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Kapitel 

MÄRCHEN AUS KORDOFAN

HERAUSGEGEBEN VON LEO FROBENIUS

1923

VERLEGT BEI EUGEN DIEDERICHS / JENA



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TITEL- UND EINBANDZEICHNUNG VON F.H. EHMCKE MIT EINER KARTE


27. Abu Seraera*

Eine Mutter hatte vier Söhne, die waren herangewachsen. Die Frau war wieder schwanger, und in diesem Zustande ging sie eines Tages in den Busch, um Holz aufzulesen. Sie sammelte ein große$ Bündel und band es zusammen. Dann wollte sie es auf den Kopf heben. In dem Zustand aber, in dem sie sich befand, war sie zu schwach und vermochte das Bündel nicht zu heben. Die Frau stöhnte und sah sich um, ob niemand in der Nähe sei ihr zu helfen. Die Frau stöhnte wieder, denn sie sah niemand.

Darauf begann das Kind unter ihrem Herzen in ihrem Bauche zu sprechen, und das Kind sagte zuerst: "Soll ich dir helfen?" Die Mutter erschrak und sagte: "Was, mein Sohn, du bist noch nicht geboren und sprichst schon?" Das Kind sagte: "Ja, meine Mutter, ich bin Abu Seraera und frage dich, ob ich herauskommen und dir helfen soll?" Die Mutter sagte: "Mein Kind, du erschreckst mich! Wenn du aber willst, so komme heraus." Das Kind sagte: "Welchen Weg soll ich herauskommen?" Die Mutter sagte: "So komm doch auf dem Wege deiner Brüder heraus." Abu Seraera sagte: "Nein, den Weg meiner Brüder will ich nicht gehen." Die Mutter sagte: "So komm doch durch meinen Mund heraus!" Abu Seraera sagte: "Nein, den Weg durch deinen Mund will ich nicht nehmen." Die Mutter sagte: "Welchen Weg willst du denn nehmen?." Abu Seraera sagte: "Wasche deinen kleinen Finger, daß er ganz sauber ist. Dann will ich aus der Spitze deines kleinen Fingers herauskommen."

Die Frau wusch sich den kleinen Finger. Darauf kam Abu



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Seraera heraus. Er kam aber mit voller Bewaffnung, mit Speer und Schild hervor, und mit ihm kam ein weißer Widder heraus, dessen Schwanz war mit Rasiermessern besetzt. Sobald Abu Seraera herausgekommen war, half er seiner Mutter die Last auf den Kopf heben, bestieg dann selbst den Widder und ritt neben der Mutter dem Dorfe zu. Als sie am Dorfe waren, stieg Abu Seraera ab. Er band seine Waffen auf dem Kopfe des Widders fest, riß ihm einige Haare aus der Mähne und hieß ihn zurück in den Busch laufen.

Dann ging er neben der Mutter her in das Dorf. Als die Brüder den fremden Burschen neben der Mutter kommen sahen, fragten sie: "Wer ist der Bursche, der da mit dir kommt?" Die Mutter sagte: "Es ist mein Sohn, den ich im Busche geboren habe; es ist euer Bruder!" Die Brüder Abu Seraeras sahen aber Abu Seraera mit bösen Augen an und konnten ihn nicht leiden. Als sie am andern Tage zur Jagd gingen, sagten sie zur Mutter: "Wir gehen zur Jagd. Behalte du den Burschen daheim. Wir mögen nicht, daß er bei uns ist." Darauf ergriffen die vier Brüder ihre Speere, bestiegen ihre Pferde und ritten von dannen.

