden. Wer eine Wahrheit erkannt hat, der hat sie erkannt und braucht keine Zustimmung. So wird die theosophische Bewegung gerade die vorsichtigen Bekenner am



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liebsten haben. Nicht Kinder will sie haben, sondern solche Menschen, die mit aller Vorsicht, aus tiefster Prüfung heraus sich ein Urteil bilden. Die Aufforderung zur Vorsicht ist etwas, was mir tiefste Sympathie einflößt.

Von dem, was ich versucht habe darzustellen, werden Sie haben entnehmen können, daß die Theosophie weit entfernt ist, Kritik an der zeitgenössischen Gelehrsamkeit zu üben. Sollte der Theosoph sie bekämpfen? Er täte etwas sehr Törichtes, denn es wäre so, wie wenn derjenige, der ein Bild mit Mißbehagen betrachtet, den bekämpfen wollte, der die chemische Zusammensetzung der Farben studiert. Wenn von theosophischer Seite zum Beispiel eine Erscheinung wie Ernst Haeckel verteidigt wird, so braucht das nicht unrichtig zu sein. Man kann sie verteidigen, wenn man sie von einer höheren Warte herunter erkennt, sieht, wie sie da erscheint und weiß, wie die Dinge hineinzustellen sind in die Weltentwickelung. Der Theosoph wird der zeitgenössischen Entwickelung auf jedem Gebiete die richtige Stellung anzuweisen verstehen.

So ist das Verhältnis der neu aufsteigenden Geistesströmung, die versucht, die Welt so anzuschauen, wie sie von einzelnen auserlesenen Geistern immer angeschaut worden ist. Aber es war in den letzten Jahrhunderten nicht möglich, diese Geisteswissenschaft in der Weise zu geben, wie sie früher gegeben worden ist. Was man heute Theosophie nennt, ist ein kleiner Teil einer umfassenden Weltenweisheit, desjenigen, was man die Geheimwissenschaft nennt. Diese ist etwas, was bei auserlesenen Menschenindividualitäten seit Jahrtausenden, ja, seit es Menschen gibt, immer bestanden hat. In der Form aber, wie es einzelne große Geister besessen haben, konnte es der großen Menge nicht gegeben werden. Aber es wurde trotzdem der großen Menge nicht vorenthalten.



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Wenn Sie die Sagen und Mythen der Völker prüfen, wenn Sie unbefangen prüfen, dann werden Sie sehen, daß diese Sagen und Mythen der bildliche Ausdruck einer Wissenschaft sind, die mehr Weisheit enthält, als die heutige Wissenschaft bietet. Die heutige Wissenschaft würde es als Phantastik ansehen, wenn man sagte, daß in diesen Märchen Weisheit steckt. Weiter ist diese Weltenweisheit in den verschiedensten Religionen verschieden verkündigt worden, je nachdem sie das eine oder das andere Volk nach Temperament und Klima so oder anders gebrauchte. Wenn wir alles das, was in den verschiedensten Formen so der Menschheit gegeben worden ist, überschauen, so führt uns das auf einen gemeinschaftlichen Kern, auf eine umfassende Weltenweisheit. Nicht alles kann heute schon der größeren Menschheit übergeben werden, denn derjenige, der sich zu dieser Weltenweisheit hinauf schwingt, hat bestimmte innere Prüfungen durchzumachen. Nur dem kann diese Weltenweisheit ausgeliefert werden, der diese Prüfungen durchmacht. Auch der elementare Teil war früher nur im engsten Kreise gut vorbereiteten Schülern mit den entsprechenden intellektuellen, moralischen und gemütlichen Eigenschaften überliefert. Es gibt heute noch Personen, die es als unrichtig ansehen, daß von der Theosophie der großen Masse der Menschen die okkulten Weisheiten überliefert werden. Der Vorwurf ist aber deshalb unbegründet, weil es heute eben nicht anders geht. Wer die Struktur des Zeitgeistes der Gegenwart versteht, der weiß, daß sich innere Wahrheit und Weisheit der religiösen Weltanschauung entfremdet fühlen, weil man sie nicht mehr verstehen kann. Früher war das anders. Da war die Weisheit, die heute von der Theosophie verkündigt wird, das Gut des einzelnen. Der großen Menge wurde in Bildern gegeben, was ihr an Weisheit gegeben werden sollte. Das Gemüt der großen Menge war geeignet,



