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Kapitel 

ERZÄHLUNGEN AUS DEM WESTSUDAN

HERAUSGEGEBEN VON LEO FROBENIUS

1922

VERLEGT BEI EUGEN DIEDERICHS/JENA



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TITEL- UND EINBANDZEICHNUNG VON F.H. EHMCKE

MIT DREI TAFELN

Das bürgerliche Leben in Wahiguja*.

Die feineren Unterschiede des bürgerlichen Lebens im Norden und im Zentrum des alten Mossireiches sind doch so groß, daß es wünschenswert ist, den menschlichen Lebenslauf hüben und drüben zu verfolgen, und es wird uns bei solcher Zweisicht hier und da das eine oder andere auffallen, so daß zwei Übersichten eine erwünschte Ergänzung abgeben.

Wenn in Jatenga ein Knabe geboren wird, bleibt die Mutter drei, wenn ein Mädchen erscheint, vier Tage im Niederkunftshause, ohne auszugehen. Der Vater sorgt bei solchem eingetretenen glücklichen Ereignis sogleich für Salz, und andere Frauen bereiten Essen, so daß die Mutter gut gepflegt wird. Ist ein Vater vorhanden, was nicht immer der Fall ist, so gibt er, sonst die ältere Schwester der Mutter den Kindern den Namen. Aber das geht nicht so schnell vor sich, und manchmal soll die Namengebung ein Jahr auf sich warten lassen. Den Namen wählt man aus unter denen der Freunde, nach Ereignissen, und angeblich soll man auch den Namen des regierenden Naba häufig verwenden. Doch erscheint mir das nicht sehr glaubhaft, da z. B. im Wagadugebiete in der Kaiserprovinz kein Mensch den gleichen Namen wie der Mogo-Naba führen darf. Vielleicht ist mit dieser Behauptung der Name kleiner Nabas gemeint.

Im allgemeinen gehören die Kinder dem natürlichen Vater, und dieses Gesetz wurde früher auch im Falle unregelmäßig eingetretenen Geschlechtsverkehrs konsequent durchgeführt. So gehörten Kinder, die von unverheirateten Mädchen geboren wurden, dem Liebhaber. Trieb eine verheiratete Frau mit einem Dritten Liebeshändel, so sandten die beiden Eheleute den kleinen Bastard, sobald er entwöhnt war, an den Liebhaber, daß er in Zukunft für ihn sorge und Recht und Pflicht des Vaters an ihm übe.

Eine eigenartige Ansicht betreffend Zwillinge fand ich in Wahiguja. Bestanden die Zwillinge (=kikirsi) aus Knabe und Mädchen, so galt das als ein ausgezeichnetes Omen, das Vater und Mutter noch ein langes Leben verhieß. Waren es jedoch zwei Mädchen, so nahm man an, daß der Vater nicht mehr lange leben würde. Kam jedoch eines von beiden Mädchen tot zur Welt, so nahm man das als gute Vorbedeutung für des Vaters Lebenszeit. Waren es zwei Knaben, so glaubte man, daß die Lebenszeit der Mutter nicht mehr lange bemessen war.

Das erste Wort des kleinen Würmleins ist "ma", d. h. Mutter. Man rechnet etwa 1-1 1/2 Jahr bis zur vollendeten und bewußten Aussprache dieses Lallwortes. Mit zwei Jahren soll das Kind alles



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verstehen, ohne aber selbst mehr als die ersten Plapperlaute hervorbringen zu können; erst mit drei Jahren kann es sich stammelnd äußern. Die Linie der Körperentwicklung ist (nach der Meinung der Mossi) folgende: mit 6 Monaten setzt sich das Kind aufrecht hin, mit 6-8 Monaten beginnt es auf den Knien herumzurutschen, mit 12 Monaten richtet es sich auf, mit 14-16 Monaten geht es ein wenig. Als Nährzeit rechnet man drei Jahre.

Solange das Kind nicht laufen kann, soll die Mutter sich dem Beischlaf nichthingeben, denn dies gilt als außerordentlich schädlich für die körperliche Entwicklung des Kindes. Mit dem Endpunkte der Beischlafzeit ist es für die junge Mutter eine eigenartige Sache. Sobald die Frau schwanger ist, hört für sie das Liebesleben auf. Aber 40 Tage nach der Geburt soll die Mutter sich einmal dem Gatten oder Geliebten, jedenfalls dem Vater des Kindes, hingeben. Das ist ein feststehendes Zeremonie! der alten Zeit gewesen. Dann setzte das regelmäßige Geschlechtsleben aber noch lange aus. Die Pause nahm im ganzen die Nährzeit in Anspruch, währte also etwa drei Jahre. Diese dreijährige Pause entspricht genau dem Brauche der Malinke und zentralen Mande, während Wolof und Fulbe sich angeblich nicht darum kümmerten.

