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RUDOLF STEINER Spirituelle Seelenlehre und Weltbetrachtung

Achtzehn öffentliche Vorträge gehalten zwischen dem 6. September 1903 und dem 8. Dezember 1904 im Architektenhaus und im Vereinshaus zu Berlin

1986 RUDOLF STEINER VERLAG DORNACH/SCHWEIZ

DIE ERKENNTNISTHEORETISCHEN GRUNDLAGEN DER THEOSOPHIE I

Berlin,27. November 1903

Es wird gewiß vielen unter Ihnen nichts Fremdes sein, daß man bei vielen unserer Zeitgenossen, wenn das Wort Theosophie ausgesprochen wird, nichts anderes finden kann als ein Lächeln. Auch wird es vielen nicht unbekannt sein, daß gerade diejenigen, welche in der Gegenwart auf Wissenschaftlichkeit oder, sagen wir, auf philosophische Bildung Anspruch machen, die Theosophie als etwas betrachten, was man mit dem Namen eines dilettantischen Treibens, eines phantastischen Glaubens bezeichnen müsse. Man kann insbesondere in Gelehrtenkreisen finden, daß der Theosoph als eine Art phantastischer Schwärmer angesehen wird, der sich nur deshalb zu seinen eigentümlichen Vorstellungswelten bekennt, weil er niemals die Bekanntschaft gemacht hat mit dem, was Grundlegung der Erkenntnis ist. Sie werden besonders in den Kreisen, welche sich zu den wissenschaftlichen rechnen, finden, daß sie ohne weiteres voraussetzen, der Theosoph sei im Grunde genommen ohne alle philosophische Bildung, und wenn er sich auch eine solche angeeignet habe, oder von einer solchen spreche, sei es doch eine dilettantenhafte, aufgelesene Sache.

Diese Vorträge sollen nicht der Theosophie direkt gewidmet sein. Dazu sind genügend andere da. Es soll eine Auseinandersetzung sein mit der abendländischen philosophischen Bildung, eine Auseinandersetzung darüber, wie sich die wissenschaftliche Welt zu der Theosophie verhält, und wie sie sich eigentlich verhalten könnte. Sie sollen eine



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Widerlegung des Vorurteils sein, als ob der Theosoph in bezug auf die Wissenschaft ein ungebildeter, laienhafter Mensch sein müsse. Wer hat nicht oft genug gehört, daß Philosophen der verschiedensten Schulen — und es gibt ja genügend Philosophenschulen —behaupten, daß die Mystik eine unklare und von allerlei Allegorien und Gefühlselementen durchdrungene Vorstellung sei, und daß die Theosophie nicht dazu gekommen sei, das zu pflegen, was streng methodisches Denken ist. Wenn sie dies täte, dann würde sie einsehen, auf welch nebulosen Wegen sie wandelt. Sie würde einsehen, daß die Mystik nur. im Kopfe verschrobener Menschen Wurzel fassen könne. Das ist ein bekanntes Vorurteil.

Ich will aber nicht mit einem Tadel beginnen. Nicht weil es der theosophischen Überzeugung nicht entsprechen würde, sondern weil ich aus eigener philosophischer Bildung heraus die Theosophie nicht als laienhaft betrachte und doch aus den Tiefen ihrer Überzeugung heraus spreche. Ich kann es durchaus verstehen, daß derjenige, welcher die abendländische Philosophie in sich aufgenommen hat, der also mit dem ganzen wissenschaftlichen Rüstzeug ausgerüstet ist, es schwer hat, in der Theosophie etwas anderes zu sehen als das, was eben bekannt ist. Für denjenigen, der heute von Philosophie und Wissenschaft herkommt, ist es wirklich unendlich viel schwieriger, sich in die Theosophie hineinzufinden, als für denjenigen, der mit einem naiven Menschenverstand, mit einem natürlichen, vielleicht religiösen Gefühl und mit einem Bedürfnis nach Lösung gewisser Lebensrätselfragen an die Theosophie herangeht. Denn diese abendländische Philosophie legt ihrem Jünger so viele Hindernisse in den Weg, bietet ihm so viele Urteile, die der Theosophie zu widersprechen scheinen, daß sie es scheinbar unmöglich macht, sich mit Theosophie einzulassen.