Abu Seraera schrie, als er seine Brüder fortreiten sah. Er sagte zu seiner Mutter: "Meine Mutter, ich will meine Brüder auf der Jagd begleiten." Die Mutter sagte: "Nein, nein, Abu Seraera, bleibe daheim." Abu Seraera sagte: "Wenn ich meine Brüder nicht begleite, werden sie umkommen." Abu Seraera ging aus dem Dorfe. Er verbrannte die Haare von der Mähne des Widders im Feuer. Sogleich war der Widder da. Abu Seraera nahm seine Waffen, stieg auf den Rücken des Widders und folgte seinen Brüdern. Bald war er bei seinen Brüdern angelangt. Die vier Brüder waren aber unwillig und sagten: "Wir haben doch gesagt, daß wir mit dir nichts zu tun haben wollen!" Weshalb bist du nicht im Dorfe geblieben?" Abu Seraera sagte: "Ich bin nicht im Dorfe geblieben und bin euch gefolgt, weil ihr zur Jagd geritten seid und ich von euch die Jagd lernen möchte!" Abu Seraera ritt also mit seinen Brüdern weiter.

Nach einiger Zeit kamen sie an eine Seriba, in der wohnte eine Rula (es war mir unmöglich, einen Kredjnamen für diese Menschenfresserin zu finden) mit vier schönen Töchtern. Als sie an deren Gehöft ankamen, sagten die vier Brüder: "Wir wollen hineingehen." Abu Seraera sagte aber: "Wenn ihr hier bleiben oder ruhen wollt, achtet darauf, daß sich keiner von euch mit den Mädchen abgibt und daß keiner von euch oder von euren Pferden etwas von dem Getränk und den Speisen genießt, die die Alte euch vorsetzen



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wird." Die Brüder wurden darauf ärgerlich und sagten: "Siehst du, da haben wir es! Schon willst du uns vorschreiben, was wir zu tun oder zu lassen hätten. Du bist der Jüngste und willst der Erste sein. Bleibe du nur hier draußen bei den Tieren, sorge, daß sie gut angebunden werden und kümmere dich im übrigen nicht um Sachen, die nur uns und nicht dich angehen."

Die vier Brüder gingen hinein. Abu Seraera band wie gewünscht die Pferde der Brüder an, riß dann seinem Widder einige Mähnenhaare aus, band ihm seine Waffen auf und ließ ihn in die Wildnis laufen, daß er sich selbst sein Futter suche. Dann kam auch die Rula heraus und brachte für die vier Pferde Milch zu saufen. Abu Seraera ging auch mit in das Gehöft und sagte nichts mehr.

Als es nun Abend war, gab die Rula jedem der vier Brüder je eine ihrer schönen Töchter, daß er mit ihr schlafe, und ging dann in ihr eigenes Haus zurück. Abu Seraera ging ein wenig umher und ging erst hinein, als die vier Brüder und die vier Mädchen eingeschlafen waren.

Als die Brüder und die Mädchen schliefen, begann Abu Seraera die Haare der Brüder in der Weise der Frauentracht und die Haare der Mädchen in der Weise der Männertracht zu flechten. Er war noch nicht fertig mit dieser Arbeit, da kam die alte Rula nahe heran und rief hinein: "Abu Seraera, schläfst du? Abu Seraera sagte: "Nein, ich schlafe noch nicht. Ich kann noch nicht schlafen, weil deine Tiere zu viel Geräusch machen." Darauf ging die alte Rula hin und tötete ihre Tiere. Während sie das aber tat, hatte Abu Seraera Zeit genug die Haare der Burschen nach Mädchenart und die der Mädchen nach Burschenart fertig zu flechten.

Als nun die Alte mit der Tötung ihrer Tiere fertig war, kam sie wieder heran und fragte durch die Türe: "Abu Seraera, schläfst du nun?" Abu Seraera antwortete aber (wie aus dem Traume): "Ja, meine Mutter, ich schlafe." Darauf wetzte die alte Rula draußen ihr Messer, kam herein und tastete sich zu dem Lager, auf dem die vier Brüder mit den vier Mädchen schliefen. Sie faßte nach den Haaren und schnitt die Köpfe, deren Haartracht nach Männerart geflochten war, ab. Da Abu Seraera aber allen Mädchen die Haare nach Männerweise geflochten hatte, so tötete die alte Rula ihre eigenen Töchter und überging die vier Brüder, weil sie tastend deren Haare nach Mädchenart geflochten fand.