Nun der Eintritt in das Werktagsleben. Mit drei Jahren beginnt das kleine Mädchen die Kalebassen zu waschen. Dann muß es bald Wasser tragen und erlernt das Entsamen der Baumwolle. Mit sechs Jahren steht das Kind im vollen Arbeitsleben. Die erste Arbeit des Knaben setzt dagegen erst mit vier Jahren ein - bis dahin spielen sie gleich allen anderen Kindern der Welt mit den kleinen Mädchen zusammen "Arbeiten". Wie bei allen Völkern, die ich bis dahin in Afrika sah, sind die kleinen Mädchen geistig aktiver und überlegener. Sie stellen die Büblein an und sind schon völlig kleine Weibchen; der spröde Sinn des Knaben äußert sich dagegen in einer ausgesprochenen Ablehnung gegen alle derartigen Äußerungen, und wenn nun mit vier Jahren die erste Arbeitsverpflichtung, das Ziegenhüten, an sie herantritt, so entwickeln sie sich in ihrem Busch- und Weideleben alsbald zu kleinen Raufbolden und Gegnern aller, wenn auch noch so kindlichen Annäherungsversuche. Bis zum siebenten Jahre etwa hütet das Bürschlein mit den Altersgenossen in gemeinschaftlicher Geschlossenheit die Ziegenherde des Ortes. Dann tritt die erste wirkliche Arbeitsanforderung an ihn heran. Er hat von morgens um 5 oder 5 1/2 bis 9 Uhr mit den Männern an der Feldarbeit teilzunehmen. Und dabei wird der Bursche gebändigt. Mit der Beschneidung tritt volle Arbeitszeit für ihn in Kraft.

Die Knaben wurden früher mit acht, die Mädchen erst mit zehn Jahren beschnitten. Die Handlung wurde bei den Mossi Jatengas



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nicht von Schmieden, sondern von irgendwelchen älteren Leuten, die es besonders gut verstanden, ausgeführt. Die Mädchen begaben sich natürlich unter die Fürsorge geschickter Frauenhände. Den Knaben ward das Präputium weit über die Glans gezogen, dann zeichnete der Operateur eine schwarze Linie vor, setzte einen Eisenmeißel auf und schlug mit einem Holzhammer darauf. — Über irgendwelches Zeremonie! konnte ich nichts in Erfahrung bringen. Angeblich ist solches in Jatenga nicht üblich.

Bis zur Beschneidung blieben die Mädels und Buben im allgemeinen sicher unschuldig, denn bis zu diesem Zeitpunkte schliefen die jungen Menschen im Hause der Mutter. Und da diese Nachtbettung am Mutterherde noch länger währte, als die Zeit bis zur Beschneidung, so dürfen wir den Zeitpunkt des Beginns des Geschlechtslebens noch ein wenig weiter hinaufrücken.

Die Mossi von Jatenga behaupten, früher strengere Sitten gehabt zu haben als die Mossi von Wagadugu. Das dürfte damit zusammenhängen, daß die Jatengaprovinz früher von Jarsi, von Mande, beherrscht war, die sehr sittenstreng waren. Aber auch das einflußreiche Auftreten des Islam in den nördlichen Provinzen des Kaiserreiches mag seinerzeit dazu beigetragen haben, daß hier eine Sittenkontrolle eintrat, daß islamische Sitte "Mode" wurde, und daß die Alten aus Schamgefühl den früheren Zustand zu beschönigen versuchten. Ich traue deshalb den Angaben der Mossi nicht so ganz, wenn diese berichten: Wenn in alten Zeiten ein Mann ein unverheiratetes Mädchen beschlief, und wenn das herauskam, so nahm man ihm alles, denn es war verboten. Die Töchter der Burkimvo sollten unschuldig in die Ehe treten, ein freies Liebesleben war ihnen nicht gestattet. Auch sollen die Väter die Burschen gewarnt und ihnen verboten haben, sich mit den adligen Mädchen, den Töchtern der eigentlichen Mossi, einzulassen. Dagegen war es den Mossiburschen wohl gestattet, einmal eine Liebelei mit einem Tenga-Ndemba-Mädchen (Tenga-Ndemba eine primitive äthiopische Urbevölkerung) zu beginnen, und die Väter des letzteren hatten nicht die Macht, sich bei dem herrschenden Volke eine Genugtuung nach irgendeiner Richtung hin zu verschaffen. — Letzteres wird wohl stimmen, aber eine historische Keuschheit der Mossimädchen scheint mir sehr zweifelhaft. Sobald der Leser die nachfolgende Schilderung der in Wagadugu herrschenden Verhältnisse aufgenommen hat, wird er mir voraussichtlich beipflichten.

