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RUDOLF STEINER Spirituelle Seelenlehre und Weltbetrachtung

Achtzehn öffentliche Vorträge gehalten zwischen dem 6. September 1903 und dem 8. Dezember 1904 im Architektenhaus und im Vereinshaus zu Berlin

1986 RUDOLF STEINER VERLAG DORNACH/SCHWEIZ

DER URSPRUNG DER SEELE

Berlin,3. Oktober 1903

Wer heute über das Wesen der Seele spricht, setzt sich von zwei Seiten Mißverständnissen und Angriffen aus. Vor allen Dingen wird der Theosoph, der von seinem Standpunkt, also vom Standpunkte des Wissens und des Erkennens aus spricht, diese Angriffe erfahren von der offiziellen Seite der Wissenschaft aus, andererseits aber auch von den Anhängern der verschiedenen Religionsbekenntnisse.

Die Wissenschaft will heute wenig von der Seele wissen, selbst jene Wissenschaft nicht, die ihren Namen von der Seele trägt, die Psychologie oder Seelenkunde. Selbst die Psychologen möchten am liebsten ganz absehen von dem, was man eigentlich die Seele nennt. So konnte man das Schlagwort prägen: Seelenkunde ohne Seele. — Die Seele soll etwas so Fragwürdiges, etwas so Unbestimmtes sein, daß man einfach zum Beispiel nur die Erscheinung verschiedener Vorstellungen untersucht, wie man einen Naturvorgang auch untersucht; aber man will nichts wissen von der Seele selbst. Die heutige Naturwissenschaft kann unmöglich so etwas annehmen wie eine Seele. Sie sagt, die menschlichen Vorstellungen unterliegen ebenso den Naturgesetzen wie alles andere in der Natur, der Mensch sei nichts anderes als ein höhergeartetes Naturprodukt. So sollen wir nicht fragen, was die Seele sei. Dabei beruft man sich auf Goethes Wort:


Nach ewigen, ehrnen, Großen Gesetzen Müssen wir alle



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Unseres Daseins Kreise vollenden.

Wie der Stein sich bewegt, der ins Rollen kommt, so muß der Mensch sich entwickeln nach ewigen Gesetzen. — Dem stehen auf der anderen Seite die Religionsbekenntnisse gegenüber, die sich auf Tradition und Offenbarung stützen.

Die Theosophie steht weder der Religion noch der Wissenschaft feindlich gegenüber. Sie will gleich den Forschern durch Erkenntnis zur Wahrheit kommen, und sie bestreitet nicht die Grundwahrheiten der Religionsbekenntnisse.

Wenig verstanden werden diese Grundwahrheiten oft von denen, die die Religionsbekenntnisse vertreten. Ursprüngliche, ewige Wahrheiten liegen allen Religionen zugrunde. Daraus haben sich die heute bestehenden Bekenntnisse entwickelt. Sie sind dann aber überwuchert worden von späteren Zutaten. Ihre tiefere Wahrheit ist ihnen verlorengegangen. Der Wahrheitskern liegt hinter ihnen. Die Wissenschaft aber ist noch nicht so weit gediehen, daß sie von der Materie zum Geiste aufgestiegen ist. Noch ist sie nicht so weit, daß sie ihre Forschung mit demselben Eifer an dem Geistigen betätigt, wie sie es den Naturerscheinungen gegenüber tut. Der Wahrheitskern der Wissenschaft liegt in der Zukunft. So ist diese höhere Wahrheit der Religion verlorengegangen und von der Wissenschaft noch nicht gefunden worden. Zwischen ihnen steht heute die Theosophie. Sie greift zurück in die Vergangenheit, auf das Verlorene, und sie sucht in der Zukunft zu erforschen, was noch nicht gefunden ist. Dafür erntet sie Angriffe von beiden Seiten. Die Gewohnheiten und die äußeren Sitten sind heute verschieden von denen der früheren Zeiten, aber trotz der vielgepriesenen Toleranz der heutigen Zeit wird noch immer versucht, denjenigen einzuschüchtern, der eine unbequeme Meinung vertritt. Derjenige, der heute ebenso von



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der Seele spricht, wie der Naturforscher von den äußeren Tatsachen, wird zwar nicht mehr verbrannt, aber es finden sich heute ebenso Mittel, um ihn zu bedrängen und zu unterdrücken.

