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DIE ERZÄHLUNGEN AUS DEN TAUSENDUNDEIN NÄCHTEN

VOLLSTÄNDIGE DEUTSCHE AUSGABE IN SECHS BANDEN

ZUM ERSTEN MAL NACH DEM ARABISCHEN URTEXT DER CALCUTTAER AUSGABE AUS DEM JAHRE 1839

UBERTRAGEN VON ENNO LITTMANN

BAND 2

IM INSEL-VERLAG


DIE GESCHICHTE VOM IGEL UND VON DEN HOLZTAUBEN

Einst schlug ein Igel seine Wohnung neben einer Palme auf, die ein Holztauber mit seiner Täubin sich erwählt hatte; die beiden hatten sich dort ihr Nest gebaut, und sie führten auf ihr ein behagliches Leben. Nun sprach der Igel bei sich selbst: ,Sieh da, der Tauber und die Täubin essen die Datteln von der Palme, während ich nicht zu ihnen gelangen kann. So bleibt mir nichts übrig, als eine List gegen die beiden anzuwenden.' Darauf grub er unter der Palme ein Loch und machte es zur Wohnung für sich und sein Weibchen; daneben aber richtete er eine Betstätte her. In die zog er sich zurück und trug Frömmigkeit, Gottesdienst und Weltentsagung zur Schau. Wie der Tauber ilm nun in Gottesdienst und Gebet versunken sah. ward er durch so viel Selbstentsagung gerührt, und er sprach zu dem Igel: ,Wieviel Jahre lebst du schon so?' ,Dreißig Jahre lang', antwortete der Igel. ,Und was ist deine Nahrung?' ,Was von der Palme herabfällt.' ,Und was ist deine Kleidung?' ,Stacheln, deren Rauheit mir von Nutzen ist.' ,Warum hast du dir denn gerade eine solche Lebensweise hier ausgesucht und keine andere?' ,Ich habe sie jedem anderen Lebenswege vorgezogen,



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um die Irrenden rechtzuleiten und die Unwissenden zu belehren.' Nun sagte der Tauber: ,Ich hatte gedacht, daß du anders lebtest als so; doch nun verlangt es mich nach deinem Wandel.' Aber der Igel erwiderte: ,Ich fürchte, daß deine Rede deinem Tun widersprechen wird; dann wirst du wie der Säemann sein, der zur Zeit der Aussaat es unterließ zu säen, indem er sprach: ,Ich fürchte, die Tage reichen nicht mehr hin, um mich zum Ziele zu führen; und so würde ich nur beginnen, meine Habe fortzuwerfen, wenn ich mit dem Säen eile.' Doch als die Erntezeit kam und er sah, wie die Leute die Ernte einbrachten, da packte ilm Reue über das, was ihm durch seine Säumigkeit entgangen war; und er starb vor Kummer und Ärger.' Weiter sprach der Tauber zum Igel: ,Was soll ich denn tun, um mich von den Banden der Welt zu befreien und mich ganz dem Dienste des Herrn hin zu geben?' Der Igel gab ihm zur Antwort: ,Beginne damit, dich zu rüsten für das künftige Leben und dich mit karger Nahrung zufrieden zu geben!' ,Wie kann ich das tun?' fragte der Tauber, ,ich bin doch ein Vogel, und ich kann die Palme, auf der meine Nahrung wächst, nicht verlassen. Ja, könnte ich es auch tun, so wüßte ich doch keine Stätte, an der ich wohnen könnte.' Darauf antwortete ihm der Igel: ,Du kannst dir von den Datteln der Palme so viele herunterschütteln, daß sie als Mundvorrat für dich und dein Weibchen ein Jahr lang genügen. Dann kannst du in einem Neste unter dem Baume wohnen und beten, der Schönheit des rechten Weges teilhaftig zu werden. Dann wende dich zu den abgeschüttelten Früchten, trag sie alle fort und speichere sie auf als Vorrat für die Zeit der Not. Hast du sie dann aufgezehrt und dauert die Zeit lange, so begnüge dich mit karger Nahrung.' Da sprach der Tauber: ,Gott vergelte dir mit Gutem deine trefffiche Absicht; denn du hast mich auf das künftige



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Leben vorbereitet und mich auf den rechten Weg geleitet!' Dann mühten sich der Tauber und sein Weibchen so lange damit ab, die Datteln hinunterzuwerfen, bis keine Frucht mehr auf der Palme übrig geblieben war. Der Igel aber hatte nun sein Futter gefunden, und hocherfreut füllte er seine Wohnung mit den Datteln und speicherte sie als Vorrat für sich auf, indem er bei sich sprach: ,Der Tauber und sein Weibchen werden, wenn sie Nahrung nötig haben, mich darum bitten und nach dem verlangen, was ich in Besitz habe; denn sie Vertrauen darauf, daß ich enthaltsam und fromm bin. Und wenn sie dann meinen guten Rat und meine Ermahnungen hören, so werden sie nahe an mich herankommen; ich aber will sie packen und auffressen, und dann gehören dieser Ort und alle Datteln, die von der Palme herabfallen, mir ganz allein, und daran habe ich genug.'

Nun kamen der Tauber und die Täubin von der Palme herunter, nachdem sie alle Früchte abgeschüttelt hatten. Als sie aber die Datteln nicht fanden, die der Igel alle in seine Höhle geschafft hatte, sprach der Tauber zu ihm: ,O Igel, frommer Vater, du Prediger und Berater, wir finden keine Spur mehr von den Datteln. und wir kennen keine anderen Früchte. von denen wir uns nähren könnten.' Der Igel erwiderte: ,Vielleicht haben die Winde sie davon geweht; doch die Abkehr von der Nahrung und die Einkehr zu dem Ernährer sind es, darin das rechte Heil besteht. Und Er, der die Mundwinkel gespalten, wird ihnen die Nahrung nicht vorenthalten.' Und so ließ er sie weiter dergleichen Ermahnungen hören und fuhr fort, sie mit seiner Frömmigkeit und mit schönen Worten zu betören, bis sie ihm Vertrauen schenkten und ihren Weg zu ihm lenkten. So traten sie in das Tor seiner Höhle ein, ohne zu fürchten, er könnte ein Betrüger sein. Er aber sprang an das Tor und



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streckte fletschend die Zähne hervor. Als der Tauber nun gewahrte, wie sich des Igels Falschheit offenbarte, rief er ihm zu: ,Welch ein Unterschied zwischen heute abend und dem gestrigen Tage! Weißt du nicht, daß ein Helfer für die Unterdrückten lebt? Hüte dich vor Lug und Trug, auf daß es dir nicht ergehe, wie es einst den beiden Gaunern erging, die den Kaufmann überlisten wollten!' ,Wie war denn das?' fragte der Igel. Da erzählte der Tauber


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