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die Bilder aufzunehmen. Die große Menge konnte leben mit diesen Bildern allein. Wahrheit war in den Religionen, Wahrheit war in den religiösen Grundanschauungen. Das ist es, was die Theosophie uns erst wieder im Tiefsten klarmacht. Mit dem Gefühle konnte es der Mensch in den alten Zeiten erfassen. Heute erfordert es die Zeit, daß er auch begreifen kann, was in den Religionen enthalten ist. So ist das, was man Geheimwissenschaft nennt, gezwungen, etwas herauszutreten, etwas zur Bewahrheitung der Religionen beizutragen, das Elementare wenigstens aus der geistigen Wahrheit zu geben. Öde und leer würde eine Zeit sein, wenn die Menschheit allem Wissen von den geistigen Welten und allem Zusammenhang mit ihnen entfremdet wäre. Nur der, welcher die Sache nicht durchschaut, kann glauben, daß die Menschheit bestehen könnte ohne Zusammenhang mit dem Geistigen, ohne Glaube an Geist und Unsterblichkeit. Wie die Pflanze Nahrungssäfte braucht, so braucht die Seele das, was als Geistiges ihr zugrunde liegt. Die Theosophie will keine neue Religion gründen. Aber sie will die Wahrheit dem Menschen wieder nahebringen in einer Form, die für den heutigen Menschen geeignet ist, in der Form des denkenden Begreifens. So wird die Theosophie die alte Wahrheit in neuer Form an unsere Zeitgenossen heranbringen, unbeirrt um die, welche, vom materialistischen Aberglauben ausgehend, gegen diese Geistesströmung sich wenden.

Ebenso, wie sich die äußere Naturwissenschaft stützt auf das, was sie mit Hilfe des Mikroskops und Teleskops erforscht und errechnet, ebenso wird sich die Theosophie des bedeutendsten Instrumentes bedienen, von dem Goethe spricht: Was das geübte Ohr des Musikers ist, das ist die menschliche Seele gegenüber allen Werkzeugen —, und ferner:



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Geheimnisvoll am lichten Tag Läßt sich Natur des Schleiers nicht berauben, Und was sie deinem Geist nicht offenbaren mag, Das zwingst du ihr nicht ab mit Hebeln und mit Schrauben.

Wer die Welt durchschaut, der ist das vollkommenste Instrument, und gestützt auf das geistige Schauen wird die Theosophie immer mehr und mehr solcher Instrumente hervorbringen.

Die Antwort auf die Frage, was wissen unsere Gelehrten von dem eigentlichen Grundnerv der Theosophie, ist: nichts. — Sie können nichts wissen, weil alle ihre Denkgewohnheiten sie zu nichts anderem bringen können, als die Theosophie als phantastisches Zeug anzusehen. Wer aber begriffen hat, daß die Gelehrsamkeit sich noch nicht einlassen kann auf die Theosophie, die von ganz anderen Grundlagen ausgegangen ist, der wird auch begreifen, wie notwendig diese Gelehrsamkeit es haben wird, tiefer hineinzuleuchten in das Gefüge des Geistes. Was für Blüten bringt nicht diese Gelehrsamkeit hervor. Aber ein wirkliches Begreifen der Seele erst kann solche Dinge, wie sie die heutige Gelehrsamkeit kennt, begreiflich machen. Oder, was soll sich der, welcher Goethe, Schopenhauer, Conrad Ferdinand Meyer und so weiter für große Geister gehalten hat, was soll er sich denken, wenn diese materialistische Gelehrsamkeit es so weit gebracht hat, daß Sie in einem Büchelchen über Goethes Krankheit, über Schopenhauers Krankheit — auch in anderen Werken —finden können diese Krankheiten begründet vom Standpunkte der materialistischen Psychiatrie? Zirkuläres Irresein nennt man eine bestimmte Art von Geisteskrankheit. Dementia praecox eine andere, und Paranoia eine dritte. Diese drei Formen des Irreseins werden zugrunde gelegt, um zu zeigen, daß man auch bei großen



