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DIE ERZÄHLUNGEN AUS DEN TAUSENDUNDEIN NÄCHTEN

VOLLSTÄNDIGE DEUTSCHE AUSGABE IN SECHS BANDEN

ZUM ERSTEN MAL NACH DEM ARABISCHEN URTEXT DER CALCUTTAER AUSGABE AUS DEM JAHRE 1839

UBERTRAGEN VON ENNO LITTMANN

BAND 2

IM INSEL-VERLAG


DIE GESCHICHTE VOM FLOH UND VON DER MAUS

Man erzählt, daß einst eine Maus im Hause eines Kaufmannes lebte, der eine große Menge von Waren und viel Geld besaß. Eines Nachts nun kroch ein Floh in das Bett jenes Kaufherrn; da fand er, daß der Mann einen zarten Leib hatte, und weil er selbst durstig war, so trank er von dessen Blut. Aber da der Flohstich ihn schmerzte, so erwachte der Kaufmann aus dem Schlafe, richtete sich im Sitze empor und rief seine Sklavinnen und einen seiner Diener. Die kamen eilends herbei, schürzten ihre Ärmel auf und suchten nach dem Floh. Als der aber merkte,



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daß man nach ihm suchte, wandte er sich zur Flucht, traf auf ein Mauseloch und hüpfte hinein. Wie die Maus ihn sah, fragte sie ihn: ,Was führt dich zu mir, dich, der du weder von meiner Art noch von meinem Stamme bist, den nichts vor Grobheit, Mißhandlung und Gewalttat sicherte' Der Floh gab ihr zur Antwort: ,Sieh, ich bin in deine Wohnung geflohen, um mich vor dem Tode zu retten; ich bin als Schutzflehender zu dir gekommen, es gelüstet mich nicht nach deinem Hause, dir soll von mir nichts Böses widerfahren, das dich aus deiner Wohnung vertreiben könnte. Nein, ich hoffe vielmehr, dir deine Güte gegen mich aufs beste zu lohnen; dann sollst du erleben und preisen, wie meine Worte sich erfüllen.' Auf diese Worte des Flohs - —«

Da bemerkte Schehrezâd, daß der Morgen begann, und sie hielt in der verstatteten Rede an. Doch als die 151. Nacht anbrach, fuhr sie also fort: ,Es ist mir berichtet worden, o glücklicher König, daß die Maus auf diese Worte des Flohes erwiderte: ,Wenn die Sache so ist, wie du sie beschrieben und erzählt hast, so bleib in Sicherheit hier, dir soll nichts Böses widerfahren; du sollst nur das erleben, was dir Freude macht, nur das soll dir begegnen, was auch mir begegnet. Ich will dich mit meiner Liebe überschütten; du brauchst es nicht zu bereuen, wenn dir das Blut des Kaufmanns entgeht, noch darüber zu trauern, daß du früher bei ihm Nahrung fandest. Begnüge dich mit dem, was dir an Lebensunterhalt sich bietet; das ist sicherer für dich. Ich habe vernommen, o Floh, daß einer der lehrhaften Dichter einmal diese Verse sprach:

Ich gab mich zufrieden, mein Leben war einsam;
Mit dem, was sich darbot, verbracht ich die Zeit:
Mit trockenem Brote, mit Wasser zum Trinken.
Mit körnigem Salz und mit schäbigem Kleid.



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Erleichtert mir Allah das Leben, so freut's mich.
Wo nicht, so genügt mir, was Er mir verleiht.

Als der Floh die Worte der Maus vernommen hatte, sprach er: ,Schwester, ich höre auf deine Ermahnung und füge mich dir in Gehorsam, ich habe auch keine Kraft dir zu widersprechen, bis die Aufgabe des Lebens in dieser guten Absicht erfüllet wird.' Die Maus erwiderte darauf: ,Für die echte Freundschaft genügt die aufrichtige Absicht.' So ward das Band der Freundschaft zwischen ihnen beiden geknüpft; und darauf lebte der Floh des Nachts im Bette des Kaufmanns, ohne mehr zu nehmen, als er gerade zum Leben notwendig hatte, am Tage aber lebte er bei der Maus in ihrem Loche. Nun begab es sich, daß der Kaufmann eines Abends viele Goldstücke mit nach Hause brachte und sie genau anzusehen begann. Wie die Maus den Klang der Dinare hörte, steckte sie den Kopf aus ihrem Loche heraus und sah sie an, bis schließlich der Kaufmann das Geld unter ein Kissen barg und sich zum Schlafe niederlegte. Da sprach sie zum Floh: ,Siehst du nicht die Gelegenheit, die sich darbietet, und den großen Glücksfall? Weißt du ein Mittel, das uns in den Stand setzt, jene Dinare dort zu gewinnen?' Doch der Floh erwiderte: ,Wenn einer ein Ziel erstrebt, so muß er ihm auch gewachsen sein; ist er aber zu schwach dazu, so gerät er in eine Lage, vor der er sich hüten sollte, und er erreicht seinen Wunsch nicht, eben weil ihm die Kraft dazu fehlt, mag auch alle Stärke des Listenreichen aufgewandt werden; dann gleicht er dem Sperling, der Körner picken will, aber dabei ins Netz fällt, so daß der Vogelsteller ihn fängt. Du hast doch nicht die Kraft, die Dinare zunehmen und aus dem Hause zu schleppen, und auch ich habe nicht die Fähigkeit dazu, ja, ich kann nicht einmal einen einzigen von den Dinaren tragen. Was gehen dich also die Goldstücke an?'



