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Kapitel 

DÄMONEN DES SUDAN


ALLERHAND RELIGIÖSE VERDICHTUNGEN

HERAUSGEGEBEN VON LEO FROBENIUS

1924

VERLEGT BEI EUGEN DIEDERICHS/JENA



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TITEL- UND EINBANDZEICHNUNG VON F. H. EHMCKE

7. Soroko und Tommo

Soroko (Bosso) und Tommo (Habbe) stammen von dem gleichen Ahnherrn ab, und zwar ist das Auadia, der Stammvater aller Soroko. Auadia hatte zwei Nachkommen, die hießen Kassum und Brehim.

Es war einmal eine große Hungersnot im Lande. Kassum und Brehim hatten nichts zu essen. Da sagten sie: "Es soll einen großen Strom geben, an dem es viel zu essen gibt. Den (Niger) wollen wir aufsuchen." Sie machten sich also auf die Wanderschaft. Nachdem sie eine lange Zeit gewandert waren, sagte Brehim, der ältere: "Mein Bruder, ich habe solchen Hunger und bin vor Hunger so schwach, daß ich nicht imstande bin, weiter fortzugehen. Laß mich hier liegen. Ich will hier sterben. Suche du den großen Fluß zu erreichen." Kassum sagte: "Warte ein wenig. Hier nebenan ist ein Busch. Ich will hingehen und sehen, ob ich nicht ein wenig Essen für dich finde."

Kassum ging nun in den Busch und schnitt sich eine Wade ab. Die Wunde verband er mit Blättern und Ranken. Dann machte er sich Feuer und röstete das abgeschnittene Fleisch. Dann schlug er es in Blätter, kehrte zu seinem Bruder zurück und sagte: "Sieh, Bruder, ich fand im Walde Fleisch. Ich habe es sogleich geröstet; nimm es und stärke dich." Darauf aß der ahnungslose Brehim vom Fleische seines Bruders, fühlte sich stark und war bereit, weiter zu gehen. Nun aber hatte ihn ein quälender Durst gepackt. Kassum sagte: "Warte, Bruder, ich will sehen, ob ich im Walde etwas zu trinken finde." Er ging in den Busch zurück



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und entdeckte ein Loch, in dem war ein wenig Wasser. Das brachte er seinem Bruder, und nunmehr konnten sie ihren Weg fortsetzen.

Nachdem sie wieder ein tüchtiges Stück gegangen waren, empfand aber Kassum den Blutverlust und den Schmerz der Wunde derart, daß er außerstande war, noch weiter zu gehen. So sagte er denn zu Brehim: "Lieber Bruder, ich habe mich ein wenig verletzt. Die Wunde scheint nun schlimm geworden zu sein. Geh du voran, geh weiter, laß mich liegen. Such du den großen Strom. Sobald es mir besser geht, werde ich dir folgen." Brehim sagte: "Warte, Bruder Kassum, ich werde mir einmal die Wunde ansehen. Vielleicht kann man etwas tun." Brehim löste den Verband an Kassums Bein. Er sah, daß die Wade abgeschnitten war und sagte zu Kassum: "Mein Bruder, jetzt sehe ich es ganz deutlich. Als ich am Verhungern war, hast du dir ein Stück von deinem eigenen Bein abgeschnitten und hast mich damit genährt!" Brehim ging in den Busch. Er suchte allerhand Blätter und Kräuter. Die kaute er. Er machte einen Brei daraus und spie den auf Kassums Bein. Da heilte die Wunde binnen kurzer Zeit.

Nun war Kassums Bein geheilt. Sie machten sich wieder auf den Weg und wanderten, und endlich kamen sie an den großen Strom. An dessen Ufer schlugen sie ihre ersten Hütten auf.