Danach ging die alte Rula. Abu Seraera kam nun aber aus dem Winkel, in dem er geschlafen hatte, heraus, weckte seine Brüder



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und sagte ihnen: "Seht, wie die alte Rula die Köpfe ihrer eigenen Töchter abgeschnitten hat, weil ich eure Haartracht geändert habe und sie euch vier töten wollte." Als die vier Brüder das sahen, erschraken sie und sagten: "Abu Seraera, hilf uns, daß wir schnell und schadlos von dannen kommen!" Abu Seraera brachte seine Brüder hinaus und hieß sie ihre Pferde besteigen. Dann verbrannte er die Mähnenhaare seines Widders, und als der herankam, bestieg er ihn und ritt mit seinen Brüdern von dannen. Die vier Brüder und Abu Seraera ritten so schnell als nur möglich.

Nach einiger Zeit, als es hell ward, kam die alte Rula wieder heraus aus ihrem Haus und ging dahin, wo die Brüder sich mit den Mädchen hingelegt hatten. Sie blickte hinein, und nun sah sie im Lichte, daß die Brüder entronnen waren, daß sie aber ihren eigenen Töchtern die Köpfe abgeschnitten hatte. Die alte Rula ward sehr zornig und sagte: "Das kann nur Abu Seraera angestiftet haben. Ich will dem Burschen und seinen Brüdern aber sogleich folgen und werde sie noch erreichen." Damit rannte die alte Rula so schnell sie konnte hinter Abu Seraera und seinen Brüdern her.

Als Abu Seraera und seine vier Brüder eine Zeitlang geritten waren, wandte er sich um. Er sah, daß die alte Rula ihnen folgte, und rief seinen Brüdern zu: "Reitet so schnell ihr könnt! Die Rula kommt!" Die Brüder ritten schnell von dannen.

Die Rula kam dichter heran. Die Brüder ritten schneller. Die Rula aber rief: "Ihr Tiere, die ihr meine Milch getrunken habt, sterbt!" Da fielen die vier Pferde der vier Brüder tot hin. Die Brüder lagen auf der Erde. Abu Seraera aber sagte: "Steht auf und steigt schnell mit auf meinen Widder!" So standen die Brüder auf und stiegen mit auf den Widder, und Abu Seraera ritt weiter. Nach einiger Zeit kam die Rula aber näher und näher und zuletzt kam sie ganz nahe und packte den Schwanz des Widders. Der Schwanz des Widders war aber nicht mit Wolle, sondern mit Rasiermessern besetzt. Die alte Rula packte hinein und schnitt sich die Hände wund. Die Rasiermesser schnitten so in die Hände der Alten, daß sie ablassen und von der weiteren Verfolgung abstehen mußte. So entkamen die vier Brüder mit Abu Seraera in das Dorf. Am Dorfe stiegen sie aber ab, und Abu Seraera riß seinem Widder wieder einige Mähnenhaare aus, band ihm seine Waffen auf den Kopf und ließ ihn in die Wildnis laufen. Dann kam er mit den geretteten Brüdern in das Dorf.



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Nachdem die alte Rula in ihre Seriba zurückgekehrt war, verwandelte sie sich in ein sehr schönes Mädchen und machte sich auf den Weg in das Dorf der Mutter Abu Seraeras. Das junge schöne Mädchen kam im Dorfe an und begrüßte die Mutter Abu Seraeras und sagte: "Ich bitte dich, bringe mich bei einem deiner Söhne unter, bis ich weiterreise." Abu Seraera und seine vier Brüder waren abwesend. Die Mutter brachte das schöne junge Mädchen in das Haus Abu Seraeras. Nach einiger Zeit kam Abu Seraera aber heim, und die Mutter sagte zu ihm: "Es kam ein junges schönes Mädchen hier durch. Sie wollte bei einem meiner Söhne schlafen, da ließ ich es in deine Hütte treten." Abu Seraera sagte: "Dieses Mädchen werde ich ansehen." Dann ging er hin und betrachtete das Mädchen. Und als er sie näher angesehen hatte, packte er die schöne Frau und warf sie ohne weiteres aus dem Haus.

