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Kapitel 

SPIELMANNS GESCHICHTEN DER SAHEL

HERAUSGEGEBEN VON LEO FROBENIUS

1921

VERLEGT BEI EUGEN DIEDERICHS/JENA



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MIT EINER KARTE DER SAHARA UND

EINER BILDERTAFEL / TITEL- UND

EINBANDZEICHNUNG VON F. H. EHMCKE

Das Aufwachsen der Jugend

Die junge Frau, die dem Familienzuwachs entgegensieht, sucht, wenn irgend möglich, im Gehöfte der Mutter zu gebären. Einige alte Frauen stehen ihr bei. Die Nachgeburt wird in dem Hause, in dem die Geburt stattfand, in der Erde begraben. Nach sieben Tagen erhält das Kind seinen Namen, d. h. den offiziellen Namen, und zwar vollzieht die Zeremonie, wenn er noch lebt, der Großvater (mütterlicherseits), sonst die Mutter. Man schlachtet Huhn, Hammel, Ziege. Man trinkt. Es ist ein Fest.. Besonders wenn die Frau Zwillingen das Leben gab, ist die Freude groß. Dann



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nennt man das Ersterschienene Umzege, das zweite Audia (bei Malinke heißen Zwillinge Fumke). Nur die wenigen mohammedanischen Tommo nennen ihre Kinder nach den Wochentagen. Die alten Tommo benennen dagegen folgendermaßen:

Den ersten Knaben: Badji, das erste Mädchen: Kanne,
" zweiten " : Anne, " zweite " : Kantei,
" dritten " : Antando, " dritte " : Jatandu,
" vierten " : Annaing, " vierte " : Jaunde,
fünften " : Annu, " fünfte " : Janu,
" sechsten " : Anko, " sechste " : Jako,
" siebenten " : Ansamba, " siebente " : Jasamba.

Aber mit diesem einen Namen ist es nicht getan. Zunächst fügt man, um die Familie festzulegen, dem Namen des Kindes den des Vaters bei. Außerdem gibt die Mutter dem Kinde gelegentlich einen Kosenamen, der nicht selten dem Kinde sein Lebelang zueigen bleibt und die anderen Namen gänzlich verdrängt. Solche Kosenamen sind z. B.:

Ankunja, das ist ein Kind, das vor der Hochzeit den Eltern geboren wurde, eine Sache, die durchaus üblich ist und für die Mutter gar nichts Entwürdigendes hat.

Ambaossu, d. h. Gott gab es.

Ambabirre, d. h. Gott hat es gemacht.

Ankemme wird ein Kind genannt, dessen Mutter vorher lange Zeit hindurch kinderlos geblieben war.

Tembelu ist der Name jedes Knaben, der nach dem Tode des Vaters geboren wird.

Man rechnet, daß die Kinder etwa nach zwölf Monaten zu sprechen beginnen, und zwar ist ihr erstes Wort na, d. h. Mutter. Die Säugeperiode wird anscheinend ziemlich früh abgeschlossen, und gehen kann das kleine Wesen etwa mit zwei Jahren. Mit etwa vier Jahren fängt das kleine Mädchen an zu arbeiten, und zwar stampft es zuerst ein wenig mit der Keule (=daing) im Mörser (= didong) oder geht an den Bach oder Brunnen, um Kalebassen (=kadju) und Holzschalen zu waschen (Holzschalen = banja). Erst mit dem fünften Jahre beginnt es mit dem kleinen Mühlstein (=nunaing) auf dem Mahlsteine (=nunaun) Korn zu zerreiben, und dann ist es auch schon beinahe so weit, daß es die ganzen Küchenarbeiten bewältigen und kochen und den ganzen Hausstand besorgen kann, dem sie schon als kleines Mädchen für einige Tage vorstehen muß, wenn etwa die Mutter Brüderlein oder Schwesterlein gebiert. — Und dann ist, wie wir nachher sehen werden, das Kind auch sehr bald selbst soweit, sich in Liebestorheiten zu ergehen.