Kassum sowohl wie Brehim hatten jeder seine Tochter bei sich. Die beiden Mädchen sahen einander sehr ähnlich. Kassum sagte: "Ich will sehen, ob dieser große Fluß nicht viele Fische hat." Brehim sagte: "Es ist gut so. Ich werde inzwischen ein wenig in die Berge gehen und sehen, ob es dort nicht Korn und Feldfrüchte gibt." Kassum blieb im Tale und begann seine Vorrichtungen zum Fischfange und zur Jagd auf Nilpferde und Krokodile.

Brehim aber nahm Abschied und ging in die Berge. In den Bergen fand er die Soninke. Er trat in ihren Dienst. Sie gaben ihm ein Gewehr. Die Soninke lehrten ihn die Herstellung und Anwendung der Hacke. Sie nahmen ihn mit auf die Jagd und zeigten ihm alle Handgriffe und Vornahmen des Jägerhandwerkes. So lernte Brehim etwas. Eines Tages stieg er zum Niger herab und suchte das Lager seines Bruders Kassum auf. Er sagte: "Mein Bruder, ich will eine Zeitlang auf Arbeit und Reisen im Berglande abwesend bleiben. Ich werde dir, wenn ich etwas gewinne, einen Anteil heruntersenden. Sei so freundlich und beaufsichtige solange meine Tochter, daß ihr nichts geschehe. Sie kann eine Gespielin



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deines eigenen Mädchens sein." Kassum sagte: "Es ist gut!" Brehim rüstete seine Sachen, nahm Abschied und ging in die Berge, um da oben zu arbeiten.

Wenn nun der Fischer Kassum unten im Tale einen guten Fischzug gemacht hatte, so sandte er die Hälfte der Beute seinem Bruder Brehim in die Berge. Wenn Brehim in den Bergen eine gute Ernte gewonnen hatte, so sandte er die Hälfte seinem Bruder Kassum an den Niger. So blieb Brehim zehn Jahre in den Bergen, ohne herniederzusteigen, und seine Tochter weilte währenddessen bei Kassum im Tale. Eines Tages aber starb die Tochter Brehims.

Als die Tochter Brehims gestorben war, sagte Kassum: "Wie soll ich nur vor meinen Bruder treten, da er mir seine Tochter gab, daß ich sie vor allem Unheil bewahre und sie nun gestorben ist!" Kassum sagte: "Was soll mir meine eigene Tochter, da die Tochter meines Bruders Brehim gestorben ist? Es ist schon besser, wenn keines von beiden Mädchen lebt, anstatt, daß eines allein übrigbleibe." Und Kassum ging hin und tötete seine eigene Tochter, begrub die beiden Mädchen nebeneinander und errichtete einen Grabhügel darüber.

Eines Tages kam Brehim von den Bergen herab und sagte: "Guten Tag! Ich möchte euch sehen und möchte wissen, wie es meiner Tochter geht. Geht es ihr gut?" Da konnte Kassum dem Bruder nicht die Wahrheit sagen, und er sagte: "Ach, es geht ihr schon gut. Die beiden Mädchen sind ein wenig fortgegangen." Brehirn sagte: "Werden sie heute wiederkommen?" Kassum sagte: "Nein, heute werden sie nicht wiederkommen; denn ihr Weg ist weit. Aber morgen werden sie vielleicht wiederkehren." Da sagte Brehim: "Nun, so will ich so lange bleiben, bis die Mädchen wiederkehren."

Am andern Tage fragte Brehim: "Werden die Mädchen bald wiederkommen ?" Kassum sagte: "Ich denke, sie werden bald wiederkommen." Brehim blieb drei Tage. Er wartete. Brehim sagte am dritten Tage: "Ich kann nicht gehen, ohne meine Tochter wiedergesehen zu haben."

Da konnte Kassum es nicht mehr bei sich behalten und sagte: "Mein Bruder Brehim, ich muß es dir also sagen: Ich hätte mir selbst das Leben nehmen sollen, aber wissen mußt du es nun doch. Deine Tochter, die ich vor jedem Unglück dir bewahren sollte, ist in meiner Hütte an einer Krankheit gestorben. Als das geschehen war, sagte ich mir: wie soll ich das meinem Bruder sagen können, ohne vor Scham zu sterben? Was soll mir meine Tochter, wo die



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Tochter meines Bruders, die ich vor allem bewahren sollte, starb! — Und dann habe ich meine eigene Tochter auch getötet und habe beide Mädchen unter einem Hügel begraben!" Brehim sagte: "Zeige mir das Grab." Kassum führte den Bruder zu dem Grabe.

