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Kapitel 

ERZÄHLUNGEN AUS DEM WESTSUDAN

HERAUSGEGEBEN VON LEO FROBENIUS

1922

VERLEGT BEI EUGEN DIEDERICHS/JENA



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TITEL- UND EINBANDZEICHNUNG VON F.H. EHMCKE

MIT DREI TAFELN

112. Kinkirsi und Schakal

Ein Mann hatte einen kleinen Sohn. Der Mann hatte viel Korn gewonnen und seinen Speicher gut gefüllt. Als die schlechte Jahreszeit begann, entstand in der Gegend Hunger. Der Vater sagte



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zu seinem Jungen: "Ich will ausgehen, um ein wenig Arbeit zu suchen. Achte du derweilen auf den Speicher!" Der Vater ging.

Eines Tages kam ein kleiner Kinkirsi (Plural: kinkirsi damba; entspricht den Uoklo der Mande) zu dem Knaben und sagte: "Guten Tag." Der Junge sah den Kinkirsi an und sagte auch: "Guten Tag." Der Kinkirsi sagte: "Dein Vater, der zur Arbeit ausgegangen ist, sendet mich zu dir und läßt dir sagen, du sollst mir von dem Korn in eurem Speicher geben." Der Junge sagte: "Wenn mein Vater das angeordnet hat, so nimm dir." Damit machte er den Speicher auf. Der Kinkirsi kroch hinein. Er aß soviel er nur essen konnte, und dann machte er sich noch ein hübsches Paketchen zurecht, das nahm er mit sich fort. Am anderen Tage kam der Kinkirsi wieder und sagte: "Dein Vater, der auf Arbeit ausgegangen ist, sendet mich zu dir und läßt dir sagen, du sollst mich in den Speicher hineinlassen, damit ich mir ein wenig Korn nehme." Der Junge sagte: "Wenn, mein Vater das angeordnet hat, so komm!" Er führte den Kinkirsi an den Speicher, öffnete und ließ ihn hinein. Der Kinkirsi kroch hinein. Er aß, soviel er zu essen vermochte. Dann packte er noch eine kleine Matte mit Korn voll und schleppte das mit sich von dannen.

Am nächsten Tage kam der Vater wieder. Er sagte: "Guten Tag." Der Sohn sagte: "Guten Tag." Der Vater sagte: "Was gibt es?" Der Junge sagte: "Ich habe mich über einen kleinen Kerl geärgert, der kam zuerst vorgestern und sagte, du hättest ihn geschickt, ich soll ihm den Speicher öffnen und ihn nach Belieben nehmen lassen. Ich tat es. Er aß und nahm auch noch mit. Gestern kam er schon wieder und sagte, du habest ihn geschickt und ich solle ihn essen lassen. Ich ließ ihn in den Speicher. Er aß sich ordentlich voll. Dann nahm er noch reichlich mit und ging von dannen." Der Vater sagte: "Ich will dir etwas sagen, mein Junge. Das ist sicher ein Kinkirsi. Wenn er wiederkommt, laß ihn nur ruhig in den Speicher hinein. Dann aber, wenn er drin und ordentlich beim Essen ist, mach den Speicher zu und laß ihn nicht wieder heraus. Warte, bis ich wiederkomme." Der Junge sagte: "Es ist gut so." Der Vater ging.

Am anderen Tage kam richtig der Kinkirsi wieder und sagte: "Guten Tag." Der Junge sagte: "Guten Tag." Der Kinkirsi sagte: "Dein Vater, der auf Arbeit ausgegangen ist, sendet mich zu dir. Er läßt dir sagen, du sollest mir den Speicher aufmachen, damit ich ordentlich essen kann." Der Junge sagte: "Wenn mein Vater das



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angeordnet hat, so wollen wir es sogleich machen. Er ging hin und öffnete den Speicher. Der Kinkirsi kroch sogleich hinein. Kaum war er darin, so schloß er auch wieder.