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Der kleine Junge ahmt zunächst spielend die Arbeit der Mutter nach und stampft Kolben im Mörser. Die erste ernstere Arbeit aber ist für ihn das Herbeischaffen von Holz. Er steigt mit den anderen Dorfbuben hinab ins Tal und sucht in dem fernen Busch dürres Knüppelholz, das er dann zu Berge schaffen muß. Nachher wird ihm und seinen Kameraden das Hüten der Ziegen und Schafe und noch später die Eseiwartung anvertraut. Nach dieser Zeit erst geht er mit dem Sichelmesser ins Tal und holt Heu herauf.

In dieser Periode zeigt sich die erste soziale Bildung der Tommo. Der Bursch tritt jetzt, in der Zeit vor der Beschneidung, in den Knabenbund, d. h. in den Sanakurre. Das Zeremonial dieses Knabenbundes, das dem Tombo kung der Mande entschieden ähnlich ist, findet kurz vor Beginn der Regenzeit bis zum Beginn der Saat statt. In einigen Ortschaften bedingt es für die Burschen eine Abwesenheit, ein Busch- und Höhlenleben von einem Monate, in einem anderen eine solche Zurückgezogenheit oder Verwilderung für nur wenige Tage. Anscheinend war die Zeitspanne früher länger als heute, andererseits ist es aber auch nicht ausgeschlossen, daß eine unerwartet frühzeitige Regenzeit dem von erstem Sinn belebten kindischen Spiele ein vorschnelles Ende bereitet.

Die Burschen bauen sich im Busch oder in einer Höhle ein Häuschen, das den Namen Anna ngina hat. Bei dem Häuschen leben sie. In dem Anna ngina steht ein Topf mit Wasser. Es sind kleine Tonpuppen darin, die Amba heißen (vgl. S. 278). Amba ist soviel wie Gott; wir werden später darauf zurückkommen. Die Knaben suchen Eidechsen und bringen diese als Opfer dar. Aber es ist noch Wertvolleres in dieser Anna ngina, nämlich die Lewe oder Laewe, das sind Steinbeile, alte Mühlmahlsteine oder jene konischen, schweren Steinspitzen, die man hier und da als Reste einer uns bisher noch nicht ganz verständlich gewordenen Arbeitsweise der Steinzeit findet und die einem Kanonenprojektil nicht unähnlich sehen. Diese Steinkonusse sind bis an die Spitze in die Erde gegraben und als besonders heilig erachtet. Man opfert ihnen, um Regen zu erlangen.

Außer der Wartung dieser Anna ngina liegt den Burschen noch ein großes Tanzzeremonial ob - ganz wie beim Tombo-kung. Allerdings fehlt dem Mummenschanz anscheinend die Holzmaske. Es ist nur ein Blätterkleid und ein Blätterhut mit weit herabfallendem Blätterschmuck. Darin tanzen die Jungen. Ein älterer Knabe ist ihr Lehrmeister. Er lehrt sie, die Kleider herstellen und lehrt sie die Tanzweisen. Er ist streng und bestraft die Unachtsamkeit. Die Vermummten aber selbst haben allerlei fröhliche Rechte. Sie stehlen Milch und auch wohl das eine oder andere Stück Kleinvieh und bringen die Ergebnisse kleiner Raubzüge in der Anna ngina