Brehim betrachtete das Grab und sagte dann: "Besitzest du nicht genug Macht, die beiden Mädchen wieder zum Leben zu erwecken?" Kassum sagte: "Nein, das vermag ich nicht." Brehim sagte: "Wir beide haben einander immer liebgehabt. Wir haben einander stets die Hälfte gegeben von dem, was wir besaßen. Wir haben einander alles getan, was wir vermochten. So wollen wir denn auch dies teilen." Dann nahm Brehim Zaubermittel aus seinem Beutel. Er sprach Zauberreime und schritt dreimal um den Grabhügel. Als das geschehen war, sagte er: "Nun, mein Bruder, öffne das Grab." Kassum tat es. Da sahen sie unten die beiden Mädchen miteinander spielen. Lebend stiegen sie aus der Grube heraus.

Die beiden Brüder gingen nach Hause. Daheim sagte Brehim: "Heute nun wollen wir eine Sache abschließen und unsere Freundschaft festmachen, so daß sie keines unserer Nachkommen lösen kann." Kassum sagte: "Das ist auch mein Wunsch." Darauf nahm ein jeder einen Ballen Reis, eine weiße und eine rote Kolanuß. Jeder machte in seine Stirne einen kleinen Schnitt, so daß das Blut herabtropfte. Dann brannten sie Kolanüsse. Die gebrannten Kolanüsse mischten sie mit ihrem Blute. Sie aßen gemeinsam. Sie genossen so einer des andern Blut. Sie sprachen: "Von jetzt ab bis in alle Zukunft hinein, bis in unsere fernsten Nachkommen, wollen wir beide uns nichts Schlimmes zufügen, soll unser Blut nicht mit unserem Blute in Streit geraten. Und unsere Kinder sollen sich nicht heiraten, denn sie sind von gleichem Blute.

Aus Kassums Familie stammen die Soroko. Sie wohnen am Wasser und sind Fischer. Aus Brehims Familie stammen die Tomma. Sie wohnen in den Bergen, treiben Ackerbau und Jagd. Denn nachdem sie den Blutschwur getauscht hatten, ging Brehim wieder in die Berge und seiner Arbeit nach.

Später war da ein König der Marka, Mussa mit Namen, der hörte von der Blutstreue der Tommo und Soroko und von dem heiligen Schwur. Und er beschloß, diese Sache auszuforschen und zu versuchen, was an der Sache Wahres sei. Er sandte in die Berge und ließ ein Tommomädchen holen. Dieses hielt er tagsüber im Busche. Er sandte an den Fluß und ließ einen Soroko holen, dem gab er ein Haus und sagte ihm: "Heute abend werde ich dir ein Weib senden;



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das kannst du in dieser Nacht beschlafen." Er ließ den Mann tagsüber allein in seiner Hütte.

Als es Abend und dunkel geworden war, ließ er das Tommomädchen aus dem Busch holen und befahl, daß man sie im Dunkeln zu dem Soroko in die Hütte bringe. Er wollte, daß die beiden miteinander schliefen, damit das Gerede von der Blutsbeziehung der beiden Stämme und der Heiligkeit des Blutschwures ein Ende nähme. Kaum aber hatte das Tommomädchen ihren Kopf in die Hütte gesteckt, und ehe noch der Bursch sie gesehen haben konnte, fiel der Soroko hin und war tot. Das Tommomädchen aber stürzte draußen hin und verschied. Sie hatte den Mann noch gar nicht wahrgenommen.

