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DIE ERZÄHLUNGEN AUS DEN TAUSEND UND EIN NÄCHTEN

VOLLSTÄNDIGE DEUTSCHE AUSGABE IN SECHS BÄNDEN

ZUM ERSTEN MAL NACH DEM ARABISCHEN URTEXT DER CALCUTTAER AUSGABE AUS DEM JAHRE 1839 ÜBERTRAGEN VON ENNO LITTMANN

BAND 1

IM INSEL-VERLAG


DIE GESCHICHTE DES ERSTEN SCHEICHS

"Wisse, o Dämon, diese Gazelle ist meine Base, von meinem Fleisch und Blut; ich hatte mich mit ihr vermählt, als sie noch ein junges Mädchen war, und ich lebte mit ihr etwa dreißig Jahre; aber ich wurde nicht mit Kindern von ihr gesegnet. So nahm ich mir eine Nebenfrau, von der ich einen Knaben erhielt, lieblich wie der volle Mond, mit Augen und Brauen von



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vollkommener Schönheit. Er wuchs heran und ward groß und ward ein Bursche von fünfzehn Jahren; da wurde es nötig, daß ich in einige Städte reiste, und ich zog aus mit großem Vorrat an Waren. Aber meine Base, diese Gazelle, hatte seit ihrer Jugend die Zauberkunst und die Magie erlernt; und so verzauberte sie jenen Knaben in ein Kalb und jene Sklavin, seine Mutter, in eine Färse und übergab sie der Obhut des Hirten. Als ich dann nach langer Zeit von meiner Reise heimkehrte und nach meinem Sohn und seiner Mutter fragte, erwiderte sie mir: ,Deine Kebse ist tot, und dein Sohn ist geflohen, und ich weiß nicht, wohin er gegangen ist.' So verbrachte ich ein ganzes Jahr mit bekümmertem Herzen und weinenden Augen, bis das große Fest Allahs herankam. Da schickte ich zu dem Hirten und hieß ihn mir eine fette Färse bringen; und er brachte mir eine fette Färse, das war meine Sklavin, die von dieser Gazelle verzaubert war. Ich schürzte mir Ärmel und Saum, nahm das Messer in meine Hand und wollte ihr den Hals durchschneiden, aber sie brüllte laut und weinte bittere Tränen. Darüber wunderte ich mich, und Mitleid erfaßte mich; und ich ließ ab von ihr und sagte dem Hirten: ,Bringe mir eine andere her.' Da rief meine Base: ,Schlachte diese, denn für mich gibt es keine schönere und fettere als diese!' Noch einmal ging ich hin, um sie zu schlachten, aber wieder brüllte sie laut, worauf ich abstand und jenem Hirten befahl, sie zu schlachten und abzuziehen. Er schlachtete sie und zog sie ab, aber er fand in ihr weder Fett noch Fleisch, nur Haut und Knochen; und ich bereute, daß sie geschlachtet war, als die Reue mir nichts mehr nutzte. Ich gab sie dem Hirten und sagte zu ihm: ,Hole mir ein fettes Kalb'; und er brachte mir meinen eigenen Sohn. Als aber jenes Kalb mich sah, zerriß es seine Fessel und lief auf mich zu, rieb seinen Kopf an mir und klagte und weinte, so daß mich



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Mitleid mit ihm erfaßte und ich zu dem Hirten sagte: ,Bringe mir eine Färse und laß dies Kalb laufen!' Da schrie meine Base, diese Gazelle, mich laut an und sagte: ,Du mußt dies Kalb schlachten an diesem Tage; denn dies ist ein heiliger Tag und ein gesegneter, an dem nur geschlachtet wird, was ganz ohne Fehl ist; und wir haben unter unseren Kälbern kein fetteres noch schöneres als dieses!' Ich aber sprach: ,Schau, wie es um die Färse stand, die ich auf dein Geheiß habe schlachten lassen! Wir sind doch durch sie enttäuscht, und wir haben in gar keiner Weise Nutzen von ihr gehabt; ich bereue es bitterlich, daß ich sie habe schlachten lassen: so will ich nun diesmal bei dem Opfer dieses Kalbes kein Wort von dir annehmen.' Da sprach sie zu mir: ,Bei Allah, dem Allmächtigen, dem Erbarmenden, Erbarmungsreichen: du mußt es an diesem heiligen Tage töten; und wenn du es nicht tötest, so bist du mein Mann nicht mehr, und ich bin nicht mehr deine Frau.' Als ich nun diese harten Worte von ihr hörte und doch ihr Ziel nicht kannte, da trat ich zu dem Kalb, das Messer in der Hand.' — —«