Das schöne Mädchen lief weinend zu dem ältesten Bruder und sagte: "Abu Seraera hat mich mißhandelt!" Der älteste Bruder nahm das Mädchen hierauf in seine Hütte auf, ging hinüber zu Abu Seraera und schlug ihn in seinem Zorn. Dann ging der älteste Bruder zurück in sein Haus und legte sich zu dem schönen Mädchen auf das Angareb. Er sagte zu dem schönen Mädchen: "Kraue mir die Haare!" Das schöne Mädchen tat das sogleich; darüber aber schlief er ein, und als das Rulamädchen das merkte, bohrte es ihm einen Finger in die Augenhöhle und riß ihm ein Auge heraus. Der Bruder schrie auf, aber die Rula lief mit dem ausgerissenen Auge von dannen und trug es in ihre Seriba.

Als der älteste Bruder so schrie, liefen alle Leute im Dorfe erschreckt zusammen. Sie kamen in das Haus des Ältesten, als die alte Rula mit dem gestohlenen Auge längst weggelaufen war. Der älteste Sohn sagte: "Dies Mädchen hat mir ein Auge herausgerissen und ist mit ihm von dannen gelaufen." Abu Seraera kam dazu und sagte: "Das hat die alte Rula getan. Sie hat meinem ältesten Bruder das Auge gestohlen." Die Leute sagten: "So gehe hin, Abu Seraera und bringe das gestohlene Auge wieder." Abu Seraera sagte: "Das ist nicht meine Sache. Mein Bruder hat mich vorher ja sogar geschlagen, weil ich dieses Mädchen auswies. Wie soll ich denn jetzt etwas damit zu tun haben, was seine Schutzbefohlene mit ihm beginnt? Es wird noch ganz anders kommen, wenn ihr mir nicht glaubt!"

Die Leute baten Abu Seraera. Der älteste Bruder kam und sagte: "Abu Seraera! Ich habe dir vorher unrecht getan und dich geschlagen.



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Ich bitte dich aber, mir nun zu verzeihen und mir das Auge wiederzubringen. Außer dir kann das keiner!" Abu Seraera sagte: "Wollt ihr mir denn ein anderes Mal glauben, wenn ich euch etwas sage?" Die vier Brüder und alle Leute sagten: "Gewiß, wir werden dir ein anderes Mal glauben, Abu Seraera, wenn du vor etwas warnst. Bringe nur dieses Mal noch das gestohlene Auge deines ältesten Bruders zurück!" Abu Seraera sagte: "Es ist gut! Ich werde es tun!"

Darauf verwandelte sich Abu Seraera in ein altes Weib. Er nahm dann Schafhaare und Menschenhaare und Knochen und Fellstücke in sein Kleid und machte sich so auf den Weg zu der Seriba der Rula. Als die Rula sah, daß das alte Weib ankam, sagte sie zu dem ihr dienenden Mädchen: "Geh der Fremden entgegen und sieh, wer es ist." Das dienende Mädchen kam der alten Frau entgegen. Die alte Frau sagte: "Ist deine Herrin, die Rula, zu Hause? Ich bin ihre Schwester und will sie besuchen." Das Mädchen ging hinein und bestellte es. Dann kam die alte Frau herein und begrüßte die Rula. Die alte Frau sagte aber: "Meine Schwester, warte noch einen Augenblick; ich will noch einmal aus der Seriba treten und mich entleeren." Dann trat die alte Frau zur Seite.