Da ließ der Markakönig Mussa alle Tommo und Soroko zusammenkommen und sagte zu ihnen: "Mit diesem Blutschwur ist es eine heilige Sache. Nie sollen sich Soroko und Tommo heiraten. Es soll so bleiben, wie es vordem war." Kaum hatte der Markakönig Mussa dies gesagt, da stürzte auch er hin und war im gleichen Augenblick verschieden.



***
Kassum und Brehim starben. Sie waren schon lange gestorben, und Soroko und Tommo lebten in gutem Einvernehmen. Ein Geschlecht nach dem andern starb. Da entstand eines Tages eine Hungersnot im Lande. Es hatten alle Leute darunter zu leiden. An einem Orte lebten ein Soroko und ein Tommo miteinander. Der Soroko hieß Sumani. Der Tommo hieß Sumana.

Nun aber lebte der Tommo Sumana mit seiner Frau nur von Blättern und dem Samen wilder Gräser, und anderes konnten sie auch ihren Kindern nicht geben. Der Soroko Sumani aber wußte sich heimlich Hirse zu beschaffen; die wurde von seiner Frau nachts zubereitet und auch heimlich in der Nacht von der Sorokofamilie verzehrt. Eines Tages aber sah die Frau Sumanas, wie die Frau des Soroko Sumani Hirsebrei verzehrte.

Die Tommofrau ging sogleich zu ihrem Manne und sagte: "Höre Sumana, ich habe soeben gesehen, daß Sumanis Weib Hirsebrei verzehrt hat. Gehe doch zu Sumani und frage ihn, wo er das gewonnen hat. Denn was er erlangt, wirst du auch erreichen können." Der Tommo sagte: "Das ist richtig; es ist gut!" Er begab sich darauf zu dem Soroko und sagte zu ihm: "Deine Frau hat soeben Hirsebrei gegessen. Wo hat sie den gewonnen? Wo bekommst du die Hirse her? Kannst du es mir nicht sagen? Meine Kinder und meine Frau haben solange nichts Ordentliches gegessen." Der Soroko sagte:



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"Ei, das ist gar nicht schwierig. Die Hirsestelle ist gar nicht weit von hier. Wir können morgen, wenn die Sonne hoch genug steht, gemeinsam dahin gehen." Der Tommo fragte: "Muß man Wasser mitnehmen?" Der Soroko sagte: "Warum willst du Wasser mitnehmen, wo die Hirsestelle gar nicht weit von hier ist!" Der Tommo sagte: "Es ist gut."

Nachts füllte sich der Soroko Sumani einen tüchtigen Topf voll Wasser und stellte ihn verschlossen beiseite. Am andern Morgen stand er ganz früh auf, um heimlich vor dem Tommo von dannen zu gehen. Der Tommo war aber auch schon auf. Er fing den Soroko am Wege ab und sagte ihm: "Weshalb gehst du so heimlich bei Nacht fort? Du sagtest gestern, du wollest mit mir zusammen gehen, wenn die Sonne hoch genug stände." Der Soroko antwortete: "Ach, ich wußte ja ganz genau, daß du vor Aufregung nicht würdest schlafen können."

So gingen sie von dannen. Sie gingen. Sie gingen. Der Tommo sagte: "Du sagtest gestern, es sei ganz nahe. Jetzt habe ich Durst. Ist kein Wasser in der Nähe?" Der Soroko sagte: "Sagte ich das?" Dann nahm er den Wasserkrug, begann ihn zu öffnen und trank. Der Tommo sah ihm zu. Er sagte: "Du sagtest gestern, es sei so nahe, daß es nicht nötig sei, Wasser mitzunehmen. Nun laß mich auch einmal trinken." Der Soroko setzte den Krug ab und sagte: "Ich will dich auch einmal trinken lassen, wenn du dir eine Hand abschlägst." Der Tommo hatte argen Durst. Er wußte nicht, was er tun sollte. Darauf hackte er sich eine Hand ab. Nun ließ ihn der Soroko einige Züge Wasser nehmen.

