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DIE ERZÄHLUNGEN AUS DEN TAUSEND UND EIN NÄCHTEN

VOLLSTÄNDIGE DEUTSCHE AUSGABE IN SECHS BANDEN

ZUM ERSTEN MAL NACH DEM ARABISCHEN URTEXT DER CALCUTTAER AUSGABE AUS DEM JAHRE 1839

ÜBERTRAGEN VON ENNO LITTMANN

BAND 3

IM INSEL-VERLAG


DIE GESCHICHTE VON CHAUD IBN 'ABDALLAH UND DEM LIEBHABER. DER SICH ALS DIEB AUSGAB

Als Châlid ibn 'Abdallâh el-Kasri' Emir von Basra war, kam einmal eine Schar von Menschen zu ihm, die einen jungen Mann mit sich schleppte; der war von wunderbarer Lieblichkeit, offensichtlicher Vornehmheit und außerordentlicher Verständigkeit, und er hatte eine schöne Gestalt, sein Gewand duftete, und er trug Ruhe und Würde zur Schau. Die Leute führten ihn vor Châlid, und der fragte sie, was es mit ihm sei. Da riefen sie: ,Der hier ist ein Dieb; wir haben ihn gestern in unserem Hause ertappt.' Als Châlid ihn anblickte und an seinem schönen und feinen Ansehen Gefallen hatte, sprach er: ,Lasset ihn los!' Darauf trat er an den jungen Mann heran und fragte ihn, was ihr eine Bewandtnis es mit ihm habe. Jener antwortete: ,Die Leute haben recht mit dem, was sie sagen; die Sache verhält sich so, wie sie behaupten.' Weiter fragte Châlid ihn: ,Was hat dich zu einer solchen Tat veranlaßt, dich, der du von so feinem Aussehen und so schöner Gestalt bist?' Er gab zur Antwort: ,Mich trieben die Gier nach irdischem Gut und der Ratschluß Allahs, des Gepriesenen und Erhabenen.' Da sagte Châlid: ,Deine Mutter soll dich verlieren! Waren denn dein schönes Gesicht und deines Verstandes Licht und deiner Erziehung Vollkommenheit nicht einmal dazu bereit, dich vom Diebstahl abzuhalten?' Der junge Mann entgegnete: ,Sprich nicht davon, o Emir, sondern wende dich zu dem, was Allah der Erhabene befohlen hat! Das ist es, was meiner Hände



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Tun verdient hat, und Allah ist gegen die Menschen nicht ungerecht.' Nun schwieg Châlid eine Weile und dachte über die Sache des Jünglings nach. Dann ließ er ihn näher an sich herankommen und sprach zu ihm: ,Dein Geständnis vor den Zeugen macht mich verwirrt; denn ich kann es nicht glauben, daß du ein Dieb bist .Vielleicht hast du mir noch etwas anderes zu erzählen als von dem Diebstahl; so berichte mir davon!' ,O Emir,' erwiderte der junge Mann, ,laß dir nichts anderes in den Sinn kommen, als was ich soeben vor dir gestanden habe. Ich habe dir keine andere Geschichte zu erzählen, als daß ich in das Haus jener Leute eingebrochen bin und gestohlen habe, so viel mir möglich war; da kamen sie über mich, nahmen mir die Sachen wieder ab und führten mich vor dich.' Darauf gab Châlid den Befehl, ihn ins Gefängnis zuwerfen, und er ließ einen Ausrufer in Basra verkünden: ,Herbei! Wer sehen will. wieder Dieb Soundso bestraft und wie ihm die Hand abgeschlagen wird, der komme morgen früh zum Platze Soundso!' Als dann aber der Jüngling im Kerker saß, nachdem man ihm das Eisen an die Füße gelegt hatte, seufzte er bekümmert und begann in Tränen auszubrechen; dann hub er an diese Verse zu sprechen:

Es drohte Chaud mir mit dem Verlust der Hand,
Mach ich mit dem Geheimnis von ihr ihn nicht bekannt.
Doch ich sprach: Das sei ferne, daß ich die Lieb verrat,
Die tief das Herze mein für sie verschlossen hat.
Ja, der Verlust der Hand für das, was ich gestehe,
Ist leichter mir, als daß ich sie in Schande sehe.