Die Rula sagte zu dem dienenden Mädchen: "Folge der Alten und sieh, woraus das besteht, dessen sie sich bei der Entleerung entledigt. Dann kann ich sehen, welches ihre Nahrung ist." Das dienende Mädchen ging hinaus und folgte der Alten. Inzwischen entleerte sich Abu Seraera in der Form der alten Frau. Er ließ aber Schafhaar und Menschenhaar, Knochen und Fellstücke in den Abgang fallen. Das kleine dienende Mädchen sah das aber, lief zur Rula zurück und sagte: "Die alte Frau hat Schafhaare und Menschenhaare, Knochen und Fellstücke fallen lassen." Da freute sich die alte Rula und sagte: "Das ist wahrhaftig meine Schwester, denn sie hat die gleiche Nahrung, die ich habe!"

Die alte Rula ging der zurückkehrenden Alten entgegen und sagte: "Sei mir herzlich gegrüßt, meine Schwester; wie geht es dir?" Die Alte kam mit der Rula zurück ins Haus und sagte: "Es geht mir gut!" Die Rula fragte: "Und wie geht es deinen Herden und Sklaven?" Die Alte sagte: "Meinen Herden und Sklaven geht es nicht gut. Das ist auch der Grund, warum ich nicht lange von daheim fortbleiben kann. Denn mein erster Sklave, der die Aufsicht über alle Leute und Herden hat, verlor ein Auge, und nun sieht er schlecht und merkt es nicht, wenn von der Herde etwas abgetrieben



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wird. Du weißt aber, daß es überall von allerhand Räubervolk einen Überfluß gibt." Die Rula sagte: "Das weiß ich!"

Die Alte sagte: "Deshalb laufe ich überall umher und suche, ob ich nicht jemand finde, der mir ein Auge geben kann, damit ich es dem Sklaven wieder einsetze. Denn nur so kann er wie früher seine Pflicht tun." Die Rula sagte: "Ich kann dir ein solches Auge wohl geben. Ich habe nämlich kürzlich dem ältesten Bruder Abu Seraeras ein Auge abgenommen." Die Alte sagte: "Willst du mir dies Auge für meinen Sklaven geben?" Die Rula sagte: "Ja, ich will es dir geben." Die Alte sagte: "Wie muß man es denn einsetzen?" Die alte Rula sagte: "Man muß erst die Milch einer schwarzen Ziege in die leere Augenhöhle träufeln; dann kann man es einfügen." Die Alte sagte: "Ich danke dir sehr!"

Die Rula gab darauf der Alten das Auge. Die Alte bedankte sich sehr und begab sich mit dem Auge auf den Rückweg. Als er ein Stück weit entfernt war, nahm aber Abu Seraera seine alte Gestalt an, ließ seinen Widder kommen und ritt heim. Daheim setzte er seinem Bruder das Auge wieder ein. Der älteste Bruder und alle andern dankten ihm. Abu Seraera aber sagte: "Ein anderes Mal müßt ihr mir aber glauben oder müßt mir teuer zahlen." Und alle versprachen ihm, in Zukunft auf seine Warnungen zu hören.

Die alte Rula merkte sehr bald, daß sie von Abu Seraera hintergangen sei. Sie sagte: "Nun werde ich dem Dorfe und den Leuten Abu Seraeras einen Streich spielen, den sollen sie nie wieder vergessen. Ich werde ihnen alle ihre Nachkommenschaft rauben."

Die alte Rula verwandelte sich also in einen Baum, der wuchs mitten in dem Dorfe Abu Seraeras, und es ward ein gewaltiger, mächtiger Baum, dessen Zweige sich weithin ausdehnten und dessen Wurzeln fest wie Eisen auf dem Boden lagen. Weithin dehnte dieser Baum seinen Schatten aus.