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Da sagte die Maus: ,Sieh, ich habe in meinem Loche hier siebenzig Ausgänge hergestellt, aus denen ich hinausschlüpfen kann, wann ich nur will: und ferner habe ich für die Vorräte einen sicheren Platz bereitet. Gelingt es dir, ihn durch eine List aus dem Hause hinauszutreiben, so glaube ich an den Erfolg mit Sicherheit, wenn nur das Geschick mir seine Hilfe leiht.' ,Ich übernehme es dir, ihn aus dem Hause zu treiben', sprach der Floh, hüpfte alsbald auf das Lager des Kaufmanns und stach ihn so furchtbar, wie jener es zuvor noch niemals von ihm erlebt hatte: dann eilte er davon an einen Ort, an dem er vor dem Manne sicher war. Der Kaufmann erwachte und suchte nach dem Floh, fand ihn aber nicht; da legte er sich auf die andere Seite und schlief weiter. Aber der Floh biß ihn noch einmal, noch schmerzhafter als vorher. Nun verlor der Kaufmann die Geduld, verließ sein Lager und ging hinaus zu einer Bank neben der Haustür; dort legte er sich nieder und wachte nicht wieder auf bis zum Morgen. Inzwischen hatte die Maus sich daran gemacht, die Goldstücke wegzuschleppen, bis sie nichts mehr von ihnen übrig gelassen hatte. Als es aber Morgen geworden war, lenkte der Verdacht des Kaufmanns sich auf die Leute. und er machte sich allerlei Gedanken.' *

Nach dieser Geschichte sprach der Fuchs weiter zum Raben: ,Wisse, daß ich dir dies nur erzählt habe, o Rabe voller Einsicht. begabt mit der Erfahrung und des Verstandes Licht, damit der Lohn deiner Güte gegen mich dir zuteil werde, wie die Maus ihren Lohn für die Güte gegen den Floh erhielt. Sieh nur, wie er ihr vergalt und ihr den schönsten Lohn zuteil werden ließ.'

Doch der Rabe entgegnete: ,Wenn der Wohltäter will, so erweist er Güte oder auch nicht; man braucht auch nicht dem



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eine Güte zu erweisen, der eine Wohltat um den Preis der Trennung von den Lieben verlangt. Wenn ich dir Gutes tue, der du doch mein Feind bist, so hat das zur Folge, daß ich mich von den Meinen trennen muß: und dazu bist du, o Fuchs, voller Lug und Trug. Und jemandem, dessen Natur Lug und Trug ist, kann man auch auf einen Eid hin nicht trauen; wem man aber nicht einmal auf einen Eid hin trauen darf, der ist ganz ohne Treu und Glauben. Vor kurzem ist mir doch über dich berichtet worden, wie du an einem deiner Freunde, dem Wolf, treulos und verräterisch gehandelt hast, so daß du ihn durch deine Tücke und List ins Verderben stürztest: und du hast so an ihm gehandelt, obgleich er von deinem Stamme war und du lange Zeit mit ihm befreundet warst. Hast du ihn nicht einmal verschont, wie soll ich da an deine Aufrichtigkeit glauben können? Wenn du so an deinem Freunde, der von deinem eigenen Stamme war, gehandelt hast, wie wirst du dann erst an deinem Feinde handeln, der nicht von deinem Stamme ist? Ich kann dich und mich nur dem Sakerfalken und den Raubvögeln vergleichen.' Als der Fuchs fragte: ,Wie war denn das?' erzählte der Rabe


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