Und doch bietet sich dem Blick in die Zukunft ein gewisser Trost, wenn wir die heutigen Verhältnisse an den Ereignissen der Vergangenheit messen. Als im 17. Jahrhundert der italienische Forscher Redi die Behauptung aufstellte, daß die niederen Lebewesen nicht ohne weiteres aus Leblosem hervorgingen, entging er nur mit Mühe und Not dem Schicksal Giordano Brunos. Damals war man allgemein der Ansicht, daß sich die niederen Lebewesen aus Unorganischem entwickelten. Heute ist die Ansicht Redis allgemein gültig, und derjenige, der den Satz leugnete: Nichts Lebendiges aus Nichtlebendigem —, würde für rückständig gelten. Allgemein gilt heute der Satz Virchows: Nur Leben aus Leben. —Doch der Satz: Seelisches nur aus Seelischem — findet heute noch keinen Glauben. Doch wie die Erkenntnis fortgeschritten ist zu der Einsicht, daß Lebendes nur aus Lebendem entstehen könne, so wird einst die Wissenschaft den Satz übernehmen: Nichts Seelisches aus Seelenlosem. —Dann wird man auf die beschränkte Wissenschaft unserer Tage ebenso herabsehen, wie es heute in Hinsicht auf die Meinung der Zeitgenossen Redis geschieht. Wir stehen ja heute in bezug auf die Seele auf demselben Standpunkt wie die Naturwissenschafter des 17. Jahrhunderts in bezug auf das Lebendige. Nach dieser heutigen Ansicht soll sich das Geistige aus dem bloß Lebendigen herausentwickeln; aus dem Tierwesen soll das Seelische ohne weiteres hervorgehen. Mit mitleidigem Lächeln wird man in späteren Zeiten auf diese Ansicht herabsehen, wie man heute die Ansicht belächelt, daß Lebendiges aus Leblosem hervorgehe.



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Die Seele ist nicht erwachsen aus dem Urgrund des nur Lebendigen, die Seele ist hervorgegangen aus Geistigem. Und wie das Leben nur die Form des Tieres ergreift, um sich darzustellen, so hat einstmals das Seelische die tierische Form ergriffen, um sich auszubreiten. Unser Wissen ist eingewoben in den Strom des äußeren Tatsächlichen, und wir vergessen darüber, was uns am meisten beschäftigen sollte. Das Seelische steht uns unendlich nahe. Wir sind es selbst. Wenn wir in uns hineinblicken, sehen wir das Seelische. Das begreifen die Menschen so schwer. Unsere Beobachtung richtet sich überwiegend auf das, was außer uns ist. Aber: was wir draußen erblicken, sollte es uns näher sein als das, was wir selbst sind? Klar sind sich heute die Menschen über die äußere Forschung, fremd sind sie sich selbst gegenüber. Wie kommt es, daß die Menschen so leicht die Wahrheiten der äußeren Forschung begreifen und das übersehen, was ihnen am nächsten ist? Die Seele ist ihnen doch weit vertrauter und näher. Jede Naturerscheinung muß erst den Weg durch die Sinne nehmen. Diese ändern und fälschen oft das Bild. Der Farbenblinde sieht die Farben ganz anders, als sie wirklich sind. Und abgesehen von so exzeptionellen Erscheinungen wissen wir, daß alle Augen verschieden sind; nicht zwei Menschen sehen die Farben in den ganz gleichen Nuancen. Je nach dem Auge des Sehenden, nach dem Ohre des Hörenden, sind die Eindrücke verschieden. Das Seelische aber sind wir selbst; wir sind in jedem Augenblicke imstande, es zu suchen. Es ist eigentümlich, daß auf dieser Erkenntnis: wieviel näher uns unser Seelisches berührt als alles, was außer uns ist, der Einfluß eines großen Dichters hauptsächlich beruht. Tolstojs Pathos gründet sich auf diese ihn erschütternde Erkenntnis. Aus dieser Anschauung führt er den Kampf gegen Kultur, Moden und Launen.