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Geistern, die als Führer der Menschheit gelten, Symptome aufweisen kann, welche als Symptome von Geisteskrankheiten gelten. Bei Schopenhauer fand man die Symptome von zirkulärem Irresein, Paranoia bei Tasso, Rousseau und so weiter. Zwar hat derselbe Verfasser eine noch größere Anzahl, eine noch größere Menge von Menschen als schwachsinnig bezeichnet. Es ist nämlich der Verfasser des Buches über den physiologischen Schwachsinn des Weibes, der damit die zweite Hälfte der ganzen Menschheit trifft. Es wäre ein leichtes, den Verfasser unter seinem eigenen Gesichtspunkt zu betrachten und ihn gehörig unter die Lupe zu nehmen. —Über alle diese Dinge ist aber gar nicht zu lachen. Die materialistische Wissenschaft muß aber dazu kommen, weil es Teilwahrheiten sind. Man kann aber nur zu dem richtigen Licht kommen, wenn man den dahinter wirkenden Geist sieht. Dann sieht man, daß oft mit denselben Symptomen eine höhere geistige Entwickelung erkauft werden muß, wie auf der anderen Seite die Gesundheit mit anderen Symptomen. Man kann das nur, wenn man sie von oben herunter, das heißt, vom theosophischen Standpunkt aus erläutert, betrachtet.

Noch etwas möchte ich sagen. Sie wissen, daß ich hingewiesen habe auf alte Zeiten der Entwickelung, wo die Kultur von heute noch nicht vorhanden war, wo es einen Kontinent gegeben hat zwischen dem heutigen Europa und Amerika, den Kontinent der alten Atlantis. Ich habe schon darauf hingewiesen, daß diese Atlantis von den Naturforschern wiedergefunden wird. In der Zeitschrift «Kosmos», 10. Heft, spricht ein Naturforscher von Tieren und Pflanzen, die auf dieser Atlantis gelebt haben. Ein solcher Naturforscher wird dieses zwar zugeben, aber er wird nicht zugeben, daß andere Menschen dazumal gelebt haben. Er wird nicht zugeben, daß das alte atlantische Land bedeckt war



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von einem weiten Nebelmeer, daß der Boden von Atlantis nicht mit solch einer Luft bedeckt war, wie sie heute unsere Atmosphäre bildet, daß der Ausdruck, den die alten mitteleuropäischen Völker in ihren Mythen haben: Nebelheim, auf etwas Reales, auf etwas Wirkliches hindeutet, daß unsere atlantischen Vorfahren in einem Nebellande lebten. Darauf habe ich öfter hingewiesen. — Vor wenigen Tagen wurde ein Vortrag gehalten in einer berühmten naturforschenden Gesellschaft, in dem darauf hingewiesen wurde, daß höchstwahrscheinlich in der Zeit unserer atlantischen Vorfahren auf der Erde sehr weite Ländermassen mit Nebel bedeckt waren. Aus verschiedenen anderen Erscheinungen wird das äußerlich, spekulativ gefolgert. Und vor allem wird darauf hingewiesen, daß die Pflanzen, welche Sonnenschein brauchen, die also in der Wüste wachsen, jüngeren Datums sind und damals noch nicht existierten, während diejenigen, welche wenig Sonnenschein brauchen, in Nebelheim existieren konnten, die älteren sind.

