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RUDOLF STEINER Spirituelle Seelenlehre und Weltbetrachtung

Achtzehn öffentliche Vorträge gehalten zwischen dem 6. September 1903 und dem 8. Dezember 1904 im Architektenhaus und im Vereinshaus zu Berlin

1986 RUDOLF STEINER VERLAG DORNACH/SCHWEIZ

THEOSOPHIE UND CHRISTENTUM

Berlin,4. Januar 1904

Oft verwechselt man heute noch das, was die Theosophische Gesellschaft ist, mit buddhistischer Weltanschauung. Öfters habe ich mir in diesen monatlichen Versammlungen schon die Bemerkung erlaubt, daß bei dem Theosophischen Kongreß in Chicago 1893 der indische Brahmane G. N. Chakravarti selbst gesagt hat, daß auch für ihn die Theosophie etwas völlig Neues oder wenigstens eine völlige Erneuerung der Weltanschauung gebracht habe. Er sprach damals aus, daß alle spirituelle Weltanschauung, auch seines Volkes in Indien, dem Materialismus gewichen sei, und daß es die Theosophische Gesellschaft war, welche die geistige Weltanschauung in Indien erneuert habe. — Man kann schon daraus schließen, daß wir die Theosophie nicht aus Indien geholt haben, so wie man andererseits, wenn man die theosophische Bewegung verfolgt, wie sie sich in den letzten Jahrzehnten entwickelt hat, zugeben muß, daß sie sich immer mehr und mehr bemüht hat, auch die Erklärerin aller anderen Religionssysteme zu sein, daß sie sich immer mehr und mehr bemüht hat, den Wahrheitskern nicht nur orientalischer, sondern auch der abendländischen Religionsbekenntnisse an den Tag zu bringen.

Heute soll es lediglich meine Aufgabe sein, mit einigen Strichen zu zeigen, wie im richtig verstandenen Christentum wahre, echte Theosophie zu finden ist, oder vielmehr, ich muß die Aufgabe der Theosophischen Gesellschaft gegenüber dem Christentum charakterisieren.

Eine Dienerin, nichts anderes, will die theosophische Bewegung



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auch gegenüber dem Christentum sein. Dienen will sie dadurch, daß sie den tiefsten Kern, das eigentliche Wesen aus dem christlichen Religionsbekenntnisse herauszuschälen sucht. Dadurch erhofft sie, niemandem, welcher an dem Christentum hängt, dessen Herz mit dem Christentum verbunden ist, irgend etwas zu nehmen. Im Gegenteil, diejenigen, welche die theosophische Bewegung verstehen, wissen, daß gerade durch sie der Christ unendlich viel erhalten kann, daß unendlich viele der Streitigkeiten, welche sich heute allüberall in den christlichen Bekenntnissen gebildet haben, verschwinden müssen, wenn der wahre Kern, der doch nur der eine Kern sein kann, mit an den Tag kommt.

Ich kann natürlich nicht in aller Breite und Ausführlichkeit dieses große Thema erschöpfen, und ich bitte Sie daher, mit den wenigen Strichen vorliebzunehmen, die ich zu geben in der Lage bin. Aber es ist doch wohl an der Zeit, gerade in der Gegenwart das zu geben, was ich zu geben vermag.

Diese unsere Gegenwart ist ja nicht eine Zeit, die es liebt, sich zu dem Geiste in seiner Lebendigkeit zu erheben. Es gibt zwar Ideale, zu denen die Menschen aufschauen, und von Idealen sprechen sie viel, aber daß sie die Ideale verwirklichen könnten, daß der Geist wirkend vorhanden sein könnte und daß es die Aufgabe ist, ihn zu erkennen, davon will das 19. und der Beginn des 20. Jahrhunderts nicht viel wissen. Dadurch unterscheidet sich diese unsere Zeit ganz wesentlich von der Zeit der großen Geister, welche in Anlehnung an den Stifter des Christentums das Christentum ursprünglich ausgebildet haben. Gehen Sie zurück in die früheren Zeiten des Christentums, etwa zu Clemens von Alexandrien, und Sie werden finden, daß damals alle Gelehrsamkeit, alles Wissen nur dazu da war, um eines zu verstehen: um zu verstehen, wie das lebendige Wort, das Licht der Welt, hat Fleisch werden können. Unsere Zeit



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liebt es nicht, sich in solche Höhen der geistigen Anschauung zu erheben. So wie wir in bezug auf die naturwissenschaftliche Anschauung uns darauf beschränkt haben, das rein Tatsächliche zu sehen, das, was Augen sehen, was die Sinne vernehmen können, so sind tatsächlich auch die Religionsbekenntnisse voll von solchen materialistischen Anschauungen. Und gerade die Vertreter solcher materialistischer Anschauungen werden glauben, das Bekenntnis am besten zu verstehen. Sie wissen nicht, wie stark da unbewußt materialistische Gedanken Platz gegriffen haben. Nur einzelnes lassen Sie mich zeigen.

Das 19. Jahrhundert hat versucht, in ernster Arbeit sich mit dem Christentum abzufinden. Kritisch ging man vor allen Dingen zu Werke und versuchte, in streng wissenschaftlicher Weise die Urkunden daraufhin zu untersuchen, inwiefern in denselben historisch-tatsächliche Wahrheit vorhanden ist. Ja, «tatsächliche» Wahrheit, das ist dasjenige, worauf auch Religionsgelehrte heute ausgehen. Dem Buchstaben nach wurde in jeder Weise untersucht, ob der eine oder andere Evangelist die reine, tatsächliche Wahrheit spricht darüber, was sich wirklich ereignet haben könnte, was sich vor den Augen der Menschen einst abgespielt haben könnte. Das zu untersuchen, ist die Aufgabe der sogenannten historisch-kritischen Theologie. Wir sehen, wie unter diesen Aufgaben allmählich das Bild des Fleisch gewordenen Gottes eine materialistische Färbung angenommen hat. Eine Sache lassen Sie mich anführen, die immer von neuem diejenigen, welche Wahrheit suchen, in Anspruch nimmt.

