Projektseite Volksmärchen Sagen Geschichten Etnologie Beriche © Arpa data
Textbreite
Schriftgröße
Kapitel 

ERZÄHLUNGEN AUS DEM WESTSUDAN

HERAUSGEGEBEN VON LEO FROBENIUS

1922

VERLEGT BEI EUGEN DIEDERICHS/JENA



Atlantis Bd_08-0004 Flip arpa

TITEL- UND EINBANDZEICHNUNG VON F.H. EHMCKE

MIT DREI TAFELN

26. Der kleine Bruder

Ein König wollte eine Sunguru (Mädchen) heiraten. Der kleine Bruder begleitete seine Schwester in die Stadt des Herrschers und Gatten. Er war die einzige Begleitung seiner Schwester. Deshalb lachten die Leute über ihn und auch deswegen, weil er noch so ein junger Bursche war. Der Bursche fuhr aber mit der Hand einmal in der Luft herum und hatte sogleich die Augen aller derer, die gelacht hatten, in der Hand und steckte sie einfach in die Tasche. Die Leute baten: "Gib mir meine Augen wieder, es ist mir das Lachen vergangen." Er sagte: "Ich will für jedes Auge eine Kolanuß haben." Darauf gaben ihm alle Leute Kolanüsse für die Augen, und er erhielt so einen ganzen Sack voll.

Der kleine Bruder kam mit seiner Schwester beim König an, und dieser nahm sie bei sich auf. Nun wollte der König sehen, was das für Leute seien. Deshalb gab er abends, als die anderen (älteren) Frauen des Königs von ihm Finikesse (enthülsten Reis) erhielten, der jungen Frau nur Finikama (ungeschälten Reis), damit sie wie die anderen das Abendessen bereite. Als der kleine Bruder der jungen Frau des Königs das sah, reichte er dem König einige Felinkesse (Kürbissamen) hin und sagte: "Hier hast du auch die Kalebassen, in die meine Schwester die Reisgerichte füllen kann." Der König sagte: "Das kann man so nicht verwenden, denn man müßte den Samen pflanzen, ihn keimen, wachsen, blühen lassen. Dann müßte man die Kalebassen bereiten. Bis dahin sind die Reisgerichte meiner Frauen längst fertig." Da entgegnete der Bursche: "Wenn dir der Samen der Kalebasse nicht taugt, taugt meiner Schwester auch der ungeschälte Reis nicht." Der König sagte: "Der Bursche hat recht."

Am anderen Tage sandte der König den Frauen die Kühe zum Melken, der jungen Frau aber sandte er einen Stier und ließ sagen: "Sende mir die Milch dieser Kuh." Darauf sandte der Bursche dem König einige Kürbisblätter und ließ sagen: "Laß hieraus einige Kalebassen machen, in die meine Schwester die Milch deiner Kuh melken kann." Der König ließ antworten: "Aus Blättern kann



Atlantis Bd_08-054 Flip arpa

man keine Kalebassen machen. Dazu braucht man die Früchte." Da sandte der Bursche den Ochsen zurück und ließ sagen: "Es ist so wie mit den Kalebassen. Ochsen kann man nicht melken, dazu braucht man Kühe."

Der König sagte: "Dieser Bursche ist mir unangenehm. Macht vor dem Hofe der jungen Frau eine tiefe Grube und deckt sie mit Matten leicht zu. Ich werde den Burschen über den Platz schicken, er wird da hineinfallen und verkommen." Die Leute machten die Grube, der Bursche stürzte hinein. Er grub sich aber einen Graben, der führte in das Gehöft seiner Mutter bis unter deren Töpfe. Da kam er heraus.

Am anderen Tage ging er zum König, um ihm guten Tag zu sagen. Der König sagte: "Du lebst ja noch! Du bist noch nicht tot?" Der Bursche sagte: "Nein, ich bin noch am Leben." Der König sagte: "Wie kann ich dich nur ums Leben bringen?" Der Bursche sagte: "Du mußt heißes Wachs auf meinen Kopf gießen lassen, dann werde ich tot sein." Der König ließ Wachs sieden. Als am Abend der Bursche in sein Haus ging, sagte der König: "Nun geht auf das Dach und gießt es herab. Er wird sogleich kommen!" Er ließ dann den Burschen von außen herrufen. Als man ihn von außen rief, sagte der Bursche zu den beiden Söhnen des Königs, die bei ihm waren: "Geht ihr eben hinaus und sagt, ich würde sogleich kommen." Darauf gingen die beiden heraus. Die Leute auf dem Dache gossen aber, wie ihnen befohlen war, das heiße Wachs auf die Köpfe der Herauskommenden, und da das die Königssöhne waren, so starben die beiden Söhne des Königs alsbald.