Dann gingen sie weiter und immer weiter. Der Weg wollte kein Ende nehmen. Sie kamen und kamen nicht an der Stelle an, wo der Soroko die Hirse gewinnen wollte. Als es heiß und drückend und er über die Maßen durstig war, sagte der Tommo: "Ach, Sumani, erlaube mir doch, noch einen Schluck aus der Wasserflasche zu nehmen. Ach, Sumani, laß mich nicht sterben!" Der Soroko sagte: "Gut, ich will dir erlauben, einige Züge aus der Flasche zu nehmen, wenn du dir vorher einen Fuß abschlägst." Der Tommo wußte nicht, was er tun solle vor Durst. Er meinte, er müsse sterben vor Durst. Er sagte: "Er ist besser, ich schlage mir einen Fuß ab, als daß ich vor Durst sterbe." Er schlug sich einen Fuß ab. Darauf erlaubte ihm der Soroko, einige Züge aus der Wasserkanne zu nehmen.

Sie gingen weiter und gingen und gingen und war kein Ende des Weges abzusehen. Sie kamen immer weiter und immer weiter,



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aber es war nichts zu sehen als die unendliche Steppe. Die Sonne aber glühte wie ein Feuer vom Himmel, so daß der Sand glühte und alles vertrocknete.

Da bemächtigte sich des Tommo wieder ein furchtbarer Durst. Sie kamen an eine Dorfruine; daneben stand ein alter Baobab, der hatte keine Blätter. Der Tommo sah kein Ende ab in seiner Pein. Da sagte er zu dem Soroko: "Sumani, gib mir noch einige Züge zu trinken, ehe ich sterbe. Denn hier werde ich doch sterben." Der Soroko sagte: "Sumana, ich will dir zu trinken geben, aber stich dir ein Auge aus!" Der Tommo sagte: "Ich werde doch sterben, da ist es gleich, ob mit oder ohne das Auge."Sumana stach sich das Auge aus. Sumani reichte ihm den Krug, daß er noch einige Züge daraus nehme. Dann ging Sumani weiter. Aber Sumana, der Tommo, war so schwach von dem Verluste des Fußes, der Hand, des Auges, daß er nicht mehr weiter mitgehen konnte. Er hieß Sumani seines Weges ziehen.

In der Dorfruine stand ein alter Baobabbaum. Als es Nacht ward, schlich sich der Tommo zu dem Baume, um in seinem Schutze zu sterben. In dem Baume aber lebten zwei Tiere, nämlich in den Zweigen ein uralter Geier und in einem Loche an seiner Wurzel ein uralter Schakal. Diese beiden Tiere pflegten sich nachts zu unterhalten.

Als es Nacht war, begann der uralte Geier: "Ach, wenn man so alt ist, bleibt einem nichts verborgen. Ach, wenn man klug ist und sehen kann, sieht man allenthalben etwas." Der uralte Schakal sagte: "Ach, wenn man so weit herumgekommen ist, wenn man alt ist und alles so recht überlegt, dann weiß man zuletzt viel." Der uralte Geier sagte: "Da sieht man zwei Familien, die waren immer einig und gaben allen Menschen nur Freude und waren gut." Der uralte Schakal sagte: "Und heute ist der Sohn der einen Familie ein Schurke, ein gemeiner Mensch geworden und hat dem Sohne der andern Familie böse mitgespielt und hat ihn gezwungen, sich Fuß und Hand abzuschlagen und sich das Auge auszustechen. Und nun liegt er da und möchte am liebsten sterben." Der uralte Geier sagte: "Ja, wenn er wüßte, was ich weiß, würde er zu dem Baume gehen, der hier nebenan steht, und würde sich einige Blätter abreißen und die Blätter würde er über die Augen streichen. Dann würde er wieder sehen. Und die Blätter würde er über den Handstumpf streichen, dann würde er wieder eine Hand bekommen." Der uralte Schakal sagte: "Ja, und da steht ein anderer Baum im



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Busch. Wenn er dessen Blätter auf das Bein legte, so würde er wieder einen Fuß erhalten." Der uralte Geier sagte: "Ja, wenn er es wüßte!" Der uralte Schakal sagte: "Ja, wenn er es täte!"



