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RUDOLF STEINER Spirituelle Seelenlehre und Weltbetrachtung

Achtzehn öffentliche Vorträge gehalten zwischen dem 6. September 1903 und dem 8. Dezember 1904 im Architektenhaus und im Vereinshaus zu Berlin

1986 RUDOLF STEINER VERLAG DORNACH/SCHWEIZ

DIE ERKENNTNISTHEORETISCHEN GRUNDLAGEN DER THEOSOPHIE II

Berlin,4. Dezember 1903

Mit der Bemerkung, daß die gegenwärtige, namentlich deutsche Philosophie und im besonderen ihre Erkenntnistheorie es den Bekennern derselben schwierig macht, den Zugang zu der theosophischen Weltanschauung zu finden, habe ich vor acht Tagen diese Vorträge eingeleitet, und ich bemerkte, daß ich versuchen werde, diese Erkenntnistheorie, diese gegenwärtige philosophische Weltanschauung zu skizzieren und zu zeigen, wie jemand mit einem durchaus ernsten Gewissen nach dieser Richtung hin es schwer hat, Theosoph zu sein.

Im allgemeinen sind die Erkenntnistheorien, die sich aus dem Kantianismus herausgebildet haben, ausgezeichnet und absolut richtig. Es ist aber von ihrem Standpunkt aus nicht einzusehen, wie der Mensch dazu kommen kann, etwas über Wesen, die andersgeartet sind als er, überhaupt über wirkliche Wesenheiten etwas zu erfahren. Das hat uns ja die Betrachtung des Kantianismus gezeigt, daß diese Anschauung zuletzt zu dem Ergebnis kommt, daß alles, was wir um uns herum haben, nur eine Erscheinung, nur eine Vorstellung von uns selbst ist. Was wir um uns herum haben, das ist nicht eine Wirklichkeit, sondern das wird beherrscht von den eigenen Gesetzen unseres Geistes, das wird beherrscht von den Gesetzen, die wir selbst unserer Umgebung vorschreiben. Ich sagte: Wie wir mit einem Auge, das mit einer farbigen Brille begabt ist, die ganze Welt in dieser Farbennuance sehen müssen, so muß der



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Mensch — nach Kants Anschauung — die Welt so gefärbt sehen, wie er sie seiner Organisation gemäß sieht, gleichgültig wie sie auch in der äußeren Wirklichkeit beschaffen sein mag. So dürfen wir nicht von einem «Ding an sich» sprechen, sondern lediglich von der ganz subjektiven Erscheinungswelt. Wenn das der Fall ist, dann ist alles dasjenige, was mich umgibt — der Tisch, die Stühle und so weiter —, eine Vorstellung meines Geistes; denn sie alle sind für mich nur da, insofern ich sie wahrnehme, insofern ich nach meinem eigenen Geistgesetz diesen Wahrnehmungen Form gebe, ihnen die Gesetze vorschreibe. Ich kann nichts darüber aussagen, ob noch irgend etwas außer meiner Wahrnehmung von Tisch und Stühlen vorhanden ist. Das ist im Grunde genommen das, wozu die Kantsche Philosophie letzten Endes kommt.

Das ist natürlich nicht vereinbar damit, daß wir in das wahre Wesen der Dinge eindringen können. Die Theosophie ist unzertrennlich von der Ansicht, daß wir nicht nur in das körperliche Dasein der Dinge eindringen können, sondern auch eindringen können in das Geistige der Dinge; daß wir nicht nur ein Erkennen haben von dem, was uns körperlich umgibt, sondern auch Erfahrungen haben können von dem, was rein geistig ist. Wie nun ein energisches Buch mit der heute «Theosophie» genannten Weltanschauung das darstellt, was später Kantianismus geworden ist, das will ich Ihnen zeigen, indem ich Ihnen aus dem Werke, das kurze Zeit vor der Begründung des Kantianismus geschrieben worden ist, eine Stelle vorlese. Erschienen ist das Buch im Jahre 1766. Es ist ein Buch, welches —wir können es durchaus so sagen — von einem Theosophen geschrieben sein könnte. In ihm wird vertreten, daß der Mensch nicht nur mit seiner ihn umgebenden Körperwelt in einem Verhältnis steht, sondern daß es ganz sicher einmal wissenschaftlich