Der Vater kam wieder. Er sagte: "Guten Tag." Der Junge sagte: "Guten Tag." Der Vater sagte: "Was gibt es Neues?" Der Junge sagte: "Der Kinkirsi ist im Speicher gefangen." Der Vater sagte: "Das ist gut. Wir wollen sogleich nachsehen." Er ging hin und öffnete den Speicher. Im Speicher war der Kinkirsi. Der Vater sagte: "Was ist er klein und mager und hat dabei einen großen Kopf mit einem langen Bart!" Kinkirsi sagte: "Das kommt daher, daß ich so großen Hunger hatte. Der Kopf ist groß geblieben, aber der Körper wurde, weil ich nicht genug zu essen bekam, immer kleiner. Nun brauche ich aber nur einige Tage gut zu essen, so wächst mein Körper sehr schnell. Ich werde wieder ganz groß und stark, und man kann gar nicht glauben, wie ich dann arbeiten kann." Der Vater sagte: "Das ist nicht dumm. Das ist möglich. Wir können es versuchen." Der Vater legte ihm eine Schnur um den Hals und führte ihn ins Haus, um ihn schnell anzubinden. Der Kinkirsi sagte: "Wenn ich aber gut gedeihen soll, müßt ihr mich da anbinden, wo es nicht so hell und wo es etwas abgelegen ist." Der Vater sagte: "Das kann geschehen." Dann band er ihn in einem Winkel an, und nun bekam Kinkirsi alle Tage Mehlspeise und Fleisch vorgesetzt.

Eines Tages kam Katere (Plural: kata, der Schakal) vorbeigelaufen und witterte einen Knochen, den Kinkirsi vorher abgeknabbert hatte. Katere trat ein und sagte: "Guten Tag, mein alter Kinkirsi. Was machst du denn hier in dem stillen Winkel?" Kinkirsi sagte: "Ach, die Menschen haben mich hier angebunden, damit ich fetter werde, und nun geben sie mir alle Tage Hühner, Hammel- und Ochsenfleisch. Und ich mag kein Fleisch essen. Ich habe es nun aber einmal übernommen und muß es durchführen." Katere sagte: "Ich will dir einen Vorschlag machen, Vater Kinkirsi!" Ich will dich losbinden. Du kannst mich dann an den Strick legen. Ich tue es aus Freundschaft für dich und verspreche dir, daß ich alles Fleisch, was sie herwerfen, auffresse." Kinkirsi sagte: "Laß nur. Ich habe das einmal übernommen und will dir nicht zumuten, daß du dich mit dem Fleisch herumplagst. Denn du glaubst gar nicht, welchen Haufen ich davon jeden Tag verzehren muß!" Katere sagte: "Vater Kinkirsi, ich bin jung, und es soll mich freuen, dir mit junger Kraft eine schwierige Sache abzunehmen." Sie



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stritten längere Zeit hin und her. Endlich sagte Kinkirsi: "Wenn du denn durchaus willst, so will ich den Freundschaftsdienst annehmen." Darauf band Katere Kinkirsi los und ließ sich von Kinkirsi an den Strick legen. So war denn Katere in dem stillen Winkel angebunden, und Kinkirsi eilte, von dannen zu kommen.

Am anderen Tage kam der Knabe, dem Kinkirsi sein Essen hinzustellen. Er sah Katere, stellte das Essen schnell hin, lief zu seinem Vater und sagte: "Vater, es ist wahr, Kinkirsi ist schon ganz groß geworden; er läuft schon auf vier Beinen; er ist schon so groß wie ein Kalb. Er hat nicht gelogen. Die gute Nahrung hat ihn schnell groß und stark gemacht." Der Vater sagte: "Das ist ja ausgezeichnet. Ich will das gleich ansehen." Der Vater ging mit dem Sohne hin. Er sah den Katere. Er sagte: "Du bist außerordentlich gewachsen. Das ist sehr schön. Du bist wirklich so groß wie ein Kalb, und wir wollen dich schlachten." Darauf sagte Katere: "Ich bin ja gar nicht Kinkirsi. Ich bin ja Katere. Seht ihr nicht, daß ich viel größer bin als Kinkirsi ?" Der Vater sagte: "Ach was! Du hast selbst gesagt, daß du, wenn du gute Nahrung bekämst, in einigen Tagen ganz groß sein würdest. Also, du wirst jetzt geschlachtet." Und so ward Katere getötet. Seitdem fliehen Kinkirsi und Katere die Wohnungen der Menschen.


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