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Und in der Tat, wahr ist es ja, daß die theosophische Literatur wenig aufweist von dem, was einer Auseinandersetzung mit unserer zeitgenössischen Wissenschaft gleicht und das man philosophisch nennen könnte. Deshalb habe ich mich entschlossen, eine Reihe von Vorträgen darüber zu halten. Sie sollen sein eine erkenntnistheoretische Grundlegung der Theosophie. Sie werden im Laufe derselben bekanntwerden mit den Begriffen der zeitgenössischen Philosophie und ihrem Inhalte. Und wenn Sie diese in einem echten, wahren und tiefen Sinne betrachten, so werden Sie dann zuletzt — aber Sie müssen tatsächlich warten bis zuletzt —die Grundlegung der theosophischen Erkenntnis aus dieser abendländischen Philosophie hervorsprießen sehen. Das soll nicht geschehen etwa durch eine Art von geschicktem dialektischem Herumwerfen von Begriffen, sondern es soll geschehen, soweit man es in einigen Vorträgen kann, mit allem Rüstzeug, welches uns das Wissen unserer Zeitgenossen an die Hand gibt; es soll geschehen mit allem, was in der Lage ist, auch denjenigen, die das nicht wissen wollen, von dem Erfahrbaren einer höheren Weltanschauung etwas zu geben.

Was ich auseinanderzusetzen habe, würde in einem anderen Zeitalter nicht möglich gewesen sein, in derselben Weise auseinanderzusetzen. Aber es ist nötig gewesen, vielleicht gerade in unserer Zeit, bei Kant, Locke, Schopenhauer sich umzusehen oder bei anderen Schriftstellern der Gegenwart, sagen wir bei Eduard von Hartmann und dem Schüler von Eduard von Hartmann, Arthur Drews, oder dem genialen Erkenntnistheoretiker Volkelt oder Otto Liebmann, oder bei dem etwas feuilletonistischen, aber deshalb rationell nicht minder strengen Eucken. Wer sich da umgesehen hat, wer sich bekanntgemacht hat mit dieser oder jener der Schattierungen, welche die philosophisch-wissenschaftlichen



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Anschauungen der Gegenwart und der jüngsten Vergangenheit angenommen haben, der wird verstehen und begreifen — das ist meine innigste Überzeugung —, daß ein wirkliches, echtes Verständnis dieser philosophischen Entwickelung nicht von der Theosophie hinweg, sondern zu der Theosophie hinführen muß. Gerade derjenige, welcher sich in gründlicher Weise mit den philosophischen Lehren auseinandergesetzt hat, der muß zur Theosophie kommen.

Ich hätte diese Rede vielleicht nicht nötig zu halten, wenn nicht das ganze Denken unserer Zeit gerade unter dem Einfluß eines Philosophen stünde. Es wird gesagt, daß durch die große Geistestat Immanuel Kants der Philosophie eine wissenschaftliche Grundlage gegeben worden ist. Es wird gesagt, daß das, was er geleistet hat zur Festlegung des Erkenntnisproblems, etwas Unerschütterliches sei. Sie werden hören, daß derjenige, welcher sich nicht mit Kant auseinandergesetzt hat, kein Recht habe, in der Philosophie mitzusprechen. Sie können durch die verschiedenen Strömungen durchgehen: Herbart, Fichte, Schelling, Hegel, durch die Strömung von Schopenhauer bis zu Eduard von Hartmann —in allen diesen Gedankengängen kann sich nur derjenige zurechtfinden, der sich an Kant orientiert hat. Nachdem verschiedenes in der Philosophie des 19. Jahrhunderts erstrebt worden ist, erklingt in der Mitte der siebziger Jahre der Ruf, von Zeller, dann von Liebmann, dann von Friedrich Albert Lange, der Ruf: Zurück zu Kant! — Und die Dozenten der Philosophie sind der Meinung, daß man sich an Kant orientieren müsse, und nur derjenige, der das tue, könne mitreden in der Philosophie.

Kant hat dem ganzen Philosophieren des 19. Jahrhunderts und der Gegenwart den Stempel aufgedrückt. Er hat aber etwas ganz anderes hervorgerufen, als er selbst wollte.