David Friedrich Strauß hat in den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts damit den Anfang gemacht, historisch den tatsächlichen Kern der Evangelien zu untersuchen. Und nachdem er versucht hatte klarzulegen, was ein solcher historischer Wahrheitskern ist, da suchte er selbständig ein



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Bild des Christentums zu entwerfen. Dieses Bild, das er entworfen hat, ist nun tatsächlich aus dem Geiste seiner Zeit heraus, aus dem Geiste heraus, der nicht glauben konnte, daß sich einmal etwas weit über den Menschen Hinausragendes, etwas aus der Höhe des Geistigen Herstammendes in der Welt verwirklicht haben könnte; etwas, das aus dem eigentlichen Geiste heraus geboren ist. Was David Friedrich Strauß fand, ist nun dieses: Nicht in einer einzelnen Persönlichkeit kann sich der wirkliche Gottessohn darstellen. Nein, nur die ganze Menschheit, die Menschenart, die Gattung allein kann die wirkliche Darstellung des Gottes auf der Erde sein. Das Ringen der ganzen Menschheit, symbolisch aufgefaßt, das ist der lebendige Gott, aber nicht ein einzelnes Individuum. Und alles dasjenige, was sich in den Zeiten, in denen das Christentum entstanden ist, an Erzählungen über die Person Christi gebildet hat, alles das sind nichts anderes als Mythen, welche die Volksphantasie erschaffen hat. —Durch das Bemühen, den Gottessohn als das Ringen und Streben der ganzen menschlichen Gattung darzustellen, ist bei David Friedrich Strauß der Gottessohn verflüchtigt zu einem göttlichen Ideal.

Sehen Sie sich nun aber in den Evangelien um, suchen Sie in den christlichen Bekenntnissen — ein Wort werden Sie niemals darin finden, und eine Vorstellung werden Sie bei Jesu nirgends finden: das ist die Vorstellung des idealen Menschen in der Art und Weise, wie Strauß ihn konstruiert hat. Die Menschengattung, abstrakt gedacht, die findet sich nirgends in den Evangelien. Das ist bezeichnend, daß das 19. Jahrhundert zu einem Jesus-Bild gekommen ist von einer Vorstellung aus, die Jesus niemals in seinem Leben angedeutet oder ausgesprochen hat.

Nach und nach sind auch noch andere an die Aufgabe herangetreten, kritisch den Gehalt der Evangelien zu prüfen.



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Die verschiedenen Phasen kann ich Ihnen hier nicht anführen; das würde zu weit gehen. Aber es ist in den letzten Jahren oft ein Wort gefallen, das so richtig zeigt, wie wenig sympathisch es unserer Zeit ist, zu dem Gott, zu dem Geistwesen, das sich in einer Persönlichkeit verwirklicht haben soll, in ähnlicher Art hinaufzuschauen wie im ersten christlichen Jahrhundert, wo alle Gelehrsamkeit, alle Weisheit, alles Wissen lediglich dazu zu verwenden war, diese einzigartige Erscheinung zu begreifen und zu verstehen. Ein Wort ist da gefallen, und dieses Wort ist: Der schlichte Mann aus Nazareth. Den Gottesbegriff ließ man fallen. Man will —das ist letztlich die Tendenz, die in diesen Worten liegt —, man will diese Persönlichkeit, die am Anfange des Christentums steht, bloß als Menschen gelten lassen und will alles dasjenige, was man als Dogmenkram ansieht, als eine in den Wolken schwebende Phantasie auffassen. Alles das will man entfernen und die Persönlichkeit Jesu als reinen Menschen betrachten, als einen Menschen, der zwar höher geartet ist als die übrigen Menschen, der aber Mensch unter Menschen ist, der doch in gewisser Hinsicht gleich ist den anderen Menschen. So will man auch von theologischer Seite her das Christus-Bild herunterziehen in das Gebiet des rein Tatsächlichen.

Das sind zwei Extreme, die ich Ihnen vorgeführt habe, auf der einen Seite der das Gottesbild verflüchtigende Gottesbegriff des David Friedrich Strauß, auf der anderen Seite der schlichte Mann aus Nazareth, der nichts enthält als eine reine Lehre des allgemeinen Menschentums. Dies ist im Grunde nichts anderes, als was auch diejenigen anerkennen können, welche gar nichts wissen wollen von einem Stifter des Christentums. Auch das haben wir gesehen, wie Anhänger einer allgemeinen Sittenlehre sich herauskonstruieren, daß Jesus im Grunde dieselbe Sittenlehre gehabt und



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gelehrt habe, wie sie heute auch gepredigt wird von der «Gesellschaft für ethische Kultur». Und sie glauben, Jesus dadurch erheben zu können, wenn sie zeigen, daß auch schon vor dem 19. Jahrhundert Menschen sich bekannt haben zu dem, wozu wir es gebracht haben durch die Kantsche Spekulation oder durch die Aufklärung. —In Wahrheit handelt es sich aber um Lehren, welche einstmals das höchste Mysterium waren, und der Inhalt dieser Weisheit wurde nur gegeben für diejenigen, welche sich zu den Höhen des Menschlichen erhoben haben.

Fragen wir uns, stehen wir denn, wenn wir den einen oder den anderen dieser Christus-Begriffe nehmen, noch irgendwie auf dem Boden der Evangelien? Ich kann heute nicht ausführen, warum ich nicht der Anschauung sein kann, welcher viele der gelehrten Theologen sind, warum das vierte Evangelium weniger autoritativ und weniger authentisch sein soll als die drei ersten. Derjenige, welcher klar und deutlich den Hergang prüft und untersucht, sieht keinen Grund, warum das Evangelium von Johannes, welches gerade dasjenige ist, das uns so sehr erhebt, sozusagen abgesetzt worden ist im Streben nach reiner Tatsächlichkeit. Man glaubt, daß die drei ersten Evangelien: Matthäus, Markus, Lukas, mehr den Menschen, den reinen, schlichten Mann aus Nazareth darstellen, während das Johannes-Evangelium allerdings den Anspruch macht, das Fleisch gewordene Wort in Jesus zu erkennen. Hier wurde der unbewußte Wunsch, der in den Seelen lebt, zum Vater des Gedankens. Wenn aber das Johannes-Evangelium weniger Anspruch hat auf Authentizität, so ist es unmöglich, das Christentum zu halten. Dann ist es unmöglich, von der christlichen Lehre der Persönlichkeit Jesu etwas anderes zu sagen als, er sei der schlichte Mann aus Nazareth. Aber niemand, weder ich noch andere, die sich die alten Bekenntnisschriften



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vor Augen halten, kann etwas anderes sagen, als daß diejenigen, welche ursprünglich von Jesus Christus sprachen, wirklich von dem Fleisch gewordenen Gott, von dem höheren Gottesgeist sprachen, der in dieser Persönlichkeit des Jesus von Nazareth sich verwirklich hat.

Da ist es nun die Aufgabe vor allen Dingen der Theosophie, zu zeigen, wie wir dieses vor allem von Johannes gebrauchte Wort von dem Fleisch gewordenen Wort zu verstehen haben. Denn auch die übrigen Evangelien versteht man in Wahrheit nicht, wenn man nicht von dem Johannes-Evangelium ausgeht. Was die anderen Evangelisten erzählen, es wird licht und hell und klar, wenn man die Worte des Johannes-Evangeliums als eine Interpretation, als eine Erklärung dazunimmt.