***
Der Tommo hatte wohl acht gegeben auf das, was der uralte Geier und der uralte Schakal sich sagten. Er hatte sich wohl gemerkt, wo die Bäume standen, die so gelobt wurden.

Am andern Morgen ging er hin, er suchte den ersten Baum auf, von dem der uralte Geicr gesprochen hatte. Er bestrich sich mit den Blättern dieses Baumes das Auge. Da ward er wieder sehend. Er bestrich sich mit den Blättern dieses Baumes den Handstumpf. Da ward ihm wieder eine Hand. Er ging hin und suchte den Baum auf, von dem der uralte Schakal gesprochen hatte. Er nahm von den Blättern und rieb den Fußstumpf. Da konnte er wieder gehen. Nun war der Tommo wieder hergestellt und kräftig und stark wie zuvor.

Der Tommo blieb noch da. Er sagte: "Ich will noch eine Nacht am Loche bei diesem Baobab zubringen." Abends legte er sich wieder unter den Baum. Es ward Nacht. Der uralte Geier begann sich mit dem uralten Schakal zu unterhalten. Der uralte Geier sagte: "Ja, wenn man alt wird, hat man allerlei erlebt." Der uralte Schakal sagte: "Ja, wenn man alt ist, dann weiß man auch allerhand Ratschläge zu geben." Der uralte Geier sagte: "Da sind zum Beispiel von einer Familie zwei Männer. Die Väter haben sich durch Blutschwur verbunden. Die Väter taten sich alles Gute, was sie konnten. Die Väter waren ausgezeichnete Männer. Ihr Schwur ist stark. Kein König kann ihn durchbrechen. Aber nun ist einer da, der ist schlecht, sehr schlecht; er hat den Bruder arg mißhandelt. Der Bruder ist ein guter Mann." Der uralte Schakal sagte: "Aber der gute Mann weiß nicht, was für ihn gut sein wird." Der uralte Geier sagte: "Wenn der Mann das wüßte, so würde er an einem Montag drei Bällchen Reis nehmen. Er würde darüber Zaubersprüche hersagen. Er würde drei Gänge um die Ruine unternehmen. Er würde dabei von dem Reis ausstreuen. Den Rest aber würde er den Kindern geben, daß sie ihn äßen." Der uralte Schakal sagte: "Das alles würde ihm zum reichen Segen gedeihen, wenn er sich dann inmitten der Ruine anbauen würde. Alsbald würde seine Familie wohlhabend sein. Seine Familie würde sich mehren und in Bälde große Mengen von Kindern hervorbringen. Aus seinem Stamme würden dann mächtige Könige hervorgehen, die über gewaltige Reiche herrschen würden." Der uralte Geier sagte: "So ist



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es." Der uralte Schakal sagte: "Wenn er es wüßte." Der alte Geier sagte: "Wenn er es täte."

Der Tommo Somana hatte alles gehört. Er dachte die Nacht darüber nach. Am andern Morgen bereitete er drei Bällchen Reis. Er sprach seine Zaubersprüche darüber. Er unternahm die drei Gänge um die Ruine und streute dabei den Reis aus. Den Rest des Reises gab er den Kindern zu essen.

Dann siedelte er sich in der Ruine nahe dem alten Baobab an. Was er nun unternahm, gelang ihm. Sein Wohlstand hob sich. Er brachte viele Kinder hervor. Fremde kamen von auswärts dazu. Die Ansiedlung nahm von Tag zu Tag zu. Bald war eine mächtige Stadt entstanden. Der Tommo Somana wurde zu einem mächtigen Könige, der in einem großen Palaste wohnte.



