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Kapitel 

SPIELMANNS GESCHICHTEN DER SAHEL

HERAUSGEGEBEN VON LEO FROBENIUS

1921

VERLEGT BEI EUGEN DIEDERICHS/JENA



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MIT EINER KARTE DER SAHARA UND

EINER BILDERTAFEL / TITEL- UND

EINBANDZEICHNUNG VON F. H. EHMCKE

Die Menschen. Das Volk

Das eigenartige Bergland, das östlich von Faraka, wie angegeben wird, aus einer Ebene emporsteigt, birgt eine Bevölkerung, eine Bevölkerungsmasse, für die zunächst kein eigentlicher Name vorliegt. Wir hörten von den Bewohnern der burgartigen Bergweiler, zunächst durch Heinrich Barth und neuerdings durch einen französischen, sehr talentvollen, aber ungenügend vorgebildeten jungen Offizier Namens Despiagnes. An diesen Bergleuten ist alles merkwürdig, das Land, das sie bewohnen, die Ortschaften, die zum großen Teil auf Bergspitzen liegen, ihr Name, ihre Art und vor allem die Rolle, die sie im Rahmen der Geschichte des westlichen Sudan gespielt haben. Es ist ein rätselhaftes Volk, aber das Volk unterbreitet uns die Rätsel seines Daseins so einfach, so schlicht, daß der Ethnologe auf den ersten Blick deren Lösung als möglich erkennt. Ich erachte die Probleme, die diese Menschen und ihre Kultur uns bieten, aber für viel durchsichtiger als die großen Fragen, die die zentralen Mande uns vorlegen. Denn bei denen müssen alle Schichten erst auseinander gelegt werden; bei ihnen sind alle Völker, Stämme, Kasten und Sippen durcheinandergeworfen - eine große Assimilierung der Schichtungen hat bei ihnen stattgefunden. Bei den Bergbewohnern in Massina dagegen liegt hübsch ordentlich noch Schicht über Schicht, Düne neben Düne, und wir haben das Bild einer gut erhaltenen geologischen Formation.

Leider war es mir nicht vergönnt, größere Reisen in verschiedene Teile dieses Berglandes zu unternehmen, denn wie ich im Reisebericht (,,Auf dem Wege nach Atlantis") seinerzeit klarlegte, war just zur Zeit unseres Eintreffens im Berglande die französische Verwaltung mit der energischen, wenn auch friedlichen Durchdringung dieser Stämme beschäftigt, und der Administrateur von Bandiangara legte es nahe, nicht weiter nach Nord oder Nordost in das Land zu marschieren, es sei denn im Anschluß an seinen eigenen Zug. So war ich gezwungen, die direkten Forschungen auf die Stämme des Südrandes zu beschränken. Erfreulicherweise war aber unser schwarzer Studiengehilfe Mussa Djerra unbemerkt und ohne mein Wissen weiter nach Norden in das Land eingedrungen und hat so Vertreter verschiedener Stämme sowie wesentliche Belegstücke der Kunst und Industrie jener Menschen hingebracht. Ich selbst lernte zwei Südprovinzen kennen: I die Landschaft Dondonve (eigener Name) oder Dendori (Fulbebezeichnung), die den Südrand der Gebirgsstöcke bis Songo umfaßt, und 2. die Landschaft Seno, die



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das Gebiet zwischen Komboro-Kenji-Tema bis zum Berglande umfaßt. Auch südlich von Komboro Kenji bis vor die Tore von Uahiguja, d. h. Jatenga, wohnen noch gleichsprachige und gleichgesittete Stämme, sie werden von den eigentlichen Bergbewohnern aber nicht zu gleicher Art gerechnet, weil sie schon sehr stark von Mossielementen durchdrungen sind. In der historischen Überlieferung wird davon die Rede sein, daß weiter im Westen die Ganna noch zur gleichen Art gehören.