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Er hat es ausgedrückt mit den Worten: Er glaube, eine ähnliche Tat vollbracht zu haben wie Kopernikus. Kopernikus hat die ganze astronomische Weltanschauung umgekehrt. Er hat die Erde aus dem Mittelpunkt herausgerückt und hat einen anderen Körper, der früher in Bewegung gedacht war, die Sonne, zum Mittelpunkte gemacht. Kant aber macht den Menschen mit seinem Erkenntnisvermögen zum Mittelpunkt der physischen Weltbetrachtung. Er kehrt geradezu die ganze physische Weltbetrachtung um. Daß man diese Umkehrung machen müsse, das ist die Meinung der meisten Philosophen des 19. Jahrhunderts. Man kann diese Philosophie nur verstehen, wenn man sie aus ihren Voraussetzungen heraus begreift. Man kann dasjenige, was aus der Kantschen Philosophie geflossen ist, nur verstehen, wenn man es aus seinen Grundlagen heraus begreift. Wer versteht, wie Kant zu seiner Überzeugung gekommen ist, daß wir im Grunde genommen die Dinge niemals «an sich» erkennen können, da alles, was wir erkennen, nur Erscheinungen sind, wer das versteht, der versteht auch den Verlauf der Entwickelung der Philosophie des 19. Jahrhunderts, der versteht auch die Einwände, die gegen die Theosophie gemacht werden können, und auch, wie er sich denselben gegenüber zu verhalten hat.

Sie werden wissen, daß die Theosophie sich auf eine höhere Erfahrung stützt. Der Theosoph sagt, daß die Quelle seiner Erkenntnis eine Erfahrung ist, die über die sinnliche Erfahrung hinausreicht. Sie können sehen, daß diese dieselbe Gültigkeit hat wie die der Sinne, daß dasjenige, was der Theosoph erzählt von astralen Welten und so weiter, ebenso wirklich ist wie die Dinge, die wir mit unseren Sinnen um uns herum wahrnehmen als sinnliche Erfahrung. Das, was der Theosoph als seine Erkenntnisquelle zu haben glaubt, ist eine höhere Erfahrung. Lesen Sie Leadbeaters



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«Astral-Ebene», so werden Sie finden, daß die Dinge in der astralen Welt so wirklich sind wie die Droschken und Pferde in den Londoner Straßen. Damit soll gesagt werden, wie wirklich diese Welt ist für denjenigen, der sie kennt. Der Philosoph der Gegenwart wird sofort einwenden: Ja, aber du irrst, indem du glaubst, daß das eine wahre Wirklichkeit ist. Hat dir nicht die Philosophie des 19. Jahrhunderts bewiesen, daß das, was wir unsere Erfahrung nennen, nichts weiter ist als unsere Vorstellung? Und daß auch der gestirnte Himmel nichts weiter ist als unsere Vorstellung in uns? — Das betrachtet er als die gewisseste Erkenntnis, die es überhaupt nur geben kann. Eduard von Hartmann betrachtet es als die selbstverständlichste Wahrheit, daß das meine Vorstellung ist, und daß man nicht wissen kann, was es außerdem ist. Glaubst du, daß du Erfahrung als «wirklich» bezeichnen kannst, dann bist du das, was man einen naiven Realisten nennt. Kannst du überhaupt etwas entscheiden darüber, was Erfahrung für einen Wert hat, wenn du der Welt in dieser Weise gegenüberstehst? Das ist das große Resultat, zu dem der Kantianismus gekommen ist, daß die Welt um uns herum unsere Vorstellung sein muß.

Wie ist die Kantsche Weltanschauung dazu gekommen? Sie ist hervorgegangen aus den Philosophien der Vorgänger. Damals, als Kant noch jung war, da herrschte in allen Schulen die Philosophie Christian Wolffs. Sie unterschied die sogenannte Erfahrungserkenntnis, die wir uns durch die Sinneseindrücke erwerben, und dann unterschied Wolff dasjenige, was aus reiner Vernunft stammt. Während wir über die Dinge des gewöhnlichen Lebens nur durch Erfahrung etwas ausmachen können, haben wir nach ihm Dinge, welche höchste Erkenntnisgegenstände sind, aus reiner Vernunft. Diese Dinge sind die menschlichen Seelen, der freie



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Wille des Menschen, die Fragen, die sich auf die Unsterblichkeit und auf das göttliche Wesen beziehen.