***
Eines Tages kam der Soroko Sumani von seiner Wanderschaft zurück. Er kam auf dem Heimwege an der Ruine, in der der alte Baobab stand, vorbei. Er betrachtete das, was er sah. Er sah eine große Stadt. Er stand und sagte: "Hier war früher eine Ruine, nun steht hier eine große Stadt. Was ist hier vorgegangen?" Sumani fragte einen Mann: "Was ist das hier für ein Ort?" Der Mann sagte: "Das ist die Stadt des Tommokönigs Sumana." Er fragte einen Knaben: "Hat der Tommo Sumana nicht einen Fuß, eine Hand und ein Auge verloren ?"Der Knabe sagte: "Nein, der König isteinschöner, starker Mann."Der Soroko sagte: "Führe mich zu ihm."Darauf führte ihn der Knabe zu dem Palaste des Tommokönigs Sumana.

Der Soroko Sumani kam zum Tommo Sumana und sagte: "Guten Tag!" Sumana sagte: "Guten Tag, sei mir gegrüßt, mein Bruder! Wie geht es dir?" Sumani sagte: "Es geht mir nicht schlecht. Aber wie bist du zu alle diesem gekommen? Als ich dich verließ, warst du sterbenskrank!" Sumana sagte: "Das ist sehr einfach. Hier in der Gegend wohnen ein uralter Geier und ein uralter Schakal. Als ich nun mit einem abgeschlagenen Fuße, einer abgeschlagenen Hand, einem ausgestochenen Auge hier lag und mir bewußt war, daß ich sterben müsse, da hörte ich den uralten Schakal und den uralten Geier miteinander sprechen. Sie sagten sich untereinander, wie man den abgeschlagenen Fuß, die abgeschlagene Hand, das ausgestochene Auge heilen könne. Ich folgte den Ratschlägen am andern Morgen und meine Wunden wurden geheilt." Der Tommo Sumana fragte: "Warst du es nicht, der hier ein Geschöpf mit einem abgeschlagenen Fuße zurückgelassen hat?" Der Soroko sagte: "Ich erinnere mich daran."



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Der Tommo fragte: "Warst du es nicht, der hier ein Geschöpf mit einer abgeschlagenen Hand zurückgelassen hat?" Der Soroko Sumani sagte: "Ich erinnere mich daran."

Sumana fragte: "Warst du es nicht, der hier ein Geschöpf mit einem ausgestochenen Auge zurückgelassen hat?" Sumani sagte: "Ich erinnere mich daran."

Der Tommo Sumana sagte: "Ich will nicht handeln wie du. Der uralte Schakal und der uralte Geier haben mir in meinem Elend nicht nur Gesundheit und Kraft wiedergegeben, sondern sie haben mir auch in großer Güte Ratschläge gegeben, wie ich reich und mächtig werden könne. Ich bin es geworden und will dich davon mitgenießen lassen. Bleibe bei mir als mein Gast und kehre nicht in das Hungerleben zurück."

Der Soroko Sumani bekam aber Angst und glaubte, daß der andere, an dem er so Schlechtes getan hatte, ihn nun töten würde. Er sagte: "Nein, mein Bruder Sumana, ich habe nicht gut an dir gehandelt. Ich will jetzt heimgehen in mein Dorf und das Hungerleben weiter durchmachen." Der Soroko Sumani nahm Abschied und ging von dannen.

Der Soroko Sumani ging bis in den Busch vor den Toren der Stadt Sumanas. Er sagte dann: "Mein Bruder Sumana hat von einem uralten Geier und einem uralten Schakal, die in dieser Gegend leben, Heilung und so gute Ratschläge erfahren, als er einen Fuß, eine Hand und ein Auge verloren hatte und im Sterben lag. Nun ist er ein reicher Mann und ein großer König geworden. Weshalb soll es mir nicht ebenso gehen?"

Und der Soroko Sumani nahm sein Messer, schnitt sich um drei Uhr herum einen Fuß ab, schnitt sich eine Hand ab und stach sich ein Auge aus. Dann blieb er im Busch liegen und wartete ab, was sich nun ereignen würde.