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wird bewiesen werden, daß der Mensch außer der körperlichen Welt auch einer geistigen Welt angehört, und daß auch die Art und Weise, wie er mit dieser in Zusammenhang sein kann, wissenschaftlich bewiesen werden kann. Es ist da manches so gut demonstriert, daß man es als leidlich bewiesen betrachten oder doch annehmen könnte, daß es künftig bewiesen werden wird: «Ich weiß nicht, wo oder wann, daß die menschliche Seele in Beziehung zu anderen steht, daß sie wechselweise wirken und voneinander Eindrücke empfangen, deren sich der Mensch aber nicht bewußt ist, solange alles wohl steht.» Und dann aus einer zweiten Stelle: «Es ist manches zwar einerlei Subjekt, was keine begleitende Ideen sein können der anderen Welt, und daher ist alles Geistdenken so, daß es in den Zustand eines Geistes gar nicht hineinkommt ...» und so weiter.

Der Mensch mit seinem durchschnittlichen Anschauungsvermögen kann sich nicht bewußt werden des Geistes; aber es wird gesagt, daß ein solches gemeinsames Leben mit einer geistigen Welt doch anzunehmen ist. Mit einer solchen Anschauung ist die Kantsche Erkenntnistheorie nicht zu vereinigen. Derjenige, welcher die Grundlegung zu dieser Anschauung geschrieben hat, ist immanuel Kant selbst. Es ist also so, daß wir in Kant selbst eine Umkehr zu verzeichnen haben. Denn im Jahre 1766 schreibt er das, und vierzehn Jahre darauf begründet er diejenige Erkenntnistheorie, welche es unmöglich macht, zur Theosophie den Weg zu finden. Unsere moderne Philosophie fußt auf dem Kantianismus. Sie hat verschiedene Gestalten angenommen, diejenigen von Herbart und Schopenhauer bis Otto Liebmann und Johannes Volkelt und Friedrich Albert Lange. Wir werden überall eine mehr oder weniger kantianisch gefärbte Erkenntnistheorie finden, wonach wir es nur mit Erscheinungen, mit unserer subjektiven Wahrnehmungswelt



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zu tun haben, so daß wir nicht bis zur Wesenheit, der Wurzel des «Dings an sich» dringen können.

Nun möchte ich Ihnen zunächst alles dasjenige vorführen, was im Laufe des 19. Jahrhunderts sich herausgebildet hat, und was wir die modifizierte Kantsche Erkenntnistheorie nennen können. Ich möchte entwickeln, wie sich die jetzige Erkenntnistheorie herausgebildet hat, welche mit einem gewissen Hochmut auf denjenigen blickt, der sich dem Glauben hingibt, daß man etwas wissen könne. Ich möchte zeigen, wie sich derjenige eine erkenntnistheoretische Grundanschauung bildet, welcher mit seiner Vorstellungsart auf dem Kantschen Boden steht. Alles, was die Wissenschaft gebracht hat, scheint die Kantsche Erkenntnistheorie zu belegen. Es scheint so fest gefügt zu sein, daß man ihm nicht entkommen kann. Heute wollen wir es aufrollen und das nächste Mal wollen wir sehen, wie man sich damit zurechtfinden kann.

Zunächst scheint es die Physik selbst zu sein, welche uns überall lehrt, daß dasjenige, wovon der naive Mensch glaubt, daß es Wirklichkeit sei, keine Wirklichkeit ist. Nehmen wir den Ton. Sie wissen, daß die Erschütterung der Luft außerhalb unseres Organs da ist, außerhalb unseres Ohres, das den Ton hört. Was außer uns vorgeht, ist eine Erschütterung der Luftteilchen. Nur dadurch, daß diese Erschütterung in unser Ohr kommt und das Trommelfell in Schwingung bringt, setzt sich die Bewegung fort bis in das Gehirn. Da nehmen wir das wahr, was wir Ton, was wir Schall nennen. Die ganze Welt wäre stumm und tonlos; erst dadurch, daß die äußere Bewegung von unserem Ohr aufgenommen wird, und das, was nur Schwingung ist, umgesetzt wird, erleben wir das, was wir als Tonwelt empfinden. So kann der Erkenntnistheoretiker leicht sagen: Ton ist nur das, was in dir existiert, und denkst



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du dies weg, so ist weiter nichts als bewegte Luft vorhanden.

