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DIE ERZÄHLUNGEN AUS DEN TAUSEND UND EIN NÄCHTEN

VOLLSTÄNDIGE DEUTSCHE AUSGABE IN SECHS BANDEN

ZUM ERSTEN MAL NACH DEM ARABISCHEN URTEXT DER CALCUTTAER AUSGABE AUS DEM JAHRE 1839

ÜBERTRAGEN VON ENNO LITTMANN

BAND 3

IM INSEL-VERLAG


DIE GESCHICHTE VON DEM KALIFEN EL-MAMÛN UND DEM FREMDEN GELEHRTEN

Unter den Kalifen aus dem Hause el-'Abbâs war keiner in allen Zweigen der Wissenschaft besser bewandert als el-Mamûn. Und er hatte in jeder Woche zwei Tage, an denen er einer Disputation der Gelehrten beiwohnte. Da saßen denn die disputierenden Rechtskundigen und Gottesgelehrten in seiner



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Gegenwart nach Rang und Würden. Einmal nun, wie er in ihrer Gesellschaft war, trat plötzlich ein fremder Mann in ihren Kreis, der weiße, doch abgeschabte Kleider trug, und setzte sich ganz ans Ende der Anwesenden: hinter den Gelehrten an einem versteckten Platze ließ er sich nieder. Da begann man zu disputieren und schwierige Fragen zu behandeln. Es war aber Sitte bei ihnen, daß jede Frage bei den Versammelten der Reihe nach die Runde machte, und jeder, dem ein geistreicher Beitrag oder ein glücklicher Einfall in den Sinn kam, sprach ihn aus. Wie nun die Frage herumgegangen war und an jenen fremden Mann kam, sprach auch er, und zwar gab er eine treffendere Antwort als alle die Gelehrten; und der Kalif hatte Gefallen an seiner Rede. — —«

Da bemerkte Schehrezâd, daß der Morgen begann, und sie hielt in der verstatteten Rede an. Doch als die 308 Nacht anbrach, fuhr sie also fort: »Es ist mir berichtet worden, o glücklicher König, daß der Kalif el-Mamûn Gefallen an seiner Rede hatte und befahl, er solle an einen höheren Platz rücken. Als die zweite Frage an ihn kam, gab er eine Antwort, die noch treffender war als die erste; und wieder befahl der Kalif, er solle an eine höhere Rangstelle rücken. Als aber die dritte Frage an ilm kam, gab er eine Antwort, die noch besser und treffender war als die beiden ersten Antworten. Und da befahl el-Mamûn, er solle einen Platz in seiner Nähe einnehmen. Nach Beendigung der Disputation wurde Wasser gebracht, und man wusch sich die Hände; dann wurden Speisen aufgetragen, und man aß. Darauf erhoben die Gelehrten sich und gingen weg. Doch el-Mamûn hielt jenen



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fremden Mann zurück, als er mit den anderen hinausgehen wollte, hieß ihn näher treten, sprach freundlich mit ihm und versprach ihm seine Huld und Gunst. Dann rüstete man zum Trinkgelage; die heiteren Tischgenossen kamen zuhauf, und der Wein begann den kreisenden Lauf. Als jedoch die Reihe an jenen Fremdling kam, sprang er auf seine Füße und sprach: ,Wenn der Beherrscher der Gläubigen es mir erlaubt, so möchte ich ein Wort sprechen.' ,Sag, was du willst', erwiderte der Kalif. Da fuhr jener fort: ,Die Einsicht der erhabenen Majestät -Allah mehre ihre Hoheit! —weiß, daß ihr Knecht heute in dieser erlauchten Versammlung einer aus der Unbekannten Schar und einer der niedrigsten Teilnehmer war. Dennoch ließ der Beherrscher der Gläubigen ihn nahe zu sich kommen um des bißchen Verstandes willen, das er aus seinem Munde vernommen; und er gab ihm einen höheren Rang als den anderen, ja, er ließ ihn zu einer solchen Höhe gelangen, deren sein Geist sich nie unterfangen. Jetzt aber will er dies kleine Quentchen Verstand von ihm nehmen, das ihn in seiner Niedrigkeit ehrte und ihm sein geringes Ansehen mehrte. Das sei weit und fern, daß der Beherrscher der Gläubigen ihn beneide wegen dieses geringen Maßes von Verstand, Ruf und Vortrefflichkeit, das er besitzt! Denn wenn dein Knecht Wein tränke, so würde der Verstand von ihm weichen und die Torheit ihn erreichen; seine gute Sitte würde von ihm genommen, er würde zu jener früheren, verachteten Stufe zurücksinken und in den Augen der Menschen wieder mißachtet und unbekannt werden. Darum hoffe ich von der Einsicht der erhabenen Majestät, daß sie in ihrer Güte und Großmut, in ihrer Herrscherhoheit und edlen Gesinnung ihn dieses Kleinodes nicht beraubt!' Als der Kalif el-Mamûn diese Worte von ihm vernahm, lobte er ihn, dankte ihm und hieß ihn sich wieder



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auf seinen Platz niedersetzen; er erwies ihm hohe Ehren und befahl, ihm hunderttausend Dirhems zu geben. Ferner gab er ihm ein Roß zu reiten und schenkte ihm prächtige Gewänder. Und bei jeder Versammlung wies er ihm einen hohen Platz an und bewies ihm seine Gunst vor allen anderen Gelehrten, bis er unter ihnen zur höchsten Würde kam und den ersten Rang einnahm. Doch Allah weiß es am besten!

Und ferner wird erzählt


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