Als es Nacht geworden war, kamen der uralte Geier und der uralte Schakal in den Busch. Der uralte Geier und der uralte Schakal begannen sich miteinander zu unterhalten. Der uralte Geier sagte: "Wenn man so alt geworden ist, erlebt man die merkwürdigsten Sachen. Ich weiß es noch, als zwei gute Brüder Kassum und Brehim miteinander den Blutschwur tauschten." Der uralte Schakal sagte: "Ja, und kein Mensch konnte den Blutschwur zerstören. Sie hielten fest und treu aneinander." Der uralte Geier sagte: "Dann kamen zwei andere Brüder, der eine ein guter Mensch, der andere ein schlechter. Der schlechte trachtete danach, dem guten das Leben zu nehmen."



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Der uralte Schakal sagte: "Der gute Mensch wollte unter dem Baobab in der alten Ruine sterben." Der uralte Geier sagte: "Er bekam aber gute Ratschläge von uralten klugen Leuten und wurde gesund." Der uralte Schakal sagte: "Dann baute er sich in der Ruine an und uralte kluge Leute sorgten dafür, daß es ihm immer gut ging." Der uralte Geier sagte: "Der schlechte Mensch ist inzwischen auch angekommen." Der uralte Schakal sagte: "Er denkt, daß uralte kluge Leute ihm auch helfen werden." Der uralte Geier sagte: "Er hat sich den Fuß abgeschnitten, die Hand abgeschnitten, das Auge ausgestochen." Der uralte Schakal sagte: "Er denkt, nun würden die uralten klugen Menschen ebensogut für ihn sorgen wie für den guten Menschen!" Der uralte Geier sagte: "Da liegt er nun unten und denkt gar nicht ans Sterben, sondern nur an Wohihabenheit und Königtum."

Der uralte Geier sagte: "Das ist der, der die Bruderfamilie hat töten wollen. Wir wollen ihn auffressen." Der uralte Schakal sagte: "Es ist gut, wir wollen ihn auffressen." Der uralte Geier und der uralte Schakal sagten zu dem Soroko Sumani: "Du hast deine Bruderfamilie fressen wollen und hast nichts anderes gedacht, als selbst reich und König zu werden. Wenn aber Soroko und Tommo nicht einig sind, gehen beide zugrunde. Und jetzt werden wir dich fressen." Damit fielen der uralte Geier und der uralte Schakal über den Soroko Sumani her und fraßen ihn auf.

So ist es gekommen, daß die Soroko niemals Könige hatten, wenn sie auch zuweilen reich werden. Es weiß jeder: niemals wird ein Soroko ein König. Dagegen sind aus dem Stamme der Tommo große und mächtige Herrscher hervorgegangen, wenn es auch sehr viele arme Tommo gibt. Aus diesen alten Zeiten stammt das eigenartige Verhältnis zwischen Soroko und Tommo. Ein Soroko braucht nur zu einem Tommo zu gehen und zu sagen: "ich habe Hunger", und der Tommo wird ihm sogleich zu essen geben, und der Soroko hat nicht nötig, auch nur eine Kauri dafür zu bezahlen. Ein Tommo braucht nur an die Hütte der Soroko zu treten und zu sagen: "gib mir zu essen", der Soroko wird ihm sogleich geben, und der Tommo braucht hierfür nichts zu bezahlen. Wenn der Soroko etwas beim Tommo sieht, was ihm gefällt, kann er es nehmen. Er wird nicht daran gehindert. Wenn der Tommo etwas beim Soroko sieht, was ihm gefällt, kann er es nehmen. Er braucht nichts zu bezahlen. Wenn der Soroko Durst hat und kommt zum Tommo, sagend: "gib mir zu trinken", so reicht der ihm eine Kalebasse voll Wasser. Und der Soroko mag auch die Kalebasse mitnehmen, denn der Tommo



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wird nie wieder aus ihr trinken. Aber kein Tommo schläft im Hause des Soroko, kein Soroko in dem eines Tommo. Kein Soroko ißt gemeinsam mit einem Tommo; kein Tommo ißt gemeinsam mit einem Soroko.


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