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Grönländer und Färinger Geschichten


Übertragen von Erich von Mendelssohn

Verlegt bei Eugen Diederichs in Jena 1912


Einleitung

Aus zwei sich schroff entgegenstehenden Gründen kann uns ein Kunstwerk lieb und wertvoll sein: es kann unsere Anschauungsformen bestätigen, oder es kann sie unterwühlen, erschüttern, gänzlich zerstören, uns je nach seiner Stärke lehren, die angezweifelten Normen zu vertiefen, umzubauen oder uns völlig neue an ihrer Stelle zu geben.

Während die bestätigenden Kunstwerke uns nicht nur anhalten, sondern uns durch die Befestigung des augenblicklichen Besitzes an Weitsicht sogar auch an späterem Vorwärtsdringen hindern, ziehen wir wirklichen Gewinn nur aus den zerstörend aufbauenden, die uns immer wieder die vertrauten Dinge von neuen Seiten, neugewertet zeigen, die uns immer wieder bewußt machen, daß die angewöhnte, anerlernte Anschauungsweise durchaus nicht die wahre ist; die uns zwingen, immer neue Fragen zu stellen, durch deren stete vertiefung wir Mut und Kraft erhalten, das uns Unwahre in unserer Betrachtungsweise abzustreifen und das uns in unserem letzten Wesen Wahre rein zu sehen.

Und besonders wertvoll können uns Kunstwerke sein, die ihrem ganzen Stoffinhalte, ihrer Atmosphäre nach sich so garnicht mit dem Alltäglichen berühren, die nicht — wie etwa ein moderner Roman von ganz neuer Anschauungsform — mit jeder Zeile den Widerspruch des Konventionellen in uns erregen und deshalb zerstückt quälen, statt geschlossen zu wirken.

Revolutionären Büchern unserer Zeit stehen wir eigentlich erst dann rein empfänglich gegenüber, wenn ein starkes persönliches Erlebnis uns schon vorher zum Zweifel am Hergebrachten geführt hatte. Es fällt uns schwerer, das Gewohnte mit neuen Augen zu sehen, als ganz Neues in ganz neuer Form. Und aus dem Ganzneuen ziehen sich heimlich und uns selbst unbewußt die Fäden zum Zeitlosen, Letztpersönlichen —ziehen sich, kreuzen sich, verweben sich zu einem Teppiche, der uns plötzlich in neuen Farben und Linien das Ganzvertraute von völlig neuer Seite zeigt; der uns zwingt, die alten Fragen, die wir längst beantwortet zu haben glaubten, neu zu stellen, anders, tiefer



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zu stellen, der uns ermöglicht, die frühere Lösung als Scheinlösung zu verwerfen, der uns wieder eine Strecke der großen Wahrheit näher bringt.

Als Kunstwerk dieser Art — an der Oberfläche fremd, im Grunde so nah — kann uns die isländische Saga wertvoll sein. Nicht im einzelnen Geschehnis, so unterhaltend dieses auch sein mag, sondern als geschlossene Welt, in die wir uns langsam einleben, bis sie uns völlig vertraut ist. Und dann sehen wir von dem Buche auf, sehen auf unsere eigene Welt mit erweitertem Blick, können zunächst die beiden so verschieden gearteten Welten nicht vereinen, bis wir in beide tiefer zu schauen lernen, so tief, bis zu dem Punkte; wo sie sich beide vereinen: der letzten, in kein zeitliches Kleid gehüllten Ursprünglichkeit der Menschen, unserem wahren Wesen, unserer Einsamkeit und unserer Sehnsucht, unserer Stellung zu den unendlichen Dingen.

Aus dem Reichtume der isländischen Sagaliteratur greift dieser Band diejenigen heraus, die im wesentlichen außerhalb der Heimatinsel spielen: auf Grönland, an der amerikanischen Küste und auf den Färöern. Dieser Rahmen ist nicht schematisch , denn diese Seefahrererzählungen geben ein geschlossenes Bild vom altnordischen überseeischen Handelsverkehr, dem Bestreben, , neue Länder erschließen, wobei Abenteuerlust, Forschungstrieb, Kauffahrten und Kolonialpolitik sich miteinander verquicken. Und immer wieder verstehen die Könige des norwegischen Mutterlandes, alle Fäden zu sammeln, wenn sie auch oft ihren Händen zu entschlüpfen drohen, wissen durch den Glanz des Hoflebens sogar den freiesten Helden zu imponieren und diese ihren Plänen dienstbar zu machen und gewinnen schließlich in der Kirche einen gewaltigen Machtzuwachs. Und im Laufe der Zeit hat ja die schlaue eigennützige Handelspolitik der norwegischen Könige die beiden blühenden Kolonien Island und Grönland zugrunde gerichtet.