Am anderen Tage ging er zum König, um ihm guten Tag zu sagen. Der König sagte: "Du lebst ja noch! Du bist noch nicht tot?" Der Bursche sagte: "Nein, ich bin noch am Leben." Der König sagte: "Wie kann ich dich nur ums Leben bringen?" Der Bursche sagte: "Sehr einfach, du mußt mich in einen Korb stecken, den Korb zubinden, an den Fluß tragen und in den Fluß werfen lassen. So werde ich ganz bestimmt sterben." Der König sagte: "Das ist leicht zu machen." Der König ließ seine Leute kommen und einen großen Korb herrichten. In den Korb ließ er vor seinen Augen den Burschen stecken und befahl dann, ihn durch den Wald zu dem großen Flusse zu tragen und da hineinzuwerfen. Die Leute nahmen ihn auf und trugen den Korb durch den Wald dem Flusse zu. Der Bursche hatte am Morgen ein Tier getötet und dieses nahe dem Wege im Walde hingelegt. Als die Korbträger durch den



Atlantis Bd_08-055 Flip arpa

Wald kamen, flogen einige Geier auf. Die Träger sagten: "Da muß etwas sein." Sie legten den Korb hin und gingen zu der Stelle.

Der Bursche hatte ein Messerchen bei sich. Als die Leute fort waren, fuhr er mit der Klinge durch die Maschen und schnitt die Schnüre durch. Dann schlüpfte er heraus. Es kam gerade ein reicher Marabut des Weges. Als er den Burschen neben dem Korbe am Wege sitzen sah, fragte er ihn: "Was machst du da?" Der Bursche sagte: "Ich lasse mich in dem Korbe da hintragen, wo alle Schätze und alles Gold liegen." Der Marabut sagte: "Ich will dir alles, was ich besitze, geben, wenn du mir erlaubst, mich an deiner Stelle dahin tragen zu lassen, wo alle Schätze und alles Gold liegen." Der Bursche sagte: "Ich bin damit einverstanden." Der Marabut kroch in den Korb, der Bursche band ihn fest zu und lief alsdann fort, so schnell er nur konnte. Nun kamen die Träger zurück, luden den Korb mit dem Marabut auf, trugen ihn zum Fluß und warfen den Korb in das Wasser. Sie glaubten, der Bursche sei darin, und der Korb ging sogleich unter.

Der Bursche ging aber in das Dorf des Marabuts, nahm alle Herden, Frauen, Sklaven und Goldketten des ertrunkenen Mannes und kehrte damit in die Stadt des Königs zurück. Alles das, was er so erworben hatte, schenkte er dann seiner Schwester, so daß sie eine wohlhabende und angesehene Frau wurde. Am anderen Tage ging er zum König, um ihm guten Tag zu sagen. Der König sagte: "Bist du noch nicht tot?" Der Bursche sagte: "Nein, ich bin noch am Leben." Der König sagte: "Wie kommst du hierher? Ich habe dich doch in den Fluß werfen lassen!" Der Bursche sagte: "An der Stelle, wo du mich hast in den Fluß werfen lassen, liegt unter dem Wasser ein reiches Land mit großen Schätzen. Ich kam in dem Korbe an und erhielt reiche Geschenke an Gold, Sklaven, Frauen und Herden. Jeder, der in das Land kommt, wird so beschenkt. Ich habe alles deiner Frau, meiner Schwester, geschenkt." Der König ging hin und sah, wie reich die Schwester des Burschen geworden sei. Er sagte: "Meine Familie und ich wollen ebenso reich werden." Er ließ für sich und alle seine Angehörigen ebensolche Körbe herstellen und sich und seine Familie dahinein binden. Dann gab er den Auftrag, alle Körbe an den Fluß zu tragen und an derselben Stelle hineinzuwerfen, an der der Bursche versenkt worden war. Die Leute taten, wie ihnen befohlen war.

Als die Familie des Königs ertrunken war, ging der Bursche zu den Kindern des Königs und fragte sie: "Bin ich nicht euer Vater?"



Atlantis Bd_08-056 Flip arpa

Die Kinder sagten: "So ist es!" Er ging dann zu den Frauen des Königs und sagte: "Bin ich nicht der König, euer Mann?" Die Frauen sagten: "So ist es." So wurde der Bursche denn König.


Copyright: arpa, 2015.

Der Text wurde aus der Märchen-, Geschichten- und Ethnien-Datenback von arpa exportiert. Diese Datenbank wurde dank Sponsoren ermöglicht. Es würde uns freuen, wenn wir mit Ihrer Hilfe weitere Dokumente hinzufügen können.
Auch bitten wir Sie um weitere Anregungen in Bezug auf Erweiterungen und Verbesserungen.
Im voraus Dank für die Mithilfe. Spenden können Sie unter In eigener Sache

Ihr arpa team: www.arpa.ch Kontakt