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Kapitel 

ERZÄHLUNGEN AUS DEM WESTSUDAN

HERAUSGEGEBEN VON LEO FROBENIUS

1922

VERLEGT BEI EUGEN DIEDERICHS/JENA



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TITEL- UND EINBANDZEICHNUNG VON F.H. EHMCKE

MIT DREI TAFELN

72. Der alte Hund und der junge Hund*

Ein junger Hund sagte zu einem alten Hunde: "Ich bin viel klüger E als alle Hunde und als alle Tiere des Feldes und Waldes." Der alte Hund sagte: "Du kannst vielleicht sagen, daß du der klügste unter deinen Verwandten seiest, du kannst aber nicht sagen, daß du klüger als alle Tiere seiest."

Der alte Hund lag einmal auf dem Marktplatze. Er hatte keine Frau im Hause, so daß er auf das Essen angewiesen war, das er anderweitig erwischte. Er lag also nahe bei einer Fleischerbude. Der junge Hund kam und sagte: "Guten Tag, mein Alter." Der alte Hund antwortete: "Guten Tag, mein Kleiner!" Der junge Hund legte sich neben den alten und blieb daliegen. Nach einiger Zeit nahm der Schlächter zwei Stück Fleisch. Das eine warf er dem alten Hunde hin, das andere dem jungen. Der alte sprang auf und verschlang schnell alle beiden Stücke. Der alte sagte: "Warum nimmst du denn nichts?" Der junge sagte: "Ach, ich habe es nicht nötig. Ich kann warten, bis meine Frau daheim das Essen bereitet hat. Dann werde ich speisen können."

Nach einiger Zeit warf der Schlächter wieder ein Stück Fleisch hin. Ehe die Hunde es aber aufgenommen hatten, kam eine Weihe, schnappte es weg und trug es auf einen Baum. Der alte Hund sagte: "Siehst du, was ich dir gesagt habe? Man kann sagen, man sei klüger als alle Verwandten, man kann aber nicht sagen, man sei klüger als alle Tiere." Der junge Hund sagte: "Warte nur; du wirst sehen, daß ich doch noch zu meinem Fleisch komme!" Der junge Hund ging hin unter den Baum, auf den sich die Weihe gesetzt hatte und rief: "Höre, Weihe, ich habe dir etwas zu sagen!" Die Weihe sah gar nicht hin. Der kleine Hund sagte: "Höre, Weihe, der alte Hund da drüben hat etwas gesagt." Die Weihe sah nicht hin. Der kleine Hund sagte: "Höre, Weihe, der alte Hund da hat



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etwas Schlechtes von dir gesagt." Die Weihe sah auf und fragte: "Was hat der alte Hund Schlechtes von mir gesagt?" Der junge Hund sagte: "Er hat gesagt, daß du nicht singen könntest." Da machte die Weihe den Mund auf, um zu singen. Sie ließ aber dabei das Fleisch herabfallen. Der junge Hund nahm es auf, trug es von dannen und sagte, als er bei dem alten Hunde vorbeikam: "Siehst du, daß ich klüger bin als alle Tiere?"

Eines Tages sagte der kleine Hund zu dem alten: "Ich gehe ein wenig am Fluß spazieren, um mir Essen zu suchen!" Der junge Hund ging zum Ufer hinab und fand da eine Katze. Die Katze hatte ein Stück trockenen Fisches gefunden, das einer Frau beim Waschen fortgeschwommen war. Die Katze aß von dem Fisch. Der Hund setzte sich neben die Katze. Die Katze gab ihm einen Bissen von dem Fisch ab. Der Hund aß davon und sagte: "Ach, das ist sehr gut. Wo bekommst du diese gute Speise?" Die Katze sagte: "Ach, das ist sehr einfach. Ich habe jeden Tag zehn und mehr solcher Fische. Es ist sehr einfach, sie zu fangen." Der junge Hund sagte: "Ach, zeige mir das doch!" Die Katze sagte: "Ach, das tue ich sehr gern; komm nur mit." Die Katze führte den jungen Hund an den Fluß, da, wo das Ufer ganz hoch und steil und wohl fünfzig Meter über dem Wasser erhaben war. Die Katze sagte: "Du mußt dich mit dem Rücken gegen den Fluß hinsetzen, so daß dein Schwanz herabhängt. Du wirst sehen, die Fische springen herauf!" Der Hund setzte sich vorsichtig an den Abhang. Die Katze sagte: "Dein Schwanz hängt nicht weit genug herab. Die Fische springen, aber sie erreichen dich nicht. "Der Hund setzte sich näher heran. Die Katze sagte: "Noch näher!" Der Hund rückte noch ein wenig zum Abhang hin und dann stürzte er herab, schlug sich Schwanz und Rücken auf und fiel ins Wasser. Er kam wieder heraus, aber er war sehr krank, als er in das Dorf zurückkehrte.

Als der alte Hund ihn sah, sagte er: "Siehst du, ich sagte es dir ja: ,Man kann wohl klüger sein als alle Verwandten, man kann aber nicht klüger sein als alle Tiere.'"


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