Dasselbe gilt für das, was wir in der Außenwelt antreffen von Farben und Licht. Der Physiker ist der Anschauung, daß Farbe eine Schwingung des Äthers ist, der den ganzen Weltenraum erfüllt. Ebenso wie durch den Schall die Luft in Schwingung gesetzt wird, wie, wenn wir einen Schall hören, außer uns nichts anderes als die Bewegung der Luft vorhanden ist, so ist bei dem Licht nur eine schwingende Bewegung des Äthers da. Die Ätherschwingungen sind etwas anders als die der Luft. Der Äther schwingt senkrecht zur Fortpflanzungsrichtung der Wellen. Das ist klargelegt durch die experimentierende Physik. Wenn wir die Farbenempfindung des «Rot» haben, so haben wir es zu tun mit einer Empfindung. Dann müssen wir uns fragen: Was ist denn noch vorhanden, wenn kein empfindendes Auge vorhanden ist? — Es soll ja von den Farben nichts anderes da sein im Raum, als schwingender Äther. Die Farbenqualität ist aus der Welt geschafft, wenn das empfindende Auge aus der Welt geschafft ist.

Was Sie sehen als Rot, das sind 392 bis 454 Billionen Schwingungen, bei Violett sind es 751 bis 757 Billionen Schwingungen. Das ist unvorstellbar schnell. Die Physik des 19. Jahrhunderts hat alle Licht- und Farbenempfindung in Schwingungen des Äthers verwandelt. Wäre kein Auge da, die ganze Farbenwelt wäre nicht vorhanden. Es wäre alles stockdunkel. Es würde nicht geredet werden können von Farbenqualität im äußeren Raum. Das geht so weit, daß Helmholtz gesagt hat: Wir haben in uns die Empfindungen von Farbe und Licht, von Schall und Ton. Das ist nicht einmal ähnlich demjenigen, was außer uns vorgeht. Wir dürfen das nicht einmal ein Bild nennen von dem, was außer uns vorgeht. —Das, was wir als Farbenqualität des



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Roten kennen, ist nicht ähnlich den etwa 420 Billionen Schwingungen in der Sekunde. Deshalb meint Helmholtz: Dasjenige, was wirklich in unserem Bewußtsein vorhanden ist, ist nicht ein Bild, sondern ein bloßes Zeichen.

Die physikalische Wissenschaft hat beibehalten, daß Raum und Zeit vorhanden sind, wie ich sie wahrnehme. Der Physiker stellt sich also vor, daß, wenn ich eine Farbempfindung habe, die Bewegung im Raume verläuft. Und ebenso ist es mit der Zeitvorstellung, wenn ich die Empfindung des Rot habe und die Empfindung des Violett. Beide sind subjektive Vorgänge in mir. Sie folgen zeitlich aufeinander. Die Schwingungen folgen in der Außenwelt aufeinander. Die Physik geht da nicht so weit wie Kant. Ob die «Dinge an sich selbst» raumerfüllt sind, ob sie in einem Raume sind oder in der Zeit aufeinander folgen, das können wir —im Sinne von Kant —nicht wissen; sondern wir wissen nur: wir sind so und so organisiert, und deshalb muß das, was da räumlich oder nicht räumlich ist, immer die Form des Räumlichen annehmen. Wir breiten diese Form darüber aus. Für die Physik muß die schwingende Bewegung im Raume vor sich gehen, sie muß eine gewisse Zeit beanspruchen. Der Äther schwingt mit, sagen wir, 480 Billionen Schwingungen in der Sekunde. Darin liegt schon die Raum- und Zeitvorstellung. Raum und Zeit nimmt also der Physiker als außer uns liegend an. Alles übrige ist aber nur Vorstellung, ist subjektiv. Sie können in physikalischen Werken lesen, daß für denjenigen, der sich klargeworden ist darüber, was geschieht in der Außenwelt, nichts vorhanden ist als schwingende Luft, als schwingender Äther. Das scheint die Physik beigetragen zu haben, daß alles, was wir haben, nur innerhalb unseres Bewußtseins existiert und außer demselben nichts vorhanden ist.

