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Kapitel 

MÄRCHEN AUS KORDOFAN

HERAUSGEGEBEN VON LEO FROBENIUS

1923

VERLEGT BEI EUGEN DIEDERICHS / JENA



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TITEL- UND EINBANDZEICHNUNG VON F.H. EHMCKE MIT EINER KARTE


3. Wudandahasch befreit die Geschwister und alle Rulgefangenen

Wudandahasch wollte am andern Tage tun, wie er es früher getan hatte und wollte die Leute mit seinem Stocke stoßen, damit sie fielen und damit es etwas zum Lachen gäbe. Seine Mutter sagte aber zu ihm: "Wudandahasch, du willst weggehen?" Wudandahasch sagte: "Ja, ich will hinausgehen und will mit meinem Stock spielen." Die Mutter sagte: "Wudandahasch, ehe ich dich gebar, hatte ich schon eine Tochter und zwei Söhne." Wudandahasch sagte: "Was sagst du, meine Mutter?" Die Mutter sagte:



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"Du hast eine Schwester und zwei Brüder." Wudandahasch sagte: "Leben denn meine Schwester und meine Brüder noch?" Die Mutter sagte: "Ja, deine Schwester und deine Brüder leben noch."

Wudandahasch sagte: "Meine Mutter, nun sage mir schnell alles, was von meiner Schwester und meinen Brüdern zu sagen ist. O meine Mutter, warum hast du mir das nicht früher gesagt? Ich wußte, daß ich etwas zu tun hätte, aber ich wußte nicht, was es sei. Nun sage es mir, meine Mutter!" Die Mutter sagte: "Als der Vater dieser drei Kinder noch lebte, wollte er seine Tochter, deine Schwester, die sehr schön ist, keinem Manne zur Frau geben. Kaum war aber dein Vater gestorben, da kam ein Rul, ließ sich Wasser von ihr reichen und raubte sie. Deine Brüder waren noch jung, als sie dies hörten. Erst ritt Achmet hin und wurde von dem Rul gefangen, denn Achmet war noch zu schwach. Danach ritt Hassan aus, um seine Schwester und seinen Bruder zu befreien. Hassan war aber auch noch zu schwach und ward auch vom Rul gefangen. Ich wollte nun selbst hinreiten. Unterwegs wurde ich aber schwanger und gebar dich." Wudandahasch sagte: "Meine Mutter, warum hast du mir das nicht früher gesagt. Nun sage mir aber schnell, welches der Weg ist, den ich einzuschlagen habe." Darauf gab die Mutter Wudandahasch den Weg an.

Wudandahasch ging zum König. Der Melik fragte: "Was willst du, Wudandahasch ?" Wudandahasch sagte: "Ich will einen Rul überwinden, der jenseits der Wüste wohnt; gib mir ein Pferd!" Der Wesir sagte heimlich zum Melik: "Das ist ausgezeichnet! Noch niemals ist jemand diesem Rul entgangen, denn es gibt nichts, was ihm an Kraft gewachsen ist. Es ist ausgezeichnet, daß Wudandahasch gegen ihn ausziehen will. Wenn kein anderer Wudandahasch töten konnte, so ist es dieser Rul. Gegen diesen ist auch Wudandahaschs Kraft machtlos. Gib ihm also ein Pferd!" Der Melik sagte: "Gewiß, mein Wudandahasch! Ich werde dir ein gutes Pferd geben. Töte nur diesen Rul! Wenn du das vermagst, kannst du nachher von mir verlangen und erhalten, was du willst." So erhielt Wudandahasch vom Könige das Pferd und ritt von dannen.

Wudandahasch ritt weit fort durch die Wüste. Wudandahasch ward durstig. Wudandahasch sagte: "Wenn ich Durst und etwas zu trinken habe, dann ist das gut. Wenn ich aber nichts zu trinken habe, so hat auch der Durst nichts zu sagen. Es macht nichts!" Wudandahasch kam an den Brunnen, neben dem der Feigenbaum



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stand. Neben dem Brunnen lag der alte Mann. Wudandahasch blickte sich um und sagte: "Da liegt der Schöpfsack und der Strick. Erlaubst du mir, alter Mann, daß ich für mich und mein Pferd etwas Wasser schöpfe?" Der alte Mann sagte: "Gewiß darfst du dir Wasser schöpfen. Wenn du dich und dein Pferd gesättigt hast, gib mir aber auch zu trinken, denn auch ich bin durstig."