Da bemerkte Schehrezâd, daß der Morgen begann, und sie hielt in der verstatteten Rede an. Ihre Schwester aber sprach: »Wie schön ist deine Erzählung und wie entzückend, und wie lieblich und wie berückend!«Und Schehrezâd erwiderte ihr: »Was ist all dies gegen das, was ich euch in der nächsten Nacht erzählen könnte, wenn der König mein Leben zu schonen geruhte!« Da sprach der König zu sich selber: ,Bei Allah, ich will sie nicht töten lassen, bis ich den Schluß ihrer Geschichte höre.' Darauf verbrachten sie den Rest jener Nacht in gegenseitiger Umarmung, bis der Tag vollends anbrach. Dann ging der König in die Regierungshalle hinüber, und dort stand der Wesir mit dem Leichentuch unter dem Arm. Darauf sprach der König Recht, setzte ein und setzte ab, bis der Tag zur Neige



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ging; dem Wesir aber geruhte er nichts von dem Geschehenen zu sagen. Darob nun geriet der Wesir in höchste Verwunderung. Und schließlich brach die Versammlung auf, und König Schehrijàr kehrte in seinen Palast zurück. Doch als die 2. Nacht anbrach, sagte Dinazâd zu ihrer Schwester Schehrezâd: »Liebe Schwester, erzähle uns doch deine Geschichte von dem Kaufmann und dem Dämonen zu Ende«; und sie erwiderte: »Mit größter Freude, wenn der König es mir erlaubt.«Der König sprach: »Erzähle nur!«, und Schehrezâd begann mit diesen Worten:

»Es ist mir berichtet worden, o glücklicher König und rechtgläubiger Herrscher, als nun der Kaufmann das Kalb schlachten wollte, da hatte sein Herz Mitleid, und er sprach zu dem Hirten: ,Laß dies Kalb bei der Herde bleiben!' All das erzählte der Scheich dem Dämonen, der sehr staunte über jene seltsamen Worte. Und der Mann mit der Gazelle fuhr fort:, O Herr aller Könige der Dämonen, all das geschah, während meine Base, diese Gazelle, zuschaute und sagte: ,Schlachte das Kalb, denn wahrlich, es ist ein fettes.' Ich aber konnte es nicht übers Herz bringen, das Tier zu töten, und hieß den Hirten es wegführen; und er führte es weg und ging mit ihm fort. Als ich nun am nächsten Tage dasaß, siehe, da kam der Hirt, trat vor mich hin und sprach: ,O Herr, ich will dir etwas sagen, worüber du dich freuen wirst und was mir den Lohn froher Botschaft eintragen soll.' ,Gut', sprach ich, und er darauf: ,O Kaufmann, ich habe eine Tochter, die hat in ihrer Jugend die Zauberkunst gelernt von einer alten Frau, die bei uns lebte. Gestern, als du mir das Kalb gegeben hattest, ging ich zu ihr ins Haus; meine Tochter schaute es an und verhüllte ihr Gesicht; dann weinte und lachte sie abwechselnd, und schließlich sagte sie: Väterchen, ist meine Ehre dir so billig geworden, daß du fremde Männer zu mir