Das zweite, was uns die Wissenschaft des 19. Jahrhunderts



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vorführen kann, sind die Gründe, welche die Physiologie liefert. Der große Physiologe Johannes Müller hat das Gesetz der spezifischen Sinnesenergien gefunden. Nach diesem reagiert jedes Organ mit einer bestimmten Empfindung. Wenn Sie das Auge stoßen, so können Sie einen Lichtschein wahrnehmen; wenn Elektrizität hindurchgeht, ebenfalls. Das Auge wird auf jeden Einfluß von außen so antworten, wie es dem Auge eben entspricht. Es hat von innen heraus die Kraft, mit dieser Eigentümlichkeit von Licht und Farbe zu antworten. Wenn Licht und Äther eindringen, so antwortet das Auge mit Licht- und Farbenreizen.

Die Physiologie liefert noch weitere Bausteine, um zu beweisen, was die subjektivistische Anschauung aufgestellt hat. Nehmen Sie an, wir haben eine Tastempfindung. Da stellt sich der naive Mensch vor, daß unmittelbar der Gegenstand es ist, den er wahrnimmt. Aber was nimmt er in Wahrheit wahr? — so fragt der Erkenntnistheoretiker. Was vor mir steht, ist nichts anderes als eine Zusammenfügung von kleinsten Teilchen, von Molekülen. Sie sind in Bewegung. Jeder Körper ist in solcher Bewegung, die von den Sinnen nicht wahrgenommen werden kann, weil die Schwingungen zu klein sind. Im Grunde genommen ist es nichts anderes als nur die Bewegung, die ich wahrnehmen kann, denn der Körper kann nicht in mich hineinkriechen. Was ist es, wenn Sie die Hand auf den Körper legen? Die Hand führt eine Bewegung aus. Diese setzt sich fort bis zu dem Nerv und dieser setzt sie um in das, was Sie als Empfindung haben: in Wärme und Kälte, in weich und hart. Auch in der Außenwelt sind Bewegungen enthalten, und wenn mein Tastsinn daran kommt, so setzt das Organ es um in Wärme oder Kälte, in Weichheit oder Härte.

Auch nicht einmal das, was zwischen dem Körper und uns geschieht, können wir wahrnehmen, denn die äußerste



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Hautschicht ist unempfindlich. Wenn die Epidermis ohne einen darunterliegenden Nerv ist, so kann sie niemals etwas empfinden. Immer ist die Epidermis zwischen dem Ding und dem Körper. Der Reiz wirkt also aus einer relativ großen Entfernung durch die Epidermis hindurch. Nur das, was in Ihrem Nerv erregt wird, das kann wahrgenommen werden. Der äußere Körper bleibt ganz außerhalb von dem Bewegungsvorgange. Sie sind getrennt von dem Ding, und was Sie wirklich empfinden, wird innerhalb der Epidermis erzeugt. Alles, was wirklich in Ihr Bewußtsein eindringen kann, das geschieht in dem Bereich des Körpers, so daß es noch abgetrennt wird von der Epidermis. Wir würden also sagen müssen nach dieser physiologischen Erwägung, daß wir nichts von dem hereinbekommen, was in der Außenwelt vorgeht, sondern daß es lediglich Vorgänge innerhalb unserer Nerven selbst sind, die sich im Gehirn fortpflanzen, die uns durch ganz unbekannte äußere Vorgänge erregen. Wir können niemals über unsere Epidermis hinauskommen. Sie stecken in Ihrer Haut und nehmen nichts anderes wahr, als was innerhalb dieser sich abspielt.

Gehen wir zu einem anderen Sinnesorgan über, zu dem Auge. Gehen wir von dem Physikalischen zu dem Physiologischen über. Sie sehen, daß die Schwingungen sich fortpflanzen; sie müssen unseren Körper erst durchdringen. Das Auge besteht zunächst aus einer Haut, der Hornhaut. Hinter dieser liegt die Linse und hinter der Linse der Glaskörper. Da muß das Licht erst durch. Dann kommt es auf das Hintere des Auges, das ausgekleidet ist mit der Netzhaut. Würden Sie die Netzhaut entfernen, so würde das Auge niemals etwas in Licht umsetzen. Bekommen Sie Formen von Gegenständen, so müssen die Strahlen erst in unser Auge eindringen, und innerhalb des Auges wird ein kleines Netzhautbild entworfen. Dieses ist das letzte, was