Ich kann nicht in allen Einzelheiten schildern, was zu den einzelnen Aufstellungen führt, die ich heute machen werde. Aber ich kann wenigstens hindeuten auf die Hauptsache, die vor allen Dingen dem materialistisch gesinnten Theologen anstößig ist. Dazu gehört schon die Geburtsgeschichte, die sagt, daß Jesus nicht wie andere Menschen geboren sein soll. Das ist ja etwas, was auch David Friedrich Strauß gegen die Wahrheit der Evangelien geltend gemacht hat.

Was wurde gemeint mit der höheren Geburt? Es wird uns ohne weiteres klar, wenn wir das Johannes-Evangelium richtig verstehen. Die ersten Sätze des Johannes-Evangeliums, der eigentlichen Botschaft von dem Fleisch gewordenen Wort, teilen mit: «Im Urbeginne war das Wort, und das Wort war bei Gott, und ein Gott war das Wort. Alles ist durch das Wort geworden, und außer durch das Wort ist nichts geworden.» Es wird mitgeteilt, daß das Wort immer da war in anderer Weise, daß es sich aber in dieser Persönlichkeit äußerlich sichtbar verwirklicht hat. Und



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wir hören, daß durch dasselbe Wort, oder sagen wir, durch denselben Gottesgeist, der in Jesus lebte, die Welt selbst entstanden ist. «Und in diesem Wort war das Leben, und das Leben war das Licht der Menschen. Und das Licht schien in die Finsternis, aber die Finsternis hat es nicht begriffen. Es ward ein Mensch gesandt mit Namen Johannes, auf daß sie alle glauben sollten. Er war nicht das Licht, aber er sollte davon zeugen, denn das wahre Licht sollte erst in die Welt kommen.» — Was sollte kommen in Jesus Christ? Aber gleich hören wir, daß es schon da war. «Es war in der Welt. Aber die Welt hat es nicht erkannt. In die einzelnen Menschen kam es, aber die einzelnen Menschen nahmen es nicht auf. Die es aber aufnahmen, die konnten sich durch dasselbe als Gottes Kinder offenbaren. Die, die seinem Namen vertrauten, sind nicht aus Blut, nicht aus dem Willen des Fleisches, nicht aus menschlichem Willen, sondern aus Gott geworden.»

Hier haben Sie in einer, wie ich glaube, einigermaßen richtigen und sinngemäßen Übersetzung die Bedeutung des Fleisch gewordenen Gottes und zu gleicher Zeit die Bedeutung dessen, was es heißt: «Und Christus ist nicht auf menschliche Art geboren.» Das «Wort» war immer da, und jeder einzelne Mensch sollte in seinem Inneren, in seinem Urbeginn, einen Christus gebären. In unserem Herzen haben wir alle die Anwartschaft auf Christus. Aber während dieses lebendige Wort, dieser Christus in jedem einzelnen Platz haben sollte, haben die Menschen an diesem Platz ihn nicht gewahrt, ihn nicht wahrgenommen. Das ist es ja gerade, was uns durch das Evangelium gezeigt wird, daß immerdar das Wort war, daß der Mensch es annehmen konnte und es nicht annahm. Und weiter wird uns gesagt, einzelne nahmen es an. Immer waren einzelne da, welche in sich den lebendigen Geist, den lebendigen Christus, das lebendige



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Wort erweckten, und die, welche sich nach seinem Namen benannten, sind nicht aus Blut, nicht aus dem Willen des Fleisches, nicht aus menschlichem Willen, sondern sie waren immer aus Gott geworden.

Das wirft erst das richtige Licht auf das Matthäus-Evangelium. Jetzt verstehen wir, warum die Geburt Christi «aus Gott» genannt wird. Das widerlegt am besten das, was David Friedrich Strauß will. Nicht die ganze menschliche Gattung ist imstande gewesen, den Christus in sich aufzunehmen; obwohl er für die ganze menschliche Gattung und für die ganze Menschheit war. Und nun sollte einer kommen, der in sich die ganze Fülle der Unendlichkeit des Geistes einmal dargestellt hat. Dadurch bekam diese Persönlichkeit ihre einzigartige Bedeutung für die ersten christlichen Lehrer, die verstanden, um was es sich da handelt. Sie verstanden, daß es sich weder um einen abstrakten, schattenhaften Begriff handelt noch daß es sich handelt um den einen einzelnen Menschen in seiner Tatsächlichkeit, sondern wahrhaft und wirklich um den Gottmenschen, um eine Einzelpersönlichkeit in der Fülle der Wahrheit.

Nun, so können wir es verstehen, daß alle diejenigen, die in den ersten Zeiten der Frohbotschaft von dem Christus verkündigten, nicht nur an der Lehre und an der tatsächlichen Person, sondern vor allen Dingen an der Anschauung von der Gottmenschheit festhielten, daß sie die Überzeugung davon sich bildeten, daß er, den sie gesehen haben, ein hoher, ein wirklicher Gottmensch war. Nicht die Lehre hielt die ersten Christen zusammen, nicht das, was Christus gelehrt hat; das war es nicht, worin sich die ersten Christen verbunden glaubten. —Schon das allein spricht auch gegen diejenigen, welche eine abstrakte ethische Sittenlehre an die Stelle des Christentums setzen wollten. Dann aber sind sie nicht mehr Christen.



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Nicht gleichgültig war es, wer diese Lehre in die Welt gebracht hat, sondern deren Stifter war in der Welt wirklich Fleisch geworden. Daher wird im Anfange des Christentums weniger auf Beweise als auf die lebendige Erinnerung an den Herrn Wert gelegt. Dies wird fortwährend betont. Es ist die Persönlichkeit, die gotterfüllte Persönlichkeit, welche die größten Gemeinschaften zusammenhält. Deshalb sagen uns die ersten christlichen Kirchenlehrer immer und immer wieder, daß es das Verdienst des historischen Ereignisses ist, von dem das Christentum seinen Ausgang genommen hat. Wir haben von Irenäus den Hinweis darauf, daß er noch selbst Menschen gekannt habe, die ihrerseits noch Apostel gekannt hatten, jene, die den Herrn von Angesicht zu Angesicht gesehen haben. Und er betont, daß der vierte Papst, Clemens Romanus, noch viele Apostel gekannt hat, die auch den Herrn von Angesicht zu Angesicht gesehen hatten. Das ist so. Und warum betont er das? Die ersten Lehrer wollten nicht allein von der Lehre, nicht allein von logischen Beweisen sprechen, sondern sie wollten vor allen Dingen davon sprechen, daß sie das, was von oben her in die Erdenwelt eingetreten war, selbst mit Augen gesehen, mit Händen gefühlt haben; daß sie nicht dazu da seien, um etwas zu beweisen, sondern um Zeugnis abzulegen von dem lebendigen Wort. Das war aber nicht die Persönlichkeit, die man mit Augen sehen, mit Sinnen wahrnehmen konnte. Nicht die Persönlichkeit, die dann der schlichte Mann aus Nazareth genannt werden konnte, ist es, die die erste Lehre des Christentums verkündigt. Ein einziges Wort eines gewiß maßgebenden Zeugen muß dafür sprechen, daß etwas Höheres zugrunde liegt. Und dieses Wort des Paulus, es kann nicht genug betont werden: «Ist Christus nicht auferstanden, dann ist nichtig unsere Botschaft und eitel unser Glaube.» Als Grundlage des Christentums nennt Paulus