Wudandahasch stieg vom Pferd. Wudandahasch sagte: "Gewiß sollst du Wasser haben." Danach ließ Wudandahasch den Schöpfsack in den Brunnen, ließ ihn voll Wasser laufen, und wenn er nun auch sehr schwer war, hob er ihn doch mit einer Hand empor und aus dem Brunnenschacht herauf. Er gab dann seinem Pferd zu trinken, bis es satt war; er gab dem alten Mann und trank dann selbst. Der alte Mann sagte, als alle gesättigt waren: "Du starker Mann kannst mir wohl auch einige von den Feigen dieses Baumes geben!" Wudandahasch sagte: "Das ist sehr einfach!" Wudandahasch schlug mit der flachen Hand gegen den Baum. Darauf knickte der Baum um. Wudandahasch nahm die Früchte und gab sie dem Alten.

Der Alte sagte darauf zu Wudandahasch: "Ich danke dir! Nun sage mir, weshalb du diesen Weg gehst." Wudandahasch sagte: "Ich suche einen Rul, der meine Schwester und meine Brüder gefangenhält." Der alte Mann sagte: "Du bist auf dem richtigen Wege. Folge nur noch den Schafen, die dort hinziehen, dann kommst du an das Gasr des Rul. Deine Schwester ist im Hause des Rul. Sie sieht oben zum Fenster hinaus. Du kannst sie bald sehen und sprechen. Deine Brüder sind aber mit allen Menschen in einer Höhle, die der Bauch der Erde ist (wörtlich!). Du kannst sie erst nachher sehen." Wudandahasch bedankte sich bei dem alten Manne für die Auskunft, dann bestieg er sein Pferd und ritt hinter den Schafen her, dem Gasr des Rul zu.

Als Wudandahasch zu dem Hause des Rul kam, sah er, daß ein schönes Mädchen oben zum Fenster hinaussah. Das Mädchen sprach ihn an und sagte: "Fremder Mann, was willst du hier? Jeder, der hierher kam, verfiel noch der Macht des Rul. Gehe also von dannen, solange es noch Zeit ist." Wudandahasch sagte: "Ich bin dir kein fremder Mann! Ich bin dein jüngster Bruder und heiße Wudandahasch!" Da weinte das schöne Mädchen und sagte: "Mein kleiner Bruder Wudandahasch, eile schnell von dannen, denn deine Brüder Achmet und Hassan sind schon in der großen



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Höhle mit all den andern Menschen." Wudandahasch sagte: "Weine nicht, meine kleine Schwester! Mit meinem Stock hier will ich die Höhle aufbrechen und will euch alle herausbringen." Die Schwester weinte aber und sagte: "Ich sah so viele kommen und keinen gehen."

Der Rul kam mittlerweile heran. Der Rul begrüßte Wudandahasch und sagte: "Sage mir doch, mein Freund, was du hier willst? Zuerst reiche mir aber die Hand, daß ich sie schüttle und daß wir so Freundschaft schließen können." Wudandahasch reichte dem Rul die Hand. Der Rul wollte ihm den Arm ausrenken wie den Brüdern. Wudandahasch aber preßte dem Rul, als er seine Absicht bemerkte, die Hand so stark, daß der Rul aufstöhnte und aus seinen Fingerspitzen das Blut tropfte. Wudandahasch sagte: "Gewiß wollen wir Freundschaft schließen und uns die Hand reichen." Dann drückte er die Hand des Rul noch ein wenig mehr, so daß aus den Fingerspitzen noch mehr Blut heraustropfte und der Rul schreien mußte.

Wudandahasch sagte: "Ich danke dir für diesen Begrüßungsschrei. Was ich nun wünsche, ist sehr schnell gesagt. Ich will meine Schwester und meine Brüder abholen." Der Rul sagte: "Das ist mir sehr recht. Ich werde dir deine Schwester und deine Brüder morgen früh zuführen. Heute aber bitte ich dich, mein Gast zu sein und mit mir zu speisen und zu trinken. Wudandahasch sagte: "Dieses ist mir sehr recht!" Wudandahasch kam dann mit dem Rul in das Haus und teilte mit ihm Speise und Trank.

Nach dem Essen sagte der Rul: "Nun, mein Freund Wudandahasch, bitte ich dich, mit mir zu kommen und dir mit mir meinen Garten anzusehen." Wudandahasch sagte: "Gern will ich den Garten sehen. Geh nur voran." Der Rul sagte: "Nein, geh du nur voran. Du bist mein Gast!" Wudandahasch sagte: "Sprich nicht so viel, sondern geh voran. Fertig!" Darauf mußte der Rul voran in den Garten gehen, und im Garten machte er nun den ihm folgenden Wudandahasch auf alles Schöne aufmerksam. Wudandahasch sagte: "Es ist wahr; es ist alles sehr schön. Das Wundervollste wirst du mir aber wohl noch zeigen."