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die Empfindung hervorrufen kann. Was vor der Netzhaut liegt, ist unempfindlich; von dem, was da geschieht, können wir keine wirkliche Wahrnehmung haben. Erst das Bild auf der Netzhaut können wir wahrnehmen. Man stellt sich vor, daß da chemische Veränderungen des Sehpurpurs vor sich gehen. Die vom äußeren Gegenstand ausgehende Wirkung muß die Linse und den Glaskörper passieren, dann eine chemische Veränderung in der Netzhaut hervorrufen, und das ist das, was Empfindung wird. Dann setzt das Auge das Bild wieder nach außen, umgibt sich mit den Reizen, die es empfangen hat, und setzt sie wieder um in die Welt außer uns. Was in unserem Auge vorgeht, ist nicht das, was den Reiz bildet, sondern ein chemischer Vorgang. Die Physiologen liefern immer neue Gründe für die Erkenntnistheoretiker. Wir müssen Schopenhauer scheinbar vollständig recht geben, wenn er sagt: Der gestirnte Himmel ist von uns selbst geschaffen. Es ist eine Umdeutung der Reize. Von dem «Ding an sich» können wir nichts wissen.

Sie sehen, diese Erkenntnistheorie beschränkt den Menschen lediglich auf die Dinge, sagen wir Vorstellungen, welche sein Bewußtsein erschafft. Er ist eingeschlossen in diesem seinem Bewußtsein. Er kann annehmen, wenn er will, daß etwas vorhanden ist in der Welt, das auf ihn Eindruck macht. Jedenfalls aber kann nichts in ihn hineindringen. Alles, was er empfindet, wird von ihm selbst geschaffen. Wir können nicht einmal von dem etwas wissen, was in der Peripherie vor sich geht. Nehmen Sie den Reiz im Sehpurpur. Er muß zum Nerv geleitet werden, und dieser muß wieder in irgendeiner Weise in die eigentliche Empfindung umgesetzt werden, so daß die ganze Welt, die uns umgibt, nichts anderes wäre als das, was wir aus unserem Inneren heraus geschaffen hätten.

Dies sind die physiologischen Beweise, die uns dazu führen,



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zu sagen, daß das so sei. Es gibt aber auch Menschen, die nun fragen, wie wir dazu kommen, außer uns andere Menschen anzunehmen, die wir doch auch nur erkennen aus den Wahrnehmungseindrücken, die wir von ihnen empfangen. Wenn ein Mensch vor mir steht, so habe ich doch nur Schwingungen als Reize und dann ein Bild meines eigenen Bewußtseins. Es ist lediglich eine Annahme, daß außer dem Bewußtseinsbild etwas dem Menschen Ähnliches vorhanden sein soll. So stützt die moderne Erkenntnistheorie ihre Anschauung, daß das, was äußerer Erfahrungsgehalt ist, lediglich subjektiver Natur ist. Sie sagt: Was wahrgenommen wird, ist ausschließlich der eigene Bewußtseinsinhalt, ist Veränderung dieses Bewußtseinsinhaltes. Ob es Dinge an sich gibt, liegt außer unserer Erfahrbarkeit. Die Welt ist für mich eine subjektive Erscheinung, welche sich aus meinen Empfindungen bewußt oder unbewußt aufbaut. Ob es auch andere Welten gibt, liegt außer dem Bereiche meiner Erfahrbarkeit.

Wenn ich sage: es liegt außer dem Bereiche der Erfahrbarkeit, ob es noch eine andere Welt gibt, so liegt es auch außer dem Bereiche der Erfahrbarkeit, ob es noch andere Menschen mit anderen Bewußtseinen gibt, denn es kann nichts von einem Bewußtsein der anderen Menschen in den Menschen hineinkommen. Von der Vorstellungswelt eines anderen und von dem Bewußtsein eines anderen kann nichts in mein Bewußtsein kommen. Diese Auffassung haben diejenigen, die sich mehr oder weniger der Kantschen Erkenntnistheorie angeschlossen haben.

Kant hat die Erkenntnistheorie zusammengefaßt in den Worten: Hundert mögliche Taler enthalten nicht weniger als hundert wirkliche Taler, das heißt, ich kann einen Gegenstand nicht dadurch als einen wirklichen ansehen, daß ich irgend etwas in der Vorstellung hinzufüge. Die Vorstellung



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gibt lediglich ein Bild. Soll ein Gegenstand da sein, dann muß er mir entgegenkommen, und ich umspinne ihn mit den Gesetzen, die ich aus mir selbst heraus entwickle. Dieser Anschauung hat sich auch Schopenhauer angeschlossen in einer etwas modifizierten Gestalt.