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den auferstandenen Christus, nicht den Christus, der in Galiläa und Jerusalem gewandert ist. Eitel ist der Glaube, wenn der Christus nicht auferstanden ist. Eitel ist der Christ, wenn er sich nicht bekennen kann zum auferstandenen Christus.

Was verstanden sie unter dem auferstandenen Christus? Auch das können wir von Paulus lernen. Er sagt es uns klar und deutlich, worauf sich das Bekenntnis zur Auferstehung bei ihm gründet. Das wissen ja alle; alle wissen, daß Paulus sozusagen ein nachgeborener Apostel ist, daß er die Bekehrung zum Christen der Erscheinung des längst nicht mehr auf Erden weilenden Christus verdankt. Diese Erscheinung einer hohen geistigen Wesenheit kann nur der Theosoph in ihrer Wahrheit erkennen. Nur er weiß, was ein Eingeweihter, wie Paulus, meint, wenn er davon spricht, daß ihm lebendig der auferstandene Christus erschienen ist. Und Paulus sagt uns noch mehr, und das müssen wir wohl beherzigen. Er sagt uns im I. Korinther 15, 3-8: «Ich habe euch überliefert in erster Linie, wie ich es selbst bekommen habe, daß der Christus gekommen ist um unserer Sünden willen, daß er gestorben ist und auferweckt am dritten Tage, und daß er erschienen ist dem Kephas und den Zwölfen, und nach dieser Erscheinung mehr als fünfhundert Brüdern, von denen die meisten noch leben, einige aber sind entschlafen. Zuletzt ward mir als dem zur Unzeit Geborenen die Erscheinung.»

Gleich stellte er da seine Erscheinung derjenigen, auf welche der höhere Glaube der anderen Apostel sich gründete. Er stellte sie gleich der Erscheinung, welche die Apostel von Christus überhaupt hatten, nachdem er gestorben war. Wir haben es also zu tun mit einer geistigen Erscheinung; mit einer Geist-Erscheinung, die wir uns nicht in schattenhafter Weise zu denken haben, als schattenhaft ideell, sondern



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als Wirklichkeit, wie sich der Theosoph den Geist vorstellt; mit einer Erscheinung des Geistes, die zwar nicht körperlich ist, aber doch wirklicher und wahrhaftiger als jede äußere, durch die Sinne wahrnehmbare Wirklichkeit. Wenn wir das uns vorhalten, dann sind wir uns klar, daß es gar nicht anders sein kann, als daß man es in den ersten christlichen Jahrhunderten zu tun hat mit dem Fleisch gewordenen Wort, daß der Gottmensch nicht der schlichte Mann aus Nazareth ist, sondern der wirklich realisierte höhere Gottesgeist. Wenn wir das betrachten, dann stehen wir völlig auf dem Boden der Theosophie. Und niemand ist vielleicht im wahren Sinne des Wortes mehr ein Theosoph zu nennen als der Verkündiger des Auferstehungswunders: der Apostel Paulus. Keinem Theosophen kann es einfallen, den Apostel Paulus als etwas anderes anzusehen, als einen tief Eingeweihten, als einen derjenigen, die da wissen, um was es sich handelt.

Eines muß ich da noch hervorheben, und das ist, daß es nicht zulässig ist, herunterzuziehen diese erhabene Erscheinung, die einzig in der Welt dasteht, in die materialistische Weltanschauung; daß der Weg zum Verständnis des Stifters des Christentums nicht in den Regionen verläuft, wo nur «schlichte Menschen», wo nur Ideale sind, sondern daß er hinaufführen muß dahin, wo der hohe Christus-Geist selber ist. Und das haben die ersten Christen getan, diesen Weg haben sie gehen wollen, um zu begreifen das lebendige Wort.

Sie können nun sagen, Sie glauben, jetzt sei allmählich alles anders geworden, und das ist gut begründet. Nur dadurch, daß im Laufe der Jahrhunderte der Tatsachensinn sich ausgebildet hat, daß der Mensch vor allen Dingen lernte, die Sinne auszubilden, sie mit Instrumenten zu bewaffnen, dadurch hat er seine Fortschritte in der äußeren Welterkenntnis



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gemacht. Aber diese ungeheuren Fortschritte in unserem Weltverkehr, das Durchdringen des Sternenhimmels mit der Kopernikanischen Weltanschauung, das Durchdringen der kleinsten Lebewesen mit dem Mikroskop, sie alle haben uns, wie ein jegliches Ding seine Schatten wirft, auch ihre Schattenseiten gebracht. Sie haben uns ganz bestimmte Denkgewohnheiten gebracht; Denkgewohnheiten, die vor allen Dingen hängen an dem tatsächlich Wirklichen, an dem sinnlich Wahrnehmbaren. Und so ist es dann gekommen, daß auf die natürlichste Weise von der Welt dieses an das rein Sinnliche sich hinwendende Denken Gewohnheit geworden ist, daß es sich auch an die höchsten religiösen Wahrheiten herangemacht und den Geist und seinen Inhalt so zu begreifen versucht hat, wie der Naturforscher mit seinen Sinnen die äußere Natur zu begreifen versucht.

Ideale, welche abstrakte Begriffe enthalten, kann sich allenfalls der materialistische Naturforscher noch vorstellen. Er spricht dann von Wahrheit, Schönheit, Güte, welche sich in der Welt immer mehr und mehr verwirklichen wollen. Er stellt sich schattenhafte Begriffe vor. Er kann sich noch zu einer «Schlichtheit» erheben im menschlichen Vorstellen, aber zu etwas noch Höherem, zum Ergreifen einer wirklichen Geistigkeit kann es dieser naturwissenschaftliche Sinn mit seiner durch Jahrhunderte anerzogenen Denkgewohnheit nicht bringen. Diese Gedankengewohnheiten sind nun heute auf ihre höchste Höhe gekommen. Und wie alles das, was sich einseitig ausgebildet hat, einer Ergänzung bedarf, so bedarf auch der berechtigte materialistische Sinn auf der anderen Seite der spirituellen Vertiefung. Er bedarf derjenigen Erkenntnis, die uns erhebt zu den Höhen der Geistigkeit. Und dieses Erheben zu dem Geiste und seiner Wirklichkeit, das will die Theosophie.