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Wir sehen nur deshalb unsere Seele nicht, weil wir uns gewöhnt haben, sie nicht in ihrer eigenen Gestalt zu betrachten. Unser Glaube wird heute gestärkt für das Materielle, während unsere Denkgewohnheiten heute stumpf geworden sind für das Seelische. Und selbst diejenigen, die nicht an Religionsbekenntnissen hängen, machen sich das Forschen bequem. Zu ihrer Rechtfertigung wird mit Vorliebe Goethe zitiert. Man solle nur möglichst wenig denken und forschen. «Gefühl ist alles; Name ist Schall und Rauch.» Mit diesem Goethe-Worte will man die Gründe der Seelenforscher zu Paaren treiben. Jeder soll alles in seinem Gefühl finden; in einer Unklarheit, einem darüber Hinweggehen glaubt man sich erhalten zu müssen. Eine Art von lyrischer Betrachtungsweise scheint man dem Seelischen gegenüber für am geeignetsten zu halten. Weil jeder der Seele so nahe ist, glaubt jeder alles aus dem Gefühl heraus verstehen zu können. —Sollten es wirklich Goethes eigene Anschauungen sein, die er Faust in diesen Worten aussprechen läßt? Dem Dramatiker muß das Recht zustehen, seine Personen aus der Situation heraus sprechen zu lassen. Und wenn diese Worte, die Faust dem kindlichen Gretchen gegenüber anwendet, sein Glaubensbekenntnis sein sollten, würde dann Goethe erst den Faust alle Weisheit der Welt durchforschen lassen? «Habe nun, ach! Philosophie» und so weiter. Es wäre eine merkwürdige Verleugnung seines Forschens, seiner Zweifelsucht. Wenn wir uns der Seele gegenüber mit lauter unklaren Gefühlen abfinden wollten, glichen wir dann nicht einem Maler, der auf seinem Bilde keine klaren Umrisse, kein Abbild dessen böte, was er draußen erschaut hat, sondern sich damit begnügte, nur sein Gefühl auszudrücken? Nein, die Seele läßt sich nicht aus unbestimmtem Gefühl erklären.

Die Theosophie will echte wissenschaftliche Weisheit verkünden



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und wendet sich dabei ebensowenig ausschließlich an das Gefühl, wie die Wissenschaft es tut, wenn sie die Elektrizität darstellt. Nicht in gefühlsschwelgerischer Weise sucht die Theosophie das Erkennen des Seelischen zu fördern. Nein, sie wendet sich an aufrichtiges Erkenntnisstreben. Wer versucht, seine eigene Seele zu erforschen, den führt sie zu denen, die zu Füßen der Meister gesessen haben.

Seitdem die Theosophische Gesellschaft im Jahre 1875 gegründet wurde, hat sie echte Seelenwissenschaft gepflegt. Sie will die Menschen lehren, die Seele zu schauen. Jeder will heute über die Seele und den Geist reden, ohne sich ernstlich darum bemüht zu haben, sie zu erkennen, will hinweggleiten über die Schwierigkeiten, die sich in den Weg stellen, und die dilettantischsten Bestrebungen machen sich breit. Theosophie will denen helfen, die lechzen nach seelischer Weisheit, und will die Seelenkunde ebenso ernst betreiben, wie man die Natur wissenschaftlich erforscht. Das sind die Schwierigkeiten, die sich dem Seelenforscher entgegenstellen, daß heute, wo jedem verboten ist, über die Naturwissenschaften zu reden, der nicht Naturwissenschaft studiert hat, doch ein jeder über Seelisches redet, der nicht die Seele erforscht hat.