Da hörten ihn seine Wächter, und sie gingen zu Châlid und berichteten ihm das Gehörte. Als es dann finstere Nacht war, ließ der Emir ihn zu sich kommen, und als der junge Mann bei ihm war, unterhielt er sich mit ihm. Und dabei erkannte er ihn als einen Mann von Klugheit und Wohlerzogenheit, von



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Verstand. Feinheit und Trefflichkeit. Darauf befahl er, ihm Speise zu bringen, und er aß. Nachdem sie dann eine Weile geplaudert hatten, sagte Châlid zu ihm: ,Ich weiß, daß du etwas anderes zu erzählen hast als von dem Diebstahl. Wenn es also Morgen wird, wenn die Leute kommen und der Kadi da ist und dich nach dem Diebstahl fragt, so leugne ihn ab und sage etwas, das dich vor dem Verluste der Hand schützt. Denn der Prophet Allahs - Er segne ihn und gebe ihm Heil! —hat gesagt: In zweifelhaften Fällen vermeidet die Strafen!' Darauf ließ er ihn in das Gefängnis zurückbringen. — —«

Da bemerkte Schehrezâd, daß der Morgen begann, und sie hielt in der verstatteten Rede an. Doch als die 289. Nacht anbrach, fuhr sie also fort: »Es ist mir berichtet worden, o glücklicher König, daß Châlid, nachdem er mit dem jungen Manne geplaudert hatte, ihn in das Gefängnis zurückbringen ließ; und der blieb die Nacht über dort. Als es aber Morgen ward, strömte das Volk herbei, um zuzuschauen, wie dem jungen Manne die Hand abgeschlagen würde; es gab niemanden in Basra, weder Mann noch Weib, der nicht gekommen wäre, um sich die Bestrafung jenes Jünglings anzusehen. Châlid ritt in Begleitung der vornehmen Leute von Basra und einiger anderer hinaus; dann berief er die Kadis und ließ den Jüngling herbeibringen. Der kam in seinen Fesseln herbeigehumpelt, und alle Leute, die ihn sahen, beweinten ihn; ja, die Frauen erhoben ihre Stimmen zu Klagerufen. Der Kadi gebot, die Frauen zum Schweigen zubringen, und sprach dann zu dem Jüngling: ,Diese Leute da behaupten, du seiest in ihr Haus eingebrochen und habest ihr Gut gestohlen. Vielleicht hast du weniger als das Mindestmaß' gestohlen?'



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,Nein, ich habe so viel gestohlen, daß dies Maß voll erreicht ist', gab jener zur Antwort. Doch der Kadi fragte weiter: ,Vielleicht hattest du gemeinsam mit den Leuten Anrecht auf einen Teil jener Sachen?' ,Nein,' erwiderte der junge Mann, ,alles gehörte ihnen; ich hatte kein Recht darauf.' Da ergrimmte Châlid über ihn, ging selber auf ihn zu und schlug ihn mit der Peitsche ins Gesicht, indem er diesen Vers auf ihn anwandte:

Der Mensch will stets, daß ihm sein Wunsch erfüllet werde;
Doch Gott verleihet nichts, als was Er selber will.

Dann rief er den Schlächter, damit er ihm die Hand abschlage; der kam und zog das Messer heraus. Schon hatte er die Hand des jungen Mannes ergriffen und das Messer darauf gelegt, da drängte sich mitten durch die Frauen hindurch eine Mädchengestalt, in zerlumpte Gewänder gekleidet.' Die warf sich mit einem lauten Schrei auf ihn; dann enthüllte sie ein Antlitz, das schön war wie der Mond. Da erhob sich unter dem Volke ein großes Getöse, und es war, als solle daraus ein flammender Aufruhr entstehen. Jene Maid aber rief, so laut sie vermochte: ,Ich beschwöre dich bei Allah, o Emir, laß nicht vorschnell die Hand abschlagen, ehe du dies Blatt gelesen hast!' Dann reichte sie ihm ein Blatt hin; Châlid öffnete es, las es und fand darauf diese Verse geschrieben:

