nasreddin.arpa-docs.ch arpa presenation © arpa
Textbreite
Schriftgröße

LEONID SOLOWJOW


ZWÖLFTES KAPITEL



nasredin-135 arpa

»DAS GERICHT IST BEENDET, UND NUN IST meine Macht über euch ohne Grenzen«, sagte der Wucherer Dschafar zum Töpfer Nijas und seiner Tochter, als sie nach der Urteilsverkündung zu dritt den Markt verließen. »Seit ich dich zum erstenmal sah, schönes Kind, flohen mich Ruhe und Frieden. Enthülle mir schnell dein Antlitz. In einer Stunde wirst du mein Haus betreten. Zeigst du dich mir wohlgeneigt, so wird auch dein Vater eine leichte Arbeit und gute Kost bei mir haben. Erweisest du dich aber als widerspenstig, dann bekommt er nur rohe Bohnen und muß schwere Steine schleppen, das schwöre ich bei meinem Augenlicht. Dann verkaufe ich ihn an die Bewohner von Chiwa, die für die Grausamkeit bekannt sind, mit der sie ihre Sklaven behandeln. Sträube dich also nicht, schöne Güldschan, und zeige mir dein Antlitz!«

Mit gierigen, krallenhaften Fingern griff er nach ihrem Schleier. Zornig schleuderte sie seine Hand zurück. Güldschans Gesicht blieb nur einen Augenblick unverhüllt, doch dieser Augenblick genügte, daß Nasreddin, der just in dem Moment auf seinem Esel vorüberritt, einen Blick darauf werfen konnte. Das Mädchen war von so außergewöhnlicher Schönheit, daß Nasreddin blaß wurde. Vor seinen Augen verschwamm alles, sein Herz setzte aus, er schwankte im Sattel und bedeckte die Augen mit der Hand. Wie der Blitz traf die Liebe sein Herz.

Erst nach einer ganzen Weile kam er zur Besinnung.

»Nach dieser herrlichen Schönheit wagt der hin-



nasredin-136 arpa

kende, bucklige Affe seine Pfote auszustrecken«, rief er aus. »Warum mußte ich ihn gestern aus dem Wasser ziehen? Nun straft mich meine eigene Tat. Aber wir wollen erst mal sehen, du schmutziger Wucherer! Noch bist du nicht der Herr dieses Töpfers und seiner Tochter. Noch haben sie eine Stunde Zeit. Und Hodscha Nasreddin vollbringt in einer Stunde, was andere in einem Jahr nicht schaffen.«

Währenddessen hatte der Wucherer eine hölzerne Sonnenuhr aus der Tasche gezogen.

»Erwarte mich hier unter diesem Baum, Töpfer«, sagte er. »In einer Stunde bin ich zurück. Versuche nicht zu fliehen, ich würde dich selbst auf dem Meeresgrund finden und dich dann wie einen entlaufenen Sklaven behandeln. Und du, schöne Güldschan, denke über meine Worte nach. Das Schicksal deines Vaters hängt von dir ab.«

Und mit einem triumphierenden Lächeln auf dem gemeinen Gesicht ging er auf den Basar, um bei einem Juwelier für seine neue Sklavin Schmuck zu kaufen.

Der gramgebeugte Vater und seine Tochter blieben unter dem Baum am Straßenrand zurück.

Nasreddin trat zu ihnen.

»Ich habe von deinem Unglück gehört, Töpfer. Vielleicht kann ich dir helfen?«

»Nein, guter Mann«, antwortete der Töpfer verzweifelt, »ich sehe an deiner Kleidung, daß du über keine Reichtümer verfügst. Ich brauche aber vierhundert Tanga und habe keine so .reichen Bekannten, die mir



nasredin-137 arpa

helfen könnten. Alle meine Freunde sind durch die hohen Steuern und Abgaben ruiniert.«

»Ich habe auch keine reichen Freunde in Buchara«, sagte Nasreddin, »und doch will ich versuchen, die Summe aufzutreiben.«

»In einer Stunde willst du vierhundert Tanga aufbringen?« Der Greis schüttelte mit bitterem Lächeln den Kopf. »Du machst dich lustig über mich! Nur Nasreddin könnte das vollbringen!«

»Rette uns, o Pilger, rette uns!« rief Güldschan und umarmte ihren Vater. Nasreddin bemerkte, wie wohlgebildet ihre Hände waren, und fing durch den Schleier einen langen Blick ihrer feuchtglänzenden Augen auf, die sie flehend und voller Hoffnung auf ihn richtete. In glühenden Wellen strömte das Blut durch seine Adern.

»Erwarte mich hier, o Greis!« sagte er eilig. »Die ganze Welt soll mich verachten, wenn ich die vierhundert Tanga bis zur Rückkehr des Wucherers nicht aufgetrieben habe.«

Er sprang auf seinen Esel und verschwand im Gewühl des Basars.