Freilich ist da die Methode des Forschens eine ganz andere. Der Naturwissenschafter arbeitet mit physikalischen Apparaten. Damit dringt er immer tiefer ein in die Geheimnisse der uns umgebenden Natur. Für die Seelenforschung gilt das Wort, daß sich die Geheimnisse nicht mit Hebeln und mit Schrauben erschließen lassen. Je mehr sich das Feld der Beobachtung erweitert, desto mehr kann die Naturwissenschaft fortschreiten. Es bedarf zu diesen Beobachtungen nur des gewöhnlichen gesunden Menschenverstandes. Aber das, was der Forscher im Laboratorium an



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Verstand anwendet, ist nichts wesentlich anderes als das, was im kaufmännischen oder technischen Betriebe auch erforderlich ist, es ist nur etwas komplizierter, ist aber kein anderes Verfahren.

Die geistige Wahrheit hat es nicht allein mit dem gesunden Menschenverstande zu tun, sie wendet sich an andere Kräfte, die in der Tiefe der menschlichen Seele ruhen. Sie erfordert eine Entwickelung des Erkenntnisvermögens. Die Möglichkeit dieser Entwickelung war immer vorhanden. Auf sie führt der Ursprung aller Religionen zurück. Was Buddha, was Konfuzius, was alle die großen Stifter der verschiedenen Religionen lehrten, führt auf diese tiefere geistige Wahrheit zurück. In dem Augenblick, wo die Menschenrasse so da war, wie sie ähnlich jetzt noch besteht, war auch die Seele da, und sie konnte erforscht werden durch Entwickelung des Erkenntnisvermögens. Weniger notwendig war es dabei, das Wissen zu erweitern, als das innere Erkennen zu entwickeln, um zu sehen, was in der Seele ruht. Auf dem Gebiete der äußeren Wissenschaften hängt jeder ab von der Zeit, in der er lebt. Aristoteles, der große Gelehrte des Altertums, konnte im 4. Jahrhundert vor Christus manche naturwissenschaftliche Beobachtungen noch gar nicht machen, die erst heute durch die Hilfsmittel der modernen Naturwissenschaft möglich sind. Aber die Seele war immer ganz da, und man steht heute dieser Erkenntnis nur dadurch ferner als unsere Vorfahren im grauen Altertum, daß man die eigene Seele nicht erforschen will. Diesen guten Willen zu entwickeln, ist die Theosophische Gesellschaft da. Sie tut damit nichts Neues. Das ist vielmehr zu allen Zeiten geschehen. Aber wie es leichter ist, das zu erforschen, was sich uns körperlich darstellt, so sind auch Seele und Geist schwerer zu erkennen und nicht so leicht zugänglich und jedem handgreiflich. Aber schon



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im grauen Altertum haben die Menschen diese Vielgestaltigkeit, die Vielgliederung der Seele beobachtet.

Was ist die Seele? Solange wir glauben, daß die Seele etwas ist, was im Körper nur wohnt und ihn dann wieder verläßt, können wir zu einer Erkenntnis der Seele nicht kommen. Nein, sie ist etwas, das in uns tätig ist und lebt und alle Verrichtungen des Körpers durchdringt. In der Bewegung, in der Atmung, in der Verdauung lebt sie. Aber sie ist nicht gleichmäßig in all unserem Tun darin.

Wir sind aus einer kleinen Zelle hervorgegangen, wie die Pflanze aus dem Samenkorn. Und wie die Pflanze sich aufbaut aus den organischen Kräften, aus dem Keim, so entwickelt sich auch der Mensch aus organischen Kräften, aus der kleinen Keimzelle. Er bildet die Organe seines Körpers, wie die Pflanze ihre Blätter und Blüten bildet, und es ist das Wachsen des Menschen gleich dem der Pflanze. Deshalb sprachen die alten Forscher auch den Pflanzen eine Seele zu. Sie sprachen von der Pflanzenseele. Und sie fanden, daß den Menschen diese Tätigkeit des Aufbauens der Organe mit allen Pflanzenwesen gemeinsam sei. Das, was im Menschen all die Organe aufbaut, ist etwas, was der Pflanzenseele entspricht. Sie nannten es die vegetative Seele und sahen durch sie den Menschen verwandt mit der Natur, mit allem Organischen. Das erste, was den Menschen bildet, ist Pflanzenartiges. Daher betrachtete man die Pflanzenseele als die erste Stufe des Seelischen. Sie schuf den menschlichen Organismus. Sie hat unseren Leib mit seinen Gliedern, mit Augen, Ohren, Muskeln, sie hatte unseren ganzen Körper aufgebaut. In alldem was das Wachsen, den Aufbau unseres Körpers betrifft, gleichen wir der Pflanze, wie jedes organische Wesen.