Die sogenannten empirischen Wissenschaften beschäftigen sich mit dem, was in der Naturgeschichte, in der Physik, in der Geschichte und so weiter geboten wird. Wodurch verschafft sich der Astronom seine Erkenntnis? Dadurch, daß er sein Auge nach den Sternen richtet, daß er die Gesetze bestimmt nach den Beobachtungen. Das lernen wir dadurch, daß wir die Sinne der Außenwelt öffnen. Niemand kann sagen, daß das aus reiner Vernunft geschöpft sei. Der Mensch weiß dieses, weil er es sieht. Das sind empirische Erkenntnisse, die wir aus dem Leben, aus der Erfahrung in uns aufnehmen, gleichgültig ob wir sie in ein wissenschaftliches System bringen oder nicht; es ist Erfahrungserkenntnis. Niemand kann einen Löwen beschreiben aus seiner bloßen Vernunft heraus. Dagegen nimmt Wolff an, daß man das, was man ist, aus reiner Vernunft schöpfen kann. Wolff nimmt an, daß wir eine Seelenlehre aus reiner Vernunft haben, auch daß die Seele freien Willen haben muß, daß sie Vernunft haben muß und so weiter. Daher nennt Wolff die Wissenschaften, welche sich mit dem höheren der Seelenlehre beschäftigen, rationale Psychologie. Die Frage: ob die Welt einen Anfang genommen hat und ein Ende nehmen wird, ist eine Frage, die man nur aus reiner Vernunft entscheiden soll. Diese Frage nennt er einen Gegenstand rationaler Kosmologie. Niemand kann über die Zweckmäßigkeit der Welt aus der Erfahrung heraus entscheiden; niemand kann dieselbe durch Beobachtung untersuchen. Dies sind lauter Fragen der rationalen Kosmologie. Dann gibt es eine Wissenschaft von Gott, von einem göttlichen Plan. Das ist eine Wissenschaft, die ebenfalls aus der Vernunft geschöpft wird. Das ist die sogenannte rationale Theologie, das ist das, was man die Metaphysik nennt.



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Kant war in einer Zeit aufgewachsen, wo die Philosophie in diesem Sinne gelehrt worden ist. Sie werden ihn in seinen ersten Schriften als einen Anhänger der Wolffschen Philosophie finden. Sie werden ihn überzeugt finden, daß es eine rationale Psychologie, eine rationale Theologie und so weiter gibt. Er führt einen Beweis an, den er den einzig möglichen Beweis vom Dasein Gottes nennt. Dann wurde er bekannt mit einer philosophischen Strömung, die erschütternd auf ihn wirkte. Er wurde mit der Philosophie des David Hume bekannt. Die, sagte er, hat ihn aus seinem dogmatischen Schlummer geweckt. —Was bietet diese Philosophie? Hume sagt folgendes: Wir sehen, daß die Sonne aufgeht am Morgen und dann abends untergeht. Wir haben dies viele Tage gesehen. Wir wissen auch, daß alle Völker den Sonnenauf- und -untergang gesehen haben, daß sie dieselbe Erfahrung gemacht haben, und wir gewöhnen uns daran zu glauben, daß dieses für alle Zeiten so vor sich gehen muß.

Und jetzt ein anderes Beispiel: Wir sehen, daß die Sonnenwärme auf einen Stein fällt. Wir meinen, die Sonnenwärme ist es, die den Stein erwärmt. Was sehen wir? Wir nehmen zuerst Sonnenwärme und dann den erwärmten Stein wahr. Was nehmen wir da wahr? Nur, daß eine Tatsache der anderen folgt. Und wenn wir die Erfahrung machen, daß die Sonnenstrahlen den Stein erwärmen, dann haben wir schon das Urteil gebildet, daß die Sonnenwärme die Ursache ist, daß der Stein warm wird. So sagt Hume: Es gibt gar nichts, das uns mehr zeigt als eine Aufeinanderfolge von Tatsachen. Wir gewöhnen uns an den Glauben, daß da ein ursächlicher Zusammenhang bestehe. Aber dieser Glaube ist eben nur eine Gewöhnung und alles, was der Mensch erdenkt an ursächlichen Begriffen, das besteht nur in jener Erfahrung. Der Mensch sieht, daß eine Kugel die andere stößt, er sieht, daß eine Bewegung dadurch erfolgt,



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und gewöhnt sich dann zu sagen, daß darin eine Gesetzmäßigkeit bestehe. In Wahrheit haben wir es mit keiner wirklichen Einsicht zu tun.