Zunächst die Ehe. Mit Bestimmtheit darf man sagen, daß bei allen Mossi früher Kinderverlobungen Sitte waren. Wenn der junge Jatengabursche ein junges Mossimädchen sah, mit dem er später einmal in den Ehestand treten wollte, so ist wohl anzunehmen, daß seine Wahl auf ein Mädchen fiel, das noch längere Zeit hindurch



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Anrecht auf die Bezeichnung "Kind" hatte. Das war also die gleiche Sitte wie bei den zentralen und westlichen Malinke. War der Bursche nicht besonders reich, so brachte er dem Schwiegerelternpaar nach und nach Hirsestrohplatten (Sekkoplatten), Brennholz usw. oder aber reichere Gaben dar. Der Vater des Brautwerbers machte eine gute Portion Ram (d. i. Hirsebier) und eine Speise, die man im vorliegenden Falle Urem-baram nannte, und sandte sie dem Vater der Braut. Auch die Mutter des Mädchens erhielt eine Gabe an Salz, das Mädchen selbst eine Pagne, einen Schurzstoff, und dessen Vater noch einen Überhang. Und dann folgten jährliche Gaben an die Brautfamilie, anscheinend Salz für die Mutter und Kauri für den Vater. Aber ich habe das alles in Wahiguja nicht so gut verstanden wie die Auseinandersetzung derselben Sitten nachher in Wagadugu. Im Grunde genommen scheinen es mir die gleichen zu sein. —Jedenfalls heirateten die Mädchen nicht vor dem 15. und 17. Lebensjahre, auch Jungen von einflußreichen und wohlhabenden Familien im gleichen Alter, dagegen arme Burschen nicht vor dem 22. und 25. Jahre - ich sage heirateten: daß das Liebesleben mit voller Kraft früher einsetzt, leugnen auch die Mossimohammedaner nicht.

Zur Hochzeit veranstaltete der Vater des Bräutigams ein großes Hirsebierfest. Aber es wird ausdrücklich betont, daß der Brautvater größere Zahlungen weder gefordert noch angenommen hätte, denn der Brautvater der alten Zeit sagte: "Ich will wohl aus den kleinen Gaben sehen, daß du (der Bräutigam) ein wahres Interesse für meine Tochter hast, daß du nicht arm bist, dir auch deine Sache zu verdienen weißt - ich will aber nicht, daß du meine Tochter mit großen Zahlungen kaufst, so daß du in ihr eine Sklavin gewinnst. Meine Tochter soll frei sein!" Im übrigen kannten die Mossi die Sitte der Keuschheitserhaltung zu keiner Zeit, und etwaige Testimonia auf einem weißen Laken zu suchen, fiel ihnen nicht im Traum ein. Im Gegenteil, wir werden später sehen, daß das Recht des Liebhabers recht weit ging, daß aber im Mossilande seit alter Zeit eine ethnisch-gesonderte Schicht vorhanden ist, die diese alte Mandeanschauung in aller Klarheit und mit aller Sittenstrenge noch lange aufrechterhalten hat.

Jedenfalls bedeutete die Ehe im allgemeinen bei den Mossi eine lockere Institution, und in Anbetracht der Form, die die Ehe hatte, nimmt es nicht Wunder, wenn die Jatengaleute durchgehend sagen: Wenn jemand schwer krank wird, so pflegen ihn die Schwestern und die Schwestern der Mutter. Die Frau selbst aber hat nichts mit der Krankheit des Ehemanns zu tun. Und wenn der Mann stirbt, so sind es auch wieder nicht die Ehefrauen, die der Leiche die letzten Liebesdienste erweisen, sondern es sind wieder die



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Märchenerzähler und Sänger der Mossi
Begrüßungen im Mossilande

(Originalzeichnungen von Fritz Nansen 1909)



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Schwestern und Mutterschwestern, die dem Toten die Haare ordnen, die seinen Leib waschen, die ihn mit Baumbutter einreiben, die ihm Augen und Mund schließen und ihn geschickt hinlegen. Während die verwandten Frauen dies tun, wird die ganze Familie zusammengerufen, und einige Leute beginnen damit, die letzte Ruhestätte vorzubereiten.