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Deshalb will sie sich vor allen Dingen an das halten, wovon man nicht in materialistischen Anschauungen spricht, sondern an das, was sich erhebt zu den höchsten Stufen menschlicher Erkenntnis. Von daher ist zu verstehen, was es heißt, das Wort ist Fleisch geworden; was es heißt, den Geist aus dem Göttlichen in dem menschlichen Körper zu erfassen.

Was Christus meinte, das konnte er nicht immer Unumwunden aussprechen. Sie alle kennen das Wort: Vor dem Volke sprach er in Gleichnissen, wenn er aber mit den Jüngern zusammen war, da legte er ihnen diese Gleichnisse aus. —Woraus entsprang diese Absicht des Stifters des Christentums, sozusagen zwei Sprachen zu sprechen? Die einfache Vergleichung kann es uns sagen, woraus das entspringt. Wenn Sie irgendeinen Gegenstand, einen Tisch brauchen, dann gehen Sie nicht zu jedem beliebigen Menschen, sondern zu demjenigen, der versteht, einen Tisch zu machen. Und wenn dieser ihn gemacht hat, dann maßen Sie sich nicht an, den Tisch selbst gemacht zu haben. Sie gestehen ruhig zu, ein Laie zu sein im Tischemachen. Das aber wollen die Menschen nicht zugestehen, daß man auch ein Laie sein kann in bezug auf die höchsten Dinge, die es gibt, daß der schlichte Verstand, der sozusagen im Naturzustande ist, die höchsten Höhen erst erklimmen muß. Daraus ist die Sehnsucht entsprungen, herunterzuziehen diese höchste Wahrheit auf das Niveau des allgemeinen Menschenverstandes. Aber ebenso wie wir als Laien im Tischemachen wissen, wenn ein Tisch gut ist, wie wir ihn in unseren Dienst zu stellen haben, so wissen wir, wenn wir das Wahre gehört haben, ob es zu unseren Herzen spricht, ob unser Herz es gebrauchen kann. Aber wir müssen uns nicht anmaßen, aus dem bloßen Herzen, aus dem schlichten Menschenverstande heraus auch selbst die Erkenntnis erzeugen zu wollen. Aus dieser Anschauung ist die Unterscheidung entsprungen, die



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in alten Zeiten immerdar gemacht worden ist zwischen Priestern und Laien. Mit Priesterweisen haben wir es in alten Zeiten zu tun, und mit höchsten Wahrheiten, die nicht draußen auf den Straßen verkündet wurden, sondern drinnen in den Mysterientempeln.

Höchste Weisheiten wurden nur denjenigen ausgelegt, die genügend dazu vorbereitet waren. Die Reichen des Geistes, die bekamen sie zu hören, weil sie die tiefere Wahrheit über die Welt, die Menschenseele und über Gott sind. Man mußte ein Eingeweihter werden, ein Meister, dann bekam man den Begriff, die unmittelbare Vorstellung davon, welches der Inhalt der höchsten Weisheit ist. Es war so, daß durch Jahrhunderte hindurch die Weisheit eingeflossen war in die Mysterientempel. Draußen aber stand die Menge und bekam nichts zu hören als dasjenige, was die Priesterweisheit mitzuteilen für gut fand. Immer größer und größer war die Kluft geworden zwischen dem Priestertum und dem Laientum. Initiierte nennt man diejenigen, welche wußten um die Weisheit des lebendigen Gottes. Viele Stufen hatte man zu steigen, bis man hinaufgeführt wurde zu dem Altar, an dem einem verkündigt wurde, was die Weisesten erkundet hatten und geoffenbart hatten über die Weisheit des lebendigen Gottes.

Das war durch Jahrhunderte hindurch Brauch. Dann kam eine Zeit, und dies ist die Zeit der Entstehung des Christentums, in der sich auf dem großen Schauplatz der Weltgeschichte als historische Tatsache abspielte vor den Augen der Welt, für alle Menschen das, was sich vorher nur abgespielt hatte für die Reichen im Geiste, für diejenigen, welche eingeweiht wurden in die Mysterien. Nur diejenigen, die da schauten in den Mysterientempeln die Geheimnisse des Daseins, die konnten in alten Zeiten, nach der Anschauung der Priesterweisen, zu einer wirklichen Seligkeit



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kommen. In dem Stifter des Christentums lebte aber das höhere Erbarmen, mit der ganzen Menschheit einen anderen Weg zu gehen, und auch selig werden zu lassen diejenigen, die da nicht schauten, das heißt, die nicht eindringen konnten in die Mysterientempel, die, welche nur durch das schwache Gefühl, bloß durch den Glauben zu dieser Seligkeit geführt werden sollen.

Und so mußte ein neues Bekenntnis, eine neue Frohbotschaft ertönen nach den Absichten des Stifters des Christentums, welche in anderen Worten spricht, als die alten Priesterweisen gesprochen hatten; eine Botschaft, welche herausgesprochen ist aus der tiefsten Weisheit und dem unmittelbaren spirituellen Erkennen, welche aber zu gleicher Zeit Widerhall finden konnte in dem schlichtesten Menschenherzen. Heranziehen wollte sich daher dieser Stifter des Christentums Jünger und Apostel. Überall, wo es Steine gab, das heißt Menschenherzen, um Funken herauszuschlagen, sollten sie eingeweiht werden in das Mysterium. So mußten sie das Höchste erleben, das ist der Sieg des Wortes. Zu dem Volke sprach er in Gleichnissen, aber wenn er mit ihnen allein war, legte er sie ihnen aus.

Lassen Sie uns nur ein paar Beispiele anführen, wie der Christus das lebendige Wort zu entzünden versuchte, wie er das Leben herausschlagen wollte aus den einzelnen Menschenherzen. Wir hören, daß der Christus seine Jünger Petrus, Jakobus und Johannes hinaufführt auf den Berg und daß er dort eine Metamorphose durchmacht vor den Augen seiner Jünger. Wir hören, daß Moses und Elias zu beiden Seiten des Jesus waren.