Was ist es, was der Mensch als eine Erkenntnis aus reiner Vernunft betrachtet? Das ist nichts weiter — so sagt Hume — als eine Zusammenfassung von Tatsachen. Wir haben die Tatsachen der Welt in einen Zusammenhang zu bringen. Es entspricht dieses der menschlichen Denkgewohnheit, dem Hang des menschlichen Denkens. Und wir haben kein Recht, über dieses Denken hinauszugehen. Wir dürfen nicht sagen, es ist etwas in den Dingen, das ihnen eine Gesetzmäßigkeit gegeben hat. Wir können nur sagen, die Dinge und Ereignisse fluten an uns vorbei. Aber bei dem «an sich» der Dinge können wir nicht von einem solchen Zusammenhang sprechen.

Wie können wir nun davon sprechen, daß in den Dingen sich uns irgend etwas offenbart, was über die Erfahrung hinausgeht? Wie können wir von einem Zusammenhang in der Erfahrung sprechen, der herrührt von einem göttlichen Wesen, der hinausgeht über die Erfahrung, wenn wir uns nicht nach etwas anderem als nach Denkgewohnheiten zu richten geneigt sind?

Diese Anschauung wirkte auf Kant so, daß sie ihn aus dem dogmatischen Schlummer geweckt hat. Er fragt: Kann es denn etwas geben, was über die Erfahrung hinausgeht? Was gibt uns denn die Erfahrung für Erkenntnisse? Gibt uns dieselbe eine sichere Erkenntnis? Diese Frage hat Kant natürlich sofort verneint. Er sagt: Habt ihr auch hunderttausendmal die Sonne aufgehen sehen, so könnt ihr daraus nicht schließen, sie werde auch morgen wieder aufgehen. Es könnte auch anders kommen. Wenn ihr nur aus der Erfahrung geschlossen habt, so könnte es sich auch einmal herausstellen, daß die Erfahrung euch von irgend etwas



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anderem überzeugt. Die Erfahrung kann niemals eine sichere, notwendige Erkenntnis geben.

Daß die Sonne den Stein erwärmt, weiß ich aus Erfahrung. Daß sie ihn aber erwärmen muß, das darf ich nicht behaupten. Wenn alle unsere Erkenntnisse aus der Erfahrung stammen, so können sie niemals über den Stand der Unsicherheit hinauskommen; dann kann es keine notwendige empirische Erkenntnis geben. Nun sucht Kant hinter diese Sache zu kommen. Er sucht einen Ausweg. Er hatte sich sein ganzes Jugendalter hindurch gewöhnt, an Erkenntnis zu glauben. Er hat sich durch die Humesche Philosophie überzeugen lassen müssen, daß es nichts Sicheres gibt. Gibt es nicht vielleicht irgendwo irgend etwas, wo man von einer sicheren, notwendigen Erkenntnis sprechen kann? Doch — sagt er —, es gibt sichere Urteile. Das sind die mathematischen Urteile. Ist das mathematische Urteil vielleicht so wie das Urteil: Die Sonne geht morgens auf und abends unter?

Ich habe das Urteil, daß die drei Winkel eines Dreiecks hundertachtzig Grad sind. Habe ich den Beweis bei einem einzigen Dreieck geführt, so genügt das für alle Dreiecke. Ich sehe aus der Natur des Beweises, daß er für alle nur möglichen Fälle gilt. Das ist das Eigentümliche mathematischer Beweise. Für jeden ist es klar, daß diese auch für die Jupiter- und Marsbewohner, wenn sie überhaupt Dreiecke haben, gelten müssen, daß auch da die Winkelsumme des Dreiecks hundertachtzig Grad sein muß. Und dann: Niemals kann zwei mal zwei etwas anderes sein als vier. Das ist immer wahr. Daher haben wir einen Beweis, daß es Erkenntnisse gibt, welche absolut sicher sind. Die Frage kann also nicht lauten: Haben wir eine solche Erkenntnis? —, sondern wir müssen darüber nachdenken, wie es möglich ist, daß wir solche Urteile haben.