Wenn wir aber nur die Pflanzenseele hätten, würden wir es nicht über das bloß organische Leben hinausbringen. Aber



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wir besitzen die Fähigkeit des Wahrnehmens, des Empfindens. Wir erleiden Schmerz, wenn wir eines unserer Glieder mit einer Nadel durchbohren, während die Pflanze von einer Durchbohrung, etwa eines Blattes unberührt bleibt. Es weist dies auf den zweiten Grad des Seelischen hin, auf die animalische Seele. Sie gibt uns das Empfindungs-, Begehrungs-, das Bewegungsvermögen, das, was wir mit dem ganzen Reiche des Tierischen teilen und deshalb Tierseele nennen. Dadurch ist uns die Möglichkeit gegeben, nicht nur pflanzengleich zu wachsen, sondern zum Spiegel für das ganze Weltall zu werden. Mit der vegetativen Seele kommt das Aufnehmen der Stoffe, die den Organismus bilden, mit der animalischen Seele das Aufnehmen des untergeordneten Seelenlebens. Aus Lust und Schmerz baut sich das Empfindungsleben auf. Wie unsere vegetative Seele nicht Organe ausbilden könnte, wenn es nicht in der Welt Stoffe um uns gäbe, ebenso kann die animalische Seele das Empfinden, das Begehren nur aus der Welt des Begierdenhaften, des Triebhaften um uns schöpfen. Wie ohne die Triebkraft des Keimes sich keine Pflanze aus ihrem Samen entwickeln könnte, ebensowenig könnte ein animalisches Wesen entstehen, wenn es nicht seine Organe mit Eindrücken erfüllen, wenn es nicht sein Leben mit Lust und Schmerz anfüllen könnte. Unsere vegetative Seele baut den organischen Leib aus der Welt des Stofflichen auf. Aus der Welt der Begierden, der Kamawelt oder dem Kamaloka, nimmt die animalische Seele die Begierdenstoffe in sich auf. Würde dem Körper die Fähigkeit, die Begierden in sich aufzunehmen, fehlen, dann würde Lust und Schmerz der Pflanzenseele ewig fernbleiben. Aus nichts wird nichts.

Die begierdenhafte Seele hat der Mensch mit dem Tiere gemeinsam. Die Naturforscher haben recht, auch dem Tiere die niederen seelischen Eigenschaften zuzuschreiben. Es handelt



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sich hierbei aber um eine Verschiedenheit des Grades. Die wunderbaren Einrichtungen des Bienen- und des Ameisenstaates, die Bauten der Biber, deren regelmäßige Anordnung komplizierten mathematischen Berechnungen entspricht, bringen hierfür den Beweis. Aber auch in anderer Weise steigert sich im Tiere die Seele bis zu etwas dem Ähnlichen, was wir im Menschen Vernunft nennen. Durch die Dressur können besonders bei unseren Haustieren Kunstfertigkeiten erweckt werden, wie sie der Mensch bewußt übt. Es ist dabei aber ein großer Abstand vorhanden; bei den niedersten Tierstufen ist nur ein dumpfes Gefühl des Empfindens, auf den entwickeltesten Stufen aber schon ein hoher Ansatz dessen vorhanden, was bei dem Menschen der Verstand ist.

Diese dritte Stufe des menschlichen Seelenlebens bildet nun die Verstandesseele. Wir würden steckenbleiben im Tierischen, wenn wir bloß eine animalische Seele hätten, wie wir bei einer nur vegetativen nicht über die Pflanze herausgekommen wären. Deswegen ist die Frage so wichtig: Unterscheidet sich der Mensch wirklich nicht von den höheren Tieren? Gibt es keinen Unterschied?