O Châlid, er da ist von Liebe ganz betöret;
Vom Bogen meiner Lider traf ihn der Blicke Pfeil.
Ja, meines Blicks Geschosse ereilten ihn, den Sklaven
Der Liebe; keine Heilung des Leids wird ihm zuteil.
Was niemals er getan, gestand er; denn er dachte,
Daß solches besser sei als der Geliebten Schmach.
Drum Gnade für den Armen, der liebt; er ist im Volke
Ein Mann von edler Art, der keinen Raub verbrach!



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Als Châlid diese Verse gelesen hatte, ging er zur Seite, zog sich von der Menge zurück und ließ die junge Frau zu sich kommen. Dann befragte er sie über den Sachverhalt, und sie tat ihm kund, daß der Jüngling ihr Geliebter sei und sie seine Geliebte. Er habe sie besuchen wollen und sei zum Hause der Ihren gegangen; dort habe er einen Stein niedergeworfen, um ihr sein Kommen zu melden. Ihr Vater und ihre Brüder hätten den Klang des Steines vernommen und seien zu ihm hingeeilt. ,Doch als er sie kommen hörte,' so fahr sie fort, ,raffte er im Hause alles Zeug zusammen und gab sich als Dieb aus, um die Ehre seiner Geliebten zu retten. Als sie ihn bei diesem Tun erblickten, nahmen sie ihn fest und riefen: Ein Dieb! Dann brachten sie ihn vor dich; er gestand den Diebstahl ein und blieb bei seinem Geständnisse, um mich nicht bloßzustellen. Er hat all dies auf sich genommen und sich mit der Schuld des Diebstahls belastet, da er eine ungewöhnlich vornehme und edle Gesinnung hat.' Da rief Châlid: ,Fürwahr, er verdient es, daß er seinen Wunsch erreiche!' Alsbald ließ er den Jüngling zu sich kommen und küßte ihn auf die Stirn; dann gebot er, auch den Vater des Mädchens herbeizuführen, und sprach zu ihm: ,Alter, wir waren entschlossen, das Gesetz der Verstümmelung an diesem Jüngling zu vollziehen; aber Allah, der Allgewaltige und Glorreiche, hat mich davor bewahrt. Nun bestimme ich ihm zehntausend Dirhems dafür, daß er seine Hand hingeben wollte, um dir und deiner Tochter die Ehre zu retten und euch beiden die Schmach zu ersparen. Auch deiner Tochter bestimme ich zehntausend Dirhems, weil sie mir den wahren Sachverhalt kundgetan hat. Und nun bitte ich dich um Erlaubnis, sie ihm zur Gemahlin zu geben.' ,O Emir,' erwiderte der Alte, ,ich gebe dir diese Erlaubnis.' Châlid aber lobte und pries Gott und hielt eine schöne Predigt. — —«



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Da bemerkte Schehrezâd, daß der Morgen begann, und sie hielt in der verstatteten Rede an. Doch als die 299. Nacht anbrach, fuhr sie also fort: »Es ist mir berichtet worden, o glücklicher König, daß Châlid Gott lobte und pries und eine schöne Predigt hielt. Dann sprach er zu dem Jüngling: ,Ich vermähle dich mit dieser Maid, die Soundso heißt, die hier zugegen ist, mit ihrer Erlaubnis und ihrer Einwilligung und mit der Erlaubnis ihres Vaters; ihre Hochzeitsgabe soll in diesem Gelde bestehen, das sind zehntausend Dirhems.' Darauf erwiderte der Jüngling: ,Ich nehme diese Ehe an.' Châlid aber gab Befehl, das Geld auf Messingplatten m Festzuge zum Hause des Jünglings zu tragen; und nun zog alles Volk vergnügt von dannen.

Ich habe, so sagte der Erzähler dieser Geschichte, nie einen merkwürdigeren Tag erlebt als jenen; er begann mit Tränen und Leid und endigte in Freude und Heiterkeit.

Ferner erzählt man


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