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Nun kommt die große Frage Kants: Wie sind solche absolut notwendigen Urteile möglich? Wie ist mathematische Erkenntnis möglich? — Kant nennt nun diejenigen Urteile und Erkenntnisse, welche aus der Erfahrung geschöpft sind, Urteile und Erkenntnisse a posteriori. Das Urteil: Die Winkelsumme eines Dreiecks ist hundertachtzig Grad —, ist aber ein Urteil, das aller Erfahrung vorhergeht, ein Urteil a priori. Ich kann mir einfach im Kopf ein Dreieck vorstellen und den Beweis führen, und dann, wenn ich ein Dreieck sehe, das ich noch nicht näher erfahren habe, kann ich sagen, daß es eine Winkelsumme von hundertachtzig Grad haben muß. Daran hängt alles höhere Wissen, wenn ich aus reiner Vernunft heraus Urteile fällen kann. Wie sind solche Urteile a priori möglich? Wir haben gesehen, daß mit einem solchen Urteil: die Winkelsumme eines Dreiecks gleich hundertachtzig Grad, alle Dreiecke getroffen werden. Die Erfahrung muß sich meinem Urteil fügen. Zeichne ich eine Ellipse auf und sehe in den Weltenraum hinaus, so finde ich, daß ein Planet eine solche Ellipse beschreibt. Der Planet folgt meinem in reiner Erkenntnis gebildeten Urteil. Ich trete also mit meinem rein im Ideellen gebildeten Urteil an die Erfahrung heran. Habe ich dieses Urteil aus der Erfahrung geschöpft? — das fragt Kant weiter. Es ist zweifellos, wenn wir solche rein ideellen Urteile bilden, daß wir eigentlich keine Erfahrungswirklichkeit haben. Die Ellipse, das Dreieck — sie haben keine Erfahrungswirklichkeit, aber die Wirklichkeit fügt sich solcher Erkenntnis. Wenn ich wahre Wirklichkeit haben will, dann muß ich an die Erfahrung herantreten. Wenn ich aber weiß, was für Gesetze darin wirken, dann habe ich eine Erkenntnis vor aller Erfahrung. Das Gesetz der Ellipse stammt nicht aus der Erfahrung. Das bilde ich mir selbst in meinem Geiste aus. So fängt auch eine Stelle bei



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Kant mit dem Satze an: «Wenn aber gleich alle unsere Erkenntnis mit der Erfahrung anhebt, so entspringt sie darum doch nicht eben alle aus der Erfahrung.» Ich lege das, was ich an Erkenntnis habe, in die Erfahrung hinein. Der menschliche Geist ist so beschaffen, daß alles in seiner Erfahrung nur den Gesetzen entspricht, die er hat. Der menschliche Geist ist so beschaffen, daß er diese Gesetze notwendig ausbilden muß. Wenn er dann an die Erfahrung herantritt, dann muß die Erfahrung sich diesen Gesetzen fügen.