Wer sich diese Frage vorlegt und sie rückhaltlos prüft, der wird finden, daß des Menschen Geist doch hinausragt über alle Tiere. Wenn die Pythagoreer das Vorhandensein der höheren Seele bei den Menschen beweisen wollten, betonten sie, daß einzig den Menschen die Fähigkeit des Zählens gegeben sei. Und wenn sich auch bei gewissen Tieren etwas Ähnliches findet, so tritt doch hier der gewaltige Unterschied zwischen Tier und Mensch klar hervor, da wir es beim Menschen mit einer ursprünglichen Fähigkeit seiner Seelenorgane, beim Tier mit Dressur zu tun haben. Dadurch, daß der Mensch zählen kann, unterscheidet er sich von dem Tiere, aber auch dadurch, daß er hinausgeht über



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das, was das Tier erreichen kann, daß er hinausgeht über das unmittelbare Bedürfnis. Kein Tier geht hinaus über das nächstliegende unmittelbare Bedürfnis des Zeitlichen und des Vergänglichen. Kein Tier erhebt sich zu dem Wirklichen und Wahren, über die unmittelbare sinnliche Wahrheit hinaus. Der Satz: Zwei mal zwei ist vier —, muß unter allen Umständen gelten, mögen die vergänglichen Wahrheiten der Sinne auch unter anderen Verhältnissen ihre Gültigkeit verlieren. Mögen auf dem Planeten Mars Wesen welcher Art immer leben, mögen sie durch ihre Organe die Töne anders hören, die Farben anders wahrnehmen, die Richtigkeit der Rechnung zwei mal zwei ist vier müssen denkende Wesen auf allen Planeten gleichmäßig anerkennen. Was der Mensch aus seiner Seele gewinnt, gilt für alle Zeiten. Vor Jahrmillionen hat es gegolten und wird in Jahrmillionen gelten, weil es dem Unvergänglichen entstammt.

So ruht in unserem Vergänglichen, in dem Animalischen, das Unvergängliche, durch das wir Bürger der Ewigkeit sind. Wie die animalische Seele aus den Stoffen des Kama sich aufbaut, so baut aus dem Geistigen sich die höhere Geistseele auf.

Aus nichts wird nichts. Aristoteles, der Meister derer, die da wußten, der aber kein Eingeweihter, kein Initiierter war, er kommt da, wo er vom Geistigen spricht, zum Begriffe des Wunders. Er baut streng gesetzmäßig aus der Natur den Körper auf, aber er läßt durch ein Wunder des Schöpfers die Seele jedesmal aufs neue entstehen. Eine Schöpfung aus dem Nichts ist für Aristoteles die Seele. Eine Neuschöpfung ist jede Seele auch für das exoterische Christentum der späteren Jahrhunderte. Wir aber wollen das jedesmalige Wunder der Seelenschöpfung nicht annehmen. Wie der Ursprung der Organseele im Pflanzlichen, der Tierseele aus der Welt des Trieblebens sich ergeben hat, so muß



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die Geistseele, wenn nicht nichts aus dem Nichts entstehen soll, entstehen aus dem Geistigen der Welt. Und so werden wir zu dem Geistigen, zu dem Seelischen des Universums geführt, wie Giordano Bruno es ausdrückt in seinem Werk: Über die organischen Kräfte des Kosmos und über die seelischen Kräfte des Kosmos.

Warum haben wir nun jeder eine besondere Seele? Warum hat jede Seele ihre besonderen Eigenschaften? Die besonderen Eigenschaften der Tiere erklärt die Wissenschaft durch die natürliche Entwickelung von Art aus Art. Aber jede Tierart trägt noch Eigenschaften an sich, die auf ihre Entstehung aus anderen Tiergattungen hindeuten.