Johann Gottlieb Fichte hat sich in seiner Jugend auch dieser Anschauung angeschlossen. Er hat die Kantsche Theorie konsequent durchgedacht. Es gibt vielleicht keine schönere Beschreibung derselben als die, welche Fichte in seiner Schrift «Über die Bestimmung des Menschen» gegeben hat. Er sagt darin: «Es gibt überall kein Dauerndes, weder außer mir noch in mir, sondern nur einen unaufhörlichen Wechsel. Ich weiß überall von keinem Sein, und auch nicht von meinem eigenen. Es ist kein Sein. — Ich selbst weiß überhaupt nicht, und bin nicht. Bilder sind: sie sind das Einzige, was da ist, und sie wissen von sich, nach Weise der Bilder; —Bilder, die vorüberschweben, ohne daß etwas sei, dem sie vorüberschweben; die durch Bilder von den Bildern zusammenhängen. Bilder, ohne etwas in ihnen Abgebildetes, ohne Bedeutung und Zweck. Ich selbst bin eins dieser Bilder; ja, ich bin selbst dies nicht, sondern nur ein verworrenes Bild von den Bildern.—»

In der Tat —bleiben Sie dabei, daß Sie es in Ihrer subjektiven Auffassung einzig mit den Gebilden Ihres eigenen Bewußtseins zu tun haben, dann müssen Sie notwendig zu der Anschauung kommen, daß Sie von sich selbst nicht mehr wissen als von der Außenwelt. Wenn Sie zur Vorstellung des eigenen Ich übergehen, dann ist Ihnen davon auch nicht mehr gegeben als von der Außenwelt. Halten Sie diesen Gedanken in seiner vollen Bedeutung fest, so wird es Ihnen klarwerden, daß Ihnen die Außenwelt in eine Summe von Trugbildern zerfließt, und daß auch die Innenwelt nichts anderes ist als ein Gebilde von lauter ineinandergefügten



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subjektiven Träumen. Sie können sich schon von außen, ich möchte sagen, von Seiten der Körperlichkeit her, vorstellen, daß auch Sie selbst gleich der Außenwelt nichts anderes sind als eine Art Traumgebilde, eine Art Illusion, wenn Sie die Anschauung richtig ausdeuten.

Sehen Sie Ihre Hand an, welche Ihre Bewegungen in Tastempfindung umsetzt. Diese Hand ist nichts anderes als ein Gebilde meines subjektiven Bewußtseins, und mein ganzer Körper und was in mir ist, ist auch ein Gebilde meines subjektiven Bewußtseins. Oder nehme ich mein Gehirn: Könnte ich unter dem Mikroskop untersuchen, wie die Empfindung entstand im Gehirn, ich hätte nichts vor mir als einen Gegenstand, den ich wieder in meinem Bewußtsein in ein Bild umzusetzen habe.

Die Ich-Vorstellung ist eine ebensolche Vorstellung, sie ist erzeugt wie irgendeine andere. Träume ziehen an mir vorüber, Illusionen ziehen an mir vorüber — das ist die Weltanschauung des Illusionismus, welche sich notwendig als die letzte Konsequenz des Kantianismus zeigt. Kant wollte die alte dogmatische Philosophie überwinden; er wollte überwinden, was von Wolff und von der Wolffschen Schule vorgebracht worden ist. Das betrachtete er als eine Summe von Hirngespinsten.

Es waren die Beweise für die Freiheit des Willens, für die Unsterblichkeit der Seele und für das Dasein Gottes, welche Kant hinsichtlich ihrer Beweiskraft als Hirngespinste entlarvte. Und was gibt er als Beweise? Er hat bewiesen, daß wir von einem «Ding an sich» nichts wissen können, daß das, was wir haben, nur Bewußtseinsinhalt ist, daß aber Gott «etwas an sich» sein müsse. So können wir notwendigerweise das Dasein Gottes im Sinne Kants nicht beweisen. Unsere Vernunft, unser Verstand sind nur anwendbar auf das, was in der Wahrnehmung gegeben ist. Sie sind



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nur dazu da, um Gesetze vorzuschreiben für das, was die Wahrnehmung ist, und daher liegen diese Dinge: Gott — Seele — Willen —völlig außer unserer Vernunfterkenntnis. Die Vernunft hat eine Grenze, und sie kann nicht darüber hinaus.