Der Tote wird in eine langgestreckte Lage gebracht, und über den Kopf weg, also von oben her nach unten, wird ein Sack gezogen, der bis unter die Knie reicht und hier zugeschnürt wird. Der Unterkiefer wird hochgebunden, und unter dem Sack trägt der Tote eine kurze Hose, deren Lendenschnur aber nicht wie bei den Lebenden vorn, sondern hinten zugebunden ist. Derart vorgerichtet wird der Leichnam in der Mitte des Hofes ausgestellt, und dann treten die Verwandten heran und bringen Opfergaben dar. Einige Leute geben Kaurimuscheln, andere schlachten Hühner und Ziegen, Reiche auch wohl Rinder usw. Die geschlachteten und dem Toten dargebrachten Tiere werden aber nur von den Tenga-Ndamba und den Grabarbeitern, nie von den vornehmen Mossi verspeist - so sagen sie in Jatenga.

In Bezug auf das weitere Zeremoniel, das in Jatenga Sitte ist, gehe ich auf die Gebräuche ein, die beim Tode des Mogo-Naba in Wahiguja Sitte sind. Das mag das ergänzen, was später vom Todeszeremoniel in Wagadugu gesagt werden wird, und stimmt unter Reduktion der Proportionen anscheinend auch für die Leichenbegängnisse der Vornehmen.

Während die Leichen Armer nur einen Tag, die Vornehmer 2 bis 3 Tage ausgestellt werden, wird der gestorbene Mogo-Naba (König der Mossi) während sieben Tagen über der Erde gelassen. Für den König wurde alsbald nach dem Verscheiden ein starker Ochse herbeigebracht, der wurde gefesselt, und es wurde ihm bei lebendigem Leibe das Fell abgezogen. Diese Haut wurde während dreier Tage stark mit Butter und Fett eingerieben, und dann ward der Leichnam des Herrschers in diese Haut eingenäht. Inzwischen gingen die Grabarbeiter in einem runden Schacht wie beim Brunnenbau (etwa mannstief) in die Tiefe, und hierauf ward unten ein etwa 3 m langer Kanal horizontal unter der Erde hin nach Westen zu ausgeschachtet. In diesen Kanal ward zunächst ein Hahn, ein Kater und eine halbe Barre Salz hineingeschoben, so daß diese Gaben an das äußerste Ende zu liegen kamen. Diese drei Grabspenden hatten folgenden Zweck: Der Hahn sollte am Morgen die Zeit angeben, wenn die Sonne aufgehe; die Katze sollte die Ratten und Mäuse fangen, die etwa die Ruhe des Grabes beeinträchtigen sollten, mit dem Salz sollte der Herrscher sich Speisen kaufen.

Danach legte man die königliche Leiche in den Seitenkanal und



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schüttete den vertikalen Schacht zu. Über dem Grabe ward ein Esel geschlachtet und ein Haus errichtet, in dem ein Wächter der Ruhe des Herrschers wartete. Mit dem Esel hatte es eine besondere Bewandtnis: Wenn ein König von Jatenga gekrönt ward, so kaufte er sich einen Bonga, d. i. einen Esel. Dem gab man den Titel: Na-noma. Solange der Herrscher lebte und regierte, hatte dieser Na-noma das Recht und die Freiheit herumzulaufen und zu fressen, wo und was er wollte und fand. Er durfte auf allen Feldern weiden. Niemand durfte ihn hindern, verjagen, schlagen oder gar töten. Seine Stunde hat aber geschlagen, wenn sein Mogo-Naba stirbt. Dann wird er über dem Grabe des Herrschers geopfert. — Die Volkssage erzählt übrigens, daß, als seinerzeit der gewalttätige Naba Kango starb, man allenthalben nach seinem ,Na-noma' suchte, ihn aber nicht finden konnte, so daß dieser Esel seinem Schicksal entgangen sei und sich heute noch auf den Weiden bei Wahiguja herumtreibe. Manche Leute behaupten, das uralte Tier gesehen zu haben. Vernünftige bestreiten es. Aber der Na-noma Naba Kangos spukt noch als Gespenst in den Köpfen vieler Leute umher. Dies nebenbei.

Im übrigen war das "bürgerliche Leben" in Wahiguja durch die vier Ackerbaumonate der Arbeit, einige darauffolgende Monate der Schlemmerei, zumal des reichlichen Hirsebiergenusses, und einige Monate der dem vorhergehenden Übermaße entsprechenden Hungerzeit in drei ziemlich gleiche Teile eingeteilt.


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