Der Theosoph weiß, was der mystische Ausspruch bedeutet: auf den Berg hinaufführen. Solche Ausdrücke muß man kennen, fachmännisch kennen, genau ebenso wie man die Sprache kennen muß, bevor man den Geist eines Volkes



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zu studieren in der Lage ist. Was heißt es, auf den Berg führen? Es heißt nichts anderes als, in den Mysterientempel hineingeführt werden, wo man durch Anschauen, durch mystisches Anschauen die unmittelbare Überzeugung schöpfen kann von der Ewigkeit der Menschenseele, von der Wirklichkeit des geistigen Daseins.

Diese drei Jünger hatten eine noch höhere Erkenntnis als die anderen durch ihren Meister zu gewinnen. Sie hatten vor allen Dingen hier auf dem Berge die Überzeugung zu gewinnen, daß der Christus wirklich war das lebendige, das Fleisch gewordene Wort. Deshalb zeigt er sich in seiner Geistigkeit, in jener Geistigkeit, welche erhaben ist über Raum und Zeit; in jener Geistigkeit, für welche es kein Vorher und kein Nachher gibt, in der alles Gegenwart ist. Auch das Vergangene ist Gegenwart. Da ist das Vergangene wesenhaft, als Elias und Moses neben der Gegenwart des Jesus erschienen. Und jetzt glauben die Jünger an den Gottesgeist. Aber sie sagen: Es steht doch geschrieben, daß, bevor der Christus kommt, noch der Elias kommt und ihn vorher verkündigt. Und nun lesen Sie das Evangelium. Es sind wirklich die Worte, welche auf das folgen, was ich erzählt habe. Sie sind im höchsten Grade bedeutend: «Elias ist gekommen, aber sie haben ihn nicht erkannt, und sie haben mit ihm gemacht, was sie mit ihm haben machen wollen.» —«Elias ist gekommen», halten wir die Worte fest. Und dann heißt es weiter: «Da merkten die Jünger, daß er von Johannes dem Täufer geredet hatte.» Und Jesus hatte vorher gesagt: «Teilet niemandem mit, was ihr heute erfahren habt, bevor der Menschensohn auferstanden ist.» In ein Mysterium sind wir geführt. Drei Jünger hat der Christus nur für würdig gehalten, dieses Mysterium zu erfahren. Und welches ist dieses Mysterium? Mitgeteilt hat er, daß der Johannes der reinkarnierte Elias ist.



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Die Wiederverkörperung wurde zu allen Zeiten gelehrt innerhalb der Mysterientempel. Und keine andere als diese okkulte theosophische Lehre hat der Christus seinen vertrauten Jüngern mitgeteilt. Sie sollten sie kennenlernen, diese Reinkarnationslehre. Aber gewinnen sollten sie auch das lebendige Wort, das aus ihrem Munde kommen muß, wenn es belebt und durchgeistigt ist von dieser Überzeugung, bis ein anderes eingetreten ist. Erst sollten sie die unmittelbare Überzeugung haben, daß der Geist auferstanden ist. Wenn sie dieses hinter sich haben, dann sollen sie hinausgehen in alle Welt und aus schlichten Herzen die Funken schlagen, die in ihnen angezündet worden sind. Das war eine der Einweihungen, das war eines der Gleichnisse, die der Christus seinen Vertrauten gegeben und ausgelegt hat.

Hören wir ein anderes. Auch das Abendmahl ist nichts anderes als eine Einweihung, eine Einweihung in die tiefste Bedeutung der ganzen christlichen Lehre. Wer das Abendmahl in seiner wahren Bedeutung versteht, der erst versteht die christliche Lehre in ihrer Geistigkeit und in ihrer Wahrheit. Gewagt ist es, diese Lehre auszusprechen, die ich Ihnen jetzt vortragen will, und ich weiß wohl, daß sie Angriffe erfahren kann von allen Seiten, weil sie dem Buchstaben widerspricht. Der Buchstabe tötet, der Geist macht lebendig. Nur mühsam kann man sich hinaufringen zu der Einsicht von der wahren Bedeutung des Abendmahls. Nicht im einzelnen hören Sie darüber heute, aber andeuten lassen Sie mich, was dieses zu den tiefsten Mysterien des Christentums Gehörige eigentlich bezeichnet. Der Christus versammelt seine Apostel, um mit ihnen die Einsetzung des unblutigen Opfers zu feiern. Das wollen wir verstehen.

Um uns einen Weg zu bahnen, dieses Ereignis zu verstehen, lassen Sie uns einmal auf eine andere, wenig beachtete



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Tatsache zurückkommen, die uns zeigen soll, wie wir das Abendmahl aufzufassen haben. Wir hören im Evangelium, daß der Christus vorbeikam an einem Blindgeborenen. Und die um ihn waren, die fragten: «Hat dieser gesündigt oder seine Eltern, daß er blind geboren ist zur Strafe?» Der Christus antwortete: «Nicht dieser selbst hat gesündigt und auch nicht seine Eltern, aber er ist blind geboren, damit die Werke der Gottheit offenbar werden», oder noch besser, «damit die göttliche Art, die Welt zu regieren, offenbar werde». Also, es wird mit den Worten «in der göttlichen Art die Welt zu regieren» begründet, daß dieser blind geboren ist. Da er nicht gesündigt hat in diesem Leben und seine Eltern auch nicht, so muß der Grund woanders gesucht werden. Wir können nicht stehenbleiben bei der einzelnen Persönlichkeit und nicht bei den Eltern und Voreltern, sondern wir müssen uns das Innere der Seele des Blindgeborenen ewig denken, wir müssen uns dazu verstehen, die Ursache in den vorher existierenden Seelen zu suchen, die Seelen, die die Wirkung erfahren haben eines früheren Lebens. Das, was wir Karma nennen, ist hier angedeutet, nicht ausgesprochen. Und gleich werden wir hören, warum solches nicht ausgesprochen ist. Daß die Sünden der Väter gerächt werden an den Kindern und Kindeskindern, das ist eine Lehre bei denjenigen, in welche der Christus hineinversetzt worden ist. Die Sünden der Väter werden an Kindern und Kindeskindern gesühnt. Das ist eine Lehre, die nicht stimmt zu der Anschauung, die der Christus gegenüber dem Blindgeborenen ausgesprochen hat. Hält man an der Lehre fest, daß es nur Sünde der Väter sein könne, daß es nur innerhalb der physischen Welt Schuld und Sühne gibt, dann müßte er leiden für das, was seine Väter begangen haben.