Im Vorwort zur zweiten Auflage der «Kritik der reinen Vernunft» sagt er an einer Stelle: «Ich mußte also das Wissen aufheben, um zum Glauben Platz zu bekommen.» Das ist es, was er im Grunde genommen wollte. Er wollte das Wissen einschränken auf die sinnliche Wahrnehmung, und alles, was über die Vernunft hinausgeht, das wollte er auf andere Weise erreichen. Er wollte es auf dem Wege des moralischen Glaubens erreichen. Daher sagte er: Auf keine Art wird jemals die Wissenschaft das objektive Dasein der Dinge erreichen können. Aber eines finden wir in uns: den kategorischen Imperativ, der mit einer unbedingten Verpflichtung in uns auftritt. — Kant nennt ihn eine göttliche Stimme. Er ist erhaben über die Dinge, er führt unbedingte moralische Notwendigkeit mit sich. Von hier aus steigt Kant auf, um das, was er für das Wissen vernichtet, für den Glauben wieder zu erobern. Da der kategorische Imperativ mit nichts zu tun hat, was durch sinnliche Einwirkung bedingt ist, sondern in uns auftritt, so muß etwas vorhanden sein, was sowohl die Sinne als auch den kategorischen Imperativ bedingt, und was auftritt, wenn alle Pflichten des kategorischen Imperativs erfüllt sind. Das wäre die Glückseligkeit. Aber es kann kein Mensch die Brücke finden zwischen den beiden. Da er sie nicht finden kann, so muß sie ein göttliches Wesen herstellen. Dadurch kommen wir zu einem Gottesbegriff, den wir niemals auf sinnliche Weise finden können.

Ein Einklang zwischen der Sinnenwelt und der moralischen Vernunftwelt muß hergestellt werden. Wenn auch in



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einem Leben gleichsam genug getan würde, so dürfen wir doch nicht glauben, daß das irdische Leben überhaupt genügt. Das menschliche Leben geht hinaus über das irdische Leben, weil der kategorische Imperativ es so fordert. Und so müssen wir eine göttliche Weltordnung annehmen. Und wie könnte der Mensch einer göttlichen Weltordnung, dem kategorischen Imperativ, folgen, wenn er nicht Freiheit hätte? —So hat Kant das Wissen vernichtet, um durch den Glauben zu den höheren Dingen des Geistes zu gelangen. Glauben müssen wir! Er versucht auf dem Wege der praktischen Vernunft wieder hineinzubringen, was er aus der theoretischen Vernunft hinausgeworfen hat.

Auf dieser Kantschen Philosophie fußen auch diejenigen Anschauungen, welche scheinbar der Kantschen Philosophie ganz fern stehen. Auch ein Philosoph, der großen Einfluß gehabt hat —auch in der Pädagogik: Herbart. Eine eigene Anschauung hatte er aus der Kantschen Vernunftkritik entwickelt: Wenn wir hinsehen auf die Welt, da stoßen wir auf Widersprüche. Sehen wir uns nur einmal das eigene Ich an. Heute hat es diese Vorstellungen, gestern hatte es andere, morgen wird es wieder andere haben. Ja, was ist es denn, das Ich? Es tritt uns entgegen und ist erfüllt mit einer bestimmten Vorstellungswelt. In einem anderen Augenblick tritt es uns mit einer anderen Vorstellungswelt entgegen. Wir haben da ein Werden, viele Eigenschaften, und trotzdem soll es ein Ding sein. Es ist eins und vieles. Jedes Ding ist ein Widerspruch. So, sagt Herbart, sind überall in der Welt nur Widersprüche vorhanden. Vor allen Dingen müssen wir uns den Satz vorhalten, daß der Widerspruch nicht das wahre Sein sein kann. Daraus leitet nun Herbart die Aufgabe seiner Philosophie ab. Er sagt: Wir müssen die Widersprüche wegschaffen, wir müssen eine widerspruchslose Welt uns konstruieren. Die Welt der Erfahrungen ist



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eine unwirkliche, eine widerspruchsvolle. In der Umarbeitung der widerspruchsvollen Welt in eine widerspruchslose sieht er den wahren Sinn, das wahre Sein. Herbart sagt: Wir finden den Weg zum «Ding an sich», indem wir die Widersprüche sehen, und wenn wir diese aus uns herausschaffen, dann dringen wir zu dem wahren Sein, zu dem wahren Realen vor. —Das eine hat aber auch er mit Kant gemein, daß das, was uns in der Außenwelt umgibt, eine bloße Illusion sei. Auch er hat dasjenige, was für den Menschen wertvoll sein soll, auf andere Weise zu stützen versucht.