So sehen Sie hier, wie die Naturwissenschaft nachhinkend Ihnen das sagt, was die Theosophie schon früher gesagt hat. Die Zeit sehen wir vor uns, wo von dieser Naturwissenschaft auch die anderen Dinge nach und nach zugegeben werden müssen. Nicht so wird das Verhältnis in der Zukunft sein, daß sich die Theosophie wird anzubequemen haben den phantastischen, objektiven Atomtheorien, sondern so, daß die Tatsachen, die die Theosophie aus der höheren Schau heraus verkündigt, werden belegt werden durch die äußere Naturwissenschaft. Das wird der Gang sein, den die Zukunftsentwickelung annehmen wird. Wissen die heutigen Gelehrten auch noch nichts davon, ihre eigenen Fortschritte werden sie darauf hinweisen. —Keinem Denker sollte es einfallen zu bezweifeln, daß man mit einer entwickelten Seele mehr sehen, mehr schauen kann als mit den



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bloßen Sinnen und dem bloßen Verstande. Die Anerkennung des entwickelten Menschen als des höchsten, vollkommensten Instrumentes zur Erforschung der Welt — das ist es, was die Theosophie anerkannt haben will. Alles andere ergibt sich von selbst. Sagen Sie, der Mensch hat die höchsten Stufen erreicht und wird sich nicht weiterentwickeln, dann brauchen Sie keine Theosophie. Sagen Sie aber, die Gesetze, die in der Vergangenheit geherrscht haben, werden in der Zukunft auch herrschen, einzelne haben immer höher gestanden als andere der Umgebung —geben Sie das zu, dann sind Sie schon im Prinzip in der Gesinnung Theosoph. Theosoph wird man nicht darum, daß man die Worte Theosophie, Brüderlichkeit, Einheit und so weiter in den Mund nimmt. Brüderlichkeit ist dasjenige, was alle guten Menschen einsehen. —Wenn ich sehe, wie die Leute immer von Brüderlichkeit reden und dann auch sehe, wie sie eine innere Wollust fühlen, wenn sie von Brüderlichkeit, Harmonie, Einheit reden, dann fällt mir immer der Ofen ein und der erste Grundsatz der Theosophischen Gesellschaft, der verlangt, den Kern einer allgemeinen Menschenverbrüderung zu bilden. Umsonst ist es, wenn man dem Ofen sagt: Du, lieber Ofen, heize das Zimmer und mache es warm. —Wenn man will, daß der Ofen heizt, dann muß man Heizmaterial hineintun und es anzünden. Heizmaterial muß man hineintun. Das ist die geistige Kraft, die Fähigkeit zu sehen, zu übersehen durch die Erschließung der höheren Welten. Durch die Erschließung der geistigen Welt wird jene Wahrheit und Weisheit in den Menschenseelen Platz greifen, die als Weisheit und Erkenntnis von selbst zur allgemeinen Menschheits-Brüderschaft führen müssen. So werden wir dann das, was im ersten Grundsatz des theosophischen Programms ausgesprochen ist, erreichen, wenn der Mensch ein Instrument sein kann, das hineinschaut in die geistigen Welten.



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Wenn die im Menschen verborgenen Wahrnehmungsorgane herausgeholt werden aus der Seele, dann wird die Theosophie ein Fortschritt sein, den man wird verfolgen können. Wenn man diese Gesinnung, die sich aus der Theosophie ergibt, mit der Gesinnung von Theosophen, von großen, erhabenen Persönlichkeiten, die in der Vorzeit gelebt haben, vergleicht, dann finden wir sie auch in einem Satz aus Herders Feder: Unsere zarte, fühlbare und fein empfindliche Natur hat alle Sinne entwickelt, die ihr Gott gegeben hat. Sie kann keinen entbehren, denn das, was im Gesamtgebrauch der Organe sich ergibt, leuchtet allen. Es sind die Vokale des Lebens und so weiter.

Ist hier auch nur Rücksicht genommen auf die äußeren physischen Sinne, so können wir im theosophischen Sinne doch sagen: die körperlichen und geistigen Sinne müssen erschlossen werden, denn aus der Harmonie der geistigen und körperlichen Wahrnehmungsorgane werden sich entzünden die Vokale des Lebens nicht bloß, sondern auch des ewigen, unendlichen, geistigen Lebens.


Von der Gewalt, die alle Wesen bindet, Befreit der Mensch sich, der sich überwindet

steht in Goethes Gedicht «Die Geheimnisse». Der Mensch ist weder frei noch unfrei, er ist in der Entwickelung begriffen.