Der Rul führte Wudandahasch zu dem Eingange der Höhle und sagte: "Nun, mein Freund Wudandahasch, beuge dich einmal zur Erde herab und schaue in diese Öffnung, denn nun sollst du in der Tat das Schönste sehen, das ich besitze." Wudandahasch sagte: "Mein Freund, du gehst ja vor mir her, mache es mir doch ein-



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mal vor, wie ich es machen muß, um geschickt in die Höhle zu sehen."

Der Rul sagte: "Weshalb soll ich es vormachen? Beuge dich nur vornüber." Wudandahasch sagte: "Ich habe keine Erfahrung! Mache es schnell vor. Fertig!"

Darauf beugte der Rul sich vornüber, wie es alle die hatten machen müssen, die er dann in die Höhle hinabgestoßen hatte. Wudandahasch sagte aber nichts mehr, sondern nahm seinen Eisenstock und schlug den Rul auf den Rücken, so daß ihm der Länge nach der Leib aufsprang. Danach schnitt Wudandahasch den Rul noch in Stücke. Als das geschehen war, rief er: "Der Rul ist getötet; nun kommt nur alle heraus!" Die Menschen, die das hörten, stiegen heraus. Sie sahen, daß es licht war. Sie stiegen aus der dunklen Höhle empor und betraten, mitten durch den zerschnittenen Leib des Ruls schreitend, die Erde.

Erst kamen Achmet und Hassan und dann viele, viele Menschen, so viele, daß man Städte und Länder damit füllen konnte. Alle diese Menschen dankten aber Wudandahasch und sagten ihm, daß sie ohne seine Hilfe ohne Zweifel hätten sterben müssen. Nachdem er allen Menschen die Freiheit gegeben hatte, bestieg er sein Pferd, nahm seine Schwester zu sich hinauf und führte alle Menschen zurück durch die Wüste, nach der Stadt zu, in der seine Mutter wohnte.

Eines Tages sahen die Leute des Melik in der Ferne eine große Menge Menschen ankommen. Es waren deren aber so viele, daß sie die ganze Ebene ausfüllten, soweit das Auge sehen konnte. Und die Leute kamen zum Melik gelaufen und schrien: "Melik, hilf uns! Melik, hilf uns! Ein ganzes Volk kommt dahergezogen und will uns vernichten." Der Melik stieg mit dem Wesir auf einen Turm und sah nun auch die Menschenmenge. Da erschrak er wie die Leute und sagte: "Es ist ein ganzes Volk, das mit uns kämpfen will. Hätte ich doch den Wudandahasch nicht gegen den Rul ziehen lassen! Hätte ich ihn nur nicht ziehen lassen! Er wäre dann noch hier, und er wäre der Mann dazu, um dieses Volk zu vernichten." Der Wesir sagte: "Melik, wir sehen noch nicht genug. Laß uns erst mehr wissen. Dann läßt sich etwas sagen!"

Inzwischen war Wudandahasch mit seiner Schwester vor sich und an der Spitze des Volkes über das Land gezogen und kam an das Tor der Stadt. Als er nun an die Stadt kam, erkannten ihn einige Leute, die sich an der Mauer versteckt hatten. Die Leute



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schrien sogleich auf und riefen: "Es ist ja Wudandahasch! Es ist ja Wudandahasch! Und er bringt ein sehr schönes Mädchen mit!" Die Leute rannten durch die Straßen und einer schrie es dem andern zu: "Es ist ja Wudandahasch! Es ist ja Wudandahasch! Und er bringt ein sehr schönes Mädchen mit!" Zuletzt hörte es der König.

Der Melik sagte zum Wesir: "Du hast mir nicht immer dem Wudandahasch gutgesinnte Ratschläge gegeben. Aber es ist gut abgelaufen. Wudandahasch hat den Rul überwunden. Komm mit mir, wir wollen ihm entgegenreiten!" Der Melik bestieg sein Pferd und ritt Wudandahasch entgegen. Der Wesir folgte ihm. Der König begrüßte Wudandahasch. Er zog mit Wudandahasch in die Stadt ein. Der Melik gab seine Tochter Wudandahasch zur Frau, und Wudandahasch wurde Melik. Seine Schwester verheiratete Wudandahasch aber mit dem Sohn des Melik.


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