Jene starken Männer, die so ganz von ihren eigenen Leidenschaften erfüllt waren, fühlten nicht die ordnenden Hände der geschickten Regisseure, sahen nicht, wie jede ihrer Großtaten zu einem Stücke der Kette umgeschmiedet wurde, die Grönland für



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immer, Island bis in unsere Zeit zusammenschnürte. Nicht ohne Wehmut betrachten wir diese historische Tragödie und finden dann in unseren eigenen Geschicken manche Parallele.

Wenn sich auch die Erzählungen dieses Bandes in derselben Atmosphäre abspielen, so hat doch jede wieder eigene Züge. Die Geschichte von Erich dem Roten, die von der Entdeckung und Besiedelung Grönlands, sowie der Auffindung Amerikas handelt , ist im Tone sachlich, fast trocken. Die Saga ist in der vorliegenden Form jedenfalls sehr alt und in den Hauptsachen wahr. Dagegen ist die jüngere Erzählung von den Grönländern, die von denselben Ereignissen berichtet, bunter, lebendiger. Sie gefällt sich im Anekdotenhaften und kompliziert die Charaktere . Die Erzählung von Einar, dem Sohne Sokkis, führt uns in eine spätere Periode der grönländischen Geschichte. Jetzt haben sich die Verhältnisse hier bereits konsolidiert, es findet sich schon ein eigenes, grönländisches Nationalbewußtsein. Wir können den Bericht über die Errichtung des Bischofsstuhles in Gardar mit seinen Begleiterscheinungen als historisch ansehen.

Zu den schönsten Sagas gehört die Geschichte der Leute aus Floi. Sie nimmt uns gefangen durch die leidenschaftslose Darstellung der tragischen Geschichte von Thorgils, seinen verzweifelten religiösen Kämpfen, seinen drei Gattinnen, den Leiden an der grönländischen Küste und dem harmonischen Abschlusse dieses bewegten Lebens. Und zuweilen bricht aus der Herbheit die Wärme des Menschentums in einer Weise durch, die uns unmittelbar berührt. Ein bewußter Künstler hätte den Stoff nicht schöner aufbauen können, als es in dieser absichtslosen Form geschah.

Ganz anders verhält es sich aber mit der witzigen Geschichte von Fuchs dem Listigen. Ob sie nun einen historischen Kern hat, oder frei erfunden ist — in der vorliegenden Form stellt sie jedenfalls ein Kunstprodukt dar, einen altnordischen Roman, dessen verschlagener und unglaublich kunstfertiger Held bei allen seinen Listen und Tücken offenbar von der vollen Sympathie seines Dichters begleitet ist, der ihn immerhin —als versöhnenden Abschluß — auf einer Pilgerfahrt nach Rom sterben läßt.



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Eine bestimmte Form der Erzählung stellt die Geschichte der Schwurbrüder dar: eine Skaldensaga. Sie ist von Thormods Versen durchsetzt und bringt auch in ihrer Prosa Bilder und Ausdrücke , die der Dichtersprache entlehnt sind. Was sie besonders wertvoll macht ist der Umstand, daß sie uns eines der heiligsten isländischer Güter rein übermittelt: die Männerfreundschaft. Die beiden so ganz verschieden gearteten Helden Thormod und Thorgeir schwören als Knaben einander Treue, und als später eine taktlose Bemerkung Thorgeirs das Zusammensein der Männer für immer unmöglich macht, steht doch noch das gegebene Wort des Knaben so in Kraft, daß Thormod alles aufgibt, um den Tod des Schwurbruders zu rächen. Und als er diese Pflicht erfüllt dat sucht er selbst als getreuer Skalde an der Seite seines Königs den Tod in der Schlacht. Die letzten Seiten dieser Saga gehören zu den am stärksten wirkenden, die die altnordische Literatur hervorgebracht hat.

Die Geschichte der Leute auf den Färöern führt uns in kleinere Verhältnisse. Zwei Bauerngeschlechter befehden einander, und selbst die vermittelung der norwegischen Jarle kann keinen Frieden schaffen. Der einen Sippe siebt der ränkevolle Thrand vor, der sich durch List und Lüge immer wieder aus allen Schwierigkeiten herauszuziehen weiß, der anderen der aufrechte , vornehme Sigmund, der selbst zwar ermordet wird, aber dessen Nachkommen doch den endlichen Sieg erringen.

Das sind einige Züge aus den altnordischen Geschichten, die dieser Band vereinigt. Sie sind nicht wiederzuerzählen, ohne ihren Hauch zu zerstören, der nicht in den Geschehnissen liegt, sondern in der Wertung, die diese durch die Darsteller erhalten. Der Leser wird mit dem Leben und Kämpfen dieser Menschen, ihrem verhältnis zu den Frauen vertraut werden, wird sich in den einsamen Gehöften wie auf dem Meere, im Kampfe und an den Küsten ferner Länder als einer der ihren fühlen um dann bereichert zu sich selbst zurückkehren.

Erich von Mendelssohn


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