Die Kinder des Dorfes, die kleinen wie die großen, begannen aber alsbald unter dem Baume zu spielen. Sie sprangen auf seinen Wurzeln umher und kletterten in seine Zweige. Die Kinder des Dorfes kannten nur noch das Spiel in den Zweigen des Baumes. Das geschah, als Abu Seraera abwesend war. Als er nun heimkam und den gewaltigen Baum und das Spiel der Kinder in den Baum-Zweigen sah, nahm er einen Stock und jagte die Kinder von dem Baume weg. Er sagte ihnen: "Wenn ihr in den Zweigen des Baumes spielt, seid ihr verloren!" Die Kinder liefen schreiend von



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dannen, ein jedes zu seinen Eltern und sagte: "Abu Seraera ist zurückgekommen und hat uns das Spiel in den Zweigen des alten Baumes verboten."

Als die Eltern der Kinder dies hörten, sagten sie: "Abu Seraera redet in alles hinein und will allen vorschreiben. Dieser Abu Seraera will jetzt nicht einmal den Kindern ihr Spiel gönnen." Die Eltern gingen also hinaus und kamen zusammen, stritten gegen Abu Seraera und sagten: "Laß die Kinder! Es sind unsere Kinder! Es sind nicht deine Kinder! Wir sind auch nicht dumm und haben auch Augen, so daß wir sehen können, was den Kindern gut und schlecht ist. Laß das Unserige also uns, den Kindern ihr Spiel in den Baumzweigen und kümmere du dich nur um deine Sachen."

Abu Seraera sagte: "Ihr habt mir versprochen, auf meine Warnungen zu hören. Wenn ihr das jetzt nicht wollt, so müßt ihr es nachher eben teuer bezahlen." Die Leute sagten: "Wir haben gar nichts teuer zu bezahlen.!" Abu Seraera sagte: "Es ist gut!"

Abu Seraera ging also heim und holte eine Axt. Er ging zu dem alten Baum und begann dessen Wurzeln, die wie Eisen auf dem Boden lagen, durchzuschlagen. Da begann die alte Rula Schmerzen zu empfinden, ihre Füße empfingen schwere Wunden und sie sagte bei sich: "Wenn ich meine Sache hier erledigen will, so muß ich es gleich tun." Als die Kinder, die großen wie die kleinen, nun also wieder in den Zweigen spielten, nahm sie plötzlich ihre alte Gestalt an und brachte die Kinder fort. Es blieb auch nicht ein einziges Kind im Dorf. Die alte Rula führte sie alle miteinander fort in ihre Seriba, und als die Eltern nach ihren Kindern sahen und schrien, da waren die Kinder wie der alte Baum spurlos verschwunden. Die Eltern liefen suchend in dem Dorfe und in der Umgebung herum. Es war nichts von den Kindern zu finden.

So kamen denn alle Eltern zu Abu Seraera und weinten und schrien: "Ach, Abu Seraera, hilf uns! Alle unsere Kinder sind fort, und nur du allein kannst uns helfen!" Abu Seraera sagte: "Ihr habt mir gesagt, ich solle mich nur um meine Sachen kümmern; ich sollte euch das Eurige und den Kindern das Spiel in den Baumzweigen lassen. Das habe ich getan; und als ich euch dann sagte, daß ihr es teuer zu bezahlen haben würdet, wenn ihr meinen Ratschlägen nicht folgtet, da habt ihr mich ausgelacht und habt gesagt, ihr hättet gar nichts zu bezahlen. So habt ihr die Sache hingestellt, und so steht sie jetzt. Seht nun selbst nach euren Sachen." Abu Seraera ging fort in sein Haus.