Die geistige Seele kann sich nur aus dem Individuell-Geistigen entwickeln. Und ebenso wie es niemandem einfallen würde zu glauben, daß ein Löwe direkt aus den kosmischen Kräften des Weltalls entstünde, ebenso absurd wäre es anzunehmen, daß die einzelne Seele sich aus dem allgemeinen geistigen Inhalt des Universums entwickelte, aus den geistigen Reservoiren des Kosmos. Die Theosophie steht da auf dem Boden, der ebenfalls einer naturwissenschaftlichen Anschauung entspricht. Wie die Naturwissenschaft Art aus Art, so läßt sie Seele aus Seele sich entwickeln. Auch sie läßt aus Untergeordnetem das Höhere hervorgehen. Aus der Allseele heraus entwickelt sich das Einzelseelische, wie das Tier sich aus dem allgemeinen Prinzip des Tierischen gebildet hat. Nach dem Prinzip des Seelischen entsteht Seele aus Seele. Jede Seele ist Ergebnis von Seelischem und ist selbst wieder Ursache von Seelischem. Aus dem ewigen Ursprung erhebt sich die Seele, die selbst ewig ist. Die Theosophie geht dabei zurück bis zu dem sogenannten dritten Menschengeschlecht, bei dessen Erscheinen das höhere Seelische erst als Einschlag in das Organische hervortreten konnte. Man nennt dieses Menschengeschlecht



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Lemurier. Vorher hatte das Seelische seine Wohnung im Tierischen. Denn auch die Tierwelt stammt aus Seelischem. Das Seelische hat sich des Tierischen erst bemächtigt, um seine Funktionen zu erfüllen. Von da aus wirkt es weiter von Seele zu Seele.

Erziehen heißt daher: dasjenige entwickeln, was als Individuelles im Menschen ruht. Diese in jedem Menschen ruhende höhere Seele zu erwecken, ist das erste Erziehungsprinzip. Bei den Tieren fällt das einzelne Tier mit dem Begriff der Gattung zusammen; ein Tiger ist dem anderen in allem Wesentlichen gleich. Kein Mensch kann aber mit der gleichen Berechtigung als dem anderen gleichartig bezeichnet werden. Jedes Menschen Seele ist verschieden von der des anderen. Um das Seelische im Menschen zu erwecken, muß auch die Erziehungskunst für jeden einzelnen verschieden sein. Und da die Erweckung der Seelenkräfte der Beginn aller Erziehung war, so mußten schon damals höhere Naturen da sein, als jene dritte Menschenrasse sich zu geistigem Leben erhob. Nicht aus Wildheit, nicht aus Ignoranz hat sich das Seelische entwickelt. Vor Jahrmillionen, als sich die Menschen erhoben aus dem bloß triebhaften Zustand, geschah das nicht durch sich selbst, sondern durch die großen Lehrer, die ihnen zur Seite standen.

Immer muß es große Lehrer geben, die hinausragen über die sie umgebende Menschheit, die sie hinaufziehen zu höherem Standpunkt. Auch heute gibt es Lehrer, die hinausragen über das Gegenwartswissen, die den Seelenkeim fortpflanzen. Woher diese Lehrer kommen, soll in einem weiteren Vortrage erörtert werden. Gewußt hat man zu allen Zeiten von diesen Leitern der Menschheit. Einer der hervorragendsten Philosophen, Schelling, der selbst kein Theosoph war, spricht in einem seiner vielfach mißverstandenen Werke auch von ihnen.



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Diese großen Lehrer, die da Auskunft geben können über das Geistige, die da Sachverständige in dem Seelischen sind, deren Weisheit ätherischer Art ist, seelisches Erkennen ist, sie haben die Menschheit gefördert und geleitet. Zu diesen Seelenforschern will die Theosophische Gesellschaft die Menschen wieder führen. In ihrer Mitte sind diese, die Auskunft geben können über das Wesen der Seele. Sie können nicht hervortreten in die Welt, sie können nicht sagen: Nehmt unsere Wahrheiten an —, denn die Menschen würden ihre Sprache nicht verstehen. Verborgen liegt den meisten die große Wahrheit. Hinzuführen die Menschen zu den Quellen der Weisheit, das ist die Aufgabe der Theosophischen Gesellschaft. In leuchtender Klarheit liegen diese Ziele vor uns.

Unsere Zeit hat es so herrlich weit gebracht, daß sie das Dasein der eigenen Seele leugnet. Dieser Zeit den Glauben an sich selbst zurückzugeben, ihr den Glauben an das Ewige und Unvergängliche in uns, an den göttlichen Wesenskern, neu zu beleben, das soll die Aufgabe unserer Bewegung sein.