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hereinführst? Ich aber fragte sie: Wo sind die fremden Männer, und weshalb lachtest und weintest du?, und sie erwiderte: Fürwahr, dies Kalb, das du bei dir hast, ist der Sohn unseres Herrn; aber er ist verzaubert, denn seine Stiefmutter hat ihn und seine Mutter verwandelt; das ist der Grund meines Lachens, der Grund meines Weinens aber ist seine Mutter, weil sein Vater sie hat töten lassen. Da geriet ich in höchste Verwunderung und konnte kaum das Tagesgrauen abwarten, bis ich zu dir kam, um es dir zu sagen.' Als ich nun, o Dämon, diese Worte von dem Hirten vernommen hatte, ging ich mit ihm hinaus, trunken ohne Wein von dem Übermaß der Freude und des Glücks, die mir zuteil geworden, bis ich sein Haus erreichte. Dort begrüßte mich die Tochter des Hirten und küßte mir die Hand; und alsbald kam das Kalb und rieb seinen Kopf an mir. Da sprach ich zu des Hirten Tochter: ,Ist das wahr, was du von diesem Kalbe sagst?', und sie erwiderte: ,Ja, o Herr, es ist wirklich dein Sohn, dein Herzblut.' Nun rief ich: ,O Mädchen, wenn du ihn befreist, so soll dein sein, was von meinem Vieh und Besitz unter deines Vaters Obhut steht.' Doch sie lächelte und sprach: ,O Herr, es verlangt mich nicht nach dem Besitz, sondern ich habe nur zwei Bedingungen; die erste ist, daß du mich deinem Sohne vermählest, und die zweite, daß ich die verzaubern darf, die ihn verzaubert hat, und sie gefangen setzen; sonst bin ich nicht sicher vor ihren Ränken.' Als ich nun, o Dämon, die Worte der Tochter des Hirten vernommen hatte, erwiderte ich: ,Außer dem, was du verlangst, gehört all mein Vieh und all mein Besitz in deines Vaters Obhut dir, und das Blut meiner Base ist nach dem Rechte dein.' Und als sie meine Worte vernommen hatte, nahm sie eine Schale, füllte sie mit Wasser, sprach eine Zauberformel darüber und besprengte das Kalb mit dem Wasser, indem sie sagte: ,Wenn du ein Kalb bist und als ein solches



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von Allah dem Erhabenen geschaffen, so bleib in dieser Gestalt und verwandele dich nicht; wenn du aber verzaubert bist, so kehre auf den Befehl Allahs des Erhabenen in deine einstige Gestalt zurück.' Und siehe, es zitterte und wurde ein Mensch. Da fiel ich ihm um den Hals und rief: ,Ich bitte dich bei Allah, erzähle mir alles, was meine Base an dir und deiner Mutter getan hat.' Nun erzählte er mir, was ihnen beiden widerfahren war, und ich sprach: ,O mein Sohn, Allah sandte dir eine, die dich entzaubern konnte und dir zu deinem Rechte verhelfen.' Und dann, o Dämon, vermählte ich ihm des Hirten Tochter, und sie verwandelte meine Base in diese Gazelle, indem sie sagte: ,Dies ist eine zierliche Gestalt, keine häßliche, von der die Blicke sich abwenden.' Danach lebte die Hirtentochter bei uns Tag und Nacht, Nacht und Tag, bis Allah sie zu sich nahm. Doch als sie entschlafen war, zog mein Sohn aus nach dem Lande Hind, und das ist das Land dieses Mannes, von dem dir widerfuhr, was geschehen ist. Und ich nahm dann diese Gazelle, meine Base, und wanderte mit ihr von Ort zu Ort, ausschauend nach Kunde von meinem Sohn, bis das Schicksal mich an diesen Ort trieb, wo ich den Kaufmann in Tränen sitzen sah. Das ist meine Geschichte.'

Da sprach der Dämon: ,Dies ist eine seltsame Geschichte, und daher schenke ich dir den dritten Teil seines Blutes.' Nun trat der zweite Scheich, der Mann mit den beiden Windhunden, vor und sprach zu dem Dämon: ,Wenn ich dir berichte, was mir widerfahren ist von meinen Brüdern, diesen beiden Hunden, und du siehest, daß dies eine noch seltsamere und erstaunlichere Geschichte ist, willst du auch mir ein Drittel von dieses Mannes Schuld gewähren?' Jener entgegnete: ,Wenn deine Geschichte noch seltsamer und erstaunlicher ist, so ist es dir gewährt.'

Und er begann also


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