Ein Beispiel: Nehmen Sie an, Sie haben eine blaue Brille auf. Sie werden alles in blauem Lichte sehen; die Gegenstände erscheinen Ihnen in blauem Licht. Wie auch die Dinge draußen beschaffen sein mögen, das geht mich vorderhand gar nichts an. In dem Augenblicke, wo die Gesetze, welche mein Geist ausbildet, über die ganze Erfahrungswelt sich ausbreiten, da muß die ganze Erfahrungswelt hineinpassen. Es ist nicht wahr, daß das Urteil: zwei mal zwei ist vier, aus der Erfahrung genommen ist. Es ist meine Geistesbeschaffenheit, daß zwei mal zwei immer vier geben muß. Mein Geist ist so, daß die drei Winkel eines Dreiecks immer hundertachtzig Grad sind. So rechtfertigt Kant die Gesetze aus dem Menschen selbst. Die Sonne erwärmt den Stein. Jede Wirkung hat eine Ursache. Das ist ein Gesetz meines Geistes. Und wenn die Welt ein Chaos ist, dann schiebe ich ihr entgegen die Gesetzmäßigkeit meines Geistes. Ich fasse die Welt wie an einer Perlenschnur auf. Ich bin derjenige, welcher die Welt zu einem Erkenntnismechanismus macht. —Und nun sehen Sie auch, wie Kant dazu kam, eine so bestimmte Erkenntnismethode zu finden. Solange der Menschengeist so organisiert ist, wie er organisiert ist, so lange muß alles, auch wenn die Wirklichkeit sich über Nacht ändern würde, sich dieser Organisation fügen. Für



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mich könnte sie sich nicht ändern, wenn die Gesetze meines Geistes dieselben sind. Die Welt mag also sein, wie sie will; wir erkennen sie so, wie sie uns gemäß den Gesetzen unseres Geistes erscheinen muß.

Nun sehen Sie, was es für einen Sinn hat, wenn es heißt: Kant hat die ganze Erkenntnistheorie umgedreht. Vorher hat man angenommen, daß der Mensch aus der Natur alles herausliest. Jetzt aber läßt er den Menschengeist der Natur die Gesetze vorschreiben. Er läßt alles um den Menschengeist kreisen, wie Kopernikus die Erde um die Sonne kreisen läßt.

Dann gibt es aber noch etwas anderes, das zeigt, daß der Mensch niemals über die Erfahrung hinausgehen kann. Es erscheint zwar als ein Widerspruch, aber Sie werden sehen, daß es gerade im Einklang mit der Kantschen Philosophie steht. Kant zeigt, daß die Begriffe leer sind. Zwei mal zwei ist vier, ist ein leeres Urteil, wenn nicht Erbsen oder Bohnen hineingefüllt werden. Jede Wirkung hat eine Ursache — ist ein rein formales Urteil, wenn es nicht mit einem bestimmten Erfahrungsinhalt ausgefüllt wird. Die Urteile sind in mir vorgebildet, um auf die Anschauung der Welt angewendet zu werden. «Anschauungen ohne Begriffe sind blind —Begriffe ohne Anschauungen sind leer.» Wir können Millionen von Ellipsen denken, sie entsprechen keiner Wirklichkeit, wenn wir sie nicht an der Planetenbewegung sehen. Wir müssen alles durch die Erfahrung belegen. Urteile a priori können wir gewinnen, aber anwenden dürfen wir sie nur, wenn sie sich mit der Erfahrung decken.

Aber Gott, Freiheit und Unsterblichkeit sind Dinge, über die wir noch so lange nachdenken können, über die wir durch keine Erfahrung Erkenntnis bekommen können. Es ist deshalb ganz vergeblich, etwas darüber auszumachen



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mit unserer Vernunft. Die a priori geltenden Begriffe sind nur gültig, soweit unsere Erfahrung reicht. Daher haben wir zwar eine Wissenschaft a priori, die uns aber nur sagt, wie die Erfahrung sein muß, wenn die Erfahrung erst da ist. Wir können gleichsam die Erfahrung wie in einem Gespinste einfangen, aber wir können nichts ausmachen, wie das Gesetz der Erfahrung sein muß. Über das «Ding an sich» wissen wir nichts, und da Gott, Freiheit und Unsterblichkeit im «Ding an sich» ihren Ursprung haben müßten, so können wir nichts darüber ausmachen. Wir sehen die Dinge nicht, wie sie sind, sondern so, wie wir sie gemäß unserer Organisation sehen müssen.