Und nun kommen wir sozusagen auf den Kern der Sache. Das müssen wir uns doch vorhalten, daß alles moralische Handeln im Grunde genommen nur dann einen Sinn hat, wenn es in der Welt reale Wirklichkeit annehmen kann. Was soll alles moralische Handeln, wenn wir in einer Welt des Scheines leben? Da können Sie niemals überzeugt sein, daß das, was Sie tun, ein Wirkliches darstellt. Dann sind im Grunde genommen all Ihr Moralischwerden und alle Ihre Ziele in der Luft schwebend. Da war Fichte von einer wunderbaren Konsequenz. Später hat er die Anschauung geändert und ist zu der reinen Theosophie gekommen. Durch die Wahrnehmung können wir so sagt er —über die Welt niemals etwas anderes wissen, als Träume von diesen Träumen. Aber etwas treibt uns, das Gute zu wollen. Dieses läßt uns blitzartig hineinschauen in diese große Traumwelt. Die Verwirklichung des Sittengesetzes sieht er in der Traumwelt. Was kein Verstand lehrt, das soll begründet werden durch die Anforderungen des Sittengesetzes. — Und Herbart sagt: Weil alles, was wir wahrnehmen, widerspruchsvoll ist, können wir niemals zu Normen für unser sittliches Handeln kommen. Daher muß es für unser sittliches Handeln Normen geben, welche aller Beurteilung von



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seiten des Verstandes und der Vernunft überhoben sind. Sittliche Vollkommenheit, Wohlwollen, innere Freiheit, sie sind unabhängig von der Verstandestätigkeit. Weil alles in unserer Welt Schein ist, deshalb müssen wir etwas haben, um darin des Nachdenkens enthoben zu sein.

Das ist die erste Phase der Entwickelung des 19. Jahrhunderts: die Verwandlung der Wahrheit in eine Traumwelt. Der Traumidealismus, der allein das sein soll, zu dem das Nachdenken über das Sein kommen kann, der war es, der die Begründung einer moralischen Weltanschauung unabhängig machen wollte gegenüber allem Wissen und Erkennen. Er wollte das Wissen einschränken, um für den Glauben Platz zu bekommen. Deshalb hat die deutsche Philosophie gebrochen mit den uralten Traditionen derjenigen Weltanschauungen, die wir als Theosophie bezeichnen. Niemals hätte derjenige, der sich als Theosoph bezeichnet, diesen Dualismus annehmen können, diese Trennung des Moralischen und der Traumwelt. Es war für ihn immer eine Einheit, von dem untersten Kraftatom bis hinauf zur höchsten geistigen Wirklichkeit. Denn so wie dasjenige, was das Tier in Lust und Unlust vollbringt, nur gradweise verschieden ist von dem, was auf der höchsten Spitze des Geisteslebens aus reinsten Motiven hervorgeht, so ist überall das, was unten geschieht, nur gradweise verschieden von dem, was oben geschieht. Diesen einheitlichen Weg zu einem Gesamtwissen und einem Gesamtüberschauen der Welt hat Kant dadurch verlassen, daß er die Welt zerspalten hat in eine zu erkennende, aber scheinbare Welt, und in eine andere, die einen ganz anderen Ursprung hat, in die Welt des Moralischen. Er hat dadurch den Blick unendlich vieler getrübt. Unter den Nachwirkungen der Kantschen Philosophie leiden alle diejenigen, welche den Zugang zur Theosophie nicht finden können.



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Zuletzt werden Sie sehen, wie die Theosophie aus einer wahren Erkenntnistheorie herausspringt; vorher war es aber nötig, daß ich den scheinbar festgefügten Bau der Wissenschaft vorgeführt habe. Daß nur der Äther schwingt, und wir Grün oder Blau empfinden, daß wir durch die Luftschwingungen den Ton empfinden, das scheint unwiderleglich durch die Forschung begründet zu sein. Zu zeigen, wie es sich damit wirklich verhält, das soll der Inhalt des nächsten Vortrages sein.