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Die Eltern weinten und klagten und sprachen untereinander: "Nur einer kann helfen, das ist Abu Seraera. Wir wollen ihn mit einem großen Geschenk besänftigen, damit er wieder Frieden mit uns macht und uns unsere Kinder zurückbringt. Wir wollen Abu Seraera für jedes abhanden gekommene Kind zwei Kühe schenken. Dann wird er uns die Kinder vielleicht zurückholen." Sie brachten also viele Kühe zusammen, für jedes verlorene Kind zwei, und alle Kühe trieben sie in eine Seriba. Danach gingen sie wieder zu Abu Seraera und baten ihn herauszukommen. Als er herauskam, zeigten sie ihm die Seriba voller Kühe und sagten: "Abu Seraera, nimm dies Geschenk und bringe uns unsere Kinder wieder!" Abu Seraera sagte: "Habe ich euch nicht gesagt, daß ihr es teuer würdet bezahlen müssen? Da ihr aber von selbst damit kommt und eure Torheit einseht, will ich hingehen und euch eure Kinder zurückbringen." So machte sich denn Abu Seraera wieder auf den Weg zur alten Rula.

Die alte Rula hatte in ihrem Hause eine alte Büffelkuh. (Diese Büffelkuh wird mit Sobo bezeichnet. Sobo ist aber das wahre Kredjwort für Büffel!) Dieser Sobo hatte sie eine Glocke umgehängt, und diese Sobo hütete die geraubten Kinder, wenn sie tagsüber im Busche waren. An dem Geläute der Glocke der Sobo konnte die alte Rula immer hören, wo sich die Kinder befanden. Die Büffelkuh war aber trächtig. Als Abu Seraera sich nun zu der alten Rula auf den Weg machte, schlich er sich zu der Sobo heran, schlüpfte in sie hinein, tötete das Kalb, mit dem sie schwanger ging, warf es hinaus und blieb selbst in der Büffelkuh.

Darauf warf die alte Sobo ihr Kalb. Das Kalb war (nun aber) Abu Seraera. Dies Kalb war weiblich, und als die alte Rula das sah, war sie darüber sehr erfreut. Sie band das Kalb am andern Tag im Staue an und ließ die Sobo wie alle Tage als Führerin die Kinder in den Busch treiben. Das Kalb aber benahm sich im Stalle sehr unwirsch. Es zertrat alles und zerstieß alles. Es rannte die Wände des Stalles ein und sprang in die Futterkrippe, daß sie zerbrach. Die Leute der Rula kamen also zur Rula und sagten: "Das Kälbchen zerbricht im Stall alles, denn es will mit seiner Mutter durchaus hinaus in den Busch." Die Rula sagte: "Es ist gut! Dann mag das Kalb morgen mit der Büffelkuh und den Kindern in den Busch gehen."

Am andern Tage sagte die Rula zu den Kindern: "Das Kalb kann heute mit der Sobo hinaus in den Busch und kann euch begleiten.



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Achtet mir aber darauf, daß es nicht an die Milch seiner Mutter heran kann." Die Sobo mit dem Kälbchen zog also wieder hinaus in den Busch. Als sie weit weg von der Wohnung der Rula im Busch waren, verwandelte Abu Seraera sich wieder in seine eigene Gestalt. Er sprang auf die Sobo und tötete sie. Er schlug ihr den Kopf ab und hängte ihn mit der Glocke an einen Ast im Busch auf, so daß der Wind sie hin und her wehte und daß die Rula ihr Läuten hörte. So merkte also die Rula von dem Tode der Sobo nichts.

Dann begrüßte Abu Seraera die Kinder und brachte sie so schnell als möglich in das Dorf, in dem die Eltern alle sehr erfreut und bereit waren, von nun ab Abu Seraeras Ratschlägen in allen Dingen zu folgen. So kam es aber, daß keines der Kinder verlorenging.

Von einem Kredj hinzugefügt: "Wenn dunkle Wolken aufsteigen, so ist Seraera nicht zu sehen. Wenn es dann blitzt, so wirft er immer ein Rasiermesser aus dem Schwanz des Widders herab und kann damit Bäume zerspalten und Menschen töten."


Copyright: arpa, 2015.

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