Das zeigt uns, daß der Christus die Seinen hinaufhebt zu



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einem ganz neuen Begriff von Schuld und Sühne, zu einem Begriff, der nichts zu tun haben wollte mit dem, was in der physischen Welt vor sich geht, zu einem Begriff, der nicht in der realen, durch die Augen offenbaren Wirklichkeit seine Geltung haben kann. Den alten Sündenbegriff, den wollte Christus bei den Seinen überwinden, den Begriff, der sich an die physische Vererbung und an die physische Tatsächlichkeit heftet. Und war es nicht ein solcher Schuldbegriff, der sich an das Physisch-Tatsächliche hält, der den alten Opfern zugrunde lag? Gingen sie nicht hin, die Sünder, zu dem Altar und brachten ihre Sühnopfer dar, brachten sie nicht ein rein physisches Ereignis vor, um die Sünden abzustreifen? Die alten Opfer waren physische Tatsächlichkeiten. Aber in der physischen Tatsächlichkeit, das lehrte der Christus, kann Schuld und Sühne nicht gesucht werden. Deshalb kann selbst das Höchste, selbst der Gottesgeist, das lebendige Wort, der Tatsächlichkeit verfallen bis zum Tode, dem der Christus verfallen ist, ohne schuldig zu sein. Alles äußere Opfer kann sich nicht decken mit dem Begriff von Schuld und Sühne. Das Lamm Gottes war das Unschuldigste, es kann den Opfertod sterben.

Damit sollte auf dem Schauplatz der Geschichte vor aller Welt bezeugt werden, daß Schuld und Sühne nicht in der Tatsächlichkeit ihre Verkörperung hat, nicht in der physischen Tatsächlichkeit existieren kann, sondern auf einem höheren Gebiete, auf dem Gebiete des geistigen Lebens zu suchen ist. Wenn der Schuldige nur im physischen Leben der tatsächlichen Strafe verfallen könnte, wenn der Schuldige nur Opfer zu bringen brauchte, dann müßte nicht das unschuldige Lamm am Kreuze sterben. Damit Menschen erlöst werden von dem Glauben, daß in äußerer Tatsächlichkeit Schuld und Sühne gefunden werde, daß sie eine Folge der äußerlich vererbten Sünde sein soll, darum nahm der



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Christus das Opfer des Kreuzes auf sich. Und so ist er wirklich für den Glauben aller Menschen gestorben, um ein Zeugnis dafür zu geben, daß nicht im physischen Bewußtsein das Bewußtsein für Schuld und Sühne zu suchen ist. Darum sollten sich alle daran erinnern: Selbst das Opfer am Kreuze ist nicht dasjenige, worauf es ankommt, sondern dann, wenn sich der Mensch erhebt über Schuld und Sühne, um Ursache und Wirkung für seine Taten auf dem Gebiete des Geistigen zu suchen, dann hat er erst die Wahrheit erreicht.

Deshalb ist das letzte Opfer, das unblutige Opfer, zugleich auch der Beweis von der Unmöglichkeit des äußeren Opfers, so daß das unblutige Opfer eingesetzt wird, so daß der Mensch Schuld und Sühne, das Bewußtsein von dem Zusammenhang seiner Taten, auf geistigem Gebiete zu suchen hat. Das soll im Gedächtnis bleiben. Deshalb soll nicht der Opfertod als dasjenige angesehen werden, auf das es ankommt, sondern an die Stelle des blutigen Opfers soll das unblutige, das geistige Opfer, das Abendmahl treten als Symbol dafür, daß auf dem geistigen Felde Schuld und Sühne für menschliche Taten leben. Dies ist aber die theosophische Lehre vom Karma, daß alles dasjenige, was der Mensch irgendwie in seinen Handlungen verursacht hat, seine Wirkungen nach sich zieht durch rein geistige Gesetze, daß Karma nichts zu tun hat mit physischer Vererbung. Dafür ist ein äußeres Zeichen das unblutige Opfer, das Abendmahl.

Aber nicht in Worten ausgesprochen liegt im christlichen Bekenntnis dieses, daß das Abendmahl das Symbol für Karma ist. Das Christentum hatte eben eine andere Aufgabe. Ich habe sie bereits angedeutet. Karma und Reinkarnation, Schicksalsverkettung auf geistigem Gebiete und Wiederverkörperung der menschlichen Seele, das waren



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tiefe esoterische Wahrheiten, die im Inneren der esoterischen Tempel gelehrt worden sind. Sie hat Christus, wie alle großen Lehrer, die Seinen im Inneren der Tempel gelehrt. Dann aber sollten sie hinausgehen in alle Welt, nachdem in ihnen entzündet war die Kraft und das Feuer des Gottes, damit auch diejenigen, die nicht schauen, doch glauben konnten und selig werden.

Deshalb rief er die Seinen noch zusammen, gleich am Anfang, um ihnen zu sagen, daß sie nicht allein Lehrer im Reiche des Geistes sind, sondern daß sie etwas anderes sein sollen. Und das ist der tiefere Sinn der ersten Worte der Bergpredigt: «Selig sind, die da Bettler sind um Geist, denn sie finden in sich selbst die Reiche der Himmel.» Nur so ist es zu verstehen, wenn richtig übersetzt ist, wie es möglich ist, aus dem lebendigen Anschauen zur Erkenntnis zu kommen. Jetzt aber sollen die, die da Bettler sind um Geist, durch ihr schlichtes Herz die Wege zum Reiche im Geiste, im Himmel finden.

Nicht sollten die Apostel draußen reden von den höchsten Erkenntnissen; in schlichte Worte sollten sie diese Erkenntnis kleiden. Aber sie selbst sollten vollkommen sein. Deshalb sehen wir diejenigen, welche Träger sein sollten des Wortes Gottes, eine wahrhafte Theosophie lehren, eine wahrhafte theosophische Lehre ausgeben. Nehmen Sie und verstehen Sie die Worte des Paulus, verstehen Sie die Worte des Dionysios des Areopagiten und dann des Scotus Erigena, der in seinem Buche «Über die Einteilung der Natur» die Siebenteilung des Menschen lehrte wie alle Theosophen, dann werden Sie wissen, daß deren Auslegung des Christentums dieselbe war, welche ihm die Theosophie heute angedeihen läßt. Nichts anderes als das, was die christlichen Lehrer in den ersten Jahrhunderten gelehrt haben, das will die Theosophie wieder an den Tag bringen. Dienen will sie



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der christlichen Botschaft, auslegen will sie sie im Geiste und in der Wahrheit. Das ist die Aufgabe der Theosophie gegenüber dem Christentum. Nicht das Christentum zu überwinden, sondern es in seiner Wahrheit zu erkennen, dazu ist die Theosophie da.