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als Opfer dar. Oder aber, sie ziehen in ihrem Blätterkleide, wohl eingehüllt und unerkennbar in die Ortschaft und bereiten den noch nicht eingeweihten Knaben und vor allen Dingen den kleinen Mädchen Schrecken. Sie schlagen mit kleinen Ruten, jagen die Erschreckten und lassen sich erst durch kleine Geschenke besänftigen. Auch Erwachsene geben den Burschen gerne. Summa summarum liegt doch wohl, wie gesagt, ein tieferer Sinn in diesem kindischen Spiele, sonst würde man nicht die Wartung der heiligen Laewe ihnen anvertrauen. Und da dies Zeremonial vor der Regenzeit anfängt, da die Laewe die Spender fruchtbaren Regens sind, und da in der Anna ngina auch außerhalb dieser Knabentanzzeit vor den Alten geopfert wird, so werden wir kaum einen falschen Schluß ziehen, wenn wir annehmen, daß ähnlich dem Umgange der Tombokung dieses Zeremonial der Fruchtbarkeit gewidmet ist.

Der nächste wichtige Abschnitt für den Knaben beginnt mit Eintritt in die Gruppe der Amaguno-unue, d. h. der Beschneidungskandidaten. Irgendwo in der Nähe des Dorfes wird ein Mattenzaun abgesperrt. Darin halten sich die Beschnittenen tagsüber auf. Die Nacht dürfen sie im Dorfe zubringen. Die Periode der Heilung der Wunde wird auf etwa zwei Monate berechnet. In dieser Zeit gehen die Burschen mit den Sossogo, d. h. den Beschneidungsklappern (aus Kalebassenstücken, bei Zentralmande Wassamba genannt), umher. Ist die Periode abgelaufen, so werden alle Kleider, die während dieser Zeit getragen werden, die Sossogo, Bandagen usw., zusammen auf einen Haufen geworfen, das ganze Lumpenzeug angezündet und verbrannt. Dabei sind die Alten anwesend. Es wird sehr gut gegessen und auch getrunken. Zuletzt wird Wasser auf das Feuer gegossen und es so ausgelöscht.

Wie bei den Mande sind es die Schmiede, welche die Beschneidung ausführen, die Männer die Knaben, die Schmiedeweiber die Mädchen. Die Knaben werden im Alter von 15 bis 17 Jahren operiert, den Mädchen wird die Spitze der Klitoris abgeschnitten, wenn sie etwa acht Jahre alt sind, d. h. also, wenn die Entwicklung der geschlechtlichen Reife eintritt.

Der vollständige Name der männlichen Beschneidungsgruppe ist: amba guna unue be ginna, der der weiblichen: amba guna unu niamwe, eine Bezeichnung, die an Wortfülle nichts zu wünschen übrig läßt, die aber auch hochinteressant ist. Ambaguna heißt so viel wie "Gottesdiener" oder "Gottessklave", Unne = "Kinder". Ginna ist der Name des Hauses, in dem die Beschnittenen leben. Niamwe = Mädchen.

In diesem Alter werden auch die bezeichnenden Körperverunstaltungen anderer Art ausgeführt. Sehr beliebt ist bei den Tommo "Inni-lau", das ist die Zuspitzung der oberen vier Schneidezähne



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(inni = Zahn). Diese Verschönerungsarbeit wird durch die Schmiede ausgeführt. Von hinten resp. innen wird ein Holz gegen die Zähne gestützt, das verhindern soll, daß beim Dagegenschlagen die Zahnkronen etwa ganz abbrechen. Von vorn resp. außen wird mit einem kleinen Eisenhämmerchen oder Keil ein Splitter nach dem anderen abgeschlagen. Bei den Mädchen wird diese Verstümmelung vor der Beschneidung, bei den Buben kurz vorher oder kurze Zeit später ausgeführt. Nach der Beschneidung müssen die kleinen Dirnen sich noch der Bini-karu, das ist der Leibtätowierung unterziehen. Sie wird mit einem Messer in langen Schnitten ausgeführt. In die Schnittwunden wird mit Baumbutter gemischte Kohle gerieben.

Mit diesen Verschönerungen des Körpers und einer ziemlich gleichförmigen Erziehung des Geistes erreicht das Tommo-Menschenkind in diesem Alter das Interessengebiet des Geschlechtslebens.


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