Damit hat Kant den kritischen Idealismus begründet und den naiven Realismus überwunden. Was sich der Kausalität fügt, ist nicht das «Ding an sich». Was sich meinem Auge fügt oder meinem Ohr, muß erst einen Eindruck auf mein Auge, mein Ohr machen. Das sind die Wahrnehmungen, die Empfindungen. Das sind die Wirkungen von irgendwelchen «Dingen an sich», von Dingen, die mir absolut unbekannt sind. Diese erzeugen eine Menge von Wirkungen, und diese ordne ich in eine gesetzmäßige Welt ein. Ich bilde mir einen Organismus von Empfindungen. Aber was dahinter ist, das kann ich nicht wissen. Es ist nichts anderes als die Gesetzmäßigkeit, welche mein Geist in die Empfindungen hineingelegt hat. Was hinter der Empfindung ist, davon kann ich nichts wissen. Daher ist die Welt, die mich umgibt, nur subjektiv. Sie ist nur das, was ich selbst aufbaue.

Und nun hat die Entwickelung der Physiologie im 19. Jahrhundert Kant scheinbar ganz recht gegeben. Nehmen Sie die wichtige Erkenntnis des großen Physiologen Johannes Müller. Er hat das Gesetz der spezifischen Sinnesenergien aufgestellt. Es besteht darin, daß jedes Organ in seiner



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Weise antwortet. Lassen Sie Licht in das Auge, so haben Sie einen Lichtschein; führen Sie einen Stoß gegen das Auge, so werden Sie ebenfalls eine Lichtempfindung haben. Daraus schließt Müller, daß es nicht an den Dingen draußen liegt, sondern daß es von meinem Auge abhängt, was ich wahrnehme. Das Auge antwortet auf einen mir unbekannten Vorgang mit der Farbenqualität, sagen wir: blau. Blau ist nirgends draußen im Raum. Ein Vorgang wirkt auf uns, und der bringt die Empfindung «blau» hervor. Was Sie glauben, daß es vor Ihnen steht, ist nichts anderes als die Wirkung irgendwelcher unbekannter Vorgänge auf ein Sinnesorgan. Die ganze Physiologie des 19. Jahrhunderts hat scheinbar eine Bestätigung dieses Gesetzes der spezifischen Sinnesenergien gegeben. Dadurch scheint auch die Kantsche Idee gestützt zu sein.

Man kann im vollsten Sinne des Wortes diese Weltanschauung einen Illusionismus nennen. Niemand weiß etwas von dem, was draußen wirkt, was seine Empfindungen hervorbringt. Aus sich heraus spinnt er seine ganze Erfahrungswelt und baut sie nach den Gesetzen seines Geistes auf. Niemals kann etwas anderes an ihn herantreten, solange seine Organisation so beschaffen ist, wie sie ist. Das ist die durch die Physiologie motivierte Kantsche Lehre. Damit ist das gegeben, was Kant kritischen Idealismus nennt. Das ist auch das, was Schopenhauer in seiner Philosophie entwickelt: Die Menschen glauben, daß der ganze sternbesäte Himmel und die Sonne sie umgibt. Das ist aber nur eure eigene Vorstellung. Ihr erschafft die ganze Welt. —Und Eduard von Hartmann sagt: Das ist die gewisseste Wahrheit, die es geben kann. Keine Macht würde jemals an diesem Satze rütteln können. —So sagt die abendländische Philosophie. Sie hat niemals überlegt, wie im Grunde genommen Erfahrungen zustande kommen. Nur



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der kann an dem Realismus festhalten, der weiß, wie die Erfahrungen zustande kommen und der kommt dann zum wahren kritischen Idealismus. Die Anschauung Kants ist der transzendentale Idealismus, das heißt, er weiß nichts von einer wahren Wirklichkeit, nichts von einem Ding an sich, sondern nur von einer Vorstellungswelt. Er sagt im Grunde: Ich muß meine Vorstellungswelt auf etwas mir Unbekanntes beziehen. —Diese Anschauung soll als etwas Unerschütterliches gelten.

Ist dieser transzendentale Idealismus tatsächlich unerschütterlich? Ist das «Ding an sich» unerkennbar? —Wäre das so, dann könnte von einer höheren Erfahrung gar nicht gesprochen werden. Denn wenn das «Ding an sich» bloß Illusion wäre, dann dürften wir nicht von irgendwelchen höheren Wesen sprechen. Und das ist daher auch ein Einwand, der gegen die Theosophie erhoben wird: Ihr habt höhere Wesen, von denen ihr sprecht.

In welcher Weise diese Auffassungen vertieft werden müssen, das werden wir nächstes Mal sehen.