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Kapitel 

SPIELMANNS GESCHICHTEN DER SAHEL

HERAUSGEGEBEN VON LEO FROBENIUS

1921

VERLEGT BEI EUGEN DIEDERICHS/JENA



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MIT EINER KARTE DER SAHARA UND

EINER BILDERTAFEL / TITEL- UND

EINBANDZEICHNUNG VON F. H. EHMCKE

Die Gesänge.

Die Spielleute verglich ich oben mit nordischen Barden und Skalden. Die Gesänge selbst stehen ihrer Art nach am nächsten den Sagas Alt-Islands. Für die Vortragsweise ist eine gewisse Nüchternheit bezeichnend. Gefühle werden nicht geschildert, nur deren Auswirkungen; diese aber sind die eigentlich seelische Wesenheit des Diallisanges.

Die Stoffe sind fast durchweg die eines real aufgefaßten Heldentumes. Religiöse Motive fehlen ursprünglich vollkommen. Die Gestalten selbst und deren Wandlungsformen lassen nicht einen Augenblick den Verdacht mythologischen Ursprungs aufkommen. Die Irrfahrten der Odyssee konnten eine tieferem Sinn nachspürende Forschung symbolisch erklären, bei den alten Stoffen sahelischer Spielmannsgeschichten wird das nicht möglich sein. Sie sind real, tatsächlich und an sich wirklich erlebt.

Dagegen sind sie nicht historisch. Die Sänger haben sicher nie Wert darauf gelegt, diese aus dem breiten Leben geflossenen Epen historisch wahrheitsgetreu zu gestalten oder aber zu bewahren. Da aus dem Leben geflossen, liegt ihnen die ganze Kraft wirklicher Seelenhaftigkeit zugrunde - aus bestimmten Zeitereignissen geboren,



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tragen sie diese Spuren stark eingeprägt -, aber nie war ihr Innensinn der wahrhaftiger Geschichte.

Die Erhaltung dieser Überlieferungen ist keine gute. Die Dialli selbst geben an, daß das, was heute als einzelne Gesänge vorgetragen wird, früher in einem Zusammenhang gestanden hat, und von dem großen Gesang der Sisse weiß man nicht mehr als nur, daß die wenigen Sänger, die ihn kannten, zur Zeit des ersten Erscheinens der Mondsichel ihn vorzutragen begannen und, wenn sie auch jede Nacht ihn fortsetzten, erst dann am Ende anlangten, wenn der Vollmond wieder abnahm. Auch das sagen sie, daß die Gesänge heute durchweg kürzer vorgetragen würden als vordem und erklären es damit, daß vordem Lieder in ihnen enthalten gewesen seien, die sie, die Sänger, der Sprache nach nicht mehr verstanden und somit weggelassen hätten.

Eine weitere Umbildung trat dadurch ein, daß an Stelle alter Namen solche von Tagesbedeutung eingesetzt wurden. So treffen wir historische Personen wie den Schech Amadu, den König Monsol, die Sippe der Dabora - alles Menschen heutiger Zeit oder doch wenigstens aus den letzten Jahrhunderten. Auch dies erklärte mir Korongo sehr schlicht: Da man keine neuen Sänge mehr dichten könne, so benutze man die alten und setze die Namen des betreffenden großen Herren ein, dem man schmeicheln wolle. Der verrufene Samory ließ so zwei Epen umbilden, das des Sira Maga Njoro und das Lagia, und zwar in der naiven Form der einfachen Einfügung seines Namens.

Auch erklärte Korongo, weshalb es den Dialli nicht mehr möglich sei zu dichten wie in alter Zeit. Einmal, meinte er, könne es ja keine Helden mehr geben, weil sich alles Leben in großen Städten vereinige. Dann aber - dieses aber erschien mir sehr klug - müßten heut alle Kinder in die islamischen Schulen gehen, und da sie dort Hunderte von Zeilen jahraus, jahrein gemeinsam im Chor und einzeln wieder aufsagen müßten, so verlören sie damit die Fähigkeit, eigene Sätze und eigene Gedanken zu entwickeln.

Wie schon aus der Gliederung des Stoffes hervorgeht, weisen auch heute noch die Gesänge gruppenweise eine gewisse Zusammengehörigkeit auf, und es ist eine für die Beurteilung ihrer kulturgeschichtlichen Bedeutung wichtige Frage, inwieweit diese Gruppierungen wesentliche Unterschiedlichkeiten verraten. Soviel mag schon vorausgesandt werden: je weiter die Vortragsweise sich von dem Zentrum Altganna-Faraka entfernt, desto mehr verfällt sie der Märchenhaftigkeit und einer Verkleinerung des Sinnes. —Typisch ist die Verkümmerung der in den Homburibergen eingesammelten und im letzten Teile wiedergegebenen Trümmer.



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Sehr wichtig zum Verständnis der Gesänge scheint es mir nun, den Leser mit der ganzen großartigen Kulturwelt dieser Länder, wie sie heute allerdings nur noch als Scherben daliegt, bekanntzumachen. Die große Linienführung eines einst hohen Lebensstils ist aber auch aus den kleinlich gewordenen Zügen der immer noch tief originellen Welt der westlichen Sahelen und Sudaner unserer Tage zu erkennen.


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