Diese Bergmenschen nun, die, wie aus obigem hervorgeht, nicht nur Bergspitzen, sondern auch die großen Ebenen im Süden und nach Westen hin bewohnen, haben selbst keinen eigenen, zusammenfassenden Namen. Das sagt schon viel. Sie sagen, sie wären die Brüder der Bosso-Soroko im Nigertale und führten bei denen den Namen: Tommo oder Tombo, Bergbewohner. Man gibt ihnen vielfach den Namen Habbe (Sing.: Kado oder Kaddo), aber das ist eine Fulbebezeichnung, die mit dem Namen für die alte Art ihrer Wohnungen zusammenhängt. Sie haben vordem eine Art Mattenhaus gehabt, die die Fulbe Ga (Sing.: Danki), die Habbe selbst Sauru nennen und die mit den alten Mattenhäusern in Timbuktu eine große Ähnlichkeit haben. Weiter unten sollen sie näher beschrieben werden. Diesen Wohnungen verdanken sie ihren Namen, und mit dem fulbischen Namen Habbe (Sing.: Kado) bezeichnen sie sich heute nun selbst. Wir aber wollen sie Tommo nennen.

Es ist ein buntes Gemisch von allerhand Stämmen, die unter diesem Namen zusammengefaßt werden. Fraglos bieten die verschiedenen Provinzen allerhand auffallende Varianten, aber in generellem Unterschied, eine Zweiteilung wird für jeden aufmerksamen Beschauer sogleich notwendig. Ich glaube, man kann zwei Rassen unterscheiden, und hoffe, daß das Material an Schädeln, das gesammelt werden konnte, diesem äußerlichen Eindruck feste Beweisformen verleihen kann. Der eine Typus dieser Menschen ist der einer, sagen wir, kuschitischen Art: rötliche Hautfarbe, mongolisch schief stehende Augen, feine Glieder bei verhältnismäßig kleiner Statur. Der Schädel lang, tief eingedrückte Nasenwurzel, Stirn schmal, Hinterkopf breit. Der Kopf hat etwas Zierliches, Wohl. geformtes. Der zweite Typus nähert sich dagegen mehr der negroiden Art, und zwar muß man die Tommovariante dieser Art als durchaus ähnlich dem Bammanatypus bezeichnen: größere, starke Menschen, dunkle Hautfarbe, der Kopf klobiger, massig, breite, hervorstehende Backenknochen, gekrümmte Nase. Inwieweit die beiden Typen geographisch mehr nach der einen oder anderen Seite als überwiegend hervortreten, wage ich nicht zu entscheiden, denn ich kenne den Norden nicht. Es würde mich aber nicht wundern, wenn eine intensive systematische Forschung zu



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dem Resultate kommt: im Westen und Süden vorwiegend Bammanatypus, im Nordosten, in den entlegenen Gebieten und in den Felsnestern mehr mongolischer Typus.

Das würde wenigstens auch mit den eigenen Vorstellungen der Tommo von ihrem Werdegang an übereinstimmen. Die Tommo des Südens und Ostens geben unisono an, sie stammten aus dem Lande Mande, ihre Stämme (= Diamu, oder in Tommo =Tiga) seien die gleichen wie die heute im Bammana- und Malinkegebiet ansässigen. Sie hätten nur andere Namen angenommen.

Jedenfalls muß gerade bei den Tommo betont werden, daß der Völkerkundige das Gewordene betrachten soll, ehe er sich der Frage nach dem Gewesenen zuwendet. Ich habe mich ernstlich bemüht, das Wesen und den Zustand der heutigen Tommo zu durchdringen, um damit ein Instrument in die Hand zu bekommen, das es ermöglichte, das Vergangene vom Heutigen säuberlich zu scheiden und am Aufbau dieses Völkerwesens eine ergebnisreiche anatomische Sektion durchzuführen.

Zu diesem Zwecke habe ich zunächst möglichst viele Legenden gesammelt und glaube, daß gerade diese kleine Sammlung heller in das Wesen und Werden der Tommo hineinleuchtet, als ein noch so umständliches Schildern der Volksart. Vertiefen wir uns nun in diese Legenden, so fällt der ganz eigene Charakter auf, der ihnen eigen ist.

Als geschichtliches Leitmotiv spricht aus ihnen, daß die Tommo als ein zerstückeltes Volk sich ängstlich in den schwer zugänglichen Felsenburgen verstecken. Die Menschen sind übermütig, wenn sie eine reiche Ernte auf ihre Felsnester geschleppt haben. Dann können die Feinde ihnen nichts anhaben. Fulbe und Mossi belagern die Feisburgen, aber sie vermögen die Tommo nicht zu packen, und die Tommo sind dann frech und räuberisch, stehlen und lachen über die Gefoppten. Wehe aber, wenn das nächste Jahr mit der Ackerarbeit herannaht. Wenn sie draußen die Felder bestellen, fallen die Reitervölker der Ebene über sie her und rauben die Feldarbeiter, Männer und Weiber. Dann ist es mit dem Stolze und dem Übermute vorbei. Dann gilt es Abgaben zahlen, um die Angehörigen zu befreien. — Dieses Motiv kehrt in den meisten Legenden der Bergtommo wieder, und es ist der Vorgang, der das Leben dieser Berg-Burgmenschen charakterisiert. In der einen Jahreszeit Raubritter, in der anderen geschorene Bauern.

Aber es geht durch das ganze noch etwas, das wohl noch tiefer in den Werdegang der Tommo hineinleuchtet: staatliche Zerrissenheit und Degeneration im eigentlichen nördlichen Berglande, staatliche Kraft und Geschlossenheit in der südlichen Ebene, in der Ebene der Ganna. Es ist ein Gegensatz, so ausgesprochen und



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markant, so unverkennbar deutlich, daß jeder Irrtum ausgeschlossen ist. Er ist das Wesen der Lebensgrundlage, des geographischen Bodens, des Wohnsitzes, das als Daseinsgesetz dies Volksleben regiert, modifiziert, umbildet und nie eine Entwicklungsgröße aufkommen läßt. Es ist ganz gleich, ob die Elemente dieser Legenden.. kunst kosmogonischen oder was sonstartigen Ursprunges sind. Auf jeden Fall ist die Fabulei bei allen diesen Völkern kultursymptomatisch. Die langen Ependichtungen der Soninke und Fulbe mit ihren markanten Heldengestalten, deren siegreicher Kraft nichts Stand hält auf der einen Seite, die langen Sänge der Bosso-Soroko, in denen magische Kunst, magischer Waffenprunk, Spuk, Teufelswesen und asiatisch verschrobener Mystizismus prunkt und irrlichtert, die großzügige Heldensage, das sieggekrönte Sunjata bei den Malinke einerseits - und demgegenüber diese kleine, engherzige Welt der Tommoerzählungen! Wer will weitergehende Durchdringung und Überlegenheit durch geographische Tatsachen bedingter Charaktereigenschaften. Jedes Städtchen auf seiner Felsenspitze eine Welt, klein und kleinlich egoistisch und unfähig, den Blick weiter hinausschweifen zu lassen, als über das Tal, in dem die Äcker der Ortschaft angelegt sind. Es ist, wie gesagt, für diese Betrachtung gleichgültig, ob die Elemente dieser Legendenkunst kosmogonischen oder andersartigen Ursprunges sind. Es sind vielleicht dieselben Legendenelemente bei Marka, Fulbe, Bosso und Tommo, aber bei den Tommo wird alles überall über die Maßen schmaibrüstig und kümmerlich. Der eine Ortskumpan holt Mossi, der andere Fulbe, der dritte die Djalgoddi-Leute herbei, um die eigenen Landsleute zu vernichten. Im Glück ist er reich und übermütig, im Unglück gehässig!

Es ist ein zerrissenes, in kleinliche Felsbrocken zertrümmertes Bergland, ebenso seine Menschen, und nur die Menschen der Steppe, die Ganna usw., künden von größeren Helden und Männertaten. — Das ist das Volksleben der Tommo.


Copyright: arpa, 2015.

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