Und Sie brauchen nichts anderes, als das Christentum in seiner Wahrheit zu verstehen, dann haben Sie die Theosophie in ihrem vollen Umfange. Zu einer anderen Religion brauchen Sie nicht zu gehen. Sie können Christen bleiben und brauchen nichts anderes zu tun, als was wirkliche christliche Lehrer getan haben: nämlich hinaufzusteigen, um die geistigen Tiefen des Christentums auszuschöpfen. Dann sind auch diejenigen Theologen widerlegt, die den Glauben hegen, daß die Theosophie eine buddhistische Lehre sei, aber es ist widerlegt auch der Glaube, daß man die tiefen Lehren des Christentums nicht durch Hinaufsteigen in die Höhen, sondern durch Herunterziehen in die Tiefen erkennen soll. Theosophie kann nur zu dem immer besseren Begreifen des Mysteriums der Fleischwerdung führen, um dann zu verstehen das Wort, das, trotz aller rationalistischen Ableugnungsversuche, in der Bibel liegt. Wer sich in die Bibel versenkt, der kann sich nicht zu dem Rationalismus, nicht zu David Friedrich Strauß und nicht zu seinen Nachbetern bekennen. Er kann sich einzig und allein zu dem Worte bekennen, welches Goethe ausgesprochen {hat,} der in diesen Dingen tiefer sah als mancher andere. Er sagt: Die Bibel bleibt doch das Buch der Bücher, das Weltbuch, welches gehörig verstanden, zum christlichen Erziehungsmittel der Menschheit werden muß in der Hand nicht der naseweisen, sondern der weisen Menschen.

Eine Dienerin des Wortes ist in dieser Beziehung die Theosophie, und sie will hervorbringen den Geist, der willig ist, hinaufzusteigen dahin, wo der Stifter des Christentums



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gestanden hat; zu erzeugen jenen Geist, der nicht bloß menschliche, sondern der kosmische Bedeutung hat, jenen Geist, der Verständnis hatte nicht allein für das schlichte Menschenherz, das sich im Alltäglichen bewegt, sondern der gerade deshalb für das Menschenherz ein so tiefes Verständnis hatte, weil sein Blick in die Tiefen der Weltgeheimnisse drang. Es gibt kein besseres Wort, das zu zeigen, als ein Wort, das zwar nicht in unseren Evangelien steht, aber in anderer Weise überliefert wurde. Jesus kam mit seinen Jüngern an einem toten Hunde vorbei, der schon in Fäulnis übergegangen war. Da wendeten sich die Jünger ab. Aber Jesus sah mit Wohlgefallen das Tier an und bewunderte seine schönen Zähne. Paradox mag das Gleichnis sein, zum tieferen Verständnis der Wesenheit Christi führt es uns aber. Es ist ein Zeugnis, daß der Mensch das Wort lebendig in sich fühlt, wenn er an keinem Ding der Welt ohne Verständnis vorbeigeht, wenn er sich zu vertiefen und zu versenken weiß in alles, was da ist, und selbst an scheinbar Ekelhaftem nicht vorbeigehen kann, ohne Duldsamkeit, ohne Verständnis zu üben; das Verständnis, welches uns hineinsehen läßt in das Kleinste und uns erhebt zu dem Höchsten, das Verständnis für den Blick, dem nichts verborgen ist, der an nichts vorübergeht, der alles an sich herankommen läßt in vollkommener Duldsamkeit, der in seinem Herzen die Überzeugung trägt, daß wahrhaft alles, was da ist, «Fleisch von unserem Fleisch, Blut von unserem Blut» in irgendeiner Form ist: Wer zu diesem Verständnis sich hindurchgerungen hat, der erst weiß und versteht, was es heißt: der lebendige Gottesgeist war verwirklicht in einer einzigen Person, der lebendige Gottesgeist, aus dem alle Welt gemacht ist.

Das ist der Sinn, den der Theosoph wieder beleben will. Jener Sinn, der übrigens in verflossenen Jahrhunderten



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keineswegs ganz ausgestorben war, jener Sinn, der nicht von dem Durchschnittsverstande, von einem untergeordneten Standpunkte aus den Maßstab sucht für das Höchste, sondern der vor allen Dingen sich selbst zu erhöhen sucht, der in sich zu steigern sucht, auszubilden sucht die höchsten Erkenntnisse, weil er der Überzeugung ist: wenn er sich selbst gereinigt, vergeistigt hat, neige der Geist sich zu ihm hinab. «Wird Christus tausendmal in Bethlehem geboren und nicht in dir, du bleibst noch ewiglich verloren.» Das sagte der große Mystiker Angelus Silesius. Derselbe wußte auch, was eine Lehre bedeutet, wenn sie höchste Erkenntnis, wenn sie Leben wird. Zu Nikodemus sagte Jesus: Wer wiedergeboren ist, wer von oben geboren ist, der spricht das, was er sagt, nicht mehr nur aus der menschlichen Erfahrung heraus, er spricht es «von oben» her aus. — Er spricht Worte, wie sie Angelus Silesius gesprochen hat am Schlusse des «Cherubinischen Wandersmann»: «Im Fall du mehr willst lesen, so geh' und werde selbst die Schrift und selbst das Wesen.»

Das ist die Anforderung, die derjenige stellt, aus dem der Geist spricht. Nicht ihn soll man hören, nicht auf seine Worte nur hören, sondern in sich anklingen lassen dasjenige, was aus ihm spricht.

Zu solchem Worte, zu solch froher Botschaft hat Jesus diejenigen auserkoren, die da sagten: Was von Anbeginn gewesen ist, das ewige Weltgesetz, was wir mit eigenen Augen gesehen, mit Händen gefühlt haben von dem Worte des Lebens, das künden wir euch. —Er war es, der ein einzelner Mensch war, und der zu gleicher Zeit lebte in dem Worte der Jünger.

Aber eines hat er noch gesagt, dessen müssen sich vor allen Dingen Theosophen bewußt sein, daß er nicht bloß da war in der Zeit, in der er gelehrt und gelebt hat, sondern



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das bedeutungsvolle Wort ist uns überliefert: «Ich bleibe bei euch alle Tage bis an das Ende der Welt.» Und die Theosophie weiß, daß er bei uns ist, daß er heute so wie damals unsere Worte prägen, unsere Worte beflügeln kann, daß er heute wie damals uns auch führen kann, daß unsere Worte das aussprechen, was er selbst ist. Eines aber will die Theosophie verhindern. Sie will verhindern, daß gesagt werden muß: Er ist gekommen, er ist da, sie haben ihn aber nicht erkannt. Die Menschen haben mit ihm machen wollen, was in ihrem Belieben steht. —Nein, an seine eigenen Quellen will der Theosoph gehen. Die Theosophie soll geistig erheben zur Geistigkeit, damit die Menschen erkennen, daß er da ist, damit sie wissen, wo sie ihn zu finden haben, und damit sie hören das lebendige Wort dessen, der da gesagt hat:

«Ich bin bei euch